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Annedore Hirblinger Die triadische Struktur des psychoanalytischen Dialogs

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Annedore Hirblinger

Die triadische Strukturdes psychoanalytischen

DialogsZur gesellschaftlichen Verantwortung

in der Therapie

Psychosozial-Verlag

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Inhalt

Vorwort 9Zur Entstehung dieses Buches 11Lesart und inhaltlicher Aufbau 12Beweggründe – Hintergründe 13

Paradigmenwechsel und Neuorientierungen 17Therapeutische Erfahrungenim Spiegel des interaktionellen Paradigmas 20Der Binnenraum der Begegnungin intersubjektiver und relationaler Perspektive 22Prozessgestaltung –interaktionelles versus intersubjektives Paradigma 28

Stundenskizzen 31Frühes Leben – Schlaferwachen im Halbdunkel 33Übersehen werden – Schattenräume früher Kindheit 41Selbsthäuser bauen 49Verstrickung und Trennung 57Wegkreuzungen in der Lebensmitte 63Aber ich muss doch! – Tanz der Marionetten 70Böse sein dürfen – vom Austasten der Gefühle 77Im Labyrinth der Geschlechterbeziehungen 88Leere Liebe – missbrauchende Liebe 97Glaubenssehnsucht – Seelenwurzeln, die nach oben wachsen… 107Abschiede – du stirbst, und ich? 118

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Selbstreflexive Nachlese 125Paradigmatische Muster 125Abstinenz und Verwicklung 128Norm und Tabu als Spiegel des gesellschaftlichen Unbewussten 131Träume und Imaginationen – emotionale Anker 135Zur Begrenztheit des eigenen Blicks 139Perspektivenwechsel und soziale Wahrnehmung 142

Subjekt und Gesellschaft 145Sozialpsychologie, Soziologie und Psychoanalyse –kulturkritische Wurzeln 145Gesellschaft und Neurose 150Zur dualen Struktur des Subjekts 153

Das Dritte im interaktiven Binnenraum 159Triadische Spiegelungen 160Sprache und Symbol als Repräsentanzendes gesellschaftlichen Dritten 164

Die gesellschaftliche Verantwortung des Psychoanalytikers 171Das Modell der psychosozialen Entwicklung von Fürstenau 172Intersubjektive Verständigung in gesellschaftlichen Kontexten 176Rückbesinnung auf die gesellschaftskritische Positionder Psychoanalyse 179

Literatur 187

Inhalt

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»Die Gesellschaft wird sich nicht beeilen, uns Au-torität einzuräumen, sie muß sich im Widerstandgegen uns befinden, denn wir verhalten uns kri-tisch gegen sie; wir weisen ihr nach, daß sie ander Verursachung der Neurosen selbst einen gro-ßen Anteil hat. Wenn wir den einzelnen durchdie Aufdeckung des in ihm Verdrängten zu un-serem Feinde machen, so kann auch die Gesell-schaft die rücksichtslose Bloßlegung ihrer SchädenundUnzulänglichkeiten nichtmit sympathischemEntgegenkommen beantworten; weil wir Illusio-nen zerstören, wirft man uns vor, daß wir Ideale inGefahr bringen.«

Sigmund Freud (1911;zit. n. Reimann, 1991, S. 17)

»Dasmacht doch die eigentliche Leistung der psy-choanalytischen Moderne aus: eine neue Topikvon Innen, Außen und Zwischen, die im Unbe-wussten den anderen entdeckt. Erst diese Entde-ckung erlaubt es, den verborgenen Bindegliedern,den dynamischen Vermittlungen, den komplizier-ten Verschachtelungen von subjektiver, intersub-jektiver und objektiver Welt nachzuforschen samtden verhängnisvollen Brechungen, wie sie in denPathologien der zeitgenössischen Lebenswelt zuerkennen sind.«

Martin Altmeyer (2003, S. 241)

