Anton Pannekoek und Cornelius Castoriadis - Korrespondenz 1953-1954

download Anton Pannekoek und Cornelius Castoriadis - Korrespondenz 1953-1954

of 63

Transcript of Anton Pannekoek und Cornelius Castoriadis - Korrespondenz 1953-1954

  • 8/9/2019 Anton Pannekoek und Cornelius Castoriadis - Korrespondenz 1953-1954

    1/63

    aus: Archiv fr die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit (No. 18)

    Seite 1 von 63

    Pierre Chaulieu (Cornelius Castoriadis)/Anton Pannekoek

    Korrespondenz 1953-1954 1

    Vorwort und Kommentare von Henri Simon

    Einige Erklrungen vorweg

    Als ein Genosse den Text der vorliegenden Broschre las, meinte er, manknne dem Ablauf der darin wiedergegebenen Ereignisse manchmal schwerfolgen. Es schien ihm wnschenswert, vorweg einen Rahmen zu liefern,damit der Leser den Mandern einer wirklich sehr obskuren und komplexenGeschichte folgen kann.Zuallererst sei darauf verwiesen, da wir eine streng chronologischeReihenfolge eingehalten haben, auer in den beiden letzten Kapiteln, wo wirden Versuch einer Erklrung wagen. Diese chronologische Reihenfolgebringt zwangslufig Wiederholungen mit sich, denn die verschiedenenEpisoden kommen oft auf frhere Ereignisse zurck, die in der Zeit, in dersie sich abgespielt haben, nicht bekannt waren.Im ersten Zeitraum, mit dem sich die Kapitel 1 - 7 beschftigen, geht es umdas Verhltnis von Socialisme ou Barbarie" zu den Personen derhollndischen Spartacus"-Gruppe, die sich auf den Rtekommunismusberief, so wie er aus der realen Bewegung der deutschen Rte in der Zeitnach dem Ersten Weltkrieg hervorgegangen ist, das heit es geht um die Korrespondenz zwischen Pierre Chaulieu (Cornelius Castoriadis), im

    Namen der Mehrheit der Gruppe Socialisme ou Barbarie", und AntonPannekoek in eigener Person;

    eine indirekte Notiz in der Zeitschrift Socialisme ou Barbarie", diedaraufhinweist, da die Korrespondenz pltzlich abbrach - ohne dawirklich bekannt ist, warum;

    einen in Socialisme ou Barbarie" verffentlichten Text derhollndischen rtekommunistischen Gruppe Spartacus", welcherPannekoek nahestand, der fr diese Zeitschrift die letzte Anspielung auf diese historische Tendenz bedeutet.

    1 Pierre Chaulieu (Cornelius Castoriadis)/Anton Pannekoek, Correspondance 1953-1954. Prsentationet commentaires d'Henri Simon, Paris o.J. (2001). Diese franzsische Ausgabe enthlt im Anhang

    kurze biographische Texte und bibliographische Angaben zu Castoriadis und Pannekoek sowie zwei

    graphische berblicksdarstellungen zur hollndischen rtekommunistischen Strmung und zur den

    Gruppierungen, die sich aus dem Kontext von Socialisme ou Barbarie" entwickelt haben (Ad).

  • 8/9/2019 Anton Pannekoek und Cornelius Castoriadis - Korrespondenz 1953-1954

    2/63

    aus: Archiv fr die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit (No. 18)

    Seite 2 von 63

    Diese erste Periode spielt sich innerhalb von zwei Jahren - von 1953 bis1955 - ab und zeichnet sich aus durch das nicht nher erklrte Scheiterndieser ersten Kontakte und die vernderte Ausrichtung der Mehrheit derGruppe Socialisme ou Barbarie", die darin die Positionen vonChaulieu/Castoriadis untersttzte.Eine zweite Periode wird in den Kapiteln 8 und 9 behandelt. Diese spieltsich mehr als fnfzehn Jahre spter ab, von 1971 bis 1974, und bezieht sichauf die Ereignisse der vorherigen Periode und ist viel polemischer. Auf gewisse Weise beginnt die Wiedererffnung der Affre mit derVerffentlichung der ersten drei Briefe zwischen Pannekoek und Chaulieuim Jahr 1971. Dieser Verffentlichung in den Cahiers du Communisme deConseils" ist ein Text von Cajo Brendel vorangestellt, der dasdiesbezgliche Schweigen der Gruppe Socialisme ou Barbarie" erklrt, dasbis zu ihrer Auflsung 1967 anhielt.22 Castoriadis glaubte sich verpflichtet,1974 in der Taschenbuchausgabe seiner Werke in der Reihe 10/18" die dreibetreffenden Briefe (aber nicht die gesamte Korrespondenz) abzudrucken -mit einem kritischen Vorwort, das als Antwort auf Cajo Brendels Textgedacht war.3 Die beiden letzten Kapitel - 10 und 11 - versuchen im Lichte anderer,spterer Schriften von Castoriadis zu verstehen, warum alles so abgelaufenist und gleichzeitig - was nur eine Hypothese ist - die Kontinuitt desDenkens von Castoriadis von seiner trotzkistischen Vergangenheit bis hin zuseinen Abschweifungen ber seine Theorien des Imaginren aufzuzeigen.

    Es ist offenkundig, da sich eine Studie wie die folgende, auch wenn sie auf unwiderlegbaren Dokumenten basiert, auch auf Berichte (die ja bekanntlichrelativ sind, sowohl in ihrer Subjektivitt als auch in ihrer Ungenauigkeitaufgrund der vergangenen Zeit) und auf andere mehr oder wenigerpolemische Texte sttzt. Wir mchten uns im voraus fr dieUngenauigkeiten entschuldigen, die manch einer herausfinden mag; diesesind unabsichtlich und wir sind bereit, nach entsprechender berprfung allewnschenswerten Berichtigungen vorzunehmen.

    1. EinleitungEs mag einem kleinlich vorkommen, nach fast einem halben Jahrhunderteine Debatte im Detail wiederaufzugreifen (Details, die brigens nicht alle

    2 Une correspondance entre Anton Pannekoek et Pierre Chaulieu. Introduction: Cajo Brendel, in:Cahiers du Communisme de Conseils, 8/Mai 1971, S. 15-35. Der Text von Cajo Brendel ist im

    folgenden auf S. 57ff. abgedruckt. 3 Cornelius Castoriadis, Reponse au camarade Pannekoek (1954), in: Ders., L'experience du

    mouvement ouvrier 1. Comment lutter, Paris 1974, S. 249-259; ders., Postface la Reponse au

    camarade Pannekoek, in: ebd., S. 261-277; dieses Postface" enthlt das erwhnte kritische Vorwort"

    sowie die beiden Briefe Pannekoeks (Ad).

  • 8/9/2019 Anton Pannekoek und Cornelius Castoriadis - Korrespondenz 1953-1954

    3/63

    aus: Archiv fr die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit (No. 18)

    Seite 3 von 63

    bekannt sind oder vergessen wurden), die damals durch den Willen eines derProtagonisten scheiterte, nmlich durch Chaulieu, treibende Kraft derGruppe Socialisme ou Barbarie", deren Mehrheit ihm damals scheinbar inseinem Willen folgte.4 Beide Protagonisten, Pannekoek und Chaulieu (Castoriadis war damals in denffentlichen Stellungnahmen der Gruppe Socialisme ou Barbarie" unterdiesem Pseudonym5 bekannt), sind verstorben und knnen offensichtlichweder unsere Darstellung der Fakten noch die vorliegende Wiedergabe derTexte vervollstndigen oder kritisieren; nur neue Dokumente (wir werdensehen, da es sie tatschlich gab) oder Berichte der wenigen noch lebendenAkteure in dieser Debatte knnten eventuell zu zustzlichen Przisierungenoder gar zu einer neuen Sichtweise beitragen. Im vollen Bewutsein derGrenzen dieser Arbeit wnschten wir, es wre so.Wenn wir die folgenden Dokumente ausgraben - in denen es um dieRevolution, die Organisationsformen des Proletariats, Partei oder Rte, unddie brokratische Degeneration" dieser Organisationsformen geht -, sohaben wir damit keineswegs die Absicht, irgendeinen Angriff auf die Personvon Castoriadis zu frdern (wenn es auch recht schwierig ist, einenMenschen von seinen Ideen zu trennen); die Absicht ist vielmehr, dieseDebatte in den zeitlichen Kontext einzuordnen, das Verhltnis zwischen dendamaligen Positionen und der Entwicklung des Denkens von Castoriadis inVerbindung mit grundlegenderen Positionen aufzuzeigen und das Interessean diesen alten" Diskussionen in der heutigen Zeit zu betonen.

    In einem Briefwechsel zwischen zwei alten Kmpfern" von Socialisme ouBarbarie" anllich einer ganz anderen Frage (den Positionen der Mehrheitder Gruppe zum Quasi-Staatsstreich von Charles de Gaulle im Mai 1958),

    4 Es ist schwierig, Chaulieu/Castoriadis von der Tendenz Chaulieu/Montal" in der trotzkistischenParti Communiste Internationaliste" (PCI) und dann in der Gruppe Socialisme ou Barbarie" zu

    trennen, deren Ursprungskern sie ist. Es ist bezeichnend, da Castoriadis bis zum Ende der Gruppe

    stets die Kontrolle ber deren Ausrichtung - und ber den Namen - bewahrt, hat, so da die

    Minderheit" gezwungen war, sich abzuspalten. Diese Vormachtstellung wird durch die

    Verffentlichung der Schriften von Chaulieu/Castoriadis unter dem Etikett Socia-lisme ou Barbarie"in der Reihe 10/18" bekrftigt. Es geht hier keineswegs darum, Castoriadis den Proze zu machen,

    sondern auf der Basis von Tatsachen, die sowohl ihn persnlich als auch die Gruppe betreffen, die

    Entwicklung seines Denkens zu zeigen, das diese Tatsachen wiederum erklren kann.

    5 Castoriadis hat verschiedene Pseudonyme benutzt - Pierre Chaulieu, Paul Cardan, Barjot, Jean-MarcCoudray und andere, die wir nicht wiederfinden konnten. Das war eine Praxis, die aus der Zeit des

    Krieges und der Illegalitt stammte und fr die es in den fnfziger Jahren fr die meis ten Mitglieder

    keine Notwendigkeit mehr gab, auer aus persnlichen und berechtigten Grnden fr die Aktivisten

    auslndischer Nationalitt.

  • 8/9/2019 Anton Pannekoek und Cornelius Castoriadis - Korrespondenz 1953-1954

    4/63

    aus: Archiv fr die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit (No. 18)

    Seite 4 von 63

    betonte einer der beiden, der bis zum Ende der Gruppe im Jahr 1967 einGetreuer von Chaulieu/Castoriadis geblieben war, man wrde Castoriadis,,ungerechtfertigt angreifen, wenn man sich auf ein Problem bezieht, das inder Polemik eines kurzen Augenblicks aufgeworfen wurde".Kann man imRahmen der Debatte, die Gegenstand der folgenden Dokumentation ist unddie im wesentlichen das behandelt, was man als Parteifrage"zusammenfassen knnte, auch von einemungerechtfertigten Angriff'' sprechen? Und kann man, wie es derselbe Genosse im selben Briefwechseltut, der Ansicht sein, da es ,fr uns, die wir den Marxismus in Fragestellen, darum geht, einen Schlustrich unter die Parteifrage zu ziehen"undda alle Analysen, die danach ber den modernen Kapitalismusgeschrieben wurden, zur Genge die Aufgabe dieser Perspektive bezeugen"(das heit, einer mit einer starken Rte"-Frbung versehenen leninistischenPosition wie die von Socialisme ou Barbarie" in den fnfziger Jahren)? ImGegenteil, wir sind ganz und gar nicht davon berzeugt, da dieEntwicklung von Chaulieu/Castoriadis, insbesondere die Preisgabe desMarxismus, tatschlich eine radikale Vernderung seiner Auffassungen berdie Organisation implizierte. Die von ihm nach der Auflsung vonSocialisme ou Barbarie" geschriebenen Texte beweisen in der Tendenz dasGegenteil; sie werden am Schlu dieser Dokumentation erwhnt.Fr uns ist die zentrale Frage, die damals in den frhen fnfziger Jahren imZentrum der Debatte stand - und heute immer noch steht -, die der Existenzeiner revolutionren Partei" und ihrer eventuellen Beziehung zu den aus

    dem Kampf hervorgegangenen Basisorganisationen. In anderen Worten, dasVerhltnis zwischen Avantgarde" (mit dem mehr oder weniger selbstzuerkannten revolutionren Bewutsein) und der realen Kampfbewegungder Arbeiter sowohl in der alltglichen Ausbeutung als auch in denKonfrontationen mit dem System - die damals als revolutionr bezeichnetwurden.Wenn man nur die jngste Zeit betrachtet, so haben in verschiedenen LndernWesteuropas die Existenz- und Ausbeutungsbedingungen die Arbeitergezwungen, neue Kampfformen zu entwickeln. Doch diese neuenKampfformen konnten sich nicht weiterentwickeln (wie es mehrfach in der

    Geschichte erlebt wurde), denn sie stieen und stoen weiterhin nicht nurauf die Macht der legalen Institutionen (die dazu da sind, sie im Rahmen derkapitalistischen Ausbeutung zu halten), sondern auch auf die aus derVergangenheit ererbten Traditionen und Ideologien, die von diesenInstitutionen (Gewerkschaften, Parteien) transportiert werden. Gleichzeitigbesteht kaum ein Zweifel daran, da der grte Teil der Arbeiter in keinerWeise glaubt, da diese Parteien (Sozialisten, Kommunisten usw.) dieMacht der Bourgeoisie in Frage stellen; recht wenige glauben noch an dieMglichkeit, da die Politik oder die Politiker gegenber dem, was derKapitalismus in seiner Dynamik durchsetzt, ein Gewicht haben. Nichts

    erlