Annette Ziegenmeyer - MOECK · 2019. 12. 19. · eigenen Diminutionen über die Tenorstimme ei-nes...

84

Transcript of Annette Ziegenmeyer - MOECK · 2019. 12. 19. · eigenen Diminutionen über die Tenorstimme ei-nes...

  • Annette Ziegenmeyer

    The Delayed Flute – Das Spiel mitdem eigenen EchoSeminar 1: 19. Februar 2005

    Eine neue, großen Spaß versprechende Dimensiondes Blockflötenspiels wird durch den Einsatz ein-facher Elektronik wie Mikrophon, Delay und Ver-stärker erreicht. Der Delay-Effekt bringt dieBlockflöte in einer kreativen und innovativenWeise zum Klingen und verleiht dem Instrumentganz neue Ausdrucks mög lich keiten.Grund übungen und Technik werden hier vor ge -stellt und mit allen Teilnehmern geübt. Schwer-punkt des Kurses sind dabei Improvisation undRhythmus. Erarbeitet werden auch Stücke derDozentin. Die Noten sind vorab über den MoeckVerlag erhältlich. Die techni sche Ausrüstung stehtzur Verfügung. Mehr zum Delay-Effekt lesen Sie ab Seite 356 indiesem Heft.Alter: ab 12

    Dorothee Oberlinger

    Neue Spieltechniken und Improvi-sationen auf der BlockflöteSeminar 2: 23. April 2005

    Im Vordergrund dieses Workshops steht das Spie-len ohne Noten; eingeladen sind alle, die Lust amExperimentieren und Mut zu eigenen musikali -schen Ideen haben.Nach einer kleinen Einführung mit verschiedenenKlangbeispielen beschäftigen wir uns mit:– Neuen Spieltechniken, ihrer Notation und Um-setzung

    – Improvisationen zu Bildern und Texten– Grafischer Notation– Kompositionen eigener kleiner Stücke– Evtl. Erarbeitung von Bryan Littels Brain Wavefür beliebiges Ensemble (Noten werden von derDozentin mitgebracht)

    Je nach Anmeldung und Bedarf können auch inEinzelstunden zeitgenössische Werke erarbei tetwerden.Mitgebracht werden können alle Flötengrößen in440 Hz vom Sopranino bis zur Subbassblockflöte,falls vorhanden, auf alle Fälle Alt- und Sopran-blockflöte.Alter: ab 12

    Termin: jeweils Samstags von 10.00 – 17.00 Uhr (Mittagspause von 13.00 – 14.00 Uhr)

    Ort: Kreismusikschule Celle, Kanonenstr. 4, 29221 CelleTeilnahmegebühr: 40,00 Euro (aktiv)

    Weitere Informationen und Anmeldung: Moeck Musikinstrumente + Verlag, Lückenweg 4, 29227 Celle Organisation: Franz Müller-Busch, Tel. 05141-885346

    SS pp ii ee ll rr ää uu mm ee –– MOECK Seminare2005

  • TIBIA 3/2005 489

    TIBIA · Magazin für Holzbläser 30. Jahrgang · Heft 3/2005

    InhaltDavid Lasocki: Ein Überblick über die Blockflöten-forschung 2002, Teil II 490Das Porträt: Die Blockflötistin Siri Rovatkay-SohnsEin Porträt von Michael Hell 497Marco De Cillis: Der Kopfsatz aus Mozarts Oboenkonzert 502Miranda Voss:Die Geißenklösterle-Flöten – bisher ältesteZeugnisse menschlichen Musizierens 516Hartmut Gerhold: Theobald Böhms Bearbeitungen für dieAltflöte – nicht nur für den eigenen Gebrauch gedacht 522

    Summaries 525

    BerichteDörte Nienstedt: Eine Wunderblume: Urs Peter SchneidersHäresie für zweihundert Soloblockflöten 526Manuela Christen: Klein, aber fein!Die (2.) Tagung der ERTA Schweiz 529Marianne Klatt: Neue Spieltechniken und Improvisationenauf der Blockflöte. Moeck Seminar mit Dorothee Oberlingeram 23.04.2005 in Celle 531

    Frisch aus der QuelleMeeresbrandung und obligater Ätnaausbruch 532

    RezensionenBücher 534Noten 535Tonträger und AV-Medien 550

    Leserforum 558

    Veranstaltungen 559

    Impressum 568

    TIBIA-Kunstbeilage: FRÜHLINGSSTIMMUNG (R-agin-ı Vasanta)Miniaturmalerei 11,8 x 18,1 cmBundi/Rajasthan (ca. 350 km südlich Dehli), 1. Hälfte 17. Jh., Museum für Indische Kunst, Berlin

  • 490 TIBIA 3/2005

    Aufführungspraxis und Technik

    Blockflötisten legen im allgemeinen ein Lippen-bekenntnis zur Wichtigkeit von Sylvestro Ga-nassis Fontegara (Venedig 1535) ab, insbesonde-re zu den zahlreichen Diminutionsbeispielen –im Originaldruck nicht weniger als 130 Seiten.Nicht so der Schweizer Blockflötist MichaelForm, der zwar „das Fehlen von Madrigalenoder Chansons mit Diminutionen in der Fonte-gara“ beklagt, aber die Prinzipien zu erklärenversucht, die Ganassis Diminutionen zu Grun-de liegen, damit wir sie ernsthaft anwenden kön-nen. Form isoliert zunächst acht verschiedenemusikalische Figuren, die aus vier Viertelnotenbestehen und somit zusammen eine ganze Noteergeben. Dann zeigt er auf, wie sich diese Figu-ren auf unterschiedliche Weise kombinieren las-sen, so dass Abfolgen aus Achtel- und Sech zehn -tel noten entstehen. Durch die Veränderung einesoder mehrerer von drei musikalischen Parame-tern, nämlich Rhythmus, Tonhöhe und Metrumkönnen diese Abfolgen variiert werden. An die-sem Punkt verläuft der Artikel im Sande, wie-wohl Form noch ein brillantes Beispiel seinereigenen Diminutionen über die Tenorstimme ei-nes Chansons von Hayne van Ghizeghem zumbesten gibt, in dem er 5/4- und 6/4-Metrum ge-gen den 4/4-Takt setzt. (A Compass Through theGanassi Jungle, in: Cinnamon Sticks, Jg. 3, Nr. 1,Mai 2002, S. 6-11.)

    In einem Interview mitNik Tarasov über Ga-nassi äußert sich Formweitergehend zu seinenVorstellungen. Ermeint, dass Ganassi1535 – ebenso wie Wal-ter van Hauwe in Mo-derne Blockflötentech-nik aus den 1980erJahren – die Grenzenvon Technik und Aus-

    druck im Block flötenspiel bis zum Äußerstenausgereizt habe. Einer der Schwerpunkte lag aufder Artikulation, die damals noch sowohl „har-te“ Silben (u. a. te, de, ke und ge) als Imitationder kehligen Artikulation des Sängers als auchdie sanfteren, „weichen“ Silben (le und re) ein-schloss. (Die „harte“ Doppelzunge wurde imspäten 16. Jahrhundert ungebräuchlich und wur-de erst im späten 18. Jahrhundert wieder ver-wendet.) Schon Ganassi bemerkte, dass mandurch gute Atemkontrolle und alternative Fin-gersätze die dynamischen Möglichkeiten derBlockflöte beeinflussen konnte. Natürlichspricht es für sich, dass Ganassi den Diminutio-nen derart viel Platz einräumte. „Passaggi sindder pure Ausdruck“, sagt Form, „Verzierungensind Expressivität“. (Klang rede & Klang, in:Windkanal, Nr. 2/2002, S. 6-9.) In einem Be-gleitartikel berichtet Form zusammenfassendüber die anregenden Block flötenschriften vonGirolamo Cardano (ca. 1546 und 1568), die Züge einer Blockflötentechnik aufweisen, derman sonst erst im späteren 20. Jahrhundert be-gegnet: verschiedene Positionen der Zunge imMund und der Zungenspitze am Gaumen sowieeine Art flattement, das allerdings etwa als 1/4-Ton (diesis) nach oben ausgeführt wird. (Girola-mo Cardano: De Musica, in: Windkanal, Nr.2/2002, S. 10-11.)

    Bruce Haynes präsen-tiert einen kleinen histo-rischen Abriss derKunst des Präludierensfür Holzblasinstrumen-te im 18. Jahrhundert,der nahezu vollständigauf ein Buch über selbi-ges Thema von BettyBang Mather und mir(David Lasocki) zu -rück geht. In seinemnachfolgenden Brief anden Herausgeber erläu-

    David LasockiEin Überblick über die Blockflötenforschung 2002, Teil II

    David Lasocki, Musikbib -liothekar an der Indiana Uni-versity (USA), schreibt überHolzblasinstrumente, ihreGeschichte, ihr Repertoireund ihre Aufführungspraxis.Die zweite Ausgabe seinerkommentierten Bibliogra-phie der Veröffentlichungenüber die Blockflöte, nun mit

    dem Titel The Recorder: A Research and InformationGuide (mit Richard Griscom) erschien im März 2003bei Routledge, New York. Eine vollständige Liste sei -ner Publikationen: http://php.indiana.edu/~lasocki.

    David Lasocki

  • tert er seine Absicht, einerseits unser Buch be-kannter sowie andererseits auf eine weit verbrei-tete, heute vergessene Praxis aufmerksam zu ma-chen. (Bruce Haynes: Die Kunst des Präludierensauf Holzblasinstrumenten im 18. Jahrhundert,in: Tibia, Jg. 27, Nr. 2/2002, S. 91-93; Brief an denHerausgeber, in: Tibia, Jg. 27, Nr. 4/2002, S. 317;Mather und Lasocki: The Art of Preluding 1700–1830 for Flutists, Oboists, Clarinettists, andOther Performers, McGinnis & Marx, NewYork, 1984.)

    Eva Legêne und John Rush untersuchen sehrdetailliert die 200 Präludien und traits (Übun-gen) aus Jacques Hotteterres L’art de préluder(Paris 1719). Ihre erste klare Schlussfolgerunglautet, dass der Hinweis croches égales nicht nur„gleichmäßige Achtelnoten“ bedeutet, sondernin Stücken mit sowohl Achtel- als auch Sech-zehntelnoten die gleichmäßige Ausführung bei-der Notenwerte anzeigt. Eine weitere Schluss-folgerung besagt, dass Hotteterre Bindebögenmit Bedacht als Ausdrucksmittel einsetzte, vonLebhaftigkeit (Zweierbindungen) bis hin zurZartheit (Bindungen über vier oder mehr Töne).Mehrere Tabellen verdeutlichen die Beziehun-gen zwischen Charakterbezeichnung (25 ver-schiedene Angaben von affetueusement bis vivement) und Taktvorzeichnung, Inégalité,Bindung, angebundenen Trillern und Tonart.Der Artikel ist recht weitschweifig, daher nimmtman das Versprechen der Autoren mit Erleich-terung auf, ihre Erkenntnisse demnächst in einerFortsetzung auf die Suiten und Duette Hotte-terres anwenden zu wollen. (Lessons from a Clo-se Analysis of Hotteterre’s “L’art de préluder”, in:Recorder Educa tion Journal 8, 2002, S. 5-15.)

    Hans Maria Kneihs macht den ersten Satz vonFrancesco Barsantis Sonate für Altblockflöteund Basso continuo in g-Moll (op. 1, Nr. 3) zumGegenstand einer geistreichen Unterhaltungzwischen zwei heutigen Gesprächspartnern, inderen Verlauf das Stück genauestens analysiertwird. Insbesondere mit Blick auf Harmonik undrhetorischen Gestus und unter Berücksichti-gung der Affektenlehre beleuchtet Kneihs ge-konnt jeden einzelnen Ton dieses oft gequälten

    Satzes. Höchst empfehlenswert. (A DialogueAbout Interpretation, By Way of Barsanti, in:Recorder Education Journal 8, 2002, S. 2-5;Übersetzung von ERTA-Schatzkästchen, in:ERTA Österreich News, Jg. 8, Nr. 4, 1. Dezem-ber 2002, S. 1-4; ebenfalls als Barocke Musik, mitden Mitteln der barocken Affektenlehre gedeu-tet, in: Die Gelbe Seite, Tibia, Jg. 28, Nr. 4/2003, S. XXIX-XXXII.)

    Margaret Rees berichtet, wie sie in einen Anti-quitätenladen in Oxford ging und auf eine Aus-gabe von The Compleat Tutor for the Flute(Thompson & Son, London, ca. 1760) stieß, diesie, wie sie andeutet, billig erstand. „Der Archiv -leiter“ der British Library (vermutlich ein Mu-sikbibliothekar) teilte ihr mit, seiner Ansichtnach handle es sich um das einzige erhalteneExemplar. Titelseite und Datierung sind jedochidentisch mit jenen eines Lehrwerks in der Li -brary of Congress (Nr. 95 in Thomas E. WarnersAn Annotated Bibliography of Woodwind In-struction Books, 1600–1830). Rees’ Exemplarträgt die Signatur „Joseph Grundy His Book1762“ – eine Datierung, die gut zu WarnersSchätzung des Erscheinungsdatums passt, dassich an dem Stempel der Druckerei orientiert.Die Ausgabe ging durch die Hände zweier spä-terer Grundys, die beide Richard hießen (1792und 1850). Rees hat die Spur der Grundys bis inein Dorf an der Grenze zwischen Derbyshireund Nottinghamshire zurückverfolgt, jedochnoch niemanden ausfindig gemacht, der die bei-den Richards zu seinen Vorfahren zählt. Übermehrere Seiten beschreibt Rees die Abstam-mung der Blockflötenschulen von Virdung bisThe New Flute Master, obwohl diese schon an-dernorts mehrfach behandelt wurden (vgl. z. B.Griscom und Lasocki, The Recorder: A Researchand Information Guide, 2. Auflage). (An Intro-duction to the Grundy Book with a Look at aFew Early Recorder Tutors, in: The Consort 58,Sommer 2002, S. 54-66.)