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Vorwort

Ich möchte mit diesem Buch vor allem psychoanalytische Ausbildungskandida-tinnen und -kandidaten ansprechen, die vielleicht ein wenig neugierig die Weiteund Tiefe des therapeutischen Praxisfeldes einer älteren Kollegin kennenlernenwollen. Sie werden von mir eingeladen, als beobachtende Zuschauerinnen undZuschauer in das interaktiveGeschehenmit einzutauchenund sich auf Fallvignet-ten, situationsbezogene Narrative und miteinander verknüpfte Prozessabläufeeinzulassen. Es ist dabei trotz sensibler Wahrnehmung wohl nicht immer leicht,den sich öffnenden intersubjektiven Raum zwischen der Therapeutin und denPatientinnen und Patienten gedanklich und empathisch auszuloten. Die Diskre-panz zwischen den therapeutischenPraxiserfahrungen unddem subjektivenLese-und Rezeptionsprozess der Leserinnen und Leser bleibt wahrscheinlich immerspürbar bestehen. Ich würdemir jedoch wünschen, dass interessierte Kolleginnenund Kollegen durch ihre kritische Teilhabe an dem hier dargestellten MaterialAnregungen für die eigene Praxis gewinnen.

Nach über 25-jähriger Berufspraxis denke ich aus verschiedenen Blickwin-keln immer wieder über gesellschaftliche Fragen und Problemfelder nach, diesich aus der Praxis ergeben. Immer häufiger werden mir dabei eigene, einge-schliffene therapeutische Gepflogenheiten und – durchaus auch von Fall zuFall – analytische Regeln zumProblem.Wenn ich zurückdenke, irritiertenmichbereits in den ersten Jahren meiner Praxis immer wieder die tendenziell pas-sive Erwartungshaltung der Patientinnen und Patienten bei Therapiebeginnund ihr erkennbares Drängen auf praktikable Lösungen. Ratgeberbücher undBeratungskolumnen auf dem Psychomarkt überschütten die Leserschaft ja un-vermindert mit angeblich sofort umsetzbaren Hilfsangeboten und verstärkenvehement regressive Wünsche. In derartigen Situationen fühlte ich mich alsnoch unerfahrene Analytikerin wiederholt in eine defensive Position gedrängt,

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betonte dann jedoch, bei gewahr werden der eigenen Gegenübertragung undin der Absicht, mir zunächst Zeit und Raum zu schaffen, den Patientinnenund Patienten gegenüber die Notwendigkeit der Beachtung äußerer Formalitä-ten, also der einzelnen Punkte unseres Arbeitsbündnisses und der Regeln desSettings. Ich selbst verpflichtete mich zur strikten Einhaltung der gebotenenRollendistanz, um nicht vorschnell in den Habitus der »Helferin« zu verfal-len.

Im Laufe der Jahre entwickelte ich meinen persönlichen Arbeitsstil in einerMischung aus offener Zugewandtheit und haltender Besorgnis. Immer wiederermutigte ich die Patientinnen und Patienten in Momenten konflikthafter Ver-strickung – vielleicht um mich unbewusst zu entlasten –, eigene Ich-Kräfte imRahmen notwendigen Probehandelns zu entfalten und das persönliche Selbst inseiner emotionalen und intellektuellen Einzigartigkeit klarer in den Blick zu be-kommen. Gängige Begriffe wie Selbstkonfliktlösung, Autonomie oder Identitätbezeichnen für mich bis heute wesentliche Teilziele analytischer Arbeit und sindOrientierungspunkte der therapeutischen Entwicklungsförderung. Über Jahreentstanden so, allerdings auch in zunehmender Distanz zur überkommendenPraxis, Ideen, Einfälle und Gedankenketten zu dem vorliegenden Buch, die sichimmer mehr abrundeten und Gestalt annahmen.

Die Anfertigung von »Stundenskizzen« sowie die Niederschrift meiner the-rapeutischen Erfahrungen in dialogischer Form bilden für mich nunmehr dasKernstück meiner professionellen Reflexionen. Die Gesprächsinhalte kreisen inden geschilderten Szenen um Lebenswirklichkeiten in Form wiederkehrenderKrisen und spiegeln Phasen starker emotionaler Betroffenheit. Sie lassen sich impsychoanalytischen Dialog auf unterschiedlichen Ebenen durch szenisches undanalytisches Verstehen erschließen. Die von mir gewählte spezifische Form dertextualen Gestaltung der Dialoge in den Stundenskizzen beschreibt die Rezepti-on und Verarbeitung dieser interaktiven Inhalte imKommunikationsprozess unddie verschiedenen Ebenen der mentalen Verarbeitung meinerseits.

