Antisemitismus, Paganismus, Völkische Religion () || Das Stereotyp des jüdischen Modernisierers....

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Das Stereotyp des jüdischen Modernisierers Abwehr mit vormodernen Begrifflichkeiten: Der „Schacherer" Andrea HOFFMANN Juden wurden - und werden teilweise auch heute noch - in weiten Teilen des öffentlichen wie privaten Lebens häufig weniger als reale Personen oder einzel- ne Individuen wahrgenommen, sondern als Signifikate für „das Andere". Inner- halb der deutschsprachigen Kultur sind sie belegt mit Stereotypen, die sich zwar im Laufe der Geschichte (vor allem unter dem Vorzeichen der Shoa) ge- wandelt haben, jedoch in wesentlichen Zügen unverändert fortbestehen - wie z.B. die Stereotypen des heimat- und rastlosen ,Ahasver' oder das überkomme- ne Bild des Händlers oder negativer des „Schacherers". Zwar änderte sich in der Emanzipationszeit der wirtschaftliche und soziale Habitus der Juden und mit ihm die zugeschriebenen Bilder. Vielfach fand aber nur eine Verschiebung älterer Vorurteile, die ihre Ikonographie aus den Arsenalen des christlichen An- tijudaismus schöpften, auf modernisierte Varianten statt. Auch in vielen Berei- chen des alltäglichen Lebens lassen sich die Stereotypen von „dem Juden" fin- den. 1 Neu entstand im 19. Jahrhundert im Zuge von Emanzipation und Industrialisierung ein Bild, das in mehrfacher Weise auch in die Forschung eingegangen ist: das Bild des ,Modernisierers'. 2 Von Zeitgenossen wurde der jüdische Modernisierer' vielfach mit Argwohn betrachtet und mit gängigen Klischees wie „Schacherer", „Wucherer", „Liberaler", „Fortschrittler" oder auch „Kapitalist" in Verbindung gebracht. Sowohl eher positiven als auch negativen Klischees ist die Zuschreibung des Fremden, nicht Dazugehörigen gemeinsam. Mittels dieser Bilder wurden sowohl die Angst vor einer sich immer schneller verändernden Welt als auch die Schuldvorwürfe für diese Vorgänge auf die Juden projiziert. Auf das komplexe Themenfeld des Stereotyps .jüdischer Modernisierer" kann in diesem Rahmen nur ein Schlaglicht geworfen werden, das ein Beispiel aus dem Süden Deutschlands, aus Oberschwaben, vorstellt. Denn, wie der Historiker J.J. Sheehan betont, muss man, um die Beziehungen zwischen Juden und anderen Deutschen verstehen zu können „venture into that difficult terrain where political action, social life and cultural values intersect. Here, in Vgl. dazu u.a.: Christina von Braun: „Der Jude" und „das Weib". Zwei Stereotype des „Anderen" in der Moderne. In: Ludger Heid; Joachim H. Knoll (Hg.): Deutsch-Jüdische Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert. Stuttgart / Bonn 1992, S. 289-322. Jüdisches Museum der Stadt Wien (Hg..): Die Macht der Bilder. Antisemitische Vorurteile und Mythen. Wien 1995. Thomas Koebner: „Feindliche Brüder". Stereotypen der Abgrenzung jüdischen und deutschen Wesens. In: Eveline Valtink, (Hg.): Hofgeismarer Protokolle 265. Hofgeismar 1989, S. 40-85. Julius H. Schoeps; Joachim Schlör (Hg.): Antisemitismus. Vorurteile und Mythen. München/Zürich 1995. Stefan Rohrbacher, Michael Schmidt: Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile. (Rein- bek bei Hamburg 1991). Mit dem Bild des jüdischen Modernisierers' setzte sich das von der Fritz-Thyssen-Stiftung finanzier- te Forschungsprojekt „Jüdische Modernität und Antisemitismus. Eine Vergleichsstudie in vier würt- tembergischen Städten" auseinander, das am Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissen- schaft unter der Leitung von Prof. Dr. Utz Jeggle unter Mitarbeit von Martin Ulmer und Andrea Hoffmann durchgeführt wurde. Brought to you by | Brown University Rockefeller Library Authenticated | 128.148.252.35 Download Date | 6/8/14 1:24 AM

Transcript of Antisemitismus, Paganismus, Völkische Religion () || Das Stereotyp des jüdischen Modernisierers....

