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originalarbeit Wien Med Wochenschr (2020) 170:59–70 https://doi.org/10.1007/s10354-019-0701-3 Anno 1529 – der „Englische Schweiß“ in Wien, die Türken um Wien Heinz Flamm Eingegangen: 15. April 2019 / Angenommen: 12. Juni 2019 / Online publiziert: 5. August 2019 © Springer-Verlag GmbH Austria, ein Teil von Springer Nature 2019 Zusammenfassung Nach der Schlacht von Bosworth 1485 entstand in London eine schreckliche Epidemie des Englischen Schweißes. Bis 1551 folgten vier wei- tere, von denen nur jene von 1529 Mittel- und Nord- europa erreichte. Diese bedrängte auch die Menschen im umkämpften Wien während der „Ersten Türkenbe- lagerung“. Die mit Kopfschmerzen, Tachykardie und Fieber plötzlich Erkrankten produzieren stark stinkenden Schweiß. Sie werden von großer Angst, von Deliri- en und Schlafsucht geplagt. Die Erkrankung dauert meist nur 24 Stunden, sie kann aber auch in kürzerer Zeit zum Tode führen. Zu Anfang der Epidemien ist die Letalität besonders hoch. Die Behandlung muss sofort mit bestimmten Mitteln beginnen. Die Kran- ken werden durch verschiedene Methoden warm und schlaflos gehalten („Niederländisches Regiment“). Die dadurch verursachte große Todesrate konnte durch Vermeidung des Hitzestaus gesenkt werden („Engli- sches Regiment“). Als Ursache des Englischen Schweißes vermute ich eine wieder verschwundene „Emerging Disease“ des 15./16. Jahrhunderts, wie heute z.B. die neuen Grippe- Varianten oder AIDS, Ebola und SARS. Schlüsselwörter Englischer Schweiß · Sudor anglicus · Schweißfriesel · Wiens 1. Türkenbelagerung · Epidemie Univ.-Prof. Dr. med. Dr. med. h.c. H. Flamm () Klinisches Institut für Hygiene, Universität Wien, Wien, Österreich Martinstraße 7, 3400 Klosterneuburg, Österreich offi[email protected] Anno 1529 – the “English Sweating Sickness” in Vienna, the Turkish troops around Vienna Summary After the battle of Bosworth in 1485 Lon- don was frightened by a severe epidemic of Sweating Disease. Until 1551 four more followed of which only the 1525 epidemic invaded Central and Northern Eu- rope harassing Vienna during its “First TurkishSiege”. People abruptly fell ill with headache, tachycardia, fever and secretion of stinking sweat. They were af- flicted with anxiety, deliria and somnolence. The ill- ness mostly lasted for 24 h, but death although could occur earlier. At the beginning of epidemics the lethal- ity was particularly high. The treatment with distinct medicaments had to be started instantly. The patients must be kept warm and sleepless (“Dutch Regiment”). The thus caused high lethality was lowered by omit- ting the hyperthermia (“English Regiment”). I suppose that the Sweating Disease was an “Emerging Disease” of the 15th/16th century, as nowadays AIDS, Ebola, SARS, MERS and influenza variants are. Keywords Sweating Sickness · Sudor anglicus · Febris miliaris · Vienna’s 1st TurkishSiege · Epidemic Eine in meiner Bibliothek stehende Linzer Handschrift aus dem Jahre 1529 über den „Englischen Schweiß“ [1] und das heuer 490. Gedenkjahr der „Ersten Türken- belagerung“ Wiens sind der Anlass zur Erinnerung an die Verbindung des historischen Geschehens mit die- ser heute fast vergessenen Krankheit (Abb. 1). Diese 59-seitige Handschrift trägt den Titel „Re- gement vnd Ártzney in dem Englisch Schwais 1529 – Vnd am lesten steet für die Bre˝ yn – Ich noch Z˝ u lest für die Pestilentz – Vnd noch ain blat ain köstlich bewart stückh vom Hanfsa ˜ men alten vnd Jungen vnd vergifften sachen“ [Bre˝ yn, Prein, Bräun = Diphtherie; K Anno 1529 – der „Englische Schweiß“ in Wien, die Türken um Wien 59

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Wien Med Wochenschr (2020) 170:59–70https://doi.org/10.1007/s10354-019-0701-3

Anno 1529 – der „Englische Schweiß“ inWien, die Türken umWien

Heinz Flamm

Eingegangen: 15. April 2019 / Angenommen: 12. Juni 2019 / Online publiziert: 5. August 2019© Springer-Verlag GmbH Austria, ein Teil von Springer Nature 2019

Zusammenfassung Nach der Schlacht von Bosworth1485 entstand in London eine schreckliche Epidemiedes Englischen Schweißes. Bis 1551 folgten vier wei-tere, von denen nur jene von 1529 Mittel- und Nord-europa erreichte. Diese bedrängte auch die Menschenim umkämpften Wien während der „Ersten Türkenbe-lagerung“.Die mit Kopfschmerzen, Tachykardie und Fieberplötzlich Erkrankten produzieren stark stinkendenSchweiß. Sie werden von großer Angst, von Deliri-en und Schlafsucht geplagt. Die Erkrankung dauertmeist nur 24 Stunden, sie kann aber auch in kürzererZeit zum Tode führen. Zu Anfang der Epidemien istdie Letalität besonders hoch. Die Behandlung musssofort mit bestimmten Mitteln beginnen. Die Kran-ken werden durch verschiedene Methoden warm undschlaflos gehalten („Niederländisches Regiment“). Diedadurch verursachte große Todesrate konnte durchVermeidung des Hitzestaus gesenkt werden („Engli-sches Regiment“).Als Ursache des Englischen Schweißes vermute icheine wieder verschwundene „Emerging Disease“ des15./16. Jahrhunderts, wie heute z.B. die neuen Grippe-Varianten oder AIDS, Ebola und SARS.

Schlüsselwörter Englischer Schweiß ·Sudor anglicus · Schweißfriesel · Wiens1. Türkenbelagerung · Epidemie

Univ.-Prof. Dr. med. Dr. med. h.c. H. Flamm (�)Klinisches Institut für Hygiene, Universität Wien, Wien,Österreich

Martinstraße 7, 3400 Klosterneuburg, Ö[email protected]

Anno 1529 – the “English Sweating Sickness” inVienna, the Turkish troops around Vienna

Summary After the battle of Bosworth in 1485 Lon-don was frightened by a severe epidemic of SweatingDisease. Until 1551 four more followed of which onlythe 1525 epidemic invaded Central and Northern Eu-rope harassing Vienna during its “First Turkish Siege”.People abruptly fell ill with headache, tachycardia,fever and secretion of stinking sweat. They were af-flicted with anxiety, deliria and somnolence. The ill-ness mostly lasted for 24h, but death although couldoccur earlier. At the beginning of epidemics the lethal-ity was particularly high. The treatment with distinctmedicaments had to be started instantly. The patientsmust be kept warm and sleepless (“Dutch Regiment”).The thus caused high lethality was lowered by omit-ting the hyperthermia (“English Regiment”).I suppose that the Sweating Disease was an “EmergingDisease” of the 15th/16th century, as nowadays AIDS,Ebola, SARS, MERS and influenza variants are.

Keywords Sweating Sickness · Sudor anglicus · Febrismiliaris · Vienna’s 1st Turkish Siege · Epidemic

Eine inmeiner Bibliothek stehende Linzer Handschriftaus dem Jahre 1529 über den „Englischen Schweiß“ [1]und das heuer 490. Gedenkjahr der „Ersten Türken-belagerung“ Wiens sind der Anlass zur Erinnerung andie Verbindung des historischen Geschehens mit die-ser heute fast vergessenen Krankheit (Abb. 1).

