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Zur Theorie des sprachlichen StereotypsHenrik Nikula

Abstract

Ausgehend von der Beobachtung, dass eine gewisse Verwandtschaft zwischen den Begriffen Stereotyp und Prototyp vorliegt, wird in diesem Beitrag versucht, den Begriff des Stereotyps von dem Prototypenbegriff abzugrenzen. Sowohl Stereotype als auch Prototypen dienen der Orientierung in der Welt. Während aber Prototypen als Bausteine der Wahrnehmung definiert werden, können die Stereotype als eine Art T extbausteine betrachtet werden.

1. EinleitungHeinemann (1998: 7) schreibt: „Die erstaunliche ,Konzeptkarriere‘ des Begriffs Stereotyp [...] beruht nach meinen Beobachtungen auch auf seiner Produktivität als geronnene, verfestigte, stets wiederholbare und deswegen in der Kommuni­kation als (Routine-) Formel einsetzbare Sprachform [...].“ Da die Routinefor­meln zu den Forschungsgebieten der Jubilarin gehören, scheint ein Beitrag zum sprachlichen Stereotyp nicht ganz daneben zu liegen. Es wird aber hier nicht um Routineformeln im engeren Sinne gehen, wie sie etwa in Hyvärinen (2011) defi­niert werden. Genau wie die Routineformeln stellen aber die Stereotype vorge­fertigte Muster dar, die der Erleichterung der Kommunikation dienen. Pümpel- Mader (2010: 67) meint, man habe sich sowohl innerhalb der linguistischen als auch der sozialpsychologischen Stereotypenforschung recht wenig für den theo­retischen Hintergrund interessiert, während relativ viele empirische Arbeiten vorlägen.1 In diesem Beitrag werden einige theoretische Aspekte des sprachli­chen Stereotyps untersucht, wobei vor allem die Beziehung zwischen den Be­griffen „Stereotyp“ und „Prototyp“ im Zentrum stehen wird. Es gibt nämlich eine gewisse Ähnlichkeit, sogar eine Art „Verwandtschaft“ zwischen den beiden Begriffen, was dazu führen kann, dass die notwendige Unterscheidung schwie­rig wird.

1 Empirische Arbeiten zum Stereotyp, die neben Pümpel-Mader (2010) eine gewisse An­regung für die vorliegende Untersuchung gegeben haben, sind Demleitner (2010) und Roth (2005).

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2. HintergrundNicht nur die „Verwandtschaft“ der Begriffe Stereotyp und Prototyp, sondern auch Arbeiten wie Putnam (1975, 1978 u. 1988) scheinen dazu beigetragen zu haben, dass die Grenzen zwischen Stereotypen und Prototypen sich zuweilen in der Linguistik wenigstens terminologisch verwischt haben, vgl. etwa Bußmann (1990 und 2002), Hermanns (2002: 294), Lutzeier (1985 und 1995).2 Schwarze (1982) versucht, Putnams Stereotypenbegriff mit dem Begriff des Prototyps und dem Begriff der semantischen Merkmale (Marker) der strukturellen Linguistik zu verbinden. Vor allem ist Schwarzes Schlussfolgerung wichtig, dass die An­nahmen der strukturellen Semantik durchaus mit der Prototypen- bzw. der Ste­reotypensemantik kompatibel sind und in der Tat eine notwendige Ergänzung darstellen, vgl. Schwarze (1982: 11). Es werden im Folgenden nur solche As­pekte der angegebenen Arbeiten berücksichtigt, die unmittelbare Relevanz für die Darstellung hier besitzen.

Die Darstellung in Schwarze (1982) bezieht sich vor allem auf Putnam (1978) und Rosch (1977). Da die Terminologie der beiden Autoren nicht über­einstimmt, versucht Schwarze (1982: 3 f.) einen Vorschlag zur Vereinheitli­chung zu unterbreiten. Ein Prototyp sei danach ein typischer Referent. So sei z.B. ein besonders typischer konkreter Stuhl ein Prototyp im Hinblick auf die Kategorie ,Stuhl‘. Zum Begriff des Stereotyps schreibt Schwarze (1982: 3):

Ein Stereotyp sei hingegen die Menge der Eigenschaften, die einen Prototyp definie­ren; so ist z. B. das Stereotyp von Stuhl: ,dient zum Sitzen, hat eine Lehne und vierBeine, ist aus festem Material, bietet Platz für eine Person‘ [...].

Ein Lexikon müsste nach Schwarze (1982: 4) entsprechend einer Synthese der Rosch’schen und Putnam’schen Konzeption für jedes Wort Folgendes enthalten:

- die syntaktischen Eigenschaften;- eine klassifizierende Bedeutungskomponente (a) (semantic Marker);- eine Bedeutungskomponente (b), die den von (a) nicht erfaßten Teil der Bedeutung

zusammenfaßt (z.B. ,Tigerhaftigkeit‘);- eine Menge von stereotypischen Eigenschaften, die die Interpretation von (b)

angeben, in hierarchischer Ordnung;- die Hyponyme des Wortes in der Reihenfolge ihrer Typizität- die Extension

2 So wird z.B. in Bußmann (1990) unter dem Stichwort „Prototyp“ lediglich auf das Stichwort „Stereotyp“ hingewiesen, während in Bußmann (2002) unter „Prototypentheo­rie“ ein relativ ausführlicher Artikel zu finden ist. Lutzeier (1995: 164f.) verweist u.a. im Glossar bei Prototyp auf Stereotyp und umgekehrt. Vgl. aber vor allem Lutzeier (1995: Kap. V). Handwerker (1988: 14) schreibt: „Einen kräftigen Stoß in Richtung Ste­reotypen / Prototypen bekam die Forschung [...].“