Das Stereotyp des jüdischen Modernisierers Abwehr mit vormodernen Begrifflichkeiten: Der „Schacherer"

Andrea HOFFMANN

Juden wurden - und werden teilweise auch heute noch - in weiten Teilen des öffentlichen wie privaten Lebens häufig weniger als reale Personen oder einzel-ne Individuen wahrgenommen, sondern als Signifikate für „das Andere". Inner-halb der deutschsprachigen Kultur sind sie belegt mit Stereotypen, die sich zwar im Laufe der Geschichte (vor allem unter dem Vorzeichen der Shoa) ge-wandelt haben, jedoch in wesentlichen Zügen unverändert fortbestehen - wie z.B. die Stereotypen des heimat- und rastlosen ,Ahasver' oder das überkomme-ne Bild des Händlers oder negativer des „Schacherers". Zwar änderte sich in der Emanzipationszeit der wirtschaftliche und soziale Habitus der Juden und mit ihm die zugeschriebenen Bilder. Vielfach fand aber nur eine Verschiebung älterer Vorurteile, die ihre Ikonographie aus den Arsenalen des christlichen An-tijudaismus schöpften, auf modernisierte Varianten statt. Auch in vielen Berei-chen des alltäglichen Lebens lassen sich die Stereotypen von „dem Juden" fin-den.1

Neu entstand im 19. Jahrhundert im Zuge von Emanzipation und Industrialisierung ein Bild, das in mehrfacher Weise auch in die Forschung eingegangen ist: das Bild des ,Modernisierers'.2 Von Zeitgenossen wurde der jüdische Modernisierer' vielfach mit Argwohn betrachtet und mit gängigen Klischees wie „Schacherer", „Wucherer", „Liberaler", „Fortschrittler" oder auch „Kapitalist" in Verbindung gebracht. Sowohl eher positiven als auch negativen Klischees ist die Zuschreibung des Fremden, nicht Dazugehörigen gemeinsam. Mittels dieser Bilder wurden sowohl die Angst vor einer sich immer schneller verändernden Welt als auch die Schuldvorwürfe für diese Vorgänge auf die Juden projiziert.

Auf das komplexe Themenfeld des Stereotyps .jüdischer Modernisierer" kann in diesem Rahmen nur ein Schlaglicht geworfen werden, das ein Beispiel aus dem Süden Deutschlands, aus Oberschwaben, vorstellt. Denn, wie der Historiker J.J. Sheehan betont, muss man, um die Beziehungen zwischen Juden und anderen Deutschen verstehen zu können „venture into that difficult terrain where political action, social life and cultural values intersect. Here, in

Vgl. dazu u.a.: Christina von Braun: „Der Jude" und „das Weib". Zwei Stereotype des „Anderen" in der Moderne. In: Ludger Heid; Joachim H. Knoll (Hg.): Deutsch-Jüdische Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert. Stuttgart / Bonn 1992, S. 289-322. Jüdisches Museum der Stadt Wien (Hg..): Die Macht der Bilder. Antisemitische Vorurteile und Mythen. Wien 1995. Thomas Koebner: „Feindliche Brüder". Stereotypen der Abgrenzung jüdischen und deutschen Wesens. In: Eveline Valtink, (Hg.): Hofgeismarer Protokolle 265. Hofgeismar 1989, S. 40-85. Julius H. Schoeps; Joachim Schlör (Hg.): Antisemitismus. Vorurteile und Mythen. München/Zürich 1995. Stefan Rohrbacher, Michael Schmidt: Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile. (Rein-bek bei Hamburg 1991). Mit dem Bild des jüdischen Modernisierers' setzte sich das von der Fritz-Thyssen-Stiftung finanzier-te Forschungsprojekt „Jüdische Modernität und Antisemitismus. Eine Vergleichsstudie in vier würt-tembergischen Städten" auseinander, das am Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissen-schaft unter der Leitung von Prof. Dr. Utz Jeggle unter Mitarbeit von Martin Ulmer und Andrea Hoffmann durchgeführt wurde.