Diese 59-seitige Handschrift trägt den Titel „Re-gement vnd Ártzney in dem Englisch Schwais 1529– Vnd am lesten steet für die Breyn – Ich noch Zulest für die Pestilentz – Vnd noch ain blat ain köstlichbewart stückh vom Hanfsamen alten vnd Jungen vndvergifften sachen“ [Breyn, Prein, Bräun=Diphtherie;

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Abb. 1 Manuskript zweier Apotheker aus Linz, 1529. Titel-blatt. (Aus [1])

Hanfsammen=Hanf-Samen]. Das erste Textblatt stehtunter der Überschrift „Im Schwaiß – Regiment vonMaister Paulsen Appotekher Zu Lintz“, in dem die-ser „preseru[v]atim Vnd Curatim“ schreibt über das„prechen, so in Vil orthen irxtmals Vmbgeben ist“[prechen=Gebrechen, Krankheit].

Der Appothekher Paul ist ebenso wie der Verfas-ser des weiteren Textes, der Apoteckher DominicüsZü Lintz, weder in Linz an der Donau noch in Linzam Rhein nachweisbar. Beide Pharmazeuten warenaber sicherlich im österreichischen Linz tätig, da Do-minikus in seinem Teil „In der Pestilentz“ zweimalschrieb, dass seine Artzney auch im großen Ster-ben [Seuche] im Welschlandt geholfen hat [Welsch-land=Welschtirol, Trentino]. Des Weiteren erwähnter auch König Ferdinand [1521 Regent der österreichi-schen Erblande, 1526 König von Böhmen und Ungarn,1531 Röm. König, 1556 als Kaiser: Ferdinand I.].

Der „Englische Schweiß“ heißt so, denn „in demKünigreich Engellandt ist die kranckheit anfenglichvfferstanden“ und weil „diese kranckheit schnelleng-lich endet“, „entweders zum leben oder todt mit ey-nem so vergifften übel riechenden schweiss“ [2].

Der „Englische Schweiß“ oder „Sudor anglicus“hat noch viele weitere, weniger gebräuchliche Na-men wie „Schweiß-Pest“, „Pestis britannica“, „Eng-lisches Schweyßbad“, „Ephemera britannica“ [ephe-mer= schnell vorübergehend], „Hydropyretus“ [Was-

ser-Hitze], „Hydronosus“ [Wasserkrankheit] und „Su-doriferus morbus“ [Schweißbringende Krankheit] [3].Der Begründer des österreichischen Medizinalwesensund der Hygiene, Johann Peter Frank, (1745–1821)bezeichnete die Krankheit als „Schwiz-Ephemera“ [4].

Die fünf Epidemien des Englischen Schweißes

Der Englische Schweiß ist eine der verheerendstenEpidemien der beginnenden Neuzeit. Das erste doku-mentierte Auftreten dieser Seuche fällt in die Zeit desEndes des englischen „Rosenkrieges“. Sie soll bereitsvor der Landung Heinrichs von Richmond (Tudor) imenglischen Milford Haven am 7. August 1485 in sei-nem in Frankreich aufgestellten Heer aufgetreten sein,das aus mit ihm 1483 geflüchteten Engländern undfranzösischen Söldnern gebildet worden war. Nach ei-ner anderen Meinung könnte sich aber die Truppe erstbeim Marsch durch die Moore an der Waliser Grenzeinfiziert haben. Auf jeden Fall nahm die Seuche un-ter den Soldaten gewaltig zu. Sie verbreitete sich be-sonders, als diese sich nach dem Sieg Heinrichs überden englischen König Richard III. in der Schlacht vonBosworth am 22. August 1485 in alle Richtungen ver-liefen. So zog Heinrich mit nur kleinem Gefolge inLondon ein, wo bereits am 28. August die erste histo-risch festgehaltene Epidemie an Englischem Schweißausbrach. Sie dauerte fünf Wochen und forderte eineschreckliche Anzahl von Opfern, darunter zwei Bür-germeister und einige Ratsherren. Es wird berichtet,dass die Herren abends noch gefeiert haben und amfolgenden Morgen bereits tot aufgefunden wurden [5,6]. Wegen der fürchterlichen Ereignisse musste sogardie Krönung des Siegers zu König Henry VII. um zweiWochen verschoben werden. Die Epidemie blieb nachden Berichten auf das eigentliche England beschränktund griff weder auf Schottland und Irland, noch aufden Kontinent über.

Bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts folgten noch wei-tere vier Epidemien, nämlich 1507 (1508?), 1516–1518,1529/30 und 1551. Die dritte Epidemie erreichte au-ßerhalb Englands die Nordküste Frankreichs, wo sienur Engländer befiel und dort auch erlosch. Die vierteEpidemie der Jahre 1529 und 1530 war die schwerste.Im Juni 1529 erkrankten in London 40.000 Einwohner,von denen 2000 starben [7]. Diese Epidemie des Engli-schen Schweißes war nach mehrheitlicher Auffassungdie einzige, die von England auf den Kontinent über-tragen, sich in Mittel- und Nordeuropa ausbreitete.Den geographischen Umfang der fünf Epidemien hatSenf 1930 auf Grund von Originalquellen und Publi-kationen kartographisch und textlich dargestellt [8].

Den Ausbrüchen des Englischen Schweißes gingenjeweils regenreiche Jahre mit vielen Überschwem-mungen und wechselnden Temperaturen voraus. DieWinter dazwischen konnten mild verlaufen. SolcheWetterverhältnisse blieben auch in den Epidemie-jahren bestehen. Fast alle Epidemien begannen imSommer. Die einzelnen lokalen Ausbrüche dauerten

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etwa ein bis zwei Wochen, manche aber auch län-ger. Die Epidemien erloschen meist mit Beginn derkälteren Jahreszeit.

Der Englische Schweiß war eine Krankheit desländlichen Bereichs. In den Städten war die Ausbrei-tung wesentlich geringer und betraf dort die Ober-schicht. Ergriffen wurden vor allem kräftige Männermittleren Alters aus den höheren Schichten. Frauen,Kinder und alte Leute waren wenig betroffen. DieMorbidität und Letalität waren zu Anfang der fünfEpidemien sehr hoch und sanken in jeder jeweils mitihrem zeitlichen Verlauf und ihrer örtlichen Ausbrei-tung.

Nach 1551 findet man den Englischen Schweißunter diesem oder einem seiner anderen Namennicht mehr in den Berichten über die Epidemien,die Europa heimsuchten. Nach 53 Jahren war aberdie Erinnerung an die Schweiß-Krankheit offenbarnoch so wach, dass Shakespeare 1604 in seinem Werk„Maß für Maß“ Krieg, Schweiß, Galgen und Armut alsdie Übel der Zeit bezeichnete. Aber bald verschwanddie Furcht aus dem kollektiven Gedächtnis der Be-völkerungen. Heute gilt der Englische Schweiß alsverschwunden und selbst seine vermeintliche mil-de Form, den Schweißfriesel, findet man seit einemhalben Jahrhundert nicht einmal mehr in den Lehr-büchern.