Das immer wieder überhöht formulierte Ethos des Heilens wurde mir in vie-len therapeutischen Begegnungen zum Problem. Als Analytikerin erlebte ich inkonkordanter oder komplementärer Identifizierung die emotionalenHöhen undTiefen zwischenZuversicht und Selbstzweifel und die enormenGefühlsspannun-gen der Betroffenen. Mich berührt nach wie vor zutiefst und unvermindert dieBrisanz der angesprochenen Konfliktthemen und der Schicksalsverläufe. In the-menzentrierten Kapiteln greife ich existenzielle Lebenskonflikte verdichtet auf –symbolische Abbilder dessen, was ein Seelenleben ausmacht und manchmal aus-haltenmuss.Das Schreiben ermöglichte esmir jedoch, den notwendigenAbstand

Vorwort

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zu gewinnen, mich in der Reflexion zu sammeln und mit meinem eigenen Unbe-wussten in Kontakt zu bleiben.

Zur Entstehung dieses Buches

Nach erstem Festhalten handschriftlicher Stundenskizzen beschloss ich im wei-teren Verlauf, das sprachliche Handlungsgeschehen auf verschiedenen Gedanke-nebenen abzubilden sowie in Form eigener innererMonologe, in Korrespondenzzu psychoanalytischen Denkmustern, differenzierter aufzuzeichnen. Durch dieAnalyse der Sprechakte und die Offenlegung meiner Gefühlsspannungen undEmpfindungen verschaffte ichmirRechenschaft übermeinTun.DieAufdeckungpersönlichen Unvermögens und Nichtverstehens, unter Einschluss der Beach-tung beunruhigender Zweifel, fiel mir nicht immer leicht. Zunehmend wurdemir klarer, dass ich damit die zugeschriebene Rolle einer analytisch arbeitendenTherapeutin aufbrach. Allmählich reifte in mir der Entschluss, mein professio-nell subjektives Denken und Tun ungeschönt darzustellen. Die übergeordneteIntention war es, eine neue, umfassendere und aussagekräftigere Form der Fall-darstellung zu finden.

Die nach mehreren Arbeitsvorgängen endgültig konzipierte Textstrukturspiegelt nunmehr die inhaltliche Verflechtung der Beteiligten in der therapeuti-schen Zweiersituation, wobei ich auf die Erfassung unterschiedlicher Wahrneh-mungsmodi und des Perspektivenwechsels bei wechselseitigen Identifizierungenbesonderen Wert lege. Der Darstellung innerer Monologe und eigener Träume,Fantasien und Gedankengefühle kommt besonderes Gewicht beim Erspüren in-teraktioneller Übertragungsvorgänge zu. Die inhaltliche Deskription und tiefen-hermeneutische Analyse erfolgt in jedem Kapitel durchgehend unter sorgfältigerBeachtung des Gebots der Anonymisierung – zum Schutz der Patientinnen. In-nerlich fühle ichmich ihnen– in derRückerinnerung an gemeinsameMomente –nach wie vor sehr verbunden.

Praxis und Theorie treten nun in dieser Form sprachlicher Darstellung in eininterdependentes Wechselverhältnis. Die inhaltliche Verlaufsbeschreibung despsychisch-sozialen Handlungserlebens im therapeutischen Raum und die psy-choanalytisch-wissenschaftliche Reflexion gehen Hand in Hand. Erst nach derexemplarischen Auswahl der Fallvignetten und der schriftlichen Aufzeichnunggeeigneter interaktiver Sequenzen begann ich damit, die abgelaufenen Prozesseaus der Distanz heraus – sozusagen ex post – erneut genauestens zu analysierenund mir selbst über das Geschehen Rechenschaft abzulegen. Dabei tauschte ich

Zur Entstehung dieses Buches

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die Rolle der involvierten Analytikerin mit der einer teilnehmenden Zuhörerinund Beobachterin – ähnlich wie in der Intervision. Nach Festlegung der verschie-denen Darstellungsebenen des psychoanalytischen Dialogs verfasste ich dann diegrundlegenden themenbezogenen Rahmentexte zur Verdeutlichung der Gegen-wärtigkeit des kulturellen Dritten im Einklang mit meinem Selbstverständnis.

Der Kernmeines Interesses liegt, trotz reflektierender Überarbeitung, auf derDarstellung ungefilterten Stundenmaterials, das nun unter den intersubjektivenGesichtspunkten der wechselseitigen Bezogenheit und Verwicklung vorgestelltund hinterfragt werden kann – sowohl von den Leserinnen und Lesern als aucherneut von mir als Therapeutin. Das Aufzeigen von Gelingen undMisslingen istTeil meiner eigenen kritischen Selbstreflexion im Prozess des Nachsinnens.