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the everyday world we will find the origins of the questions they posed to each other."3

Das Bild des Jüdischen Modernisierers" ist in mehrerlei Hinsicht zu ei-nem Stereotyp geworden. Die Antisemiten haben spätestens seit der Weimarer Republik versucht, das Bild des fortschrittlichen, großstädtischen, Innovatio-nen aufgeschlossenen und damit ^ersetzenden' jüdischen Bürgers in ihrer Hetze ebenso manipulativ zu verbreiten, wie das überkommene Stereotyp des .häßlichen Ostjuden', des .Wucherers' und Betrügers. Das widersprüchliche Nebeneinander entgegengesetzter Bilder deutet auf mögliche Ausgrenzungen hin - einerseits wird das ,zu' moderne, zu sehr auf die Zukunft bauende ange-prangert, andererseits das uralte Verhaftetsein in vergangener Vorzeit betont. Beide Sichtweisen schließen ,die Juden' aus einer gegenwärtigen Teilhabe aus. Die rechtlich aufgehobene räumliche Segregation wurde so quasi durch eine unterstellte zeitliche ersetzt: Juden waren entweder zu fortschrittlich oder zu sehr der Vergangenheit verhaftet.

Die neuere Forschung hat nun ihrerseits mehrfach die Vorreiterrolle wei-ter Teile der jüdischen Bevölkerung in Gesellschaft und Wirtschaft herausgear-beitet. Hier sei exemplarisch auf die Arbeiten von Shulamit Volkov, Monika Ri-charz, Trude Maurer oder Utz Jeggle verwiesen.4 Akkulturation und Modernität dienten der jüdischen Minderheit gleichermaßen als Mittel und Ziel des sozia-len Aufstiegs. Es entstand so eine Differenz zur Gesamtgesellschaft. Die jüdi-schen Außenseiter strebten nach Bildung und wirtschaftlichem Erfolg, was bessere Berufschancen, Ausübung freier Berufe (wie Rechtsanwalt oder Arzt) und Modernisierung der Geschäftswelt verhieß. Allerdings erwies sich der ge-schäftliche Erfolg, wie sich zeigen sollte, als trügerischer Weg zur sozialen In-tegration.5 Höherer Bildungsgrad, veränderte Berufstruktur und bürgerlicher Habitus sollten auch in kulturellen Bereichen Anschluss und Teilhabe an bür-gerlichen Schichten ermöglichen. Werte und Vorstellungen des städtischen Bürgertums und des Bildungswesens wurden so auch in der örtlichen Gesell-schaft popularisiert: In den Kleinstädten und auf dem Lande etablierten gerade auch die jüdischen .Modernisierer' urbane Lebensstile und spielten eine Vorrei-terrolle im Zivilisierungsprozess ländlicher und kleinstädtischer Lebenswelten. Dort wirkte sich das Spannungsverhältnis von Vorbild und latent antisemiti-scher Neidfunktion besonders aus.

Aufstieg in Bürgertum und Großbürgertum, Hinwendung zur Urbanen Moder-ne - und sei es auch nur deren Umsetzung in der ländlichen Heimat - kenn-zeichnen in gewissem Maße die Geschichte der Juden in Deutschland von der Reichsgründung bis zur Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933. Modern heißt in diesem Zusammenhang auch, die Aufgeschlossenheit gegen-über Veränderungen, die Aufgeschlossenheit, sich neue Techniken, Forschun-gen und Handlungsweisen zu Nutze zu machen, im Gegensatz zu beharrlicher Verhaftung in überlieferten Traditionen. Natürlich war der geringe jüdische Be-völkerungsanteil nicht ausschließlicher Träger der Modernisierungsprozesse.

3 Sheehan, J.J.: Different, Ignoble and Alien. In: Times Literary Supplement 31. Juli 1992, S. 8; zitiert nach Till van Rahden: Juden und andere Breslauer. Die Beziehungen zwischen Juden, Protestanten und Katholiken in einer deutschen Großstadt von 1860 bis 1925. Göttingen 2000, S. 29, FN 50.

4 Trude Maurer: Die Entwicklung der jüdischen Minderheit in Deutschland (1780-1933). Neuere For-schungen und offene Fragen. Tübingen 1992. Volkov, Shulamit: Deutsche Juden und die Moderne. München 1994; dies.: Das jüdische Projekt der Moderne. München 2001. Monika Richarz: Jüdi-sches Leben in Deutschland. Selbstzeugnisse zur Sozialgeschichte, 3 Bde., Stuttgart/New York 1976-1982; dies.: Die soziale Stellung der jüdischen Händler auf dem Lande am Beispiel Südwest-deutschlands. In: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, Beiheft 64 (hg. von Werner E. Mosse und Hans Pohl): Jüdische Unternehmer in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert. Stuttgart 1992, S. 272-283. Utz Jeggle: Judendörfer in Württemberg. Tübingen 1969.

s Volkov 1990, S. 154.

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Doch durch antisemitische Agitation wie auch durch Forschungsschwer-punkte mag es zuweilen so anmuten, als ob „Jude-sein" und „Modernisierer-sein" synonym wären. Dies ist auch der Quellenlage geschuldet, Großstädte und Ballungszentren verfügen in der Regel über eine größere Quellendichte und -Vielfalt als der ländliche Raum. Nach wie vor ist das städtische Judentum stärker im Blickfeld übergreifender Studien. Aber gerade im Kleinen kann man Thesen gegenprüfen und zuweilen auch dem eigenen Forschungsstereotyp vom jüdischen Modernisierer auf die Schliche kommen. Zwar stellt es sich im länd-lichen Raum auch so dar, dass der jüdische Bevölkerungsteil den als bürger-lich apostrophierten Tugenden nachhing. Ihre Modernisierungsfunktion bezog sich hier stärker auf den Sozialstatus, auf Habitus und Alltagskultur. Dem an-tisemitischen Zerrbild vom zersetzenden, ausbeutenden jüdischen Modernisie-rer wurde hier vor Ort oft kein oder nur wenig Raum gegeben. An einem Lokal-beispiel soll dies verdeutlicht werden.

„Die vielen Handelshäuser und der ziemlich modisch gekleidete israelitische Be-völkerungsteil geben dem Städtchen ein ganz anderes Gepräge als Riedlingen es hat. Früher, außer dem Stift doch in der Hauptsache bäuerliche Siedlung, hat es späterhin, besonders seit der Aufnahme der Israeliten, mehr und mehr den Cha-rakter eines Handelsmittelpunktes fiir die Umgebung angenommen, und neuer-dings erfreut es sich auch einiger Gewerbetätigkeif, ist in der Riedlinger Ober-amtsbeschreibung von 1923 über Buchau zu lesen.6 Buchau im katholischen Oberschwaben gehörte zu den größten jüdischen Gemeinden Württembergs. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war knapp ein Drittel der Buchauer jü-dischen Glaubens. Durch Abwanderung vor allem nach Ulm, München und Stuttgart ging die Zahl der jüdischen Einwohner kontinuierlich zurück, 1900 stellten sie noch 12,5 Prozent der Gesamtbevölkerung.

Die Buchauer Juden hatten vor allem in kultureller Hinsicht eine nach-weisbare Vorreiterstellung in der Gemeinde. Jüdische Eltern waren es, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts dafür einsetzten, dass auch Mädchen die La-tein- und Realschule besuchen durften und damit eine höhere Schulbildung erhielten - dies gegen den vehementen Widerstand des katholischen Pfarrers, der auch den Lateinunterricht erteilte. Zwei Jahre dauerte es, bis die erste Nichtjüdin auch eine höhere Schulbildung am Ort erhielt.

Wie in diesem Beispiel aus den Jahren 1904 bis 19067, zeigt sich die Vorreiterrolle auch in anderen Bereichen. So waren es zuerst Juden, die ihre Verlobung oder Vermählung in der ortsansässigen Tageszeitung (dem „Bu-chauer Wochenblatt") anzeigten. Eine Praxis, die in größeren Städten bereits gängig war. Mit einer Verzögerung von etwa zehn Monaten erschien auch die erste Hochzeitsanzeige eines nichtjüdischen Paares, bis sich diese Art der An-kündigung allgemein durchsetzte. Dabei ist zu beobachten, dass es zunächst sogenannt Bessergestellte oder Wohlhabendere waren, die Veränderungen im Familienstand öffentlich bekannt gaben.