    Alte-Musik-Fans haben schon lange erkannt,dass die rhythmische Inegalität der französi-schen Barockmusik irgendwie an den Swing desJazz des 20. Jahrhunderts und darauf folgende

    TIBIA 3/2005 491

    Ein Überblick über die Blockflötenforschung 2002

  • Stilrichtungen erinnert. Der Komponist undBläser Josef Monswidmet sich recht ausführlichden beiden Formen der Inegalität. Leider wussteer noch nichts von der komplexen Forschung,die Patricia Ranum in jüngster Zeit betriebenhat und die aufzeigt, wie die französische Praxisaus der Umsetzung sprachlicher in gesanglicheRede entstand, die wiederum in eine instrumen-tale Imitation der vokalen Praxis überführt wur-de. (J. Mons: Von Lully zu Ellington oder: Washat die Inégalité mit der Jazzphrasierung ge-mein?, in: Windkanal,Nr. 4/2002, S. 6-11; P. Ra-num: The Harmonic Orator: the Phrasing andRhetoric of the Melody in French Baroque Airs,Pendragon, Hillsdale, NY, 2001.)

    Wenn manche heutigen Blockflötisten bereitsdurch die rhythmischen Feinheiten in GanassisDiminutionen des frühen 16. Jahrhunderts ent-mutigt werden (s. o.), um wie viel abschrecken-der muss dann erst die Vielfalt rhythmischerUnterteilungen in der Musik der Avantgardewirken! Anita Orme zeigt uns, wie uns dasÜben der Rhythmussilben südindischer Musik(ta ki ta; ta ki di mi; ta ki ghi na ton usw.) beimgenauen und sicheren Ausführen unüblicherUnterteilungen eine Hilfe sein kann. Sie gibt ei-nen Kurzlehrgang, ausgehend von den reinenSilbenmustern über Muster mit unterschied -lichen Akzenten, der Verdopplung und Vervier-fachung des Tempos der einzelnen Abläufe bishin zur Veränderung der Zahl an Grundschlä-gen, die den einzelnen Mustern unterlegt sind.Ein wirklich hilfreicher Artikel. (CombiningSouthern Indian Technique wih Western Music,in: Cinnamon Sticks, Jg. 3, Nr. 1, Mai 2002, S. 14-18.)

    Kerstin de Witt präsentiert und beschreibt dreider Übungen, die sie für sich selbst als Hilfe zumErlernen von Maki Ishiis Black Intention ent-wickelte. Die erste Übung ist nützlich bei Passa-gen, in denen zwei Blockflöten simultan imHalbtonabstand gespielt werden müssen. DieÜbungen zwei und drei beschäftigen sich mitder Koordination gleichzeitigen Spielens undSingens sowie mit Sprüngen aus dem tiefen indas hohe Register und zurück. Eine vollständige

    Fassung aller zehn Übungen ist bei der Autorinerhältlich. (Übungen zur Vorbereitung auf „Black Intention“ (Maki Ishii), in: Die GelbeSeite, Tibia, Jg. 27, Nr. 1/2002, S. I-IV.)

    Vermutlich sind den Lesern sog. „Mikrotöne“vertraut, d. h. Tonabstände, die kleiner als einHalbton sind. Sie kommen gelegentlich in mo-derner Blockflötenmusik vor, vornehmlich, umdiese farbiger zu gestalten. Donald Bousted, einzeitgenössischer britischer Komponist, ist mitder Mikrotonalität viel weiter gegangen und hateine Reihe von Stücken geschrieben, in denen erViertel- und Achteltöne, manchmal auch Drit-tel- und Sechsteltöne zum Prinzip macht.Weiterhin entstanden in letzter Zeit Blockflö-tenstücke für 19-fach unterteilte Oktave (mit 19statt 12 Tönen pro Oktave). Bousted hat eng mitden Blockflötisten Kathryn Bennetts und PeterBowman zusammengearbeitet, und zu dritthaben sie zu diesem Thema eine Anleitung ver-fasst, die 1998 bei Moeck verlegt wurde. Dahin-ter steht die pädagogische Idee, Spieler mit einerReihe kurzer Übungen die Fähigkeit zu vermit-teln, Mikrotöne nach und nach in ihre Aus -drucksmittel, ihr Fingergedächtnis und ihr Ohraufzunehmen, bevor sie sich längeren Stückenwidmen. Bousted schreibt über die Geschichteder Mikrotonalität und ihre Anwendung auf derBlockflöte sowie über das Buch und seine eige-nen mikrotonalen Kompositionen. (Bennets,Bousted, Bowman: The Quarter-Tone RecorderManual,Moeck, Celle, 1998; Microtonality, theRecorder and “The Quarter-Tone Recorder Ma-nual”, in: The Recorder Magazine, Jg. 22, Nr. 3,Herbst 2002, S. 99-102; Korrekturen in: The Recorder Magazine, Jg. 23, Nr. 2, Sommer 2003,S. 64.)

    Historische und moderne Instrumente

    Erstaunlicherweise tauchen noch immer alteBlockflöten auf Straßenmärkten auf. AdrianBrown schreibt über zwei solcher Fundstückeder letzten Zeit aus Brescia und Rom, die sichnunmehr in Privatsammlungen befinden (derenSammler anonym bleiben möchten). Bei dem

    492 TIBIA 3/2005

    David Lasocki

  • ersten Instrument handelt es sich um eine Renaissance-Sopranblockflöte mit zwei fünf-zackigen Sternen als Herstellerzeichen (bisherunbekannt) und einem ungewöhnlichen schna-belförmigen Mundstück. Brown vermutet, dasses sich bei der „Trompetenbohrung“ – fast zylindrisch, in einer weiten Schallöffnung aus-laufend – und den großen Grifflöchern durchausum spätere Änderungen handeln könnte. Daszweite Instrument ist eine einteilige Altblock -flöte mit dem Herstellerzeichen MH und einerseltenen, umgekehrten Fensterform. Die Elfen-beinwülste und das „taillierte“ Außenprofil er-innern an Nürnberger Instrumente des späten17. Jahrhunderts. (Two Recent Recorder Finds inItaly, in: Galpin Society Newsletter, Nr. 4, Ok -tober 2002, S. 6-7; Zwei neue Blockflötenfundein Italien, in: Tibia, Jg. 28, Nr. 3/2003, S. 500-502.)

    „Rosenborg-Blockflöten“ werden sie heute ge-nannt, jene beiden Sopranblockflöten in frühba-rockem Stil, gefertigt aus dem Stoßzahn desNarwals, die vor 1673 gebaut und irgendwannzwischen 1673 und 1696 aus dem königlichenSchloss in Kopenhagen nach Schloss Rosenborgverbracht wurden. 1980 wurden sie von Eva Le-gène entdeckt, die sich von Fred Morgan Kopienin Narwal anfertigen ließ und diese seither inKonzerten spielt. In einem gemeinsamen Artikelin dänischer Sprache (mit englischer Zu-sammenfassung) schreibt Lisbet Torp über dieGeschichte dieser Blockflöten, und Ture Berg -strøm, der selbst Kopien davon angefertigt hat,bespricht sie in Hinblick auf Material, Bauweiseund Tonhöhe. („Rosenborgfløjterne“: Én eller tobyggere? To blokfløjter af narvaltand i Det Kon-gelige Danske Kunstkammer, in: Meddelelser fraMusikhistorisk Museum og Carl Claudius’ Sam-ling 8, 2000–2002, S. 42-51.)

    Die Rubrik „Fiktorganologie“ (kurz FO) desGalpin Society Newsletter, geschrieben von „un-serem FO-Korrespondenten“, ist nur insoweitfiktiv, als sie vorgibt, vom Instrument selbst ver-fasst worden zu sein, nämlich von einer erhalte-nen Bassblockflöte von Thomas Boekhout. DieFakten (und die Zitate in den Fußnoten) geben

    wieder, was wir über Boekhouts ungewöhnlichschöne Bässe und die Geschichte dieses speziel-len Instrumentes wissen. (Mr. Thomas Boek -hout’s Bass Recorder, in: Galpin Society News-letter,Nr. 3, Mai 2002, S. 9.)

    Die von Maarten Helder in den 1990er Jahrenentwickelte „harmonische“ Blockflöte, die jetztvon Mollenhauer produziert wird, ist an dieserStelle bereits besprochen worden (vgl. PeterBow man im Überblick … 1995 sowie Pete Rosein American Recorder, September 1996). DieIdee ist Nikolaj Tarasovs Kenntnissen über deut-sche Blockflöten der 1930er Jahre entsprungenund besteht darin, eine Blockflöte herzustellen,deren Griffe der ersten Oktave in die reineObertonreihe überblasen. Das harmonische In-strument verfügt auch über einen verstellbarenBlock und auf Wunsch über eine Pianoklappe.

    Gisela Rothe stellt auf verständliche Weise sei-ne Eigenschaften dar und präsentiert dazu nütz-liche Fotos, die einen Vergleich mit Blockflötender Renaissance und des Barock erlauben sowiedie Funktion von Klappen und verstellbaremBlock zeigen. Die deutsche BlockflötistinNadja Schubert, die sowohl Jazz als auch Klas-sik spielt, berichtet, wie sie das Instrument zuspielen lernte und wie sehr sie es schätzt. Be-sonders nützlich findet sie die Möglichkeit, ver-schiedene Blöcke aus unterschiedlichen Hölzerneinsetzen zu können, durch die sich die Tonqua-lität jeweils ändert. (G. Rothe: Helder-Blockflö-ten: Konstruktion & Bauweise, in: Windkanal,Nr. 2/2002, S. 25-28; N. Schubert: Helder Block -flöten: Harmonische Blockflöten als neue Gene-ration in der Blockflötenfamilie, in: Windkanal,Nr. 2/2002, S. 22-24.)

    Instrumente: Konstruktion, Restaurierungund Pflege

    Rainer Weber gibt einen Überblick über dieEntwicklung des Interesses an der Herstellungvon Kopien alter Holzblasinstrumente im 20.Jahrhundert, das dem Wunsch entsprang, AlteMusik in ihrer ursprünglichen Klangfarbe zu

    TIBIA 3/2005 493

    Ein Überblick über die Blockflötenforschung 2002

  • hören. Leider wurde dabei manches Original -instrument durch das Spielen und Kopieren be-schädigt. Neue Vermessungstechniken undComputerprogramme haben Sammlungen undForscher in die Lage versetzt, das akustischeVerhalten von Originalinstrumenten auf scho-nende Weise kennenzulernen. Dennoch bleibenFragen offen: Wie weit entfernt sind die Instru-mente heute von ihrem ursprünglichen Zustand?Und wie nahe kommen die modernen Kopien –vielleicht sollten wir sie „Nachschöpfungen“nennen – dem aktuellen oder ursprünglichenZustand ihrer Vorlagen? Reichlich Gedanken-futter mit einigen guten Illustrationen keines-wegs perfekter Originale. (Historische Holz -blas instrumente – Originale – Kopien – Nach -schöpfungen, in: Tibia, Jg. 27, Nr. 2/2002, S. 95-103.)

    In Bezug auf den Nachbau einer alten Elfen-bein-Blockflöte vertreten zwei heutige Instru-mentenbauer radikal unterschiedliche Ansätze.Heinz Ammann beschreibt eine Sixth Flute desNürnberger Herstellers Johann Benedikt Gahn,informiert uns über Gahn (aktiv von 1698 bis1711) und präsentiert eine detaillierte Zeich-nung, die er von dem Instrument angefertigt hat.Er geht allerdings so gut wie nicht darauf ein, wieer es nachzubauen gedenkt. Tom Lerch berich-tet dagegen sehr systematisch über die Kopie, dieer zusammen mit Margret Löbner von einer Re-naissance-Tenorblockflöte anfertigte. Das Ori-ginalinstrument trägt das Herstellerzeichen „!!“,das ich der Familie Bassano zugeschrieben habe.(Lerch schreibt „Valiani“, was mir ein Druck -fehler zu sein scheint, da einer meiner diesbe-züglichen Artikel in der Bibliographie genanntwird.) Die Edinburgh University Collection ofHistoric Musical Instruments hatte das Instru-ment kürzlich erworben. Lerch und Löbner er-hielten den Auftrag eine Kopie herzustellen, die„dem Original im Ist-Zustand (in allen wesent-lichen akustischen Belangen) möglichst nahekommt.“ Der zugrundeliegende Gedanke war,Interessenten lediglich das Spiel auf der Kopie zugestatten, da Elfenbein allzu leicht irreparabelgeschädigt werden kann. Lerch beschreibt, wiesie sich an die Herstellung eines „Klons“ mach-

    ten – aus imprägniertem Holz statt aus Elfenbein– und führt dann Graphiken der Bohrung undKlangspektren als Belege für den Erfolg an (dieKopie weist bei den höheren Teiltönen geringe-re Intensität auf). (H. Ammann: Eine Sopran-blockflöte von J. B. Gahn, in: Windkanal, Nr.2/2002, S. 22-24; T. Lerch: Versuch einer Block -flötenkopie – The Creation of a Clone, in: Tibia,Jg. 27, Nr. 2/2002, S. 104-113.)