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Nach Putnam (1975: 145 ff.; 1978: 80) kann in vielen Fällen nur der Experte die eigentliche Extension eines Wortes angeben, etwa für Wasser H2O. Schwarze (1982: 11 f.) hebt hier die Notwendigkeit hervor, zwischen Laien- und Exper­tenwissen zu unterscheiden.3 Die Extension des Wortes Wasser kann aber nicht mit der Extension von H2O gleichgesetzt werden, denn es geht um zwei ver­schiedene Zeichen zweier verschiedener Sprachen. Die Extension von H2O kann zwar als der wichtigste Teil der Extension von Wasser betrachtet werden, aber die Extension von Wasser ist offenbar größer und vor allem unbestimmter und kontextsensitiver. Somit können auch die Bedeutungen (Intensionen) der beiden Ausdrücke nicht identisch sein, vgl. auch Lutzeier (1985: 49 f.). Die semanti­schen Marker in der Darstellung Schwarzes können mit den semantischen Merkmalen der strukturellen Semantik weitgehend gleichgesetzt werden. Bei derartigen Merkmalanalysen bleibt häufig ein problematischer „Rest“, etwa die „Tigerhaftigkeit“ des Tigers, ein Problem, das man in der Darstellung Schwar­zes mit Hilfe des Begriffs des Stereotyps bzw. der stereotypischen Eigenschaf­ten zu lösen versucht. Die Relation der Hyponymie ist wichtig, aber in diesem Zusammenhang nicht aktuell.

3. PrototypDamit der Begriff des Prototyps von dem Begriff des Stereotyps abgegrenzt werden kann, wird zuerst eine mögliche Auffassung vom Prototyp vorgestellt, die von Arbeiten wie Kleiber (1998), Lakoff (1987), Mangasser-Wahl (Hg.) (2000), Rosch (2009), Taylor (2003) usw. angeregt worden ist und die ich etwas ausführlicher in Nikula (2012: Kap. 3) vorgestellt habe. Die Darstellung des Be­griffs des Prototyps muss hier relativ lang und ausführlich sein, eben weil er den notwendigen Hintergrund für die Erfassung des Begriffs Stereotyp darstellt.

Damit ein Lebewesen überhaupt überleben kann, muss es imstande sein, die Welt in irgendeiner Weise zu strukturieren, d.h. Ähnlichkeiten und Unterschiede zu erkennen und diese irgendwie im Gedächtnis zu speichern. Es wird hier an­genommen, dass die Strukturierungen als Vorstellungen von durch die Organe der Sinneswahrnehmungen Erlebtem im Langzeitgedächtnis gespeichert wer­den.4 Als Prototypenwissen stellen diese Vorstellungen ein aus dem episodi­schen Wissen ins semantische Wissen importiertes Wissen dar. Da Vorstellun­gen immer Vorstellungen über etwas sind, sind sie immer konkret, auch wenn sie als Prototypenwissen „verblasst“ sein können, d.h. Eigenschaften durch

3 Vgl. Putnams (1975: 145f.) „hypothesis of the universality o f the division of linguistic labor“.

4 Zum Begriff der Vorstellung in der Linguistik vgl. Hermanns (2002).

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„Vergessen“ verloren haben können, die im episodischen Wissen vorlagen. Man könnte vielleicht von einer Vorstufe von Abstraktion sprechen. Das Prototypen­wissen dient dazu, die Orientierung in der Welt zu ermöglichen. - Es werden hier keine Annahmen über die Strukturiertheit der Welt selbst gemacht, sondern lediglich angenommen, dass ein Lebewesen eine Welt in dem Sinne konstruiert, dass solches ausgewählt und gespeichert wird, was für das Wesen selbst wichtig ist, wobei die Grenzen der Möglichkeiten durch die Eigenschaften der Organe der Sinneswahrnehmung, der Kognition usw. gesetzt werden.

Ein Prototyp ist als Vorstellung grundsätzlich individuell, es geht um erlebte Wirklichkeit. Zwar kann angenommen werden, dass diejenigen Prototypen, die verschiedene Individuen haben, wegen ähnlicher Lebensbedingungen und biolo­gischer Eigenschaften recht ähnlich sind, aber diese Ähnlichkeit wird erst in der Kommunikation einigermaßen gesichert. Beim Menschen erhalten Prototypen vor allem in der Kommunikation durch Sprache überindividuelle Eigenschaften. Diejenigen Merkmale, die durch die Sprache beim Prototyp fokussiert werden, ermöglichen es, dass ein Prototyp nicht nur der Orientierung eines Individuums dient, sondern auch der Orientierung eines Kollektivs, einer Sprachgemein­schaft. Die menschliche Sprache stellt aber an sich nicht die ausschließliche Be­dingung für die Entstehung von Überindividualität dar, sondern überhaupt die Kommunikation zwischen Individuen. So muss z. B. ein Bär notwendigerweise zwischen einem Fisch und einem Reh unterscheiden können, da beide potentiel­le Beutetiere darstellen. Er hat also verschiedene Vorstellungen von diesen Ty­pen von Tieren, er hat individuelle Prototypen davon. In der Kommunikation mit anderen Bären erhalten diese Prototypen jedoch eine gewisse Überindivi­dualität, z.B. wenn die Bärenmutter ihren Jungen die Fertigkeiten der Jagd bei­bringt. Die menschliche Sprache ermöglicht aber eine Abstraktion und Speiche­rung von Mustern, die ohne sie nicht möglich wären.