Hier ist ein deutlicher Nachahmungseffekt seitens der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft zu verzeichnen. Jedoch traten die Juden mit ihren Mo-dernisierungsleistungen nicht als Avantgarde auf, sondern sie adaptierten - ih-rem eigenen bürgerlichen Habitus gemäß - Verhaltensweisen und Lebensfor-men der des städtischen Bürgertums, das sie auch über verwandtschaftliche Verbindungen nach Ulm, Stuttgart, München oder Zürich kennen gelernt hat-ten.

6 Beschreibung des Oberamtes Riedlingen. Hg. v. Württembergischen Statistischen Landesamt. Stutt-gart 1923.

7 Diözesanarchiv Rottenburg M39, Bd. 38: Chronik der Stadtpfarrei Buchau vom Juni 1892, angefan-gen unter Stadtpfarrer Anton Graf. 1904 führte Stadtpfarrer Wessner die Chronik.

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Antisemitische Äußerungen richten sich in Buchau gerade gegen diese Tendenzen. In der Pfarrchronik der katholischen Gemeinde äußern sich die Geistlichen wiederholt und vehement gegen die Juden. Sie scheinen aber mit ihrer Agitation in der Bevölkerung wenig Anklang gefunden zu haben, da ein Pfarrer mehrfach beklagt, dass nach seinen negativen Äußerungen ihm die Gläubigen aus der Kirche wegblieben.8 Sicher hängt dies auch mit starken und lang verwurzelten demokratischen Traditionen im Ort zusammen und der Tat-sache, dass man einander kannte, sich aneinander .gewöhnt' hatte und auf den „konfessionellen Frieden" im Städtchen recht stolz war. Nach anfänglich harter Abwehr der Gleichberechtigung der Juden durch die katholische Mehr-heit, hatte sich nach 1849 ein liberales Klima durchgesetzt, in dem betont auf Respekt und relativ ausgeglichenes Miteinander geachtet wurde. Proportional zu ihrem Bevölkerungsanteil erhielt die jüdische Bevölkerung eine bestimmte Anzahl von Sitzen in den kommunalen Selbstverwaltungsgremien.

In allen Bereichen waren Juden in die örtliche Struktur integriert, sie saßen im Gemeinderat, beteiligten sich aktiv am Vereinsleben und ihre Wohltä-tigkeit erstreckte sich auf alle Teile der Bevölkerung. Im Wirtschaftsleben hat-ten sich die Buchauer Juden als Geschäftsinhaber, Café- und Wirtshaus-betreiber und als Fabrikanten etabliert. 1880 leisteten sie bei einem Bevölke-rungsanteil von 15,2 Prozent 70 Prozent des Gesamtsteueraufkommens. Die großen Textilfabriken am Ort waren die wichtigsten Gewerbesteuerzahler und auch Arbeitgeber. In vierzig Jahren war der Wandel vom Klein- und Trödelhan-del zum Handlungsgewerbe vollzogen. Trotz der wirtschaftlichen und kulturel-len Bedeutung der Juden in Buchau, sind gerade im bürokratischen Umgang mit dem Gewerbebereich starke sprachliche Beharrungstendenzen aufzuzeigen.

Lange Zeit hatten die Juden Hausierhandel zu Fuß in die Umgebung be-trieben, 1828 gingen 82 Prozent der württembergischen Juden dem „Handel im Umherziehen" nach. Im ländlichen Bereich war der .Handelsmann' häufig gleichbedeutend mit ¿Jude'.9 Die Württembergische Regierung war bestrebt, dies einzugrenzen und Juden „in den bürgerlichen Arbeitsprozess" einzuglie-dern.10 1845 waren nur noch 22 Prozent der Juden in diesem Gewerbe tätig. Nachdem der Trödelhandel bis auf geringe Reste zurückgegangen war, begeg-net einem in den Buchauer Gewerbesteuerakten noch der „Schacherhandel" als Gewerbebezeichnung. Auffällig ist hier, dass Klein- und Trödelhandel, der in den 1860er und 1870er in weitaus größerem Maße von Nichtjuden betrieben wurde, in zweierlei Bezeichnungen zerfällt. Klar lässt sich an der Berufsbe-zeichnungen, die die Verwaltung eintrug, die Religionszugehörigkeit ablesen: Juden betrieben „Schacherhandel", Nichtjuden „Trödelhandel". Man hatte den Juden als „Schacherhändler" kennengelernt, also blieb er „Schacherhändler".