Lesart und inhaltlicher Aufbau

UmdenLeserinnen undLesern den Einstieg in die Thematik zu erleichtern, stelleich bereits im einleitenden Teil des Buches einige für mich wesentliche Kernaussa-gen zum interaktionellen und intersubjektiven Paradigma in Anlehnung an derenbekannteste Vertreter und Vertreterinnen in Form eines thesenartig formulier-ten Überblicks zusammen. Die Leser und Leserinnen sollen angeregt werden,unter behandlungsanalytischer Perspektive eigenständige Gedanken über mögli-cheWechselwirkungen zwischen dem interaktivenHandlungsgeschehen und derwahlweisen Befolgung paradigmatisch begründeter Leitlinien zu entwickeln. Er-forderlich scheint mir dieses gerade angesichts des momentan lebhaft geführtenDiskurses über die Relevanz des intersubjektiven Paradigmas.

Es folgt im zweiten Teil die Darstellung themenbezogener Stundenskizzenund interaktiver Dialoge in dem Versuch, mein eigenes professionelles Alltags-handeln selbstreflexiv einer kritischen Analyse zu unterziehen und beispielhaftmeine gesellschaftsorientierte Position zu verdeutlichen. Aus diesem Grundewurde das Fallmaterial durch gesellschaftsbezogene Einleitungs- undÜbergangs-texte, denen eine Brückenfunktion zukommt, eingebunden und ergänzt.

Die selbstreflexive Nachlese im dritten Teil spiegelt die Verarbeitung vorlie-genderpraxeologischerErfahrungenundbereitet ansatzweise eigenekonzeptuelleÜberlegungen im späteren Teil vor.

Im vierten Teil versuche ich durch Rekurs auf einschlägige kulturtheore-tische und kulturkritische Erörterungen unter Hervorhebung grundlegenderFreud’scher Annahmen die maßgebliche sozialrelevante Hintergrundthematikdieses Buches zu umreißen. Mit den von mir eigens entwickelten Überlegungen

Vorwort

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zur dualen Struktur des Subjekts möchte ich die vorangestellten Beiträge ergän-zen.

Die Darstellung neuerer Triangulierungskonzeptionen unter Einschluss pra-xisorientierter Reflexion im fünften Teil erweitert den Blick über den Fokus einertherapeutischen Subjekt-Subjekt-Beziehung hinaus auf die tragende Bedeutungdes gesellschaftlichenDritten, das sich im analytischen Prozess in personalen undsozialen Interaktionen ständig konstituiert und Beachtung verdient.

Im abschließenden sechsten Teil des Buches werden Kernannahmen vonVertreterinnen und Vertretern einer gesellschaftskritischen Psychoanalyse fo-kussierend vorgestellt, um den Forderungen nach weiterer transdisziplinärerForschung und sozio-psychoanalytischen Konzeptualisierungen Nachdruck zuverleihen. Zugleich möchte ich, angesichts des permanenten systemischenWan-dels, den Blick für die notwendige Berücksichtigung des kulturellen Drittenin den alltäglichen Handlungsdialogen schärfen, um dem Postulat der gesell-schaftlichen Verantwortung der Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker zuentsprechen.

Beweggründe – Hintergründe

Noch einige Ergänzungen zu meinen persönlichen Beweggründen, dieses Buchzu schreiben. Meine Studien der Soziologie und später der Pädagogik eröffnetenmir vormeiner Begegnungmit der Psychoanalyse einen Zugang zum gesellschaft-lichen Denken und begründen mein kritisches Engagement in sozialen Räumenund interdisziplinärenArbeitsfeldern.Meine Sensibilität hinsichtlichpsychischerVerstrickungen in Relation zu zeitgeschichtlichen Einflüssen gesellschaftlicherStrukturen ist sicherlich zum Großteil meiner Biografie als Nachkriegskind undmeinen Lebenserfahrungen in den 1950er und 1960er Jahren geschuldet. DasInfragestellen eingefrorener bürgerlicher Lebensverhältnisse und die von Idea-len getragene Suche nach notwendigen systemischen Veränderungen begleitetenmich in meiner Studienzeit.