    Edward L. Kottick und Alec V. Loretto habenvor einiger Zeit detailliert beschrieben, wieBlockflöten durch Veränderungen an den Griff -löchern und der unteren Öffnung (nach-)ge -stimmt werden können. Unter Hinweis auf dieGrenzen der möglichen Veränderungen an denGrifflöchern berichtet Loretto jetzt über dasStimmen durch Veränderung der Innenbohrung.Dazu verwendet er Kaugummiklümpchen, was-serfesten Leim oder Epoxydharze, oder erschiebt an der richtigen Stelle einen sehr schma-len Holzzylinder in die Bohrung. Auf eine An-frage von Angus Robertson, wie das hohe f aufeiner Altblockflöte zu stimmen sei, empfiehltLoretto ebenfalls diese Methode. Als dauerhaf-tere Lösung nennt er das Einsetzen eines Ringsin die Bohrung des Kopfstücks. (E. L. Kottick:Tone and Intonation on the Recorder,McGinnis& Marx, New York, 1974; A. V. Loretto: YetMore on Tuning Recorders, in: The RecorderMagazine, Jg. 10, Nr. 1, März 1990, S. 2-4 undNr. 2, Juni 1990, S. 30-31; Tuning Recorders byModifying the Bore, in: FoMRHI Quarterly,Nr.102, Januar 2001, S. 11-14, comm. 1740; A. Ro-bertson: Top f in a Treble Recorder, ebenda, S. 16,comm. 1742; A. V. Loretto: Comment on Com-munication 1742, in: FoMRHI Quarterly, Nr.103, April 2001, S. 10-11, comm. 1749.)

    Philippe Bolton führt einige andere Faktorenan, die die Stimmung des hohen f beeinflussenkönnen: die Größe des 2. Grifflochs, das Ver-hältnis der Positionen des 2. Grifflochs und desDaumenlochs zueinander sowie die Beschaffen-heit der Bohrung im oberen Bereich des Mittel-stücks. Davon unabhängig beschäftigt sich auchStephan Blezinger eingehend mit dem ThemaStimmen. Er benennt „sechs Faktoren, die das

    494 TIBIA 3/2005

    David Lasocki

  • Stimmen einer Blockflöte beeinflussen“: DieLänge des Instruments, Durchmesser und Ver-lauf der Bohrung, Größe des Aufschnitts sowiePlatzierung, Größe und Form der Grifflöcher.(Ph. Bolton: High F on the Baroque Alto Recor-der (Further to Comms 1742 & 1749), in: FoMR-HI Quarterly, Nr. 106, Januar 2002, S. 28-29,comm. 1790; S. Blezinger: Stimmungskorrektu-ren an der Blockflöte, in: Windkanal, Nr. 4/2001,S. 12-15 und Nr. 1/2002, S. 13-17.)

    Das australische Magazin Cinnamon Sticks prä-sentiert Brian Bloods langen Aufsatz überSymp toms and Solutions – Does Your RecorderNeed Servicing? (Symptome und Lösungen –braucht Ihre Blockflöte eine Überholung?) alsdreiteilige Folge. Ursprünglich ist der Artikelauf der Website der Firma Dolmetsch MusicalInstruments zu finden, für die Blood als Ge-schäftsführer und Designer tätig ist. Er gibt de-taillierte Expertenratschläge. (Cinnamon Sticks,Jg. 2, Nr. 2, November 2001, S. 20-21; Jg. 3, Nr. 1,Mai 2002, S. 32-34, und Nr. 2, November 2002,S. 26-28.)

    Einem Bericht von Alec V. Loretto zufolge hatAdriana Breukink eine Vorrichtung erfunden,die Blockflötisten das Erzeugen von Dynamikermöglicht. Loretto beschreibt die Unterschiedezwischen Dolmetschs berühmter Echoklappeund Breukinks neuer Mechanik, die nach demgleichen Prinzip funktioniert und ebenfalls mitdem Kinn bedient wird. Sie weist ein länglichesstatt eines runden Loches auf, das mit Hilfe einesGleitmechanismus verschlossen wird und einenstufenlosen Übergang vom gänzlich offenenzum komplett geschlossenen Zustand ermög-licht. (Recorder Dynamics, in: FoMRHI Quar-terly,Nr. 102, Januar 2001, Nr. 15, comm. 1741.)

    Cesar Villavicencio, ein ehemaliger Student vonMichael Barker in Den Haag, berichtet über Bar-kers Experimente mit dem Anschluss vonelektronischen Geräten an die Blockflöte. Da-nach beschreibt er seine eigenen Versuche mit ei-ner „elektronischen Blockflöte“. An einer Paet-zold Kontrabassblockflöte mit quadratischemQuerschnitt hat Villavicencio fogendes ange-

    bracht: ein Kondensatormikrophon, einen Sen-sor für den Atemdruck, HALL-Generatoren(die auf Änderungen der Magnetfelder reagieren,welche beim Öffnen und Schliessen der Klappenentstehen), Schalter, Drucksensoren, um die An-zahl der Effekte zu kontrollieren, einen Fader(um die Lautstärke der Effekte zu regulieren),ein Potentiometer, das auf den Winkel reagiert,in dem das Instrument gehalten wird sowie einenGeschwindigkeitsmesser, der sowohl durch dieBewegungsgeschwindigkeit des Instrumentesals auch durch den Haltewinkel beeinflusst wird.Ein neu entwickeltes Eingabegerät verwandeltdie von den Sensoren gelieferten elektrischenSpannungen in MIDI-Information, die dannvon einer neuen, MAX-MSP genannten Soft-ware weiterverarbeitet wird. MAX-MSP erzeugtmusikalische Strukturen, indem es mathemati-sche oder zufällige Grundmodelle verwendet. Eskann bei Live-Auftritten verwendet werden, umEffekte wie Transposition, Filter und Rück -kopplung zu erzeugen. Glücklicherweise hatVillavicencio Barkers Grundsatz beibehaltenund verwendet die Elektronik als eine Erweite-rung der Blockflöte, behält aber deren grund-sätzliche Charakteristik bei. (The Electronic Re-corder Explained, in: American Recorder, Jg. 43,Nr. 1, Januar 2002, S. 7-9.)

    Nachdrucke und Übersetzungen ältererArtikel

    Peter Holmans nützlicher bibliographischerArtikel über Recorder Music in England, ca.1680–1740, (Blockflötenmusik in England um1680–1740, vgl. Überblick … 2000) ist mit Kor-rekturen in Recorder Education Journal 8 (2002)auf S. 16-20 erschienen.

    Edgar Hunts Klassiker The Recorder and ItsMusic ist 2002 von Peacock Press in England neuverlegt worden. Auf der hinteren Umschlag seitewird behauptet: „Für die Neuauflage dieses Buches, das 1962 erschien, hat der Autor Textund Illustrationen der Revision und Korrekturunterzogen, um den neuesten Entwicklungen inaller Welt Rechnung zu tragen.“ Wenn es doch

    TIBIA 3/2005 495

    Ein Überblick über die Blockflötenforschung 2002

  • nur so wäre. Die wenigen neuen Illustrationen,die ich entdeckte, waren bereits in der (leicht)„überarbeiteten und erweiterten“ Ausgabe von1977 enthalten. Die Druckqualität aller Illustra-tionen ist hier jedoch leider erbärmlich. Insbe-sondere die dunkle, körnige Qualität der Foto-grafien verschleiert wichtige Details. Der Text istin einer moderneren Schrifttype gesetzt, aller-dings auf etwas nachlässige Weise. So ist z. B. aufder ersten Seite der Begriff fipple (früher imEngl. Synonym für recorder) mit einem Stern-chen versehen, das den Leser vermutlich zu einerFußnote leiten sollte, in der erklärt wurde, dassWissenschaftler den Begriff aufgrund seiner Un-eindeutigkeit nicht mehr verwenden. Solch eineFußnote fehlt jedoch. Hier und da gelingt esHunt und seinem Schriftsetzer, ein paar neue In-formationen unterzubringen. Im Wesentlichenbleibt das Buch allerdings ein charmanter per-sönlicher Blick auf das Instrument um 1960. Da-mals war es zweifellos von großer Bedeutung:die erste breit angelegte Studie über die Block -flöte überhaupt. Als Teen ager habe ich es vieleMale von Anfang bis Ende durchgelesen. Esweckte mein Interesse an der Blockflöte als For-schungsobjekt. Wenn es auch erfreulich ist, dassdas Buch wieder erhältlich ist, so erscheint esjetzt doch zopfig und veraltet. Leider ist es nochimmer die einzige umfassende Studie des Instru-ments in englischer Sprache, denn Ken Wollitz’

    The Recorder Book (Taschenbuch, Knopf, NewYork, 1995) beschäftigt sich hauptsächlich mitder Spielpraxis. Als ehemaliger Student von Ed-gar Hunt gebe ich mit Freude bekannt, dass ichmich gemeinsam mit Robert Ehrlich, NicholasLander und Nikolaj Tarasov vertraglich ver-pflichtet habe, das Buch über die Blockflöte fürdie Musikinstrumentenreihe der Yale Universi-ty Press zu schreiben. Unser Instrument ver-dient sicherlich eine sowohl ausführliche alsauch aktuelle Behandlung. Bleiben Sie dran ...

    Anthony Rowland-Jones’ wichtiger Artikelüber die erste Verwendung des Wortes recorder(vgl. Überblick … 2000) ist in englischer Fassungerschienen. (Some Thoughts on the Word “Recor-der” and How It Was First Used in England, in:Early Music Performer,Nr. 8, März 2001, S. 7-12.)

    Alessio Rufattis ursprünglich auf Englisch er-schienener Artikel, in dem sich der Autor gegendie Annahme ausspricht, die Familie Bassanohabe jüdische Wurzeln gehabt (vgl. Überblick… 1999), ist nun auf Italienisch herausgekom-men. (Una migrazione di strumentisti italiani inInghilterra e la presunta identità ebraica die Bassano, in: Il saggiatore musicale, Jg. 6, Nr. 1-2/1999, S. 23-37.)

    H. Colin Slims erschöpfende Analyse eineswichtigen Blockflöten-Gemäldes „Giovanni Girolamo Savoldo’s Portrait of a Man with a Recorder“ (vgl. A Review of Research on the Recorder, 1985–1986) ist in einer Sammlung sei-ner Artikel über Ikonographie enthalten. (Pain-ting Music in the 16th Century: Essays in Icono-graphy, Ashgate/Variorum, Aldershot andBrookfield, VT, 2002, S. 398-406.)

    Bart Spanhoves Buch The Finishing Touch ofEnsemble Playing einschließlich eines von mirverfassten Kapitels A Short History of the Re-corder Ensemble, ist ins Deutsche übersetzt wor-den. (Das Einmaleins des Ensemblespiels – EinLeit faden des Flanders Recorder Quartet fürBlock flötenspieler und -lehrer, mit einem histori-schen Kapitel von David Lasocki,Moeck, Celle2002.) o

    496 TIBIA 3/2005

    David Lasocki

  • TIBIA 3/2005 497

    Juli 2004: Vom Stadtzentrum aus bringt mich dieStraßenbahn in den hannoverschen StadtteilKleefeld. Ich erinnere mich, wie ich vor drei-zehn Jahren zum ersten Mal in Hannover dieseStrecke gefahren bin: als vierzehnjähriger Jungemit dem dringenden Wunsch, bei Siri RovatkayBlockflötenunterricht zu haben. Bei einemMeister kurs hatte eine Studentin sie mir als„ganz heißen Tipp“ empfohlen. Vom Wettbe-werb Jugend Musiziert war mir bereits ihr Na-me als Lehrerin bekannt. Schon nach meiner ersten Probestunde wusste ich, dass ich bei ihrals Schüler bleiben wollte und hatte keinen grö-ßeren Wunsch, als die Aufnahmeprüfung alsJungstudent zu bestehen. Dass ich dann insge-samt elf Jahre von ihr mit sämtlichen Finessendes Block flötenspiels ausgestattet und durch einumfassendes Repertoire vom Mittelalter bis zumausgehenden zwanzigsten Jahrhundert geführtwurde und eine keines-wegs auf das Blockflö-tenspiel beschränkteAusbildung erhielt,konnte ich damals nochnicht voraussehen. Daswar jedoch kein Einzel-fall: Viele ihrer Studen-ten und Studentinnenbetreute Siri Rovatkaybereits lange vor demStudium und brachte sieoft bis zum Konzertexa-men. Man kann mit Sicherheit sagen, dass Siri Rovatkay immervoller Begeisterung un -terrichtet und diese Be-geisterung ansteckendist.