Aus dem Hebräischen oder Jiddischen abgeleitet, hat das Wort .scha-chern' umgangssprachlich eine negative Konnotation erhalten, die auch heute noch besteht. Noch „Wahrig Deutsches Wörterbuch" führt in seiner Neuauflage von 1991 den „Schacher" als „Handel mit vielem Feilschen, gewinnsüchtiger, unsauberer Handel".11 Im eigentlichen Wortsinn handelt es sich jedoch um ei-ne neutrale Bezeichnung für . h a n d e l n d umherziehen'.12 Es ist aber unwahr-scheinlich, dass in den Gewerbesteuerakten eine ,Selbstbezeichnung' der jüdi-schen Kleinhändler wiedergegeben ist, denn längst sprach man kein Jiddisch

8 Diözesanarchiv Rottenburg M29, Bd. 38. 9 Vgl. Sigmund Wolf: Wörterbuch des Rotwelschen. Deutsche Gaunersprache. Bibliographisches Insti-

tut AG, Mannheim 1956, S. 276. 10 Jeggle, Judendörfer (wie Anm. 4), S. 133f. 11 Wahrig Deutsches Wörterbuch. Gütersloh/München 1986/1991, S.l 103. 12 Jüdisches Lexikon. Ein enzyklopädisches Handbuch des jüdischen Wissens in vier Bänden. Bd.

IV/2, S. 132. Vgl. auch: Loewe, Richard: Deutsches Wörterbuch. Leipzig 1910 (Sammlung Göschen), S. 124: „schachern: ßldisch sacheren: hebr sachar .handelnd umherziehen'."

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mehr.13 Warum diese Unterscheidung eingeführt wurde, ist unklar. Auch war nicht nur ein Ratsschreiber an der Führung der Akten beteiligt, so dass auch nicht von dem Mutwillen einer Einzelperson ausgegangen werden kann. Es er-staunt aber, dass bei der hohen Akzeptanz und dem gutwilligen Zusammenle-ben, das in Buchau dem äußeren Anschein nach vorherrschte, ein solches Stigma über Jahrzehnte fortgeschrieben werden konnte, zumal die wirtschaftli-che Führungsposition einzelner jüdischer Fabrikanten und Händler auch von der politischen Gemeinde argumentativ genutzt wurde. So war das Bemühen um Anschluss an das Eisenbahnnetz vor allem mit dem Vorhandensein größe-rer Textilfirmen begründet, die, ebenso wie die Viehhändler, auf die Eisenbahn zum Gütertransport angewiesen waren. Auch die Errichtung des Telefonnetzes kam nur durch maßgebliche Beteiligung jüdischer Gewerbetreibender zustan-de. Hier bestand eine Kluft zwischen Lebensrealität - in der die Juden wirt-schaftlich führend in der Gemeinde waren - und dem überkommenen Bild des Fremden aus voremanzipatorischer Zeit. Als .cultural lag' bezeichnet die Kul-turwissenschaft solche Inkongruenzen.

Ab Mitte der 1880er Jahre taucht der Schacherhandel nicht mehr in den Gewerbesteuerakten auf. Es handelte sich hier um den Versuch, jüdisches Gewerbe kleiner zu machen, als es faktisch war. Oder eben einfach um büro-kratische Unbeweglichkeit, die ein Stigma - nämlich das des unehrenhaften Handelns - unbedacht zu einer Berufsbezeichnung machte. Doch gerade diese unbewusste Übernahme und Fortschreibung von (vormodernen) Stereotypen, dieses Durchdringen verzerrender Sprachbilder bereitete den Boden für spätere Stigmatisierung und Ausgrenzung. Das Vokabular war vertraut, die Feind-schaft angelernt.14

Es war letztlich auch in diesem eingespielten Miteinander nicht die Ver-bundenheit, die überwog, nicht die positiven modernen Errungenschaften, Verdienste, die das Bild „der Juden" konsequent prägten. Von den 162 Juden, die 1933 in Buchau gemeldet waren, wurden 64 in die Konzentrationslager verschleppt und ermordet.