Die Vorstellungen von Prototypen sind also an sich sprachunabhängig, aber durch die Sprache werden sie „stabilisiert“. Prototypen unterscheiden sich als solche voneinander dadurch, dass sie mehr oder weniger deutliche Ähnlichkei­ten und Unterschiede aufweisen. Sie erhalten eine noch deutlichere Struktur dadurch, dass durch die Sprache aus der Beziehung „mehr oder weniger“ eine Beziehung „entweder-oder“ entsteht. Beim Prototyp werden durch die Sprache bestimmte Eigenschaften mittels Fokussierung perspektiviert, vgl. Nikula (2013a).5 Diese perspektivierende Funktion der Sprache hat man in der struktu­rellen Linguistik durch den Begriff der semantischen Merkmale zu erfassen ver­

5 Vgl. auch Taylor (2003: 88): „A linguistic form gets its meaning by profiling, or high­lighting, a particular region or configuration in the relevant domain.“ Vgl. weiter Taylor (2003: 93-94, 103f., 127, 128, 229) und seinenBegriffperspectivization.

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sucht. Die menschliche Sprache wird dort als ein grundsätzlich digitales System beschrieben, das die analoge Erfassung der Welt durch die Organe der Sinnes­wahrnehmung in das Prokrustesbett eines Systems des +/- bzw. des 0/1 zwingt. In der vorliegenden Darstellung wird aber die Bedeutung eines sprachlichen Zeichens nicht als ein Bündel semantischer Merkmale aufgefasst, sondern als eine durch die semantischen Merkmale perspektivierte prototypische Vorstel­lung. Perspektivierung bedeutet also, dass bestimmte Eigenschaften des Proto­typs durch die Zuordnung semantischer Merkmale gegenüber anderen Eigen­schaften hervorgehoben werden. Diese perspektivierenden semantischen Merk­male fokussieren notwendige Eigenschaften des Prototyps, was aber nicht aus­schließt, dass auch Objekte, die dem Prototyp bezüglich sämtlicher Merkmale nicht entsprechen, trotzdem als Referenzobjekte dienen können. Deshalb kann z. B. ein Strauß durch das Wort Vogel bezeichnet werden, auch wenn er nicht die bei dem Prototyp notwendige Eigenschaft der Flugfähigkeit besitzt. Sogar ein Bild eines Vogels kann als Referenzobjekt dienen, auch wenn ihm die ganz zentrale Eigenschaft fehlt, ein Lebewesen zu sein. Die Annahme der grundsätz­lichen Sprachunabhängigkeit des Prototyps selbst schließt die Notwendigkeit derAnnahme einer Gewichtung oder Hierarchisierung der semantischen Merkmale

6aus.Hervorgehoben werden muss, dass die semantischen Merkmale eine Vo­

raussetzung für die Kompositionalität der sprachlichen Bedeutung darstellen. Es wird also angenommen, dass die semantische Struktur eines Satzes, die die Ba­sis für die Ableitung einer aktuellen Bedeutung, eines „Inhalts“, darstellt, ausge­hend von den syntaktischen Funktionen und semantischen Merkmalen der lexi­kalischen Einheiten im Satz abgeleitet wird.7 Die zentrale Satzbedeutung ließe sich ganz offenbar nicht aus den Bedeutungen der Wörter und deren syntakti­schen Relationen ableiten, wenn die Bedeutungen der Wörter ausschließlich aus den mit ihnen verknüpften Vorstellungen von Prototypen bestehen würden, vgl. Nikula (2012: 31).

Wenn hier behauptet wird, Prototypen seien sprachunabhängig, bedeutet dies nicht, dass neue Prototypen nicht durch Vermittlung und Einwirkung von Sprache, d.h. von Texten, entstehen könnten. Dies ist in der Tat sehr üblich. Wenn z. B. jemand uns von Erlebnissen in Ländern, die wir nicht besucht haben,

6 Vgl. auch Lakoff (1987: 115) zum Problem der „weightedfeature bundles7 Nicht nur „Dinge“, sondern auch Eigenschaften, Relationen, Ereignisse, Handlungen

usw. werden als prototypische Vorstellungen gespeichert. Sprachlich werden sie dabei nicht nur durch semantische Merkmale wie die oben genannten perspektiviert, sondern auch mit Hilfe von semantischen „Frames“, die eine vergleichbare distinktive Funktion haben. Darauf kann hier nicht weiter eingegangen werden, vgl. aber Nikula (2007 u. 2012: 39ff.).

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oder etwa von unseren vorgeschichtlichen Urmüttern und Urvätern erzählt, kön­nen wir uns auch ohne Unterstützung von Bildern vorstellen, wie es war, und davon ausgehend Prototypen bilden. Wir können sogar Prototypen bilden, die keine Extension in der realen Welt haben oder gehabt haben, da wir uns auch Solches vorstellen können, was es nicht gibt. Derartige Prototypen werden sprachlich vermittelt, etwa in Märchen, in der Fantasyliteratur und auch in Wör­terbüchern, vgl. auch Nikula (2013d: 84-87). Die Bedeutung von Zentaur wird in folgender Weise im DUDEN beschrieben: „vierbeiniges Fabelwesen mit Pferdeleib u. menschlichem Oberkörper“. Ausgehend von dieser Beschreibung und / oder etwa literarischer Darstellungen zusammen mit seinen internalisierten Prototypen von Menschen und Tieren kann ein Sprachteilhaber eine prototypi- sche Vorstellung vom Aussehen eines Zentauren bilden, die es ihm ermöglicht, Zentauren auf Abbildungen zu erkennen und über Zentauren zu sprechen. Auch die hier angesprochenen Prototypen werden also ausgehend von altem Wissen, von vorhandenen Vorstellungen von prototypischen Exemplaren gebildet, und sind in dem Sinne nur indirekt sprachabhängig, auch wenn sie sprachlich „ange­regt“ worden sind.