    Ich frage mich, was das Besondere ihres Unter-richts ausmacht, warum kaum je einer ihrer Stu-dierenden zu einem anderen Lehrer wechselte?Einerseits ist es sicherlich ihre überschäumendePersönlichkeit, die freundlich, herzlich und be-geisternd ist. Andererseits ist es eine tiefgehendeLiebe zum Unterrichten, zur Musik für Block -flöte und zum Instrument selbst und seiner Ge-schichte. Konkret war stets die Natürlichkeit ei-ner Interpretation gepaart mit größtmöglicherAusdruckskraft Ziel des Unterrichts, historischinformiertes Spiel ein weiterer wichtiger Aspekt.Selbstverständlich war die ständige Arbeit an

    Technik und Klang undVielseitigkeit des Re-pertoires. Dabei ver-stand Siri es immer, Stu-denten auf ihremaugenblicklichen Standabzuholen, auf die je-weilige Persönlichkeitindividuell einzugehen.In elf Jahren Unterrichtbei ihr, kam ich aus demStaunen nie heraus. Mitdem ihr eigenen päda-gogischen Talent lässtsie die Studenten sichfrei entfalten, und dochist eine typisch „Rovat-kaysche“ Prägung beiallen ihrer Studentenvorhanden.

    Die Blockflötistin Siri Rovatkay-SohnsEin Porträt von Michael Hell

    Foto: Jens Hübner

    Michael Hell, geboren 1976,studierte Blockflöte bei SiriRovatkay-Sohns und Cem-balo bei Zvi Meniker in Han-nover. Zur Zeit studiert erCembalo, Generalbass undhistorische Aufführungspra-xis bei Jesper Christensen ander Schola Cantorum Basi-liensis (Schweiz). Er ist Preis-

    träger zahlreicher nationaler und internationalerWettbewerbe sowie Stipendiat der Studienstiftung desdeutschen Volkes und des DAAD.Als Blockflötist, Cembalist und Pianist wirkte er beiverschiedenen Radio-, Fernseh- und CD-Aufnahmenmit (u. a. für NDR, SWR, WDR und Radio Classi-que). Neben einer regen Konzerttätigkeit in ganz Eu-ropa und Japan als Solist, Kammer- und Orchester-musiker, konzertiert und unterrichtet Michael Hellseit einigen Jahren regelmäßig in Israel.

  • 498 TIBIA 3/2005

    Ich stehe vor der Tür des Altbaus in der Fichte-straße und läute. Schnell die Treppe hoch in denersten Stock, wo eine überdimensionale Repro-duktion eines italienischen Renaissancefreskos(natürlich mit Blockflöten: Girolamo Romani-nos Quartetto di flauti dolci aus dem TrienterCastello del Buonconsiglio) schon vor dem Ein-tritt in die Wohnung einiges über die Stellungvon Kunst und Musik in diesem Haushalt aus-sagt. Ich freue mich, die sportliche Frau wieder-zusehen, der man es nicht ansehen kann, dass siebeinahe fünfundsechzig Jahre alt ist. TäglichesSchwimmen in den Sommermonaten und (wieich hoffe) ihre Studenten haben sie jung erhalten.Vorbei geht es an ihrem wohlvertrauten Ar-beitszimmer, in dem ich so manche Unterrichts-stunde erhalten habe, durch die helle undfreundliche Wohnung, an deren Wänden vieleGemälde ihres Vaters hängen. Einen Blick werfeich in das Arbeitszimmer ihres Mannes, in demsich die verschiedensten historischen Tastenin-strumente drängen. Siri bittet mich auf den Bal-kon, wir plaudern über dies und das: die letztenBlockflötenprüfungen in diesem Jahr, die in derfolgenden Woche stattfinden, ihren anstehendenGeburtstag, gemeinsame Bekannte. Dann packe ich das Aufnahmegerät aus und Siri beginnt zuerzählen: methodisch und gut überlegt, flüssigund stringent. Durch die Vorbereitungen für ihren Geburtstag habe sie nicht viel Zeit für Ge-danken an das Interview gehabt, doch klingt alles, was sie berichtet, erstaunlich wohlgeordnetund sehr präsent.

    Kindheit, Schule und Ausbildung

    Am 17. Juli 1939 als Tochter des Malers KurtSohns und einer Norwegerin geboren, erinnertsich Siri an ihre Kindheit, erzählt von sonnigenTagen im niedersächsischen Einbeck, in das dieHannoversche Familie nach Bombenangriffenauf Hannover im Jahre 1943 zog. Als der Vateraus dem Krieg zurückkam, war er zunächst ein-mal freiberuflich tätig, bevor er 1947 den Lehr-stuhl für Malen und Zeichnen an der UniversitätHannover erhielt. Der Rückzug der Familienach Hannover im Jahre 1950 brachte Siri Sohns

    schließlich den ersten Kontakt zur Blockflöte:In ihrer ersten Musikunterrichtsstunde in derneuen Schule hätten ihre 40 Mitschülerinnen aufeinmal Blockflöten aus ihren Schulranzen gezo-gen, was in Siri größte Begeisterung ausgelösthabe. Ihr erstes Instrument, eine Tuju-Blockflö-te, habe sie aber erst zu Weihnachten jenes Jah-res erhalten. In Unkenntnis der Herkunft desWortes „Tuju“ (von „Turnerjugend“) habe sieschon der Klang des Instrumentennamens sehrangesprochen. Da sie den Unterricht auch ohneeigenes Instrument bereits mitverfolgt und men-tal mitgelernt habe, konnte sie bereits am Heili-gen Abend die ersten Weihnachtslieder spielen.In diesem Moment habe sie die Welt um sich he-rum vergessen, als sie alles bisher nur „passiv“Gelernte in die Praxis umsetzen konnte.

    In den nächsten Jahren habe sie das Blockflöten-spiel im Alleingang erlernt und schnell das zudieser Zeit auf dem Markt erhältliche Blockflö-tenrepertoire gespielt. Ihren ersten richtigenBlockflötenunterricht erhielt sie mit 16 Jahren,nachdem eine Musiklehrerin an ihrer damaligenSchule sie mit einem Brief zu Ferdinand Conradgeschickt hatte. Die Unterrichtsstunden habe siesich selbst mit Kohlenholen für die Nachbarn imMietshaus verdienen müssen. Bis zur Aufnah-meprüfung sei es bei einer Unterrichtsstundepro Monat geblieben. Nach dem Abitur im April1960 begann das Studium in Hannover an der ersten Hochschule (damals noch Musikakade-mie) in Deutschland, an der man Blockflöte alsHauptfach studieren konnte. Das Studium beiFerdinand Conrad habe sie nach den damals üb-lichen sechs Semestern abgeschlossen. Ihr In-strumentarium hatte sie sich während des Studi-ums selber durch Unterrichten verdient. Nochwährend ihres Studiums begann sie als Assisten-tin ihres Lehrers bei Musikkursen im In- undAusland zu unterrichten.

    Familie und Unterrichten

    Während des Studiums lernte Siri auch ihren zu-künftigen Mann, den Cembalisten und Orga -nisten Lajos Rovatkay kennen, den sie 1963 hei-

    Porträt

  • TIBIA 3/2005 499

    Diskographie SIRI ROVATKAY-SOHNS Diskographie(eine Auswahl)

    baldi, J. Sherard, M. Marais; Ensemble Messadi voce; CMD 30101 Camerata Aufnahme: Januar 1981; CAMERATA-Schallplatten,Möseler Verlag Wolfenbüttel

    ENRICO LEONE von Agostino Steffani(Großer Opernquerschnitt); Capella Agosti-no Steffani, Leitung: Lajos Rovatkay;CAL 50855, Aufnahme: 1986; Calig-VerlagMünchen

    MUSIK AM HANNOVERSCHEN HOFE1680-1710 Werke von A. Steffani, J. B. Farinel, J. B. Lul-li, Fr. Venturini, M. Marais u. a.; Capella Ago-stino Steffani, Leitung: Lajos Rovatkay; CDC7243 5 45195 2 9, 1992 EMI Electrola GmbH,1996 Virgin Classics Ltd.

    SUITEN & CONCERTI von G. Ph. Tele-mann, A. Vivaldi; u. a. Telemann: Ouverturea-Moll und Concerto da camera in g, Vivaldi:Concerto in a und Concerto in D Il Cardelli-no; Siri Rovatkay-Sohns (Blockflöte), Capel-la Agostino Steffani, Leitung: Lajos Rovat-kay; CDC 7 54554 2, 1993 EMI ElectrolaGmbH

    MUSICA ITALIANA CONCERTATAWerke von M. Uccellini, D. Castello, G. B.Riccio, G. Mussi, T. Cecchino;Ensemble Messa di voce; FSM 53514 AUL,Aufnahme: September 1976, Aulos-Schall-platten Viersen

    VIVALDI TELEMANNu. a. A. Vivaldi: Sonata in a für Blockflöte, Fagott und B.c.; G. Ph. Telemann: Concertoin F für Blockflöte, Fagott, Streicher und B.c.;Siri Rovatkay-Sohns (Blockflöte), Lutz Köh-ler (Barockfagott), Ensemble Messa di voce;FSM 53520 AUL, Aufnahme: Januar 1978,Aulos-Schallplatten Viersen

    MUSICA ITALIANASonaten von Francesco Mancini, Siri Rovat-kay-Sohns (Blockflöte), Ensemble Messa divoce; CMS 30071 LPM Aufnahme: März1978, CAMERATA-Schallplatten, MöselerVerlag Wolfenbüttel

    MUSIK AUS DER HERZOG AUGUST BIBLIOTHEK WOLFENBÜTTELInstrumentalmusik des Früh- und Spätbarockvon W. Brade, J. Schultz, J. Groh, G. Fresco-

    ratete. Die Söhne Adrian und Julius wurden1964 und 1967 geboren.

    Das Zusammentreffen mit Lajos und die darausresultierende enge künstlerische Zusammenar-beit waren unter anderem auch der Auslöser da-für, sich noch wesentlich intensiver mit derhisto rischen Aufführungspraxis auseinander zusetzen, historische Artikulationen und Verzie-rungen zu trainieren und viel damals noch nichtwieder veröffentlichtes Repertoire zu ent -decken, einzustudieren und in Konzerten auf-zuführen. Insofern setzte sie hier für sich undsehr schnell auch im Unterricht mit ihren Schü-

    lern die Pionierarbeit fort, die Ferdinand Con-rad für das Blockflötenspiel allgemein geleistethatte, die sie nun aber um einen historischen An-satz erweitern konnte.

    Sie eröffnete ihren Schülern zum Teil schon imKindesalter und später auch Studierenden einfür Deutschland – damals – kaum bekanntes mu-sikalisches Neuland: Zunächst war es die bläse-rische Handhabung historisch getreuer Block -flötenkopien gerade auch in Verbindung mitdem Kennen- und Hörenlernen der verschiede-nen Stimmungssysteme auf den historischenTasten instrumenten. So ist etwa das Zusammen-

    Siri Rovatkay-Sohns

  • 500 TIBIA 3/2005

    spiel der Renaissanceblockflöten mit demmitteltönig gestimmten italienischen Cembalooder auch Orgelpositiv in ihrem Unterricht einegeradezu normale Praxis geworden. Dann war esaber auch das Studium aus den RovatkayschenSpartierungen oder direkt aus der historischenQuelle und so auch das Spiel in sämtlichen altenSchlüsseln und Notationsformen, das in denUnterricht einfloss. Ein reichhaltiges Solo- undKammermusik reper toire wurde den Studentenschon lange vor der Veröffentlichung bereits inden siebziger Jahren zugänglich gemacht. AlsBeispiel seien hier aus dem Frühbarock WerkeUccellinis, Cecchinos, Pandolfis und Castellos,aus dem Spätbarock Sonaten und Kammermusikvon Mancini und Topham genannt. Heute gehö-ren diese Werke ganz selbstverständlich zum Re-pertoire eines jeden Blockflötisten.

    Eine weitere „ganz normale“ Zutat zum Block -flötenunterricht war der enge Kontakt und Aus-tausch der zwischen Siri, ihrer Klasse und Block -flötenbauern wie Adrian Brown, BernhardJunghänel, Alec Loretto und Martin Skowronekbestand. Gute Nachbauten historischer Block -flöten waren zu dieser Zeit ebenfalls noch keineSelbstverständlichkeit. Dass die jeweilige Litera-tur auf einem stilistisch angemessenen Instru-ment gespielt werden sollte, war für Siri schon inden frühen siebziger Jahren eine wesentlicheVoraussetzung. Ein typisches HannoveranerPhänomen war es, französische (aber auch son-stige) Traversflötenmusik auf der Flûte de voixzu spielen und nicht, wie in den siebziger undachtziger Jahren oft üblich, die historisch zwarbelegte, aber wegen des Verlusts der Ton arten -charakte ristik und einer oft unnatürlich hohenBassstimme problematische „Kleine-Terz-Trans position“ auf der Altblockflöte vorzuneh-men. Eine von Siris Rundfunkaufnahmen, eineSuite von Caix d’Hervelois mit Voiceflute, er-regte 1974 einiges Aufsehen, und unter den zahl-reichen Zuschriften gab es eine, in der sich dieSchreiberin nach der „Bassflöte“ erkundigte, soneu war den Zuhörern das dunkle und warmeTimbre der Voiceflute. Besonders beeindruckterzählt Siri von den Zusammenkünften mit denKuijken-Brüdern in diesen Jahren, die in dieser

    Zeit eine absolute Sonderstellung im Musiklebeninnehatten.

    Schon in den achtziger Jahren beschäftigte sichSiri, und demzufolge auch ihre Studierenden,mit der Csakanliteratur. Zunächst geschah diesmit Hilfe einer barocken a-Flöte in 415 Hz, einem Nachbau Alec Lorettos, die dann als as-Flöte in 440 Hz umfunktioniert wurde, abder Mitte der neunziger Jahre aber auch mitNachbauten von Csakanen.

    Hochschullaufbahn und Lehrtätigkeit

    Siri Rovatkays Hochschullaufbahn verlief imWesentlichen in drei Etappen: Ab 1975 erhielt sieeinen Lehrauftrag, ab 1989 eine Honorarprofes-sur und ab 1992 eine ordentliche Professur ander Hochschule für Musik und Theater Hanno-ver. Ab diesem Zeitpunkt unterrichtete Siri auchdie Fächer Methodik und Didaktik der Block -flöte an der Hochschule. In fast dreißig Jahrenmit stets voller Klasse bildete sie etwa achtzigStudenten zu Blockflötenlehrern und weiter ge-fasst zu mündigen Musikern aus. Im Didaktik-und Methodikunterricht wurden nicht nur diehistorischen Blockflötenschulen und ihre mo-dernen Gegenstücke, sondern auch die Schulenaus der Zeit der Wiederentdeckung der Block -flöte ausführlich diskutiert.

    Ihre enormen pädagogischen Erfolge zeigen sichin verschiedensten Bereichen: Mehrere ihrer Stu-denten und Studentinnen unterrichten mittler-weile an verschiedenen europäischen Musik-hochschulen: Ulrike Volkhardt in Essen, RahelStöllger in Wien, Elisabeth Schwanda in Herfordsowie Silke Jacobsen und Stefan Möhle in Han-nover. Immer wieder taten sich Studierende alsPreisträger bei den verschiedenen Blockflöten-wettbewerben hervor: Aufgebaut auf zahlrei-chen Bundespreisen bei Jugend Musiziert setz-ten sich diese Erfolge fort bei Wettbewerben inUtrecht, Brugge, Calw, Haifa und zuletzt beimTelemann-Wettbewerb in Magdeburg. Ein wei-terer Schwerpunkt ihrer Arbeit war außerdemdie Ausbildung verschiedener Ensembles wie

    Porträt

  • TIBIA 3/2005 501

    Flûte Harmonique, Les Doux Siffleurs, LittleConsort Hannover und Lapicida-Consort sowieensemble blockruf.

    Um die Aufführungspraxis Alter Musik zu stu-dieren, kamen immer wieder auch moderneHolzbläser anderer Abteilungen zu ihr in denUnterricht. Neben Posaunisten, mit denen dieBlockflötenklasse vor einigen Jahren ein großesProjekt mit venezianischer Musik des Früh -barocks einstudierte, waren dies zum Beispiel Saxophonisten, die zunächst nach genauererUnterweisung ihrer barocker Sonaten suchtenund sich schließlich über die Renaissance bis insMittelalter zurückwagten. Vor einigen Jahrenbetrat Siri noch einmal Neuland, als sie wiede-rum in Bemühung um historisch informierteAufführungspraxis sich das Blockflötenreper -toire aus der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahr-hunderts vornahm und zusammen mit ihrerKlasse die Klangvielfalt der originalen Blockflö-ten der Dreißiger und Vierziger Jahre in einemgroßen Projekt aufzeigte.

    Wie Siri neben ihrer Familie, Konzerttätigkeitund Unterricht noch Zeit dazu fand, hochschul-politisch aktiv zu sein, kann eigentlich nur er-staunen. Doch war sie genauso engagiert auch alsFrauenbeauftragte und Senatorin in verschiede-nen Gremien tätig.

    Konzerte und Aufnahmen

    Inzwischen gesellt sich Lajos zu uns und das Ge-spräch wandert zur künstlerischen Zusammen-arbeit der beiden in ihren verschiedenen Ensem-bles, zu den zahlreichen Rundfunkaufnahmen,u. a. von Konzerten und Sonaten von Manciniund von Suiten von Dieupart und Caix-d’Her-velois. Neben einer langjährigen Zusammenar-beit im Duo sei an erster Stelle das EnsembleMessa di Voce zu nennen. Die im September1976 aufgenommene Schallplatte mit frühba -rocker Musik von Uccellini, Mussi, Cecchino,Riccio und Castello stellte eine Rarität dar, da esin Deutschland zu dieser Zeit keine einzige Auf-nahme mit vergleichbarem Repertoire und von

    den meisten Stücken noch keine Ausgaben gab.Die Ersteinspielung von Sonaten und ConcertiFrancesco Mancinis im März 1978 betrat ähnli-ches Neuland für das spätbarocke Repertoire.Mit der von ihrem Mann gegründeten CapellaAgostino Steffani, Hannovers erstem Barockor-chester, spielte sie regelmäßig solistisch und alsOrchestermitwirkende.

    Viele von den Rovatkays ins Konzertleben zu-rückgebrachte Werke warten allerdings noch im-mer auf eine Veröffentlichung. Zwei Editionensind da nur ein Appetithappen auf die Schätze imRovatkayschen Archiv: im Moeck-Verlag gabSiri Rovatkay die Kantate „Lagrime dolorose“für Bass, zwei Altblockflöten und Basso conti-nuo des Hannoverschen HofkapellmeistersAgostino Steffani und ein Notturno für Alt-blockflöte, zwei Violinen und Violoncello vonJohann Georg Albrechtsberger heraus.

    Auf die Frage, was sie in ihrem Ruhestand nunvorhabe, antwortet sie lachend, dass sie sich dar-über noch gar keine Gedanken gemacht habe.Den Kopf freibekommen für andere Dinge, rei-sen und ... wieder für sich selbst üben, das seiendie Prioritäten. Außerdem warten da ja immernoch diverse Werke auf ihre Veröffentlichung.

    Als ich mich nach zwei Stunden verabschiede,weiß ich, dass ich gerne wiederkommen werde.Wie für sicherlich viele ihrer Studenten hat SiriRovatkay mir ein „musikalisches Zuhause“ ge-schaffen. o

    Siri Rovatkay-Sohns

    JOHN HANCHETDer Spezialist für Schalmeien,

    und Frühe Blockflöten

    1, Roxley Close, Norwich NR7 0QHEngland ( (0044) 1603 437324

    www.hanchet-woodw

    ind.co.uk

    e-mail: johnhanchet@hotm

    ail.com

  • 502 TIBIA 3/2005

    Marco De CillisDer Kopfsatz aus Mozarts Oboenkonzert

    Jeder Student des Hauptfachs Oboe sieht sich,wenn er Orchesteroboist werden will, vor dieAufgabe gestellt, Mozarts Oboenkonzert C-Dur KV 314 ins Probespiel-Repertoire aufzu-nehmen. Er findet dabei ein Standardwerk derOboenliteratur vor, welches Mozart keineswegsausschließlich nach klassischen Standards kom-ponierte. Allein der Kopfsatz sprengt Konven-tionen auf bemerkenswerte Weise. Nicht nur dieformale Ebene überrascht, auch einige melodi-sche, rhythmische und harmonische Gestaltun-gen stellen sich gegen die Hörerwartung einesZeitgenossen Mozarts. Unbestreitbar ist jedochdie Faszination, die das Werk nach wie vor aus-übt. So steht auch der Oboist des 21. Jh. vor derFrage: Was hat sich Mozart dabei gedacht? Undzugleich im Sinne Hans Heinrich Eggebrechts1:Was ist das, was an der Musik so schön ist?

    Der vorliegende Beitrag soll die Faktur desKopfsatzes und zugleich Mozarts Spiel mit derErwartungshaltung des Hörers beleuchten.

    Welche Erwartungen hat nun ein Hörer bei-spielsweise an die formale Beschaffenheit? Kön-nen allgemeine Prinzipien überhaupt für dieForm eines Kopfsatzes eines klassischen Solo-konzerts ohne Einschränkung konstatiert wer-den? Es ist eines der größten Verdienste Mo zarts,auf dem Gebiet des Solokonzerts, insbesonderein seinen Klavierkon-zerten innovative Maß-stäbe gesetzt zu haben.Dabei gestaltet er aufvielfältige Weise experi-mentell, so dass der Hö-rer kein konventionellesFormsystem mehr zu-lassen kann.

    Konrad Küster2 stelltam Beispiel Mozarts all-gemein die Schwierig-

    keit dar, angemessene Begriffe zur formalen Er-schließung eines Konzert-Kopfsatzes zu finden.Das Solokonzert des 18. Jh. steht einerseits un-ter dem traditionellen Einfluss des Ritor nell -gedankens, der seit Beginn der Geschichte desSolokonzerts das „Concertieren“ (Wettstreiten)der beiden Klangkörper „Tutti“ und „Solo“ or-ganisiert. Der Begriff des Ritornells bezeichnetim allgemeinen die „Wiederkehr“ des Tutti.Heinrich Christoph Koch3 (1749–1816), einerder bedeutendsten Musiktheoretiker am Endedes 18. Jh., trennt Ritornelle, die das Orchestervorträgt (Nebenperioden) von den Soli des„Concertspielers“ (Hauptperioden). Insbeson-dere das Konzertschaffen Mozarts beeindrucktdabei durch einen Reichtum an formalen Mög-lichkeiten, was die musikalische Analyse in die-ser Hinsicht zuweilen nicht vereinfacht.

    Dagegen erscheint das Prinzip der Sonaten-hauptsatzform zur Erfassung weitaus griffiger.Als Produkt der Vorklassiker stellt es sich demRitornellgedanken im Kopfsatz eines klassi-schen Solokonzerts alternativ gegenüber. In derPraxis zeigt sich, dass die Sonatenhauptsatzformein in den wenigsten Fällen regelgetreu erfülltesModell anbietet. Während die Kopfsätze derHornkonzerte Mozarts vergleichsweise nah andie Sonatenhauptsatzform heranreichen, durch-bricht Mozart den Schematismus des Sonaten-

    konzerts auf besondersreizvolle Weise in sei-nem Klavierkonzert-Schaffen. Im KonzertNr. 9 Es-Dur KV 271(„Jeunehomme“) lässter das Klavier schon imzweiten Takt einsetzen,ein Beispiel für denfortwährend angestreb-ten Dialog zwischenTutti und Solo. DerKopfsatz des Oboen-

    Marco De Cillis studierteMusikpädagogik (Klavierund Tonsatz) sowie Kom-position (künstlerischerTonsatz) und wird sein Stu-dium im Verlauf des Jahres2005 noch zusätzlich mitdem Diplom Hör er ziehungabschließen. Er ist Lehrbe-auftragter für Musiktheoriean der Musikhochschule

    Köln und Honorarkraft an der Rheinischen Musik-schule in den Fächern Klavier und Musik theorie.

    Marco De Cillis

  • TIBIA 3/2005 503

    konzerts nimmt dabei eine mittlere Position ein.Mo zart schafft ein Werk, das Elemente der So-natenform aufgreift, ohne Sonatenform zu seinund bemüht zugleich die Idee des Ritornells imSinne von „Wiederkehr“ des thematischen undmotivischen Materials.

    So problematisch es ist, die Sonatenform in ihrerstrengen Abtrennung charakteristischer Form-teile als Analyseprinzip auf den Kopfsatz anzu-wenden, bietet sie doch zumindest ein grundle-gendes Gerüst, aus dem sich die formale Anlagedes Satzes in ihren individuellen Zügen herausentwickelt. Eine nach Maßstäben der Sonaten-form angelegte Gliederung ergibt sich für denKopfsatz des Oboenkonzerts wie folgt4:

    Exposition:Anfangstutti / 1. Exposition:T1-11: 1. Thema C-Dur, Weiterführung

    zum Halbschluss auf der DominanteT12-26: 2. Thema C-Dur, Weiterführung zur

    Schlussgruppe / EpilogT27*-32: Schlussgruppe / Epilog

    Soloexposition / 2. Exposition:T33*-47: Ansatz 1. Thema im Orchester C-

    Dur, Weiterführung im Solo T48*-77: Tuttieinwurf, Überleitungsteil zum

    2. Thema mit Halbschluss auf derDominante von G-Dur

    T78-97: 2. Thema G-Dur, Weiterführungzur Schlussgruppe / Epilog

    T97-106: Schlussgruppe /Epilog im Tutti G-Dur

    Durchführung:T107*-120: Kern der Durchführung, fließende

    Anknüpfung an Überleitung zur Re-prise, nahezu durchlaufender Orgel-punkt „g“, tonales Zentrum G-Dur,in der Überleitung dominantisiert

    Reprise:T120-143: Ansatz 1. Thema im Orchester C-

    Dur, durchführungsartige Weiter-führung nach d-Moll, Rückführungnach C-Dur, Weiterführung C-Dur

    T144*-152: Überleitung zum 2. Thema, Tutti -einwurf mit Halbschluss auf derDominante von C-Dur

    T153-174: 2. Thema C-Dur, Weiterführung zurSchlussgruppe / Epilog

    T174-188: Schlussgruppe / Epilog C-Dur; Ein-führung des Tutti in die Solokadenz(T178), ab T179 Schlusskadenzie-rungen im Tutti

    Diese Auflistung weist zwar einzelne Formab-schnitte der Sonatenform nach und bedient sichder traditionellen Terminologie, lässt aber dabeiaußer acht, dass die Faktur der Abschnitte zumTeil erheblich von den erwarteten Kennzeichen,welche die Sonatenform vorschreibt, abweicht.