Summary

Jews were - and in some ways are until today - often seen as signifying „the Other" in German culture. They were labelled with stereotypes such as trades-man, peddlar, usurer or „shacherer" (haggler) derived in a pejorative way from the Hebrew word „sochar" which means to deal with trade.

Due to strict laws, Jews were not allowed to own land, to be part of the guilds and thus were conferred to trades and banking. Since in the major part they could not own a regular store or shop, they had to rely on selling and trading minor goods on the threshold. For a long time the traditional Jewish ambulant tradesman that brought goods to farmers and small-town people as a hawker, was called „Schacherjude". As opposed to this the gentry pursuing ambulant trades were called hawkers. So for the same kind of money-making there were two words according to the faith of the person! The (semi-official) job title indicated the denomination and so the status within society.

13 An der Entwicklung der Vornamenswahl kann man den Obergang von jiddischen Namen zu moder-nen oder in der christlichen Mehrheit gebräuchliche Namen als Barometer für den Sprachgebrauch sehen, mit Emanzipation und wirtschaftlichem Aufschwung verschwanden die .alten" Namen bereits ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert. Vgl. Andrea Hoffmann: Vornamenswahl in jüdischen Land-gemeinden Südwestdeutschlands zwischen 1800 und 1900 - Indikator für Modernisierung und Ak-kulturation? In: Freddy Raphael (Hg.), „... das Flüstern eines leisen Wehens..." Beiträge zu Kultur und Lebenswelt europäischer Juden. Festschrift für Utz Jeggle. Konstanz 2001, S. 83-106.

'4 Vgl. dazu: Rohrbacher, Schmidt, Judenbilder (wie Anm. 1 ), S. 73 f.

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The kingdom Württemberg came into being in 1805 as an aftermath of the Napoleonic Wars. The almost exclusively protestant territory was enlarged in the south with foremost catholic former Austrian territories, where quite some Jews lived. So, until 1815 there lived about 7000 Jews in Württemberg. The Württemberg Governement took strong legal steps to turn their ,new' Jew-ish population into farmers and craftsmen. In 1828 more than 82% of Würt-temberg^ Jews earned their living as hagglers, in 1845 it were only 22%.

In Buchau, a small town in the south of Württemberg, existed one of the oldest Jewish communities in the whole ,Reich' and one of the biggest ones in Württemberg in the 19th century. The rabbinate encompassed a vast territory between the Swabian Mountains, Bavaria and the Lake of Constance. The local Jews managed a fast way out of the ghetto and overcame their poverty within the first half of the 19th century. The first factories were founded by Jewish in-habitants and they paid the highest amount of trade tax. In most of the local registered societies or clubs Jews and Christians joined together, and in the community-council sat Jewish members as well, they seemed to be well inte-grated within the municipality. In many ways they were trendsetters, such as choice of better schools for their daughters, use of telephone or announcing engagements or weddings in the local newspapers. In these fields the Christian majority imitated the Jewish habitus. The impression of acculturation and in-tegration is deterred by the persistence of the pejorative term „Schacherer" (haggler) in the trade-tax -files until the 1880s.

The stigma of the unfair and deceitful „Jewish" trade sticks to the local Jewish merchants even when the vast majority of small-term ambulant sales is held by Christians. There remained always a conscience of difference that in the 1930s gave way to the notion of hostile difference and led to the murderous eliminatoiy anti-Semitism of the so called Third Reich. The outward integration made many Jews believe, that the Nazi-Era would pass in a short period and they stayed in their hometown Buchau - even if they could afford to emigrate. Of the 162 Jewish Inhabitants of Buchau (in 1933) 64 were deported and mur-dered in the Concentration-Camps.

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