In der Zeit der beruflichen Umorientierung wurde mir die tragende Bedeu-tung des interdisziplinärenDiskurses zu Fragen des Verhältnisses von Subjekt undGesellschaft zunehmend bewusster und motivierte mich zu weiteren Qualifika-tionen. Die gruppenanalytischeWeiterbildung in der Gesellschaft für analytischeGruppendynamik e.V. (GAG) in München und die anschließende Ausbildungzur Psychoanalytikerin in der Münchner Arbeitsgemeinschaft für Psychoanaly-se e.V. (MAP), festigtenmeine professionelle Identität. ImNachhinein empfinde

Beweggründe – Hintergründe

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ich die damaligen Lehr- undLernerfahrungen als ausgesprochenwegweisend undinnovativ, gerade hinsichtlich der Begegnung mit neueren Entwicklungen in derPsychoanalyse. Ich fühlte mich getragen und unterstützt von der Zugewandtheitund dem professionellen Engagement der damaligen Vorstandsmitglieder Leo-nore Gröninger (†) und Siegfried Gröninger sowie von meinen Supervisoren,den Lehranalytikern Wolfgang Schmidbauer und insbesondere Edmund Früh-mann (†) aus Salzburg.

Überleitendmöchte icheinemirnachhaltig imBewusstseingebliebene Jahres-tagung derMAP unter demTitel »Die analytische Haltung und die gesellschaft-liche Verantwortung des Psychoanalytikers« aus dem Jahr 1994 hervorheben.In der Einladung zur Tagung wurden von Helmut Remmler und Peter BründlkulturkritischeKernfragen formuliert, die heutzutage wieder in Vergessenheit ge-raten sind. Vor allem wurden zentrale Themen wie die der Interdependenz vongesellschaftspolitischer Position und Deutungstechnik der Analytikerin oder desAnalytikers hervorgehoben und übergreifend das Zusammenwirken von Kultur-kritik und »Krankenbehandlung« hinterfragt. Die damalige Tagung, bei derich als Dozentin eine Arbeitsgruppe über den Umgang mit dem analytischenRahmen bei sexuell traumatisierten Patientinnen leitete, fand ich ausgesprochenanregend; sie hat mich in meiner Auffassung bestätigt.

Für die inzwischen vonmir entwickelten konzeptuellen Fragen ähnlich berei-chernd empfand ich die MAP-Tagung im Herbst 2015 zur »Intersubjektivität«mit Expertinnen und Experten wie Jessica Benjamin, Donna M. Orange, MartinAltmeyer und Chris Jaenicke. Mir ist es wichtig, diese Vorträge und Tagungsin-halte in ihrer Funktion als Schrittmacher hervorzuheben.

Durch vertiefende und auch kontroverse Gespräche mit Kolleginnen undKollegen habe ich durchaus wertvolle Anregungen erhalten, die ich in meineÜberlegungen integrieren konnte. Bedanken möchte ich mich in diesem Sinnebei allen Dozentinnen und Dozenten, Lehranalytikerinnen und Lehranalytikernsowie Kolleginnen und Kollegen der MAP, die mir das Gefühl vermittelten, dassdas Junktim vonHeilen und Forschen (Freud, 1927) bei Einschluss interdiszipli-närer Perspektiven ein offener Erkenntnisprozess bleiben muss.

Mein besonderer Dank gilt den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Psy-chosozial-Verlags und speziell dem Verleger Herrn Prof. Dr. Hans-JürgenWirth,der mir die Chance gab, neben den analytischen Erfahrungen auch meine durch-aus professionskritischen Gedanken im Spannungsfeld von Individuum undGesellschaft in dieser Publikation darzulegen. In einer Zeit großer sozialer Ver-änderungen sind verlegerische Offenheit und verantwortliches Engagement vongrößter Bedeutung.

Vorwort

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Ausdrücklich erwähnen möchte ich abschließend den für mich seit Jahr-zehnten sehr bereichernden geistigen Austausch mit meinem Mann, HeinerHirblinger, dessen reflexiver Weitblick als psychoanalytischer Pädagoge mir inFragen des interdisziplinären Diskurses immer wichtig war.

Ich bin voller Zuversicht, dass die aufgeschlossenen Leserinnen und Leserdieses Buches den kritischen Geist der Psychoanalyse durch die Räume derBegegnung, auch jenseits von Zweckrationalität und eindimensionalem Anwen-dungsdenken, weitertragen.