    Wie die nachstehenden Betrachtungen ergebenwerden, kann von einem Thema im herkömm-lichen Sinn für den Satz keine Rede sein. Alstreffliche Alternative, die dem Begriff „Thema“gegenübersteht, empfiehlt sich die wenigerscharf umrissene Bezeichnung „Gedanke“. InAnbetracht der gängigen Praxis der Wieder -holung der Exposition in einem instrumentalenSonatensatz mag der mit der Gattung des sichentwickelnden Solokonzerts noch nicht allzuvertraute Hörer den ersten Gedanken, der imAnfangstutti vorgestellt wird, ein zweites Mal imZuge des ersten Soloeinsatzes zu Beginn der So-loexposition erwarten. Mozart hält sich in seinenKonzerten die Option offen, sein Publikumauch diesbezüglich zu überraschen. In einigenFällen setzt der Solist durchaus mit dem erstenGedanken des Anfangstuttis ein. Andere Sätzebemühen eine eigenständige solistische Gestal-tung, die sich in keiner Weise auf die vorge stellteMotivik des Tuttis bezieht (s. Klavierkon zerteKV 271, 466, 467, 482, 491, 503).

    Letztere Situation wählt Mozart für denKopfsatz des Oboenkonzerts: Während dasOr chester den erwarteten Gedanken über-nimmt (T33-37), hält die Oboe den Ton c3 alsOrgelpunkt darüber, welchen sie in einem vir-tuos vorbereitenden Sechzehntelgang durchdie C-Dur-Tonleiter aus T32 heraus erreicht.Darauf folgend verwendet sie eine eigenstän-

    Der Kopfsatz aus Mozarts Oboenkonzert

  • 504 TIBIA 3/2005

    dige Thematik, die sich nicht aus demRitornellmate rial ableiten lässt. Bemerkens-wert ist, dass die Oboe den ersten Gedankenim Verlauf des Satzes an keiner Stelle auf-nimmt. Zu Beginn der Reprise erscheint erwieder nur im Tutti. Wie am Anfang der So-loexposition lässt Mozart die Solostimme imdritten Reprisentakt (T122) mit dem Orgel-punkt c3 einsetzen. Auch hier weicht die Oboedem ersten Gedanken aus. Lediglich im An-schluss an den Orgelpunkt greift sie den syn-kopischen Rhythmus für einen Takt (T124)auf, flieht aber aus der Tona lität C-Dur inRichtung d-Moll.

    Anders verhält es sich mit dem zweiten Gedan-ken (2. „Thema“). In der Soloexposition führtihn die Oboe ab T78 vollständig aus und modi-fiziert die Weiterführung in gängiger Praxisdurch virtuose Läufe.

    Aus der Reihe fällt die Gestaltung des „Überlei-tungsteils“ (T51*-77). In Mozarts Klaviersona-ten findet sich zum einen Teil ein von Haydn hervertrautes Überleitungsprinzip, bei dem un-mittelbar vor Eintritt des zweiten Gedankensder Halbschluss auf der Dominante der Aus-gangstonart ohne vorangegangene Stabilisierungder neuen Tonart erreicht wird. Der andere Teilder Überleitungen Mozarts moduliert unver-kennbar und festigt die Tonart des zweiten Ge-dankens vor dessen Einsatz, so auch im Oboen-konzert. Außergewöhnlich ist, dass Mozart einegroßzügige Taktanzahl (27 Takte) für die Über-leitung aufwendet: Deren Dimensionierungübertrifft den Umfang des zweiten Gedankensmit dessen Weiterführung in die Schlussgruppe(in der Soloexposition 20 Takte). Zugleich stellter ab T512 einen neuen Gedanken vor, welcherallein der Oboe vorbehalten bleibt und augen-fällig mit dem Ritornellmaterial bricht. Mit demPrinzip eigenständiger Überleitungsthemen istder Hörer vertraut. Doch Ausdehnung und bei-nahe durchführungsartige Episoden im entspre-chenden Abschnitt des Oboenkonzerts lassenden Hörer am Wesenhaften einer Überleitungzweifeln. Ein traditioneller Überleitungsteil liegtnicht vor.

    Die Reprise greift auf den Anfang des „Überlei-tungsteils“ nicht zurück, übernimmt allerdingsvirtuose motivische Passagen aus der Weiterfüh-rung (vgl. T143-146 mit T68-71 und T148-151mit T73-76). Dafür stellt der ab T512 ansetzendeGedanke das Kernmaterial der Durch führungzur Verfügung, was nicht minder erstaunt, alsMozart auf eine seit Haydn etablierte Durch-führung, wie sie in der Klaviersonate auftritt,verzichtet: Zum einen hält er sie mit nur 14 Tak-ten verdächtig kurz. Zum anderen bemüht erweder Material aus den Hauptgedanken der Exposition, noch bewegt er sich in neue Ton -arten. Der Orgelpunkt auf „g“ besteht als durch-laufende Begleitung fast ohne Unterbrechung,ein Aspekt, woran der Hörer erkennt, dass Mo -zart keine Durchführung gemäß eines moder -nen Lehrbuches beabsichtigt. Die einzigendurchführungsartigen Elemente sind die imita-torische Motivverarbeitung bis T113 sowie derAufbau der charakteristischen dominantischenÜberleitungsspannung, welche die Reprise an-kündigt.

    Diesen Feststellungen zufolge hat Mozart dieSonatenform und die zu erwartenden Eigen-schaften einzelner Formabschnitte im Kopfsatzseines Oboenkonzerts extrem modifiziert. Beinäherer Betrachtung fällt auf, dass er den Hörernicht nur im übergeordneten Formgerüst, son-dern auch in der Ausgestaltung der Gedankenzunehmend verblüfft.

    Bereits nach den ersten Takten ist der Hörerkonsterniert: Kann er dies als ein klassischesThema ohne Einwände akzeptieren? Der Hörererwartet von einem klassischen Thema, dass eseine klare melodische Kontur aufweist, in sichgeschlossen und für den Verlauf des Satzes vonBedeutung ist. Diese Bedingungen erfüllt bei-spielsweise das erste Thema der KlaviersonateC-Dur KV 545 („sonata facile“). Bereits der An-fang des Oboenkonzerts hat vor einer Überprü-fung nach diesen traditionellen Kriterien keinenBestand (s. Abb. S. 505 oben).

    Mozart überrascht gleich im ersten Takt mit einer einschneidenden Synkope, die den melodi-

    Marco De Cillis

  • TIBIA 3/2005 505

    schen Fluss ins Stocken bringt, kaum dass er be-gonnen hat. Auf gleiche Weise eröffnet er denKopfsatz des Fagottkonzerts (KV 191) und einJahr nach der Entstehung des Oboenkonzertsden Kopfsatz der Klaviersonate C-Dur KV 330.Über die sich anschließende Sechzehntelgruppeentlädt sich die aufgebaute rhythmische Span-nung in den zweiten Takt. Das Synkopenmotivwiederholt sich dreimal taktweise, in T2 und T4werden die Sechzehntel durch eine wenigerweiterführende als abfangende Viertelnote er-setzt. T5 schließt die erste Phrase analog synko-pisch auf zweiter Zählzeit. Mozart demonstriertgleich mit dem ersten Gedanken eine in Bezugauf Geradtaktigkeit beabsichtigte asymmetri-sche Anlage. Bemerkenswerterweise wird dieEntsagung an eine konventionelle Viertaktsym-metrie durch eine symmetrische Gestaltung desharmonischen Metrums und der da-mit verknüpften Motivik wahr-nehmbar kompensiert: Über einemvon Beginn an in treibenden Achtelndurchlaufenden Orgelpunkt der tie-fen Streicher wechselt die Harmonik zwischenentspannter Tonika und aufleuchtender Subdo-minante, wobei sie mit der Wiederholung desmotivischen Musters von Takt zu Takt einher-geht. Der Hörer empfindet dies als einen geradlinig organisierten Wechsel, der jeglichesGefühl für eine zeitlich abgrenzbare Formsym-metrie aufgibt. Theoretisch könnte das synkopi-sche Spiel noch eine Weile fortbestehen, ohnedass der Hörer in Verlegenheit gerät, Takte zuzählen. Mozart genügen allein fünf Takte. Dieharmonische Wechselbewegung wird entschei-dend mitgeprägt durch die melodische Entwick-lung: Der erste Gedanke durchläuft die Töne desC-Dur-Dreiklangs der Reihe nach steigend (ViI:T1 c2, T3 e2, T5 g2). Dazwischen werden jeweilsdie oberen Nebentöne im Quartsprung einge-worfen (ViI: T2 f2, T4 a2). Diese zielen gespanntin die jeweils im Folgetakt erreichten Drei-klangstöne. Auf Grund der damit vollzogenenKadenzen, die durch den dominantischen Ein-

    wurf des Leittons h1 in ViII und ObI verstärktwerden, entsteht eine symmetrische Einteilungin die Taktpaare T2/3 und T4/5. Andererseitshalten die Taktpaare T1/2 und T3/4 eine moti-visch-rhetorische Gleichmäßigkeit aufrecht,welche von T5 konsequentermaßen zum Ab-schluss gebracht wird. Als durchaus klassisch er-weist sich jedoch der melodische Anstieg: Er er-hebt im Zusammenhang mit der synkopischenMotivik von Takt zu Takt die musikalische Span-nung. Mozart gelingt die Belebung der Auf-merksamkeit des Hörers ab dem ersten Takt: Erwirft ihn mitten in ein Musikstück hinein, dasläuft und läuft, bis es in T5 unvorhersehbar ab-bricht.

    Erst danach setzt sich eine fassbare Melodie impiano auftaktig zu T6 ab:

    Sie führt den ersten Gedanken in steigender Be-wegung melodisch weiter und erreicht auf Takt-beginn den Spitzenton c3 des Formabschnitts.Dagegen mutet das mühelose Durchlaufen derzuvor synkopisch exponierten Dreiklangstönee2 und g2 in T6 sowie die rhythmische Glätte derMelodieführung bis in T8 hinein nahezu iro-nisch an. Synkopen und belebende Sechzehntelsind mit einem Mal verschwunden. Nuancierendwirkt die harmonische Beschaffenheit des Neu-ansatzes: In T6 stellt sich die Tonika als antrei-bender Sextakkord dem tonikalen Schlussklangvon T5 in formaler Aufbruchsstimmung gegen-über und reißt das vorherige harmonische Re-gulativ auf, zumal die Achtelbegleitung auf T53unterbrochen wird, um ab T61motorisch wiedereinzusetzen. Mozart kennzeichnet mit diesemKunstgriff den Beginn eines neuen, primär me-lodisch ausgeprägten Einfalls. Dieser ist aller-dings in T8 bereits beendet. Melodie und Ach-telbegleitung begegnen sich im forte-Rausch auf

    Der Kopfsatz aus Mozarts Oboenkonzert

  • 506 TIBIA 3/2005

    der V. Stufe („g“) und reizen diese über zweiTakte hinweg aus. Während der überraschendenStagnation gestaltet Mozart den ersten expo-nierten dominantischen Klang des Satzes mit.Das zu Beginn des zweiten Gedankens (T12/13)aufgegriffene Halbemotiv in T8 wird in T9 zumViertelmotiv diminuiert, welches in einen figu-rierenden Sechzehntellauf einfließt. Dieser zieltin die I. Stufe (c2) auf T101. Hier erwartet derHörer eindeutig eine perfekte Kadenz nach C-Dur. Doch Mozart lenkt in einen Trugschluss abund führt diesen gleich einer zu korrigierendenharmonischen Verirrung in den interpunktie-renden Halbschluss zurück auf die Dominante(T11). An dieser Stelle ist die V. Melodiestufe (g2)wieder erreicht. In seiner klassischen Erwar-tungshaltung erfährt der Hörer jedoch schon inT8 einen ersten Einbruch: Der in der zweitenTakthälfte von T8 gesetzte Quartsextakkordverhindert eine Kadenzierung in T9, die einenViertakter von T6-9 ermöglichen und damit eineformsymmetrische Hörerwartung erfüllen wür -de. Mozart prolongiert die Kadenz bis T11. Dabei wiederholt er den Quartsextakkord alsDurchgang auf T92 und knüpft den verspieltenSechzehntellauf daran an.

    Der Abschnitt dient in T6/7 als Weiterführungdes ersten Gedankens mit eigenem motivischemGepräge. Insgesamt übernimmt er die Funktioneiner Hinlenkung zum Halbschluss auf der Do-minante, die den zweiten Gedanken unmissver-ständlich ankündigt. Eine ähnlich enge Ver-knüpfung von Weiterführung und Hinlenkunggestaltet Mozart im Kopfsatz der oben erwähn-ten Klaviersonate C-Dur KV 330. Ein themati-scher Einfall nach klassischer Manier kann inden ersten elf Takten unter keinen Umständenherausgelesen werden. Mozart präsentiert unter-schiedliche motivische Ansätze mit entspre-chend verschiedenen Funktionen, allein es fehltdas thematische Band.