Wie sie oben dargestellt worden sind, können die Prototypen als Bausteine der Wahrnehmung definiert werden. Sie können somit auch als Bausteine eines nichtbegrifflichen Denkens aufgefasst werden, d.h. eines Denkens, das aus­schließlich auf Vorstellungen basiert. Ein begriffliches Denken setzt Sprache voraus, d.h. nur eine perspektivierte Vorstellung kann einen Begriff darstellen. Sprache stellt somit auch die Voraussetzung für Abstraktion im eigentlichen Sinne dar, vgl. weiter Nikula (2012: Kap. 3.1). Als Bausteine der Wahrnehmung stellen Prototypen auch die notwendige Brücke zwischen sprachlichem Zeichen und der außersprachlichen Welt dar. Ohne uns einen prototypischen Vogel vor­stellen zu können, können wir nicht mit Hilfe des Zeichens Vogel referenziell auf konkrete oder abgebildete Vögel Bezug nehmen. Weiter sind Prototypen in dem Sinne kontextsensitiv, als dass Eigenschaften des Prototyps, die nicht lexi­kalisch perspektiviert sind, im Kontext fokussiert werden können. Deshalb kann z.B. vom Rücken eines Vogels gesprochen werden, ohne dass vorher im Text angegeben wurde, dass Vögel Rücken haben oder dass <+Rücken> ein perspek- tiverendes Merkmal bei Vogel wäre. In dieser Weise entstehen aus lexikalischen Bedeutungen aktuelle Bedeutungen, vgl. auch Nikula (2013a), und in dieser Weise können auch Stereotype entstehen, vgl. unten Abschn. 4. Da Prototypen subjektive Vorstellungen sind, ist es weiter durchaus denkbar, dass eine und die­selbe Person mehrere Prototypen derselben Kategorie hat, und zwar mit densel­ben perspektivierenden Merkmalen, wobei einer von den Prototypen kontextab­hängig aktualisiert wird, vgl. auch Klein (1998: 34f.). So könnte man z.B. ver­schiedene Vorstellungen von prototypischen Stühlen haben, die durch Familien­

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ähnlichkeit mit einander verknüpft sind. Als Bedeutungselemente von Stuhl wä­ren dabei sämtliche Prototypen durch die Merkmale [<+Sitzmöbel>, <+für eine Person>, <+Rückenlehne>] perspektiviert.

Ein Problem bei lexikologischen und lexikographischen Beschreibungen von Prototypen ist, dass sie sich sprachlich nicht erschöpfend erfassen lassen, weder durch eine natürliche noch durch eine künstliche Sprache. Da bleibt im Allgemeinen ein Rest übrig, etwa die „Tigerhaftigkeit“ des Tigers, vgl. oben Abschn. 2. Visuelle Vorstellungen können häufig zwar relativ gut durch Bilder repräsentiert werden. So verwendet z.B. Schwarze (1982: 3) eine Zeichnung von einem Stuhl, um einen prototypischen Stuhl darstellen zu können. Deutlich größere, sogar unüberwindliche Schwierigkeiten stellen prototypische Vorstel­lungen auditiver, haptischer, olfaktorischer, gustatorischer und motorischer Art dar. In der Lexikographie wird diese Schwierigkeit mit mehr oder weniger gro­ßem Erfolg dadurch gemeistert, dass neben den Bedeutungsdefinitionen lexika­lische Beispiele verwendet werden, die dazu dienen, geeignete Vorstellungen beim Wörterbuchverwender zu evozieren, wobei auch die Verwendungssituation stützend wirken kann, vgl. weiter Nikula (2013a, b u. c).

Zusammenfassend: Die Inhaltsseite eines sprachlichen lexikalischen Zei­chens besteht aus einem Prototyp zusammen mit seinen perspektivierenden se­mantischen Merkmalen, die man auch Prototypenmerkmale nennen könnte.8 Es muss hier noch auf den grundsätzlichen Unterschied zwischen Merkmal und Ei­genschaft aufmerksam gemacht werden. So bezeichnet z.B. das Merkmal <+Sitzmöbel> von Stuhl nicht die Eigenschaft „Sitzmöbel sein“, sondern gibt an, dass diese Eigenschaft bei dem Prototyp fokussiert und perspektiviert wird. Diese Beschreibung unterscheidet sich demnach grundsätzlich von der Be­schreibung des „Stereotyps“ von Stuhl bei Schwarze (1982), vgl. oben Abschn.2. Wichtig ist weiter, dass die Prototypen die sinnlich erfassbare Relation zur außersprachlichen Wirklichkeit darstellen, d.h. sie bilden die Voraussetzung für einen referentiellen Bezug auf diese Wirklichkeit.9 Prototypen sind also Vorstel­

8 Es wird also hier an die Theorie der „dualen Kodierung“ angeknüpft, vgl. etwa Paivio (1986) wie auch Schnotz (2001) und Nikula (2012: 34). - In der Tat sind die hier ange­führten Gedanken zur „dualen Kodierung“ auch indirekt durch de Saussures Zeichenbe­griff angeregt worden. Da wird ja zwischen dem Concept als Vorstellung und dem Wert, valeur, unterschieden, wobei betont wird, dass valeur und signification (Bedeutung) nicht gleichzusetzen seien, vgl. de Saussure (1949: 99 bzw. 158). Vgl. auch Hermanns (2002: 292).