Auch die epidemiologischen Überlegungen zumEnglischen Schweiß waren in den 1930er-Jahren vompolitischen Zeitgeist beherrscht: An der Universi-tät Berlin führte 1937 H. Lemser aus, „daß der E.S.in seinen fünf Epidemien tatsächlich sich fast aus-schließlich in von nordischer oder ganz vorwiegendnordischer Rasse besiedelten Gebieten auszubreitenscheint und nie auf die ausschließlichen Siedlungs-gebiete anderer Rassen übergreift“ [9]. Daher seienFrankreich und Italien frei von der Seuche geblieben.Auch die Erklärung der Ausbreitung besonders inden Flusstälern und Niederungen dadurch, dass „dienordisch-rassische Bevölkerung gerade vorwiegendursprünglich in den größeren Flusstälern in dieseGebiete zuströmte und auch heute noch in diesenFlusstälern nachweislich stärker vertreten“ sei als inanderen Landstrichen des Gebietes, entspricht demideologischen Zeitgeist von Lerners Publikation.

Die Erkrankung

Die klinischen Erscheinungen des Englischen Schwei-ßes und die Maßnahmen dagegen habe ich nach denAngaben einiger Ärzte zusammengefasst, die ihreErfahrungen in der Epidemie des Jahres 1529 schrift-lich mitgeteilt haben. Es waren dies insbesonderedie Originalpublikationen von Anthon Brelochs [10],Euritius Cordus [11], Caspar Kegler [12, 13], HannsMelbrey [14], Joachim Schiller von Herderen [15] undder Gemeinschaft der Doctores zu Franckfurt, Mentz[Mainz], Worms vnd Speir [16]. Auch einige der zahl-reichen Bücher und Textfragmente aus 1529 habe ich

benützt, die in dem sehr umfänglichen Sammelbandvon Christian Gottfried Gruner (1744–1815) nachdessen Tod vom Medizinhistoriker Heinrich Haeser(1811–1884) herausgegeben wurden [17]. Auch Se-kundärliteratur, die sich auf lokale Berichte bezieht,konnte Einzelheiten vermitteln [18, 19]. Alle Anga-ben haben kleinere Unterschiede, stimmen aber imPrinzip überein.

Die Erkrankung beginnt nach einer Inkubationszeitvon 24 bis höchstens 48h ohne Prodrome plötzlichmit starken Kopfschmerzen, Schwindel und Erbre-chen, Schüttelfrost oder Fieber, Herzschmerzen mitTachykardie, Hals- und Gliederschmerzen. Es kannsich Nasenbluten einstellen. Der Kranke wird schwer-mütig, leidet unter großer Angst und Delirien. Erverlangt nach kalter Luft, atmet sie mit großer Begier-de eine. Eine starke Schlafsucht entwickelt sich. DieKräfte des Kranken nehmen ab und er schwitzt sehrstark. Der Schweiß stinkt sehr (nach fauligen Eiern),ist gelblich und so dickflüssig, dass man ihn zwischenden Fingern aufziehen kann.

Der meist dunkle Harn wird nur in geringen Men-gen produziert, so dass er für die bei den Ärzten üb-liche Harnschau zur Diagnose nicht reicht. Trotzdemgibt es, insbesondere von Hanns Melbrey [14], genaueBeurteilungskriterien bezüglich Farbe, Konsistenz, In-haltsstoffen und Sediment des Harnes in Hinblick aufdie Prognose des Patienten.

Die Krankheitserscheinungen sind nachts intensi-ver ausgeprägt.

Nur in ganz vereinzelten Fällen werden an denGliedmaßen kleine, nicht konfluierende und die Hautsehr uneben machende Bläschen angegeben. [Wegender später zu besprechenden Beziehung zu Schweiß-friesel wäre es gut zu wissen, ob dies tatsächlich nurEinzelbeobachtungen waren oder ob ganz einfach dieKranken nicht genau angesehen wurden, da man siezum Schutz vor der umgebenden kalten Luft raschestzugedeckt hatte.].

Alle diese Symptome des Englischen Schweißesmüssen nicht gleichzeitig und in bestimmter Rei-henfolge auftreten, sie können auch einzeln odergemischt erscheinen.

Die Erkrankung dauert im Allgemeinen 24h. Eskann aber auch der Tod innerhalb ganz weniger Stun-den eintreten. Man sagte, einer steht in der Frühgesund auf, erkrankt unter tags und ist abends schontot. In der Regel trat bald nach dem Tod eine guterkennbare Fäulnis auf, die ein rasches Begräbnisveranlasste. Dieses sichtbare Zeichen des Todes hatteaber auch den Effekt, dass die im Volk herrschendeFurcht vor dem Lebendig-begraben-werden dadurchsehr verringert wurde.

Es wurden hier also „die zeychen gemelt/durch we-liche vilgemelte seucht/von den andern kranckheytenmöge vnderschidlich erkenth werden“ [10]. Dies warwichtig, weil für Seuchen fast immer auch die Bezeich-nung „Pest“ oder „Pestilenz“ gebraucht worden ist,mit dem Englischen Schweiß aber eine für die Ärzte

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Abb. 2 Mehrere Krankeeinzeln in Tücher eingewi-ckelt und zu zweit in Bettenliegend. Original nicht fest-stellbar. (Quelle: Gemeinfrei,Aus: https://www.welt.de/180675502)

des 15. und 16. Jahrhunderts neue seuchenhaft auftre-tende, ebenfalls schreckliche Erkrankung zu erkennenund zu behandeln war.

Die Behandlung

Sobald ein Mensch Krankheitszeichen bietet, sindunverzüglich Pflege und Arznei notwendig. Der Arztmuss nun mit allem Fleiß feststellen, ob die Krank-heit von Hitze oder Kälte ist, damit er das Widerspielvon Krankheiten benützen kann. Dem Hitzigen musser Kühlung verschaffen, dem Kalten Wärme, demTrockenen Feuchte und dem Feuchten Trockenheit,sodass sich die Krankheit mit den Speisen vereinigt.

Daneben bedarf der Kranke auch verschiedenerArzneien, für die es verschiedene Rezepturen gibt. Sokann man z.B. ein Pulver aus verschiedenen Siru-pen und bestimmten Arzneipflanzen und die gleicheMenge eines mindestens 10–12 Jahre alten Theriaksin ziemlich warmem Ampfer-Wasser zur Entfernungdes „Krankheitsgiftes“ verabreichen. Gegen die Herz-schmerzen kann man einen Löffel Rosenwasser mit„Herzpulver“ aus gemahlenen Korallen, Perlen oderedlen Steinen und Zucker geben. [Theriak, eine seitdem Altertum als Panazee {Allheilmittel} gegen vieleKrankheiten gebrauchte Arznei, ist ein nach verschie-denen Rezepten hergestelltes Gemisch von ursprünglich61 Stoffen wie Bezoar {Magenstein von Wiederkäuern},Edelsteinen, Perlen, Korallen, Terra sigillata, Ambra{wachsartiges Darmsekret des Pottwals}, Peru-Balsam,Opium und pflanzlichen Stoffen und im Original mitgetrocknetem Vipern-Fleisch [20]. Theriak war noch1794 in der Pharmakopoea Austriaco-provincialis an-geführt, allerdings nurmit fünf Bestandteilen und ohneVipern-Fleisch [21]].