    Die Übernahme des ersten Gedankens durch dasTutti zu Beginn der Soloexposition währt überdie ersten vier Takte (T33-36) und schließt imAnfang von T37, diesmal ohne synkopische En-dung. Dort stellt sich die Oboe phrasenver-

    schränkend mit eigenständiger Motivik vor. Siegestaltet einen auf elf Takte erweiterten musika-lischen Satz (man vergleiche die Taktanzahl mitder des eröffnenden Abschnitts!), der sich in sei-ner Grundanlage aus viertaktigem Vordersatzund viertaktigem Nachsatz zusammensetzt. DieEinmündung in den Schlusstakt (T44) erfolgtdurch eine II-V-I-Kadenz. Daran hängt Mozarteine Schlusssteigerung des Nachsatzes bis T47an. Der Hörer erlebt eine mit einem Mal er-reichte symmetrische Formbeschaffenheit unddie mozartsche Kantabilität der solistischen Me-lodie: Die erste zweitaktige motivische Einheitbewegt sich vom Orgelpunkt c3 auf die Quinteg2 herab (T37/38). Darauf antwortet eine Vari-ante dieser Einheit im folgenden Taktpaar, in-dem sie ausgehend vom wieder aufgenommenenc3 in die Terz e2 zielt. In der melodischen Fixie-rung der Stufen I, III und V korrespondiert die-se freie Motivik mit dem ersten Gedanken. DieKlangbasis der anfänglich weiterhin in repetie-renden Achteln begleitenden Streicher durch-läuft von T37 bis T44 den Oktavzug c2-c1, wobeidie Bässe nach siebentaktiger Pause seit Beginnder Oboenmelodie in T37 den Schlusston mit„c“ auf T441 verstärken. Auf diese Weise unter-streicht Mozart den Bogen zwischen phrasener-öffnendem (T371) als auch schlussbildendem C-Dur-Grundstellungsakkord (T441). Jetzt wartetder Hörer auf den Zielton c2, dann wäre die melo -dische Verbindung mit dem Kopfmotiv des ersten Gedankens (T33) hergestellt. Mozart hältden Hörer nach der erreichten III. Stufe e2 in T40vorerst über einen siebentaktigen Nachsatz hin.Erst auf T471 führt er den Ton c

    2 als Schlussnotedes Abschnitts vor. Motivisch klar gegliederteSechzehntelkoloraturen richten die Aufmerk-samkeit des Hörers ganz auf die Virtuosität desSolisten. Ab T44 feiert die Oboe die vollzogeneKadenz mit einer bestechend bewegungsinten -siven Motivik: Ein über zwei Takte in Viertel-folge gehaltenes Tonika-Dominante-Pendelstellt die Spitzentöne c3-h2-c3-d3 gleich einemoff-beat auf den leichten Achtelpositionen zurSchau. Die Fragwürdigkeit der Salzburger Stim-menabschrift beweist Ingo Goritzki5 berechtig-terweise unter anderem mit der Feststellung,dass sich durch die dort vorzufindende Spitzen-

    Marco De Cillis

  • nata facile“) leicht modifiziert als zweiten Ge-danken aufgreift (man beachte die Bezüge zu denC-Dur-Sonaten!):

    Das Kopfmotiv einer anderthalb Takte umspan-nenden motivischen Kerneinheit durchläuft dieTöne des subdominantischen Dreiklangs in derReihenfolge c3-a2-f2. Der dafür verwendete Ach-telrhythmus erlaubt eine Synkopierung des f2 imSinne des ersten Gedankens. Mozart steuert dieaufgebaute rhythmische Spannung über einemelodische Schleife in das Schlussmotiv der Ein-heit in T15. Dieses besteht aus den C-Dur-Drei-klangstönen g2-e2-c2, bemüht also wie das Kopf-motiv einen Dreiklang in fallender Richtung.Für den Hörer erweist sich die einheitsinternemotivische Bezugnahme als äußerst eingängig,zumal die Einheit die Oktave c3-c2 wiedergibt.Darin vereinen sich zugleich von anderen Stellenher bekannte musikalische Elemente: Der Am-bitus c3-c2 wird in der Oboe zwischen T37 undT47 durchlaufen (s. o.). Ferner beinhaltet dieEinheit das im ersten Gedanken vorgestellte undim weiteren Verlauf immer wiederkehrendePrinzip der Dreiklangsbrechung. Auch dierhythmische Beschaffenheit korrespondiert mitder des ersten Gedankens. Mozart wiederholtdie Kerneinheit in T16/17, schließt jedoch aufT171 mit g

    2 unter Verzicht der letzten Drei-klangsbrechung. Im Zuge dieser vier Takte darfdem Hörer auf keinen Fall die harmonischeWechselbewegung des ersten Gedankens entge-hen. Diesem stellt Mozart keinen kontrastieren-den zweiten Gedanken gegenüber, sondern mo-difiziert Elemente des zeitlos anmutenden erstenGedankens in einer nunmehr zeitlich abgrenz-baren Form. Das ist keine innovative Praxis:Haydn gestaltet in zahlreichen Klaviersonatenmonothematisch bzw. schafft in den meistenFällen enge Bezüge zwischen den Gedanken. Esirritiert jedoch der offene Einstieg in die fallen-de subdominantische Dreiklangsbrechung. Be-ginnt so ein klassisches Thema? Verlangt dieEinheit nicht nach einem melodisch steigenden

    TIBIA 3/2005 507

    tonfolge c3-h2-c3-h2 ungünstige Parallelen mitder Führung der Bassstimmen des Orchestersergeben. Im Anschluss an das virtuose Taktpaarführt der endgültig schlussvorbereitende T46 inden erwarteten Ganzschluss auf T471. Die durchden signalisierenden Triller auf der II. Stufe d2

    angesetzte Tenorklausel besiegelt mit derSchluss note c2 den ersten Auftritt des Solistennach dreitaktiger Verlängerung der Kadenzie-rung.

    Wie setzt Mozart den ersten Gedanken in derReprise fort? In T124 biegt er in den Dv von d-Moll um, anstatt den Gedanken erwartungsge-mäß in C-Dur zu schließen. Die Oboe verlässt inharmonischer Entsprechung den Orgelpunkt c3

    in die verminderte Septime b2. Ab dem Auftaktzu T125 bemüht sie erstaunlicherweise motivi-sche Elemente der Weiterführung des zweitenGedankens und greift ab T133 auf Motive des„Überleitungsteils“ zurück. Erst ab T137 fälltsie in die virtuose Motivik ein, die dem Hörervon T44/45 her bekannt ist. Kennzeichend fürdiesen Abschnitt ist unter anderem der varian-tenreiche Einsatz unterschiedlicher bereits be-kannter Motive. Dieser sei vorläufig in der Be-trachtung zurückgestellt.

    Im Folgenden wird zunächst der zweite Gedankevorgestellt. Er beginnt in T12 auf unkonventio-nelle Weise: Allein ViI eröffnet mit dem einzel-nen Ton g2 unter Verwendung der repetierendenMotivik aus T8/9. Unter der Nachwirkung desHalbschlusses in T11 weiß der Hörer nicht sorecht, ob der Ton Grundton von G-Dur oderQuinte von C-Dur sein soll. Die erste Hälftevon T13 klärt durch Einsatz der übrigen Strei-cher nach C-Dur. Auf T133 biegt die ViII ins do-minantisierende b um. Der Hörer fragt sich zu-dem, ob das Taktpaar T12/13 bereits Bestandteildes zweiten Gedankens sein soll oder diesen ersteinleitet. Offenbar hat es Mozart nicht eilig undnutzt zwei Takte, um den Hörer noch neugieri-ger zu machen. Über erneutem Orgelpunkt „c“der Bässe beginnt auf T141 in strahlender Ak-zentuierung endlich eine eingängig fassbare me-lodische Gestalt, die Mozart elf Jahre später imKopfsatz der Klaviersonate C-Dur KV 545 („so-

    Der Kopfsatz aus Mozarts Oboenkonzert

  • 508 TIBIA 3/2005

    Ausgleich? In diesem Sinne hebt die Fortsetzungan: Ab T173 führt Mozart den zweiten Gedan-ken in einem Sequenzspiel kurzatmiger Achtel-motive fort, dass sich bis T23 erstreckt. Dabeiklettert die Melodie stufenweise von c2 aufwärtsund umkreist die C-Dur-Dreiklangstöne. Diesich aufbauende Spannung will der Hörer in einen hervorgehobenen C-Dur-Klang gelenktwissen. In T23 bietet sich dafür eine stringent an-gesteuerte Möglichkeit. Zielton scheint c3 zusein, doch auf Taktbeginn biegt ViI und ObIanalog zu T133 ins b

    2 um. Der ersehnte tonikaleC-Dur-Klang wird unverzüglich als Dominantedeklamiert, welche eine folgende Subdominanteankündigt. Dieses Verfahren ist bezeichnend füreine Hinauszögerung einer schließenden Ka-denz. Mozart bereitet den vom Hörer erwarte-ten Schlussklang ab T24 durch eine IV-V-I-Fol-ge vor, welche auf T261 kadenziert. Die zugleichverwendete Motivik bemüht Sechzehntelgrup-pen, die im Anklang an T9/10 die rhythmische Intensität erhöhen und sich fallend vom auf T242 berührten c

    3 in den Schlusston c2 bewegen.Im schlussvorbereitenden Takt erinnern Drei-klangsbrechungen an die Kerneinheit des zwei-ten Gedankens. Derartige Figurationen erfreuensich bei den Klassikern allgemeiner Beliebtheit.

    Im Gegensatz zum ersten Gedanken übernimmtdie Oboe den zweiten in der Soloexposition. DieVorwegnahme des Halbemotivs in T78/79 be-weist, dass Mozart das Motiv dem zweiten Ge-danken zurechnet. Ab T83 führt er weiter inAnalogie zu T17 unter Einwurf des Sechzehn-tellaufs und der Figurationen in T86. Auf Grundder bereits erreichten Tonhöhe ist die Oboe abT87 nicht mehr imstande, die steigende Bewe-gung des Sequenzspiels aus dem Anfangstuttifortzusetzen. Mozart lenkt in den folgendenzehn Takten mit einem dreifachen Kadenzan-hang zur Schlussgruppe hin. Dafür verwendet erdas Modell der Grundkadenz Tonika (T) – Sub-dominante (S) – Dominante (D) – Tonika inner-halb von zwei Viertaktgruppen (T87-90, T90-93) und einer Fünftaktgruppe (T93-97), wobeisich die aufeinander folgenden Taktgruppen ver-schränken. Ab der zweiten Viertaktgruppe hebtMozart die Harmoniefolge durch taktweisen

    Wechsel exponiert heraus. Vor dem endgültigenEintritt des vollkommenen Ganzschlusses inT97 schließen die Taktgruppen jeweils auf G-Dur-Sextakkorden, die einerseits den erwartetenSchlussakkord lediglich andeuten, andererseitseinen Bewegungsimpuls nach vorne ermög-lichen, welcher der solistischen Entfaltung derOboe zugute kommt. Rundum steigt die Span-nung von Taktgruppe zu Taktgruppe bis zur ul-timativen Kadenzierung.

    Wie schon ab T44 korreliert die erhöhte Bewe-gungsintensität der Oboe ab T87 mit der forma-len Gestaltung: Der in T87 stattfindende Schlussin G-Dur befriedigt den Hörer in Bezug auf dieunmissverständlich dargestellte Tonart. Zugleichöffnet Mozart Raum, um im direkten Anschlussdie solistische Virtuosität zu demonstrieren undlenkt formal zur Schlussgruppe hin. Die Oboegestaltet unterschiedliche verspielt anmutendemotivische Figurationen: Jeder Takt bringt einenbislang ungekannten motivischen Einfall, derentweder als Dreiklangsbrechung (T87, 90, 91),als Skalenbewegung (T88, 89, 92, 95) oder alsKombination beider Arten (T93, 94) ausgeprägtist. Lediglich innerhalb der T-S-TaktpaareT90/91 und T93/94 findet jeweils eine Motiv -sequenzierung statt. Das für Mozart typischespielerische Dialogisieren zwischen Orchesterund Solo zeigt sich im Taktpaar T90/91 auf be-sondere Weise, wenn an dieser Stelle auch nurkurz: Hier antwortet jeweils der Streichersatz inder zweiten Takthälfte mit drei Achtelschlägenauf die Akkordbrechung der Oboe in der erstenTakthälfte. Im nächsten Taktpaar erfolgt eineImitation des Achtelmotivs zwischen Bläser-und Streichersatz innerhalb des Orchesters,während die Oboe darüber figuriert. Jede er-reichte Tonika, die eine T-S-D-T-Folge ab-schließt und neu ansetzt, wird durch einen Tril-ler ab dritter Taktposition vorbereitet. Hierbeierlaubt sich Mozart einen Scherz: Anstatt die ersten beiden Triller in den Grundton „g“ zulenken, bricht er sie ab und setzt jeweils eineAchtelpause. Diese aus der Figurenlehre her be-kannte Form der „abruptio“ verhindert den Ein-tritt des ersehnten ultima-Tons und fordert einenneuen Ansatz der Kadenz heraus.