Dießen am Ammersee, Juli 2018,Annedore Hirblinger

Beweggründe – Hintergründe

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Paradigmenwechselund Neuorientierungen

Wir Therapeuten1 arbeiten in der Praxis mit weit verzweigten Annahmen undPlausibilitäten und haben in vielen Behandlungsjahren unseren persönlichen Ar-beitsstil im Einklang mit unserer eigenen Persönlichkeit und dem sich ständigerneuernden Erfahrungswissen entwickelt. Die Reflexion des beziehungsanaly-tischen Geschehens zwischen zwei Subjekten wird zur Hauptachse der Erfah-rungsanalyse im Dienste der Selbstentwicklung des Patienten, der versucht seinSelbst zu erkennen und sein Leiden zu verstehen. Das persönlich Subjektive desTherapeuten verschafft sich durch seine emotionale Anteilnahme, sein gedank-liches Eintauchen und die Art seiner professionellen Interventionen ständig imGespräch Raum.

Im derzeitigen Diskurs relevanter Paradigmen stellt sich für mich die Frage,inwieweit es gelingt, professionelle Leitlinien und Standardsmit unserem eigenenKönnen und unseren beruflichen Ich-Idealen in Einklang zu bringen. Erinnertsei hier an diesbezügliche Selbstreflexionen von Ralf Zwiebel in seinem BuchWas macht einen guten Psychoanalytiker aus? Grundelemente professioneller Psy-chotherapie (2013). Andere bekennen sich zu ihrer spürbaren Verunsicherung,mit ihrempsychoanalytischenTunmöglicherweise nichtmit der»Community«übereinzustimmen. Michael Ermann zufolge entlaste erst die Hinwendung zudem intersubjektiven Paradigma buchstäblich viele analytischeKollegen von demaufgebauten Druck. Er beschreibt in diesem Zusammenhang eindrucksvoll seine

1 Um den Lesefluss nicht zu beeinträchtigen, sind stets grundsätzlich alle Geschlechtergleichermaßen gemeint, auch wenn nur die maskuline Form genannt wird. Wo hin-gegen explizit von Personen eines bestimmten Geschlechts die Rede ist, wird diesdurch einen Zusatz benannt bzw. die entsprechende unterscheidbare grammatikali-sche Form verwendet.

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Gefühle der Erleichterung nach der Selbstbefreiung vom analytischen Über-Ich(Ermann, 2014, S. 126). Ähnlich formuliert es Helmut Junker, der angesichts derheutigen paradigmatischenWende dieMöglichkeit betont, sich von demModelldes Richtig–Falsch bei verstärktem Bezug auf das wahre Selbst und die eigeneAuthentizität zu lösen (Junker, 2013, S. 26).

Weder das Befolgen methodischer Qualitätsstandards noch objektivierbarerBehandlungsschritte garantieren den sogenannten Erfolg der Therapie. Verlaufund Qualität einer Therapie werden in erster Linie durch das kunstvolle Zusam-menspiel vonAnalytiker undPatient sowie vondem stimmigen Ineinandergreifenwechselseitiger Interaktionen undmiteinander verwobener emotionaler Prozessebestimmt. In diesem Sinne betont auch Jaenicke den unübersehbaren Einfluss derSubjektivität des Analytikers, da dieser grundsätzlich den therapeutischen Pro-zess mit jeder Faser seiner Persönlichkeit beeinflusse. »Jeder Therapeut machtdie Erfahrungen, dass auch die Schwierigkeiten, mit denen er selbst zu ringen hat,aktiviert oder wiederbelebt werden, sobald er sich auf das emotionale Leiden unddie innere Zerstörung des Patienten einlässt« (Jaenicke, 2014a, S. 137).

Nach einschlägiger Lektüre über paradigmatische Neuorientierungen und ei-gener Hinwendung zu einem verstärkt intersubjektiven Arbeiten fühlte ich micherleichtert durch die Gewissheit, in meinen Therapien – überspitzt gesagt –nicht allzu viel falsch gemacht zu haben. Im Laufe des Leseprozesses wuchs meinSelbstbewusstsein, subjektivenEmpfindungen impsychoanalytischenDialog undmeinen Behandlungserfahrungen voll zu vertrauen, ohne die berufsethische Ver-pflichtung nach Selbstreflexivität und kritischemÜberdenken der eigenenHand-lungspraxis zu vernachlässigen.