9 Auch wenn die Darstellung hier durch den grundlegenden Begriff embodiment bei La- koff (1987) beeinflusst ist, unterscheidet sie sich trotzdem von Lakoff u.a. darin, dass hier das körperliche, d. h. sinnlich Erlebte viel stärker betont wird.

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lungen, können aber durch konkrete Exemplare der außersprachlichen Wirklich­keit repräsentiert werden.

4. StereotypWenn Stereotype nicht mit Prototypen gleichzusetzen sind, müssten sie natürlich Eigenschaften besitzen, die sich von den Prototypen unterscheiden, so wie diese oben dargestellt wurden. Und damit der Versuch aber überhaupt sinnvoll wird, den Begriff des Stereotyps von dem des Prototyps abzugrenzen, muss auch ir­gendein gemeinsamer Nenner vorliegen.

Der deutlichste gemeinsame Nenner von Stereotyp und Prototyp ist offen­bar, dass sowohl Prototypen- als auch Stereotypenwissen der Orientierung in der Welt dienen. Sie stellen als Elemente des Weltwissens gespeicherte Annahmen darüber dar, wie die Welt strukturiert ist. Weiter sind beide Typen von Wissen mit der sprachlichen Kommunikation verknüpft, wenn auch in deutlich ver­schiedener Weise. Die Bedeutung etwa von Finne könnte mit Hilfe der Merkma­le [<+hum>, <-fem>, <+finnische Staatsbürgerschaft] erfasst werden, die den Prototyp eines Finnen als Vorstellung perspektivieren. Eine Vorstellung von ei­nem Prototyp ist natürlich immer mehr oder weniger stark individuell, aber als Element der Bedeutung von Finne muss sie mit den angegebenen überindividu­ellen Merkmalen kompatibel sein. Viele Deutsche würden wahrscheinlich den prototypischen Finnen mit der Eigenschaft „schweigsam“ verknüpfen. So findet man das folgende Beispiel im Internet: „Wie haben Sie als schweigsamer Finne denn Ihre Frau kennen gelernt?“[1]10 Brecht soll bekanntlich gesagt haben, die Finnen würden in zwei Sprachen (Finnisch und Schwedisch) schweigen. Schmitz (2011: 101) schreibt: „Wer hat eigentlich das Gerücht in die Welt ge­setzt, die Finnen wären ein schweigsames Volk.“ 11 Hyvärinen / Piitulainen (2010: 575) schreiben über die sogenannte „Schweigsamkeit“ der Finnen Fol­gendes: „Die finnische Schweigsamkeit kann im dt. Kulturraum als Mangel an Interesse interpretiert werden, während das deutsche Kommunikationsverhalten den Finnen aggressiv vorkommen kann.“ Man könnte vielleicht sagen, dass die Finnen die bekannten Grice’schen Maximen der kommunikativen Kooperation ein wenig anders interpretieren als die Deutschen, vor allem wohl die der Quan­tität, vgl. Grice (1975: 45f.). Stereotype können auf persönlichen Erfahrungen

10 Die Nummerierung innerhalb der eckigen Klammern gibt die Adresse im Quellenver­zeichnis an.

11 In dem autofiktiven Roman Die Spinnen die Finnen von Schmitz (2011) kann man in unterhaltender Weise viel über finnische (und auch deutsche) Stereotype erfahren.

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basieren, die sprachlich vermittelt und mehr oder weniger stark übergeneralisiert werden.

Sollte ausgehend von der Tatsache, dass der prototypische Finne nach der Meinung vieler Sprachteilhaber durch die Eigenschaft der Schweigsamkeit cha­rakterisiert ist, ein perspektivierendes Merkmal <+schweigsam> in der Bedeu­tung von Finne angenommen werden? Vom nicht flugfähigen Strauß kann man sagen, er sei auch eine Art Vogel. Würde man genauso gut von einem redseligen Finnen sagen, er sei auch eine Art Finne?12 Dies ist kaum der Fall, was darauf hindeutet, dass Schweigsamkeit keine Eigenschaft ist, die als notwendiges Merkmal des Prototyps perspektiviert wird. Dagegen könnte man behaupten, dass jemand, der seine finnische Staatsbürgerschaft verloren hat, immer noch „eine Art“ Finne sei, d.h. <+finnische Staatsbürgerschaft ist ein notwendiges Merkmal (nur) des Prototyps.