    Marco De Cillis

  • TIBIA 3/2005 509

    Ein Sprung in die Reprise: Im Gegensatz zurWeiterführung des ersten Gedankens modifi-ziert Mozart den Abschnitt des zweiten Gedan-kens hier nur geringfügig. Bis T167 ist der for-male und grundlegend harmonische Ablauf mitdem entsprechenden des Anfangstuttis iden-tisch. Von T153 bis T161 überträgt er den Ge-danken und dessen Fortsetzung in Analogie zurSoloexposition und zur Freude des Hörers nachC-Dur. Der Skalenzug aus T83 wird durch eineTrillerfigur auf der V. Stufe (g2) ersetzt. Auf dieseWeise verharrt die Oboe auf mittlerer Tonhöheund ist imstande, die darauf folgende Sequenz inursprünglicher Länge durchzuführen. Tatsäch-lich bleibt seit Beginn des zweiten Gedankens inder Reprise die Funktionalität der Takte des pa-rallelen Abschnitts aus dem Anfangstutti biszum Eintritt der Schlussgruppe in T27 unver -ändert. Ab T161 (entspricht im AnfangstuttiT20ff.) figuriert die Oboe das Sequenzmodellüber drei Takte mit einer motivischen Wellenbe-wegung, die in der Soloexposition über den Ver-lauf von nur einem Takt auftritt (T86). Sie er-reicht im Anschluss den dominantisierendenSpitzenton b2 entsprechend dem Anfangstutti.In T165 wechselt der Orgelpunkt in die IV. Stufe. Die Motivik wird ab hier aus der Parallel-stelle der Soloexposition übernommen (T88ff.),bereits im Vortakt korrespondiert der fallendemelodische Gestus mit T87. Zwei Takte späterist der Beginn der Schlussgruppe gemäß derenPlatzierung im Anfangstutti vorstellbar (T167ff.).Mozart führt jedoch in einen tonikalen Sext -akkord und verfährt von da an wie in der So-loexposition ab T90: Es folgt ein zweifacher Ka-denzanhang, deren erster der Viertaktgruppevon T90-93, und deren zweiter der Fünftakt-gruppe von T93-97 mit geringfügiger Modifika-tion der Figuration in T172/173 entspricht. Imzusammenfassenden Rückblick beeindrucktMozarts Kombination der entsprechenden Stel-len aus Anfangstutti und Soloexposition.

    Um die Fortsetzung des ersten Gedankens inder Reprise motivisch nachvollziehen zu kön-nen, setzt Mozart neben dem zweiten Gedankendie motivische Faktur des „Überleitungsteils“mit vorangestelltem Tuttieinwurf (T48*-77) als

    bekannt voraus. Letzterer wiederum greift aufdie Schlussgruppe des Anfangstuttis zurück.Von daher liegt es auf der Hand, sich dieserSchlussgruppe vorerst zu widmen.

    Sie besteht durchweg aus Taktmotiven, die alle -samt in gedehntem Auftakt anheben. Das ersteTaktmotiv beginnt auf T262 im piano und eröff-net eine Viertaktgruppe, deren Schlusstakt funk-tional zweimal wiederholt wird (T31/32). Mar-kant wirken zwei Taktmotive: Von T272 bis T281erklingt im zum Vortakt kontrastierenden forteein Taktmotiv, das auf das Kernmotiv des zweitenGedankens Bezug nimmt. Es beginnt mit derDreiklangsbrechung c3-g2-e2, stellt den Ambitusc3-c2 in fallender Bewegung dar und erfolgt nachEinschub des rhythmisch modifizierten erstenTaktmotivs der Schlussgruppe ein zweites Mal abT292. Bis hierhin wechselt taktweise sowohl diemelodische Ausrichtung der einzelnen Taktmo -tive als auch deren dynamische Beschaffenheit, sodass an dieser Stelle das dialogisierende Prinzipbesonders deutlich in Erscheinung tritt. Der Auf-takt zu T31 wiederholt das Taktmotiv in erhöhtfigurierter Form. Im zweiten Schlusstakt lieferndie Streicher das zweite markante Taktmotiv(„Schlussmotiv“), welches auf c2 ansetzt und nacheinem antreibenden Triller auf zweiter Zählzeitdie Dezime e2-c1 in vertrauter Dreiklangsbre-chung durchläuft. Mozart gelingt damit ein zwei-fellos abschließender Gestus, dessen in T321 ge-zielt einfallende Energie durch den 7/8-Auftaktder einsetzenden Oboe abgefangen und in denBeginn der Soloexposition hineingelenkt wird.

    Insbesondere die Wiederholung des Trillers mitvorgesetzter Achtelnote zu Beginn des Auftaktsder Oboe bewirkt eine Verklammerung derFormteile. Der Hörer vernimmt den Einsatzgleich einem überraschenden Einfall, der sichschwungvoll in den motivischen Zusammen-hang einbettet.

    Dem „Überleitungsteil“ stellt Mozart einendreitaktigen Tuttieinwurf ab T472 voran, der dieKraft der C-Dur-Kadenz am Ende des erstenSoloeinsatzes der Oboe bestätigend weiterführt.Dabei verwendet er T29-31 aus der Schluss-

    Der Kopfsatz aus Mozarts Oboenkonzert

  • 510 TIBIA 3/2005

    gruppe des Anfangstuttis und schließt auf T501.In Analogie zu ihrem eröffnenden Auftakt rea-giert die Oboe auch im zweiten Einsatz auf T502mit dem Trillermotiv, welches sie abermals vomOrchester übernimmt. Die Fortsetzung des Tril-lers ist jedoch ein kompositorisch ausgefeilterScherz (s. Abbildung unten).

    Die Oboe zitiert das „Schlussmotiv“ des Or-chesters von T49. Das wirkt beinahe spöttisch.Ist es wirklich Absicht der Oboe, ihren neuenEinsatz mit einer Schlussfloskel zu eröffnen, unddas obendrein im höhnenden Echo? Mozart the-matisiert einen an dieser Stelle ansetzenden Dia-log zwischen Orchester und Solo bis T57. Dabeiwirft er zusätzlich einen melodisch und rhyth-misch schlicht konzipierten neuen Gedanken abT512 und T542 in Form eines auftaktigen Takt-motivs ein. Es entstehen die beiden DreitakterT52-54 und T55-57 mit folgender Einteilung:Der erste Takt präsentiert jeweils den neuen Ge-danken unter Miteinbezug des Auftakts, derzweite Takt bemüht das „Schlussmotiv“ im Or-chester, im dritten wird dieses Motiv von derOboe beantwortet. Das auf diese Weise vollzo-gene bewegte Motivspiel kommt in T57 zur Ru-he. Gleichzeitig kündigt der Ton fis2 der Oboeden tonalen Wechsel nach G-Dur an. Die Or-chesterbegleitung fällt auf die repetierendenAchtel der Violinen zurück. Im folgenden Zwei-takter führt Mozart das letzte „Schlussmotiv“der Oboe, in welchem er die Dreiklangsbre-chung durch einen fallenden Skalenzug ersetzt,gesanglich weiter und schließt in G-Dur (T583:Terz h1 der Oboe). Zum ersten Mal wird die imweiteren Verlauf der „Überleitung“ nicht mehrverlassene Tonart tonikal erreicht. In T59/60wird der Zweitakter wiederholt, wobei die Oboein durchgehenden Sechzehnteln figuriert. Diesich in einem Viertakter anschließende Motiviknimmt die rhythmische Gestalt des zweiten Ge-dankens von T14/15 an. Dabei umspielt dieOboe über drei Takte den Ton a2 als Sexte des S6

    und führt die aufgebaute Spannung kadenzie-rend auf T641 in die dominantische Terz fis

    2 vonG-Dur. Auf diesen Halbschluss könnte Mozartohne Kunstgriffe den zweiten Gedanken folgenlassen. Allerdings kadenziert er bis zu dessenEintritt in T78 (13 Takte später) noch zweimalnach G-Dur. Die nächste Kadenz in T68 steuertdie Quinte d2 an, T76 schließt mit dem Grund-ton g1. So zeigen die im „Überleitungsteil“ statt-findenden G-Dur-Kadenzen Mozarts Vorliebefür das abwechslungsreiche Spiel mit den Ak-kordtönen zum wiederholten Mal. Nach demHalbschluss in T64 reagiert zunächst ein weite-rer Viertakter auf die gedehnt-exponierte Sub-dominante des vorherigen Viertakters: Einedreitaktige Dominante zielt ganzschlüssig in dieKadenz auf T681. Streicher und Bläser wechselnsich in T65/66 im Halbtaktabstand wetteiferndmit der harmonisierenden Achtelbegleitung ab,während sich die Oboe in perlenden Figuratio-nen bis auf c3 (T671) emporschwingt. Dort biegtsie melodisch um und erreicht auf T682 in syn-kopischer Endung die Quinte d2 des G-Dur-Dreiklangs. Die Sechzehntelgruppe dieser En-dung spaltet Mozart in den folgenden Taktenmotivisch ab, indem er sie in der Oboe jeweilsauf Taktbeginn von T69, T70 und T72 aufgreift.Zudem wirft das Orchester diese Sechzehntel-gruppe ab T68 auf der Takt-Zwei als kompo-niertes Echo ein. Die Gruppen in T69 und T70werden jeweils auftaktig durch eine vorgesetzteFiguration von sieben Sechzehnteln eingeleitet,welche die Violinen im Verlauf des subdomi-nantisch öffnenden T71 imitieren. Hier verharrtdie Oboe urplötzlich auf der Ganzenote g2. MitEintritt des einschlagenden übermäßigen Quint-sextakkords auf T721 entlädt sich der Ton imletzten abgespaltenen Sechzehntelmotiv. Mo zartakzentuiert die den endgültigen Schluss des Ab-schnitts signalisierende Harmonie durch ein forte auf der ersten Achtel im Orchester (ab derzweiten Achtel schreibt er wieder piano vor) unddurch ein fortepiano auf dem synkopisch fort-

    Marco De Cillis

  • TIBIA 3/2005 511

    gesetzten Spitzenton b2 in der Oboe (T722).Mozart ist dem Hörer die ultimative Hinlen-kung nach G-Dur spätestens zu diesem Zeit-punkt schuldig. Bis T76 vollzieht er sie erwar-tungsgemäß. Dabei demonstriert die Oboe einenausgeprägten motivischen Einfallsreichtum, dasie die Motivik seit T71 im konsequenten Takt-abstand ändert. In T73 verwendet sie gar den sequenzierenden Rhythmus von T18/19, mitwelchem das Orchester im Anfangstutti denzweiten Gedanken weiterführt. BelebendePunktierungen streben in T74 dem Schlusstaktentgegen. Gleich dem Ende des ersten solisti-schen Abschnitts (T463) wird auch hier derSchluss von einem Triller auf der II. Stufe einge-leitet (T753). Der Hörer weiß sich tonal zu Hau-se: Deutlicher kann sich die Tonart G-Dur nichtanbieten. Die Verbindung mit dem Einsatz deszweiten Gedankens in T78 gelingt Mozart durcheinen zweiten Tuttieinwurf, den er auf den Zwei-takter T76/77 beschränkt. Mit einem Griff in dieTrickkiste erreicht er in T77 den dominantischenHalbschluss, rückt also noch einmal vom Ganz-schluss ab: Er bedient sich der Motivik vonT10/11, welche den ersten Abschnitt des An-fangstuttis bereits in den dominantischen Halb-schluss von C-Dur gelenkt hat. In der erstenTakthälfte von T76 wird der trugschlüssigeHalbtakt von T10 auf Grund des erfüllten Ganz-schlusses tonikal ersetzt. Wie seinerzeit im Anfangstutti kündigt der Einschub dem Hörer ulti mativ den zweiten Gedanken an. Mozartunter lässt es nicht, die damit verbundene Er-wartung ab T78 zu erfüllen.

    Jetzt ist die motivische Grundlage endgültig vor-gestellt, mit welcher die Fortsetzung des erstenGedankens in der Reprise vonstatten geht. DerGriff auf musikalische Elemente, die im Grundegenommen einer Durchführung entsprechen,zeigt sich wirkungsvoll in der chromatischenAbbiegung in den Dv von d-Moll in T124. DasKlangfundament „c“ wird in den Leitton „cis“erhoben. Dem Hörer begegnet zum ersten Maleine Veränderung des tonalen Zentrums in Rich-tung einer Molltonart. Zumal der ausschlagendeDv noch im Anfangsstadium der Reprise eintritt,muss er ein Ereignis sein, das den Hörer nicht

    unberührt lassen darf: Ist der Dv eine Zwischen-dominante zu einer Subdominantparallele, dieMozart lediglich als Einschub bringen wird?Kann der Hörer etwa mit einer Modulationrechnen? Im Viertakter T125-128 bestätigt Mo -zart tatsächlich die Tonart d-Moll, bis sieschließlich auf T1281 in perfekter Kadenz ein-trifft. Schrittweise nachvollziehbar durchläuftdie Oboe bis T128 den Zug c3-d2 in Gegenbewe-gung zu den Bässen und gestaltet den Viertaktermit der Motivik von T18/19 bzw. T84/85, die je-weils den zweiten Gedanken im Anfangstuttibzw. in der Soloexposition weiterführt. T127ahmt die Kerneinheit des zweiten Gedankensnach. Die Materialmixtur überrascht nicht min-der als die tonale Wende. Nun mag sich der Hö-rer fragen, ob Mozart die neu erreichte Tonalitätbeibehalten wird, oder ob er etwa weiter mo -duliert. Offenbar weiß Mozart, dass er einen gewagten Schritt getätigt hat: Er gebraucht den nächsten Viertakter (T129-132), um aufschnellstem Wege zurück nach C-Dur zu gelan-gen. So abrupt er in T124 von C-Dur abrückt,flieht er noch in der zweiten Takthälfte von T128aus d-Moll in die Dominante zu C-Dur zurück.Der Viertakter stabilisiert die tonale Rückkehr.Sowohl in der Funktion einer Tonalitätsbestäti-gung als auch in der motivischen Gestaltung derOboe wiederholt er die Struktur des vorherigenViertakters. Unter figurativer Ausschmückunghebt die Oboe gleich dem ersten Gedanken dieDreiklangstöne mit den synkopischen Endun-gen ihrer Motive hervor (jetzt in der umgekehr-ten Reihenfolge g2-e2-c2) und erreicht auf T1321den Grundton c2. Es folgt ein weiterer Viertak-ter, der in d