Die Fragen des Paradigmenwechsels in der Psychoanalyse sind seit JahrenGegenstand vieler Abhandlungen undÜberlegungen zur psychoanalytischen Be-handlungstechnik. Mir selbst erscheint der Terminus »Behandlungstechnik«kritisch betrachtet unter konnotativer Perspektive bereits mit veralteten Vorstel-lungen eines starren asymmetrischen Miteinanders von Therapeut und Patientverknüpft zu sein. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang meine Beob-achtung, dass in Intervisionskreisen bei Fallbesprechungen höchst selten aufgrundlegende Denkmuster und psychoanalytische Paradigmen Bezug genom-men wird.

In den vergangenen Jahren war das komplizierte Verhältnis von Technik undBeziehung gerade im Hinblick auf das intersubjektive Vorgehen (vgl. Orangeet al., 2001, S. 33ff.; Lesmeister, 2005, S. 34) immer wieder Gegenstand derAuseinandersetzungen. Völlig unpassend und überholt erscheint inzwischen dieOrientierung an einem medizinalisierten Krankheitsbegriff, der nach Junker die

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vorrangige Suche nach der »Pathologie des anderen« (Junker, 2013, S. 26) im-pliziert.

Folgt man progressiven Überlegungen zum intersubjektiven Paradigma, wirdim Rahmen der Reformulierung analytischen Diskurswissens die Notwendigkeitkonzeptioneller Modifikationen deutlich. Zugleich ergeben sich Bedeutungsver-schiebungen im herkömmlichen Gebrauch wissenschaftlicher Begrifflichkeitenzur Beschreibung analytischer Prozessabläufe. Ich denke dabei an die inzwi-schen gängige Verwendung neuer Begriffe wie die der »Bezogenheit«, der »Ko-Determination« oder der »intersubjektiven Matrix«, um Wirklichkeitszusam-menhänge im therapeutischen Feld zu erfassen, oder auch an den unterschiedli-chen Gebrauch und die verschiedenen Definitionen des Übertragungsbegriffes.

So ermöglicht die tiefenhermeneutische Analyse des Prozessgeschehens dieOffenlegung unterschiedlichsterÜbertragungskonstellationen und – aus überge-ordneter Perspektive – unterschiedliche behandlungsrelevante Gewichtungen jenach paradigmatischer, das heißt interaktioneller oder intersubjektiver Sichtwei-se. Ermann betont in seinenVorlesungen, inHinwendung zu tragendenEssentialsdes intersubjektiven Paradigmas, die irreversible Abkehr von dem Freud’schentraditionellen Übertragungsbegriff, der früheren Ein-Personen-Perspektive unddamit von einem rigiden Behandlungssetting (vgl. Ermann, 2014, S. 116–122).

Mit den Fragen der Paradigmenwahl verknüpft sich seit den Anfängen derPsychoanalyse die allgemeine aber auch kontrovers geführte Diskussion über dieAktivität des Psychoanalytikers und seine Rolle im therapeutischen Prozess, wiedies vor allem Helmut Thomä (1981, S. 7–20) in seinem resümierenden Über-blick darstellt. Ergänzend sei auch hier auf Ermann verwiesen, der bei Rekursauf die Geschichte der Psychoanalyse, in Erwähnung der Schriften von SándorFerenczi, Michael Balint, Donald W. Winnicott bis hin zu Wilfred R. Bion inder zweitenHälfte des vorigen Jahrhunderts, diesbezüglich differente Annahmenskizziert (Ermann, 2014, S. 23–36).

Sigmund Freud forderte 1909 anfänglich, noch eher vage formuliert, einausgewogenes Maß therapeutischer Aktivität, um notwendige und entlastendeÄnderungen des Verhaltens seitens des Patienten herbeizuführen (Thomä, 1981,S. 33). Über ein rein interpretierendes Vorgehen des Analytikers hinausgehendrückten dann in den Folgejahrzehnten verstärkt behandlungsorientierte Fragennach Sinn undNotwendigkeit bestimmter Interventionstechniken und ihrer Eig-nung für das therapeutische Gelingen in den Vordergrund. Explizit thematisierteFerenczi als erster die aktive Rolle des Psychoanalytikers (ebd., S. 30), was imLaufe der Jahrzehnte einen lebendigen Diskurs über die Aufgabe der Spiegel-analogie Freuds und des rigiden Abstinenzgebots zugunsten einer Betrachtung

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