Prototypen sind, wie im vorigen Abschnitt festgestellt wurde, an sich zu­nächst individuell, erhalten aber in der Kommunikation als Ergebnis der per- spektivierenden Funktion der Sprache einen überindividuellen Charakter. Stere­otype werden von den Mitgliedern einer Kommunikationsgemeinschaft „ausge­handelt“, sie entstehen also als Ergebnis von Kommunikation und sind eben deshalb zwangsläufig und grundsätzlich überindividuell. Stereotypenwissen wie „Finnen sind schweigsam“, „die Deutschen sind gründlich“ usw. stellen gemein­sames, richtiges oder unrichtiges „Wissen“ der Mitglieder einer Kommunika­tionsgemeinschaft dar, die diese Mitglieder „kennen“ und auch (als Überzeu­gung) „haben“ können, vgl. Schwarze (1982: 14). Während die Finnen also als schweigsam bezeichnet werden, seien die Deutschen nicht nur gründlich, son­dern u. a. auch pünktlich, sauber und sparsam. Ausdrücke wie deutsche Gründ­lichkeit, deutsche Pünktlichkeit, deutsche Sauberkeit, deutsche Sparsamkeit kommen somit nicht ganz selten u. a. im Internet vor:

[2] Niederländischer Pragmatismus trifft deutsche Gründlichkeit.

[3] Woher kommen Gerüchte / Märchen über deutsche Pünktlichkeit, Tugend, Ge­horsamkeit, Sauberkeit etc.?

[4] Japanische Höflichkeit und deutsche Sauberkeit sind das Maß aller Dinge.13

[5] Früher haben Griechen über die deutsche Sparsamkeit gelacht, heute steht knau­sern hoch im Kurs.

Prototypen können, müssen aber nicht mit Stereotypen verknüpft werden. Ste­reotype setzen dagegen perspektivierte Prototypen voraus, und sind somit auch

12 Vgl. auch den vergleichbaren Test bei Lakoff(1987: 81) für mother.13 Lakoff (1987: 85) gibt die folgenden Beispiele von „contemporary American stereoty­

pes“ von Japanern: „The stereotypical Japanese is industrious, polite and clever.“

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in diesem Sinne sprachabhängig. Damit etwa das Merkmal <+schweigsam> Finnen zugeordnet werden kann, muss also ein Wort Finne (oder ein anderer vergleichbarer sprachlicher Ausdruck) mit dem wie oben angegebenen perspek- tivierten Prototyp als Bedeutungselement vorliegen. Bei der Stereotypisierung werden nichtperspektivierte Eigenschaften des Prototyps markiert oder aber dem Prototyp zugeordnet. Dies kommt darin zum Ausdruck, dass sie in der Kommu­nikation dem Referenzobjekt zugeschrieben werden können, ohne dass die Rich­tigkeit der Zuschreibung in Frage gestellt wird. Man kann also von den „schweigsamen Finnen“ sprechen, als ob die Schweigsamkeit eine inhärente Ei­genschaft aller Finnen sei. Es ist denkbar, dass das, was für einen Sprachteilha- ber ein Stereotyp darstellt, bei einem anderen als notwendige Eigenschaft des Prototyps markiert ist. Wenn z.B. jemand davon überzeugt ist, dass jeder „ech­te“, d.h. prototypische Finne, notwendigerweise schweigsam ist, könnte ange­nommen werden, dass <+schweigsam> als Prototypenmerkmal bei ihm gespei­chert ist. Dies bedeutet, dass die Entscheidung schwierig sein kann, was im kon­kreten Fall als Prototypen- oder Stereotypenmerkmal aufzufassen ist, auch wenn prinzipiell ein grundsätzlicher Unterschied vorliegt.

Kommunikation bildet also die Voraussetzung für das Entstehen von Stereo­typen, vor allem sprachliche Kommunikation. Aber nicht nur Sprache, sondern auch andere Medien, die eine vergleichbare Zeichenfunktion wie die der Spra­che übernehmen können, können zur Entstehung von Stereotypen beitragen. So kann man z. B. sehr leicht feststellen, dass Frauen und Männer auf Bildern in verschiedener Weise „stereotypisch“ abgebildet werden, d.h. bestimmte mögli­che Eigenschaften werden regelmäßig hervorgehoben, andere wiederum unter­drückt, was das Entstehen von Stereotypen fordert. Hier wird aber nur die Kommunikation durch Sprache beachtet.

Zusammenfassend: Sowohl Prototypen als auch Stereotype dienen der Ori­entierung in der Welt. Beide sind auch mit der Kommunikation verknüpft, aber Stereotype setzen Kommunikation, vor allem sprachliche Kommunikation vo­raus. Sie stellen sprachlich gespeicherte (Vor-)Urteile über die Welt dar und können in diesem Sinne als Textbausteine betrachtet werden, während die Proto­typen entsprechend als Bausteine der Wahrnehmung zu betrachten sind.14

5. Professorinnen und ProfessorenIn diesem Zusammenhang scheint es recht natürlich, mit Lexemen wie Profes­sorin und Professor verknüpfte Stereotype zu analysieren. Aus recht leicht er­

14 Zur Beziehung zwischen Stereotyp, Vorurteil und Vor-Urteil vgl. Ehlich (1998), Pätzold / Marhoff (1998).

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sichtlichen Gründen scheinen das Lexem Professor und somit auch reale Profes­soren (noch?) mit deutlich mehr Stereotypen verknüpft zu sein als Professorin. Deshalb fange ich hier unhöflicherweise und gegen das „Titanic-Prinzip“ mit Professor an. Es geht dabei nur darum, das im theoretischen Teil Vorgestellte durch Beispiele zu veranschaulichen, und nicht um eine ausführliche Analyse der mit den beiden Lexemen verknüpften Stereotype. Als Quelle der Beispiele dient das Internet.

Ausgehend von den Bedeutungsbeschreibungen im DUW und WAHRIG könnten die folgenden für die Bedeutung von Professor perspektivierenden Merkmale als angemessen betrachtet werden15:

Professor: [<hum>, <-fem>, <+beamteter Hochschullehrer>, <+höchster akademi­scher Titel>]

Im DUW wird keine Information gegeben, die als potentielles Stereotypenwis­sen betrachtet werden könnte. Dagegen findet sich in WAHRIG das folgende lexikalische Beispiel unter den Lexemen Professor und zerstreut: „er ist ein zer­streuter [Professor]“, was als umgangssprachliche, scherzhafte Bezeichnung für eine zerstreute Person angegeben wird. „Zerstreutheit“ kann kaum als Prototy­penwissen über Professoren betrachtet werden, aber könnte natürlich eine Be­hauptung über einen bestimmten Professor darstellen. Viele würden wohl doch Zerstreutheit als „typisches“ Merkmal von manchem Professor halten, d.h. es würde um ein Stereotyp gehen. Diese Annahme wird schnell durch eine Suche im Internet gestützt. Ein Twitterbeispiel: „Manchmal bin ich so zerstreut, ich sollte wohl besser Professor werden.“ [6] Es werden hier keine quantitativen Untersuchungen durchgeführt, aber es kann festgestellt werden, dass für sämtli­che hier angeführten Beispieltypen eine große Zahl von Belegen leicht gefunden werden kann.

Zerstreutheit scheint ein übliches Stereotyp für Professoren zu sein, das mit Auffassungen wie Altertümlichkeit, Weltfremdheit usw. verknüpft wird und was wohl mit solchen Fakten zusammenhängt, dass Professoren im Allgemeinen nicht sehr jung sind und dass sie häufig über sehr „theoretische“ Themen spre­chen. Deshalb kann man Belege folgender Art mit der Suchphrase „wie ein Pro­fessor“ im Internet (Google) finden16:

15 Diese Beschreibung soll nicht als Vorschlag einer „endgültigen“ Beschreibung aufgefasst werden, sondern dient nur der Darstellung der im Beitrag angesprochenen Probleme. - Die Bedeutungsbeschreibung für Professorin würde sich von der angegebenen nur durch das Merkmal <+fem> unterscheiden. - In Finnland und Österreich werden übrigens Hochschullehrer nicht mehr verbeamtet.

16 Da es um Internettexte geht, können einige Textbeispiele ein wenig „abweichend“ ausse­hen.

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[7] Wenn Mario Draghi mit seiner eher altmodischen Brille ein Statement verliest, wirkt er wie ein Professor.

[8] Er sieht nicht aus wie ein Professor, eher wie ein Hippie: Lange, dunkle Haare, Vollbart, kurze Hosen zum Hemd mit abstraktem Muster und Flip-Flops.

[9] Nein, wie ein Professor sieht er nicht aus. Zumindest nicht so, wie man sich kli­scheehaft einen Professor vorstellt. Die langen, rötlichen Haare hat er zum Pfer­deschwanz zurückgebunden. Das Gesicht zieren Vier-Tage-Bart sowie eine schmale Hornbrille. Im linken Ohr stecken zwei silberne Ringe.

[10] In der Literatur (mein Gott ich höre mich an wie ein Professor) wird sehr oft der Begriff "Container" benutzt, um Variablen zu beschreiben.

[11] Der eine ist juenger, der andere sieht wie ein Professor aus.

[12] Obama verstrickte sich in lange Ausführungen und wirkte wie ein Professor, der dem Zuschauer einmal die Welt erklären müsse.

[13] Einige Leute werden gesprächig vom Koks und reden wie ein Professor.

Jetzt noch einige Beispiele mit der Suchphrase „typischer Professor“:[14] Mit seinen graumelierten Locken und seinem nachdenklichen Auftreten wirkt

Chris West wie ein typischer Professor mittleren Alters

[15] Kalisch ist kein typischer Professor: Der 39jährige steckt in Pullover und Jeans und hat überhaupt nichts Professorales an sich. Der Drei-Tage-Bart sieht nicht nach intellektuellem Habitus aus; sondern eher so, als sei Rasieren lästig.

Ein interessantes Beispiel stellt der folgende Ausschnitt aus einer Laudatio auf einen Professor dar:

[16] Sie sind der immer mal wieder zerstreut wirkende Professor, der faszinierende liebenswürdige Kauz eben, der heute auf der Roten Liste unter der Kategorie 1 „Vom Aussterben bedroht“ steht - einer der letzten seiner Art.

Hier finden wir die beiden Prädikate „zerstreut“ und „Kauz“, die dem Geehrten als stereotype Eigenschaften von Professoren zugesprochen werden. DUW gibt für Kauz als zweite Bedeutung an: „auf liebenswerte Weise sonderbarer, eigen­brötlerischer Mann“. Interessant ist vor allem, dass hier Eigenschaften des Pro­totyps von Kauz als stereotype Eigenschaften zur Charakterisierung von Profes­soren verwendet werden und weiter, dass Kauz in dieser Bedeutung kaum selbst mit Stereotypen verknüpft wird.

„Der Eulenshop“ bietet in Internet an: „Eulenmarionette ,Professor Kauz‘ 45,00 EUR.“ [17] Kauz kann ja auch eine besondere Art von Eulen bezeichnen und in der Werbeanzeige wird die Marionette als brillentragende Eule in akade­mischer Kleidung abgebildet, was sich natürlich auf stereotype Vorstellungen

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von Professoren bezieht.17 Professoren und Professorinnen werden nicht selten stereotyp als Brillenträger aufgefasst, wie das Beispiel [23] unten zeigt. Zuerst die Suchphrase „wie eine Professorin“ :

[18] Zum einen, weil ichjung aussah und nicht wie eine Professorin.

[19] ich freue mich schon drauf, sie sieht aus wie eine Professorin die richtig nett ist, i-wie erinnert sie mich an meine Grundschullehrerin

[20] In ihren schwarzen Trekkinghosen und dem weiten schwarzen Sweatshirt mit buntem Aufdruck sieht Matilde Marcolli eher wie eine sportliche Studentin aus als wie eine Professorin.

[21] Wenn ich zum Zuschauer spreche, rede ich nicht wie eine Professorin, sondern führe einen persönlichen Dialog.

[22] Und Notta, Glorias Schwester, eine neunmalkluge Leseratte, gebildet wie eine Professorin und immer beim Lesen.

[23] Ich habe ab und an mal eine Brille auf. Wenn es nun mal notwendig ist, dann ist es notwendig. Ich trug meine auch nicht gerne, habe aber festgestellt, das mich die Menschen ansahen und sagten: Mensch du siehstja wie eine Professorin aus.

Und hier noch einige Beispiele mit der Suchphrase „typische Professorin“ :[24] heute morgen das war so langweilig. die frau hat nur von ihrem zettel abgelesen

und alles total langweilig. das ist so ne typische professorin.

[25] Gesine Schwan ist eine typische Professorin aus der Zeit der Romantik. Bei ihr ist die Welt heil. Und Deutschland immer noch das Land der Dichter und Den­ker. Und kaum streckt Frau Schwan ihre Nase aus dem Elfenbeinturm, hat sie schon einen “tiefroten Zinken”!

Die Stereotype über Professorinnen scheinen im Großen und Ganzen derselben Art wie die über Professoren zu sein, aber es ist natürlich möglich, dass sich neue, „professorinnenspezifische“ Stereotype entwickeln werden oder sogar schon entwickelt haben, auch wenn sie in dieser recht unsystematischen Materi­alsammlung nicht zu finden sind.

Die Gesellschaft verändert sich ja ständig, weshalb die obigen Stereotype überhaupt nicht die typischen im Sinne von den meisten heutigen Professoren und Professorinnen zu erfassen brauchen. Auch das Berufsbild der Professoren und Professorinnen ist veränderlich und somit auch der Prototyp, was Konse­quenzen für die Stereotypien haben kann. Diejenigen stereotypischen Vorstel­lungen, die mit Professoren und Professorinnen, und somit mit den Inhalten, also mit den perspektivierten Prototypen von Professor bzw. Professorin, verknüpft sind, stellen keine Elemente oder Perspektivierungen dieser Inhalte dar, sondern

17 Die Suchphrase „kluge Eule“ ergibt nicht unerwartet viele Treffer im Internet, u. a. einige mit Bildern von Eulen mit Brillen und „akademischer Kleidung“.

34 Henrik Nikula

sind eben nur mit diesen häufig verknüpften Charakteristika versehen. Auch wenn man einen Professor oder eine Professorin, der / die zerstreut und altmo­disch ist, Brillen trägt und schwer verständlich spricht, für „typisch“ hält, würde man kaum einen Professor bzw. eine Professorin für „eine Art“ Professor(in) halten, wenn ihm bzw. ihr die genannten Eigenschaften fehlen, d. h. wenigstens nicht in derselben Weise, wie man etwa eine(n) außerordentliche(n) Profes­soren) eine Art Professor(in) nennen könnte.

Zusammenfassend: Die Stereotype über Professorinnen und Professoren be­stehen vor allem aus unmittelbar konkret Vorstellbarem. Außerdem sind sie, wenigstens oberflächlich betrachtet, im Allgemeinen mehr oder weniger negativ.

6. ZusammenfassungEine deutliche Verwandtschaft scheint zwischen den Begriffen des Stereotyps und des Prototyps vorzuliegen, was zuweilen auch zu einer gewissen terminolo­gischen und begrifflichen Unklarheit geführt hat. Sowohl durch den Begriff des Stereotyps als auch durch den des Prototyps wird versucht, etwas „Typisches“ zu erfassen. Sowohl Stereotype als auch Prototypen dienen der Orientierung in der Welt. Prototypen stellen Vorstellungen von typischen Exemplaren einer Gat­tung dar und können somit als Bausteine der Wahrnehmung betrachtet werden. Sie können weiter sprachlich mit Hilfe von semantischen Merkmalen perspekti- viert werden und dadurch Elemente der lexikalischen Bedeutung von Lexemen bilden.

Stereotype entstehen als Ergebnis menschlicher Kommunikation und sind in diesem Sinne sprachabhängig, während nichtlexikalisierte Prototypen grundsätz­lich sprachunabhängig sind. Stereotype setzen weiter perspektivierte und lexika- lisierte Prototypen voraus, und sind somit auch aus diesem Grunde sprachab­hängig. Bei der Stereotypisierung werden nichtperspektivierte Eigenschaften eines lexikalisierten Prototyps markiert oder aber diesem Prototyp zugeordnet. Dies kommt darin zum Ausdruck, dass sie in der Kommunikation dem Refe­renzobjekt zugeschrieben werden können, ohne dass die Richtigkeit der Zu­schreibung notwendigerweise in Frage gestellt wird.

LiteraturQuellen[1] http://zuender.zeit.de/2006/51/aki?page=all [15.9.2013][2] http://www.sgb2-portal.de/aktuelles/226-niederlaendischer-pragmatismus-trifft-deutsche-

gruendlichkeit.html [24.7.2013]