Der Kranke muss unbedingt vor kalter Luft ge-schützt werden, denn er soll kräftig schwitzen. Er sollalso in einem warmen Raum, dessen Fenster und Tü-ren versperrt sind, untergebracht werden. Der Krankeist bis aufs Hemd zu entkleiden, in ein warmes Bettzu legen und mit Decken, Federbetten oder Pelzen zubedecken. Er kann aber auch in Tücher fest eingenäht

werden. Der Kopf soll in leinene Tücher eingebundenund hoch gelagert werden. Zum gegenseitigen Er-wärmen kann man die Patienten auch zu zweit oderzu dritt gemeinsam in ein Bett legen (Abb. 2). AuchGesunde legten sich auf Patienten, wodurch diesewarm gehalten und in ihrer Bewegung gehemmt wur-den. Der Kranke darf sich nämlich nur ganz wenigbewegen, damit nicht große Hitze entsteht und ernicht durch seine Unruhe kalte schädliche Luft aufsich zieht, was insbesondere für seine Füße gilt. Beidurch die Delirien verursachter Unruhe müssen einoder zwei Männer den Kranken unter den Zudeckenfesthalten oder sich zur Fixierung auf ihn legen. Auchfür seine Notdurft darf er nicht aufstehen. Für denStuhl sind ihm warme Tücher unterzulegen, für dasAuffangen des Harns kann man ihm Tücher oder einewarme Kachel geben.

Abb. 3 Bisam-Apfel. Aus „Stadt im Wandel“. (Aus: Katalogder Landesausstellung Niedersachsen 1985). (Aus [37], mitfreundlicher Genehmigung)

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Abb. 4 Anweisung: „Man mag Ihm auch Hanffmilch Zetrink-hen geben“. (Aus [1])

Der Kranke darf zur Erhaltung der Kräfte auf kei-nen Fall schlafen. Deswegen bestreicht man ihm dieNasenlöcher und die Schläfen mit einemmit warmemEssig, aber auch mit Rosen-, Lavendel- oder Melissen-Wasser angefeuchteten Schwämmchen oder Tüchlein.Dies gilt insbesondere, wenn er den Wunsch zu schla-fen hat. Zur Vermeidung des Schlafens kannman auchden bekleideten Kranken von zwei starken Männernin der warmen Stube herumführen lassen.

Auch soll er in dieser Zeit nicht essen und trin-ken. Und damit er nicht von Kräften falle und auchzur Milderung der gräulichen Hitze, soll man ihm vonBeginn bis Ende der 24. Stunde öfter ein haselnuß-großes, nicht zu kaltes Stück von einer Latwerge ausverschiedenen Zuckerarten in den Mund halten. Die-ses soll er, wenn es etwas erwärmt ist, schlucken. DerKranke kann aber auch oft und viel von Tormentilla[Fingerkraut], Zitronenschalen, Angelica [Engelwurz],Zitwar [Kurkumawurzel] oder Diptam in den Mundnehmen, was ihn vor der Giftigkeit der Luft schützt.Auch das oftmalige Riechen an einem Ambra- odereinem Bisam-Apfel und Einatmen des ausgeström-ten Duftes hilft in gleichem Sinne (Abb. 3). [Latwergeist eine gezuckerteMarmelade, in die man verschiedeneArzneimittel mischen kann. – Bisam- und Ambra-Äpfelsind an Halsketten oder Schnüren befestigte mit einemduftenden Stoff gefüllte Anhänger. Das können einfacheNussschalen oder kunstvolle Geschmeide sein. – Bisamist das stark riechende Sekret der Moschusdrüse des Mo-schus-Hirschens.]

So der Kranke zur Erhaltung seiner Kräfte doch es-sen und trinken will, kann er ziemlich warme Hühner-oder Fleischbrühe und etwas Wein oder Ampfer-Was-ser zu sich nehmen.

Einzig nach dem Regiment des Appotekhers Mais-ter Paul von Linz an der Donau wird dem Kranken al-le Morgen nüchtern ein Trunk Hanfmilch verabreicht[1]. Die Erwähnung des Hanfsamens auf dem Titel-blatt der Handschrift soll vielleicht auf die Besonder-heit der Behandlung nach dem Linzer Regiment hin-weisen. Bei keiner Therapie-Empfehlung eines ande-ren Autors habe ich den Hanf gefunden (Abb. 4).

Es wird empfohlen, das Zimmer des Kranken mitwohlriechenden Stoffen zu räuchern, wie z.B. Räu-

cherkerzen, Zitwar, Gewürznelken, Mastix, Myrrheoder Weihrauch.

Wenn der Kranke das Schwitzen überstanden hat,soll man anfangen, ihn ganz sanft an allen Gliedernmit ziemlich warmen Tüchern abzutrocknen, dies ins-besondere hinter den Ohren, unter den Achseln, zwi-schen den Beinen und an den Fußsohlen. Danach sollman ihm helfen, in ein anderes warmes Bett zu kom-men, wo er essen und trinken mag.

Später darf sich der Kranke zum Feuer setzen. Ersoll Arme, Beine und Fußsohlen mit warmen Tüchernzur Anregung seiner Natur und Erleichterung des Her-zens reiben. Er muss sich überhaupt die nächsten Ta-ge warm und trocken halten, bis sich seine Natur undsein Wesen ganz erholt haben. Weiters soll er beimEssen und Trinken mäßig bleiben. Nachdem er sicherholt haben wird, soll er purgieren und sich von ei-nem Arzt zur Ader lassen. Dies wird ihn vor der Wie-derholung derselben Seuche bewaren, die stets ärgerausfallen würde. Die Rekonvaleszenz dauert etwa ei-ne Woche, nach welcher die meisten Kranken wieder-hergestellt sind. In manchen Fällen bleiben aber überJahre Herzklopfen und Gliederzittern bestehen. Auchwiederholtes Auftreten der Erkrankung ist, wenn auchselten, möglich.

Diese geschilderten Maßnahmen des gewaltsamerzwungenen starken Schwitzens wurden als „Nie-derländisches Regiment“ bezeichnet. Sie verursach-ten sehr hohe Todesraten von bis zu 90% der soBehandelten. Man kam jedoch nicht nur in England,sondern auch vieler Orts zur Erkenntnis, dass mansich bemühen muss, Fieber und Schwitzen auf 6bis 8h zu begrenzen. Die Maßnahmen dieses soge-nannten „Englischen Regiments“ beschreiben genauHanns Melbrey in Speyer [14] und ein ungenannter

Abb. 5 „glut oder bethpfañe“ zum Trocknen der verschwitz-ten Tücher und zum Wärmen von Bett und Kranken. (Aus [14])

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Abb. 6 Begrenzter Luft-raum über dem Kranken.(Aus [14])

süddeutscher Autor [22]. Dabei ist es wichtig, dieKranken nur so locker, ohne Federdecken oder Pel-ze zuzudecken oder einzunähen, dass „der gestanckvom schweyß/vnnd die wind vnd die vergifften vapo-res“ entweichen können. Die Decken sollen bei denBeinen so locker sein, dass man für den Stuhlgangein Becken hineinschieben kann. Die ganz schweiß-nassen Leintücher und die Tücher zum Abtrocknenvon Stirn und Kopf müssen gewechselt werden. ZumTrocknen eignen sich irdene oder kupferne „glut oderbethpfañen“, durch deren perforierten Oberteil Hitzean darauf gelegte Tücher oder in die Umgebung abge-geben wird (Abb. 5). Sie werden auch zum Vorwärmeneines frisch überzogenen Bettes und des Hemdes desKranken verwendet. Auch den Kranken kann mandamit wärmen. Im Bett sitzend wird er mit Hemd undRock bekleidet. Zum Erwärmen der ihn umgebendenLuft mit einer Bettpfanne wird der Luftraum durch einLeintuch begrenzt. Dazu wird rund um den Krankenein ringförmiges Gestell gelegt. Rund herum wird einLeintuch angenäht. Das Gestell wird danach mit einerSchnur über einen an der Raumdecke befestigten Ha-ken in die Höhe gezogen, sodass über dem Kopf undeventuell auch dem Oberkörper ein abgeschlossenerLuftraum entsteht (Abb. 6).

Wenn der Kranke aus Hunger essen will, kann erlauwarme Gerstenbrühe bekommen. Trinken darf erGerstenwasser, dünnes Bier und Molken, aber stetsnur lauwarm. Wasser, Wein und Brandwein haben sichnicht bewährt.

Dieses „Englische Regiment“ verringerte die Leta-lität gewaltig, diese lag sogar unter der von Pest undPocken.

Die Prophylaxe

Das ist ein „Regimen preseruatiuum, wie sich eyn ie-der mensch dar in schick, das er fürkome vnd abwen-de diss vergifft böss fieber, das durch solchen schnel-len, grossen vnnd stinckendenn schweyss seyn endnymt“ [2]. Es ist also wichtig zu wissen, „wie sichein jglicher Mensch/wasserley Complexion er ist/dasgantze Jar über præseruiren vnd bewaren kann/das ermit Göttlicher hülff vnd gnade nicht inficirt werde voneinerley Gifft“ [12].

Die Antwort in jener Zeit war, dass sich der Menschin seiner Lebensführung an die seit alters her gültigen„Sex res necessariæ non naturales“ [23] haltet. Manfindet diese in unserem Bereich in den umfänglichenWerken des Tirolers Hippolyt Guarinoni (1610) [24]und des Oberösterreichers Johann Kaspar Heyrenbach(1753) [23].

Die „sechs unvermeidlichen und nebennatürlichenSachen“ sind: Aer (taugliche Luft), Nutritio = Cibus &Potus (essen& trinken), Tempus =Motus &Quies (kör-perliche Bewegung & Ruhe), Vigiliæ & Somnus (Wach-sein & Schlaf), Inanitio = Excernenda & Retinenda(Ausscheidung & Aufnahme), Animi Passiones (Ge-mütsbewegungen) [23, 24]. Mehr oder weniger aus-führliche Anweisungen für die Vermeidung des Fan-gens des Englischen Schweißes findet man in vielenPublikationen. Eine der genauesten gab Schiller vonHerderen [15].

Gegen die Giftigkeit der Luft sollen die Räume ge-räuchert werden. Der Einzelne kann sich auch da-durch schützen, dass er oft und viel von Tormentilla[Fingerkraut], Zitronenschalen, Angelica [Engelwurz],Zitwar, Bibernell, Diptam, Baldrianwurzel oder Stück-chen von Einhorn [Narwal-Zahn] und noch manches

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andere in den Mund nimmt. Auch das oftmalige Rie-chen an einem Bisam- oder Ambra-Apfel hilft in glei-chem Sinne. Für das gemeine Volk und die Dienst-boten eignet sich im Frühling und Sommer das Rie-chen an einem Schwämmchen, das mit etwas Essigund Kampfer enthaltendem Rosenwasser befeuchtetist. In der kalten Jahreszeit sollen sie stattdessen star-ken Wein mit Melissen oder auch Wasser mit Zimtoder Gewürznelken verwenden.

Da man die Ursache aller Erscheinungen des Eng-lischen Schweißes als Folge zu vieler „feuchtigkeyt“im Blut und überhaupt im Körper annahm, stand beiden Regeln für die Ernährung an erster Stelle die Ver-meidung überflüssigen Trinkens, wie auch empfohlenwurde, beim Essen mäßig zu bleiben. Dies gilt insbe-sondere für Früchte, Fische, Krebse, Milch, Honig, Metund Wein, Hirn, Schweinefleisch, Gekröse und Köp-fe. Von Geflügel seien solche Vögel erlaubt, die nichtim Wasser leben, wie ja überhaupt Speisen zu meidensind, die zusätzliche Feuchtigkeit an den Körper abge-ben. Es ist also besser gar keine Früchte zu essen. Alsgut gelten Essig, Eier und Fische mit hartem Fleisch,schwacher Rot- und Weißwein und dünnes Bier.

Hierher gehört auch die Remedia Preservativa derDoktorengemeinschaft aus Frankfurt, Mentz, Wormsund Speyer [16]. Eine ausgehöhlte Zwiebel ist mit ei-nem guten Theriak zu füllen und weich zu braten;diese isst man abends ohne anderes Essen und Trin-ken und legt sich fest zugedeckt ins Bett, worauf manstark schwitzt.

Körperliche Betätigungen soll man nicht übertrei-ben. Der Übergang von Tätigkeit in Ruhe und umge-kehrt darf nicht abrupt erfolgen. Arbeit ist besser alsMüßiggang und soll in guter Luft verrichtet werden.

Man darf nicht den Modus von Schlafen in derNacht und Wachen am Tag missachten, den uns je-weils unsere eigene Natur vorgibt. Eine Änderung derZeiten ist schlecht, wie Beispiele oft zeigen. Aber auchzu langes Schlafen ist ebenso schlecht wie zu langesWachbleiben.

Im Überfluss vorhandene Stoffe scheidet der Kör-per aus. Dazu gehören Stuhl, Harn, Erbrochenes, Spei-chel, Rotz, Schleim, Gallen, Menstrual-Blut, dickesBlut in den Adern, Schweiß, Haare und Nägel. Aus derVernachlässigung solcher Überflüsse kann Krankheitentstehen.

Das Gemüt ist des Menschen zweiter Teil nebendem Körper. Die Gesundheit bedarf einer guten Be-schaffenheit des Gemüts. Zu dessen Übung soll mansich von Zorn, Unmut, Sorglosigkeit und Todesfurchtfernhalten.

Guarinoni hat, wie er schreibt, als Erster den sechsnebennatürlichen Sachen eine siebente vorangestellt:Gott [24]. Die Einhaltung der göttlichen Gebote ist fürdie Verhütung jeder Seuche besonders wichtig, stehtdoch an prominenter Stelle der Krankheitsursachender Zorn Gottes.

Wie schon bei der Ernährung gesagt, ist es ganzwichtig, möglichst wenig zusätzliche Feuchtigkeiten

aufzunehmen. Zu bestimmten Zeiten ist der Körpervon bösen Feuchtigkeiten zu befreien. Durch Aderlas-sen gelingt dies aus dem Blut und die nicht mit diesemvermengten Feuchtigkeiten wie Gallen, Wasser oderSchleim können durch Purgieren ausgetrieben wer-den. Damit die entfernten Feuchtigkeiten im Körpernicht erneuert werden, nimmt man verschieden star-ke „Pestilentz pillulen“ nach ärztlichem Rezept. Fürdiese „Ertzneyen“ bekommt der „Apotecker“ genaueAnweisungen für den Sommer und für den Winter.Diese Pillen enthalten eine große Zahl verschiedenerpflanzlicher Bestandteile, aber auch gemahlene Edel-steine wie Saphir, Smaragd und Rubin. Schiller vonHerderen gibt eine große Zahl von einfachen und vonzusammengesetzten Präservantien an [15].

Der Apoteckher Dominicus in Linz an der Donaunennt als „ain bewerte Versiecherung“ in Zeiten, „sodie schräckhlich plag regirt“, dass „alle Morgen nüch-tern ein Trunckh Hanif milch [Hanfmilch] gethan“wird [1].

Ist schon um einen herum die Seuche ausgebro-chen, so muss man beachten, dass auch vom Krankenselbst und von allem, das mit ihm Kontakt gehabt hat,die Krankheit weitergegeben werden kann. Der Apo-teckher Dominicus warnt, „Wan der Kranckh schwizt,soll man sich hüthen Von seinem aden [Atem] Vnddem dampff so Von Ihm gehet, damit niemandt Ver-giffs [vergiftet] wird, man sol auch das Peth [Bett-]Vnd Pathgewandt [Bade-, Reisegewand] schön wa-schen Vnd lang erlüfften lassen“ [1]. Das würden wirheute als Vorbeugung der direkten und indirektenInfektion bezeichnen.

Die Epidemie von 1529/30 und die „Erste Türken-belagerung Wiens“

Die vierte Epidemie des Englischen Schweißes begannEnde Mai 1529 in den dicht bewohnten Vierteln Lon-dons, von wo sie ganz England, jedoch nicht Schott-land und Irland erfasste. Am 25. Juli 1529 wurde die Er-krankung durch ein namentlich bekanntes Schiff nachHamburg übertragen. Dort traten bis 15. August täg-lich 40 bis 60, insgesamt etwa 1100 Todesfälle auf, was6–9% der Gesamteinwohnerzahl entsprochen habensoll. Von Hamburg breitete sich die Seuche rasch aus.Im Osten und Norden erreichte sie am 8. SeptemberKönigsberg und zu Ende desselben Monats auch Dä-nemark und Schweden. Heinz Zeiss (1888–1949) wi-derlegte die Behauptung des Vorkommens des Eng-lischen Schweißes in Russland und stellte auf Grundvon Mitteilungen und des Aktenstudiums fest, dassdiese Seuche im Raum zwischen dem 25° und 30° östl.Länge erloschen ist [25].

ImWesten wurden im September und Oktober 1529die Niederlande betroffen. Nach Süden ergriff die Seu-che ganz Deutschland. Bayern und Österreich erreich-te sie im September und im Südwesten entlang desRheins im Dezember Bern. Es wurde festgestellt, dassdie Seuche milder wurde je später ein Ort betroffen

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war und somit im Allgemeinen auch bei ihrem Fort-schreiten nach Südwesten und Süden. So starben bei-spielsweise in Dortmund ab 3. September 497 von 500Erkrankten und in Augsburg ab 1. September inner-halb von 11 Tagen 800 der 15.000 Kranken, währendes in Stuttgart im folgenden Monat nur mehr 6 von4000 waren. Die letzten Berichte über das Auftretender Seuche stammen von 1530 aus Oberösterreich undFinnland.

Die Ausbreitung der Seuche im Jahr 1529 mit denAnfangsdaten in wichtigen Städten Mittel- und Nord-europas hat Harry Kühnel (1927–1995), der erste Di-rektor des ÖAW-Instituts für Realienkunde des Mittel-alters und der frühen Neuzeit in Krems an der Donau,auf Grund der in der umfänglichen Literatur festge-haltenen Daten in einer Landkarte sehr übersichtlichdargestellt [26].

In die Religionsgeschichte Deutschlands hat derEnglische Schweiß insofern eingegriffen, als das am3. Oktober 1529 begonnene „Marburger Religionsge-spräch“ aus Furcht vor der Krankheit bereits nach dreiTagen ohne Einigung abgebrochen wurde und Luther,Zwingli und die beteiligten Fürsten die Stadt verließen[27]. Damals waren in Marburg etwa 50 Menschen amEnglischen Schweiß erkrankt, von denen ein bis zweistarben. Auch Wittenberg war von dieser Krankheitbetroffen. Um diese Zeit trat in beiden Städten außer-dem die Pest auf.

Für das Gebiet der heutigen Republik Österreichist der Nachweis des Englischen Schweißes dürftig.In keinem der von mir befragten neun Landesarchi-ve finden sich Anmerkungen über den EnglischenSchweiß. Wahrscheinlich hat sich aber die Seuchein allen Habsburgischen Ländern nördlich der Alpenund im damals selbständigen Fürstlichen ErzbistumSalzburg ausgebreitet. Unabhängig davon könnte je-doch die Infektion auch auf kurzem Wege durch30 Frankfurter Bürger eingeschleppt worden sein, diezur Verstärkung der Besatzung in die befestigte StadtWien abkommandiert worden waren.

Einen zeitgenössischen Bericht über den Engli-schen Schweiß in Österreich gibt es nur aus Österreichob der Enns. Aus einem brieflichen Verkehr zwischenKönig Ferdinand und seiner im Linzer Schloss weilen-den Schwester Maria [Witwe des 1526 in der Schlachtbei Mohács gefallenen ungar. Königs Ludwig II.] istersichtlich, dass die Seuche nach einem zeitlichenRückgang bis Ende Feber 1530, dann während einesherrschenden Regenwetters wieder stärker geworden,am 9. März 1530 in Oberösterreich endlich erloschenist [18].

Für Wien gibt es schriftliche Hinweise auf dieSeuche von 1529 nur aus dem 18. Jahrhundert. Soschrieb der Einsiedler-Mönch Mathias Fuhrmann1739 in seiner Beschreibung der Kayserlich- und Ertz-Lands-Fürstlichen Residenz-Stadt, das Jahr 1529 war„gewißlich eines der denckwürdigsten und betrüb-testen/so unser Wien erlebet/inmassen erstens einböse und vorhin nie erhörte Seuche hieselbst regie-

ret/insgemein dy Schwais-Sucht genannt/welche . . .wie die Pestilentz selbst/viel tausend/auch in unsermWien hingerissen/und zwar um desto fataler/weil einMensch in einem Tag gesund/kranck/und todt ge-wesen“ [28]. Auch der Melker Benediktiner-MönchHieronymus Pez [29] und der Wiener Philosophie-Professor Sebastian Mitterdorffer, SJ [30] erwähntenin ihren Schriften 1721 bzw. 1724 den EnglischenSchweiß in der Wiener Bevölkerung.

Sicherlich hatte der Englische Schweiß für dieBevölkerung und für die Besatzung des befestigtenWiens eine sehr große Bedeutung. Denn währenddieser „Ersten Türkenbelagerung“ hatte „Wien einhartes auszustehen von Solimanno dem Groß-Türcki-schen Sultan, welcher mit einer Armée, biß 30.000[oder 120.000] Mann starck, in Oesterreich eingefallen,diese Stadt härtiglich belägert, und in die äussersteAengsten gebracht“ [28]. Die Belagerung begann beischlechtem Wetter am 21. September um 9 Uhr. Nachvier erfolglosen Stürmen gegen die befestigte Stadtbegann Suleiman am 15. Oktober bei dauerndemSchneefall den Abzug des osmanischen Heeres, deram 18. Oktober beendet war.

Die deutschen Medizinhistoriker des 19. Jahrhun-derts Heinrich Haeser (1811–1884) [31], Justus Fried-rich Carl Hecker (1795–1850) [6, 32], August Hirsch(1817–1894) [33] und Friedrich Schnurrer (1784–1833)[34] legten die drei oben genannten Autoren [28–30]etwas extensiver aus. Sie meinten, die Stürme der Tür-ken wurden mit rühmlicher Tapferkeit abgeschlagen,sodass Sulaiman die Belagerung beendete, „nachdemder englische Schweiss nicht weniger unter seinenSchaaren gewüthet hatte als unter den Belagerten.Genauere Nachrichten hierüber fehlen, weil man beiviel grösserer Bedrängniss des Landes auf die Seu-che weniger achtete, doch war die Sterblichkeit inOesterreich unter so ungünstigen Umständen wohlbedeutender als in den Nachbarländern“.

DieseMeinung, dass die Türken ebenfalls vom Eng-lischen Schweiß befallen waren, findet sich auch ineiner norddeutschen Schrift. Nicolaus ab Klempzenschrieb 1771, dass „Solimann, der Türkische Kaiser“,Wien belagerte. „Da kam der Schweiss unter sein Volk,dass er die Länge musste wegziehen“ [35].

Wenn der Englische Schweiß tatsächlich auch dietürkischen Truppen befallen hat, so muss die Belage-rung wohl nicht nur deswegen abgebrochen wordensein. Während der Belagerung herrschte ein schlech-tes und kaltes Wetter. Es ist also sicher anzunehmen,dass zu den üblichen Lagerseuchen auch respiratori-sche Infektionen häufig die in Zelten lagernden Trup-pen befallen haben. Abgesehen von den gesundheit-lichen Beeinträchtigungen der Soldaten hatte Sulai-man einen militärischen Mangel. Er konnte mit sei-nen vorhandenen Kräften die Wiener Mauern nur aneiner Stelle kurzzeitig durchbrechen, da er wegen derdurch das Wetter unwegsamen Straßen seine schwe-re Artillerie in Komorn [Komárno (slowak.), Komárom(ungar.)] zurückgelassen hatte und sie wegen der kai-

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serlichen Truppen in Preßburg [Bratislava (slowak.),Pozsony [ungar.]] auch nicht auf der Donau nach Wienbringen konnte.

Ob andere Habsburgische Kronländer von der Seu-che verschont geblieben sind, ist mir nicht bekannt.Sicher war der 1529 frühzeitig einbrechende Wintervon epidemiologischer Bedeutung. So hält man diedadurch entstandene Unterbrechung des Verkehrsüber die Alpen, zumal damals keine ausgebautenStraßen bestanden, als Ursache des Endes des Seu-chenzuges nördlich des Gebirges. Der Winter wirdwohl auch das Übertreten des Englischen Schweißesüber die Sudeten, Beskiden und Karpaten nach Böh-men, Mähren und Oberungarn (Slowakei) verhinderthaben. Aus dem Semmelweis-Museum und Archiv inBudapest habe ich die Mitteilung, dass keine Anga-ben über das Vorkommen des Englischen Schweißesin Ungarn des 16. Jahrhunderts vorliegen.

Die Ursachen des Englischen Schweißes

Die Entstehung von Seuchen beschäftigte die Men-schen schon im Altertum. In den Zeiten von Epi-demien, insbesondere der Pest, war dieses Interessebesonders groß. An erster Stelle stehen Gottes Zornund Strafe wegen der Sünden der Menschen. Auchder irdische Himmel bietet viele vermeintliche Krank-heitsursachen, nämlich das Auftreten von Kometen,Mond- und Sonnenfinsternissen. Wichtig erschienauch der Einfluss [Influenza, sic!!!] der Sterne durchihre Konstellationen [Con-Stellae, sic.]. Auf der Erdeselbst fürchtete man Erdbeben, Heuschreckenpla-gen, Tierseuchen, große Hitzeperioden mit Dürrenund enorme Niederschläge mit Überschwemmungenund ganz allgemein die „giftige Luft“. Letztere wirktedurch Einatmen direkt auf den Körper und indirekt,indem sie als Tau und Nebel Früchte für den Men-schen und Weidegründe für das Vieh vergiftete, wasletztlich auch die menschliche Ernährung betrifft.Vielen der Naturereignisse folgten Hunger, Teuerungund Verarmung [36].

Vom Englischen Schweiß hatten von der erstenEpidemie angefangen etliche Autoren berichtet, dassin Britannien nur Engländer, nicht aber Schotten,Iren und Ausländer vom Englischen Schweiß ergriffenworden sind. Diese Krankheit folgte den Engländernauch ins Ausland, sodass diese in den Niederlanden,in Frankreich und sogar in Spanien von der Seucheerreicht wurden [6, 8]. Daher nahm Hecker, noch inder vorbakteriologischen Zeit, an, es gäbe „irgendeineEigenthümlichkeit in dem ganzen Sein der Engländer,welche ausschließlich sie für diese Krankheit emp-fänglich machte“. Dieser Meinung waren auch schondie Zeitgenossen der Epidemien, die Völlerei und roheLebensweise der Engländer als die Voraussetzungender Krankheit ansahen, „die ohne Zweifel auch ihresTheils den Deutschen und Niederländern im Jahre1529 dieselbe Geissel zugezogen haben“ [6]. JohnKaye (=Johannes Caius, 1510–1573), der Leibarzt von

Edward VI., berichtete seine eigenen Erfahrungen inder Epidemie von 1551, dass nämlich auch in Eng-land die Mäßigen von der Schweißsucht verschontgeblieben seien [37]. Diese „Eigentümlichkeiten“ soll-ten wohl nur die Voraussetzung dafür sein, dass derEnglische Schweiß entstehen kann.

Für das böse verlaufende Jahr 1529 hatte manbeängstigende Vorzeichen beobachtet. Am Sternen-himmel sahen die Menschen gleichzeitig vier Kome-ten, deren Schweife in die vier Himmelsrichtungenwiesen. Aber darüber hinaus gab es noch weiterebeunruhigende Ereignisse. Vieler Orts starben Vögel,unter deren Flügeln erbsengroße Abszesse zu sehenwaren. Gleichzeitig herrschte auch eine Seuche un-ter Schweinen, der sehr viele erlagen [15]. Auch dieWetterphänomene waren unheilkündend. So war diedem milden Winter 1528/29 folgende Zeit bis in denSpätsommer geprägt durch starke Niederschläge mitvielen Überschwemmungen, dann kamen trübe undnasskalte Monate bis zum frühen Wintereinbruch[19]. Diese Witterung führte zu ganz schlechten Ern-ten von Getreide und Wein. Eine siebenjährige Teue-rung und Hungersnöte waren die Folge. Nach einemBericht wurde sogar das Brot aus Eicheln hergestellt[19]. Der wenige Wein war schlecht und sauer, erwurde wegen des bereits vorhersehbaren türkischenAngriffs auf Wien abwertend „Türkenwein“ genannt[38].

Anthonius Klump aus Überlingen am Bodenseehat, entsprechend der damaligen Vorstellung, dieEntstehung des Englischen Schweißes 1529 beschrie-ben [2]. Es sei nämlich „ein vrsach dieser kranckheiteyn verborgene neigung des gestirns vnd der plane-ten, dieselbigen mit etlichen influss die sie habentin die körpel harnider, bringen sie anzündung indas blut, vnd wie sie findent ein gross inordinantzin den feuchtigkeiten des gantzen leibs viler men-schen, wirt als dan verursachet ein putrifaction vndheimliche feule [Fäulnis], von wölicher kompt danein gifft, dassebige gifft zint [zündet] an, wirt darusssolchs pestilentzis fieber“. Dass dies wahr ist, „magst-tu befinden vnd augenscheinlich ermessen an demstinckenden schweyss, sodann bey etlichen erfundenwirt, die dieser kranckheit vnderwirflich gewesen sindvnd werdent“.

Unter den naturwissenschaftlichen Vorstellungendes beginnenden 19. Jahrhunderts, aber noch in dervorbakteriologischen Ära wies Gruner 1804 in seinemKommentar zur Natur des Englischen Schweißes aufdie Ähnlichkeit seiner Symptome mit jenen des Febrismiliaris und der damals häufigen Influenza [17].

Die Geschichte des Febris miliaris [Milium=Hirsekorn] beginnt nach einer Pause vom Ende derfünften Epidemie des Englischen Schweißes (1551)bis zum Sommer 1718 als über eine „neue“ Krankheitin der Pikardie (Nordfrankreich) berichtet wurde, diedurch starkes Schwitzen, nervöse Beeinträchtigungenund Frieselbildung auffiel („Suette des Picards“). Nachderen Ausbreitung als Volksseuche in Frankreich wur-

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Abb. 7 Ausbreitung des Englischen Schweißes 1529/30. (© Atelier Proidl aus [26]. Mit freundlicher Genehmigung von SylvieProidl)

de die Bezeichnung „Suette miliaire“ gebräuchlich.Der dafür verwendete deutsche Namen „Schweiß-friesel“ lässt sich von freisa (ahd.), vreise (mhd.) =Unheil, Verderben oder von vriesen (mhd.) = frierenableiten; im 16. Jahrhundert bedeuteten Fräsel undFraisel allgemein eine schwere Krankheit.

Wegen der häufig diskutierten Meinung, derSchweißfriesel sei eine abgeschwächte Form des Eng-lischen Schweißes, sei er hier etwas ausgeführt.

Der Schweißfriesel breitete sich von Frankreich inItalien, Deutschland und Belgien aus. Auch in Ös-terreich und angrenzenden Ländern der Monarchiegab es bis zum Ersten Weltkrieg zum Teil schwereSchweißfriesel-Epidemien wie z.B. 1835 & 1913 inder Steiermark, 1836 in Oberösterreich, 1859 in Ybbs,

1873/74, 1878, 1892 und 1905 in der Krain, 1893 imAusseer-Land und 1896/97 im Bezirk Scheibbs.

Der bekannte Wiener Pathologe Anton Weichsel-baum (1845–1920) beschrieb auf Grund seiner prakti-schen Erfahrungen bei drei Epidemien die Epidemio-logie und die pathologischen Befunde [39]. Er stelltefest, dass „der Schweißfriesel eine Krankheit sui gene-ris ist“ und nicht nur ein Symptom bei verschiedenenKrankheitsbildern.

Der Schweißfriesel erschien plötzlich und fastgleichzeitig in kleinen Orten und Einzelgehöften einesfast immer ländlichen Gebietes, jedoch ohne Tendenzzu einer größeren räumlichen Ausbreitung. Die Er-krankungen waren nicht auf Sommer und Herbstbeschränkt. Sie befielen meist gesunde und kräftigeMenschen mittleren Alters. Besonders empfänglich

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waren Frauen imWochenbett und während der Mens-truation. Einzelne Epidemien betrafen vornehmlichKinder.

Der Schweißfriesel begann nach einer Inkubations-zeit von 1–2 Tagen plötzlich mit hohem Fieber undstarkem Schweißausbruch. Meist endete dieser nach3–6h, er konnte sich nach einigen Stunden wieder-holen oder überhaupt ohne Pause mehrere Tage an-halten. Da sich der Schweiß in der Leib- und Bettwä-sche rasch zersetzte, verbreitete sich ein unangeneh-mer Geruch. Die Kranken hatten ein Frostgefühl undfürchteten den geringsten Luftzug. Es entstanden ner-vöse Erscheinungen wie entzetzliche Angst, Benom-menheit, Delirien und Konvulsionen. Der Tod konn-te noch vor der Entwicklung des Exanthems plötz-lich eintreten. Dieses entstand am dritten oder viertenKrankheitstag als hirsekorngroße Knötchen, die nachwenigen Stunden zu gleich großen Bläschen wurden.Die Krankheitszeichen verringerten sich im Verlaufweniger Tage [40].

Offenbar verschwand der Schweißfriesel in der ers-ten Hälfte des 20. Jahrhunderts und man sucht ihnin den Lehrbüchern der Infektionskrankheiten undder Kinderheilkunde danach vergeblich. Nach demKrankheitsbild und der Epidemiologie zu schließen,scheint mir der Schweißfriesel nicht eine Fortsetzungoder ein Wiederauftreten des Englischen Schweißeszu sein.

Zurück zur weiteren Besprechung der vermutetenUrsachen des Englischen Schweißes, den man im20. Jahrhundert fast einstimmig für eine Infektions-krankheit hielt. Es gab aber auch Autoren, die eher anVergiftungen wie Lebensmittelvergiftung, Botulismusoder Ergotismus glaubten. Die Begründungen undGegenargumente wurden von Patrick und Robertsdiskutiert [41]. Man kann sich tatsächlich nicht vor-stellen, wie Vergiftungen entsprechend der bekann-te zeitlichen Ausbreitung des Englischen Schweißes(Abb. 7) entstehen könnten.

Einige Untersucher konzentrierten sich beim Stu-dium der Literatur des 16. Jahrhunderts auf verschie-dene mehr oder weniger betonte Symptome für ihreErklärung der Ätiologie des Sudor anglicus. So wurdenGrippe, Q-Fieber, Rückfallfieber, Lungenmilzbrand,Encephalitis lethargica, Encephalitis japonica undzuletzt Hantavirus-Infektion als Ursachen genannt.

Bei Überlegung der Epidemiologie und des kli-nischen Bildes der angeführten Infektionen kannman wohl Q-Fieber, Rückfallfieber und Milzbrandausschließen. Es ist also den Autoren zuzustimmen,welche eine Virusgenese bevorzugen, wobei von dergrippalen Genese schon lange vor der Kenntnis vonViren geschrieben worden ist. Püschel erörterte 1958die bekannten viralen Encephalitiden, in deren Grup-pe er auch den Erreger des Englischen Schweißesvermutete [42].

Mehr auf die pulmonalen Symptome konzentriertesich Ende der 1990er-Jahre eine englische Arbeits-gruppe, die eine Hantavirus-Infektion als Ursache

angab. Als Quelle dieser Infektion setzen sie einenNagetier-Wirt voraus, von dem das Virus auf Men-schen übertragen wurde, von denen es dann direktvon Mensch zu Mensch weiter weitergegeben wurde[43, 44].

Es ist offenbar bisher nicht gelungen, aus den Ge-beinen von sicheren Opfern des Englischen Schweißesmittels DNA-Analysen den Erreger nachzuweisen [45],wie es bei der Pest möglich war.

Ich glaube, dass wir uns von der Idee verabschie-den sollen, der Englische Schweiß müsse sich unbe-dingt einer bekannten Virusinfektion zuordnen las-sen. Wir haben doch seit etwa der Mitte des 20. Jahr-hunderts plötzlich auftretende Virusinfektionen ken-nen gelernt, die als „Emerging Diseases“ zeitlich mehroder weniger begrenzte epidemische oder pandemi-sche Ausbrüche verursachten. Es seien die Marburg-Krankheit, Aids, Ebola, SARS (Severe acute respira-tory syndrome), MERS (Middle East respiratory syn-drome), Schweine- und Vogel-Influenzen verschiede-ner Serotypen genannt. Vielleicht gehören der Engli-sche Schweiß und der Schweißfriesel zu den „Emerg-ing Diseases“ ihrer Zeiten.

Interessenkonflikt H. Flamm gibt an, dass kein Interessen-konflikt besteht.

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70 Anno 1529 – der „Englische Schweiß“ in Wien, die Türken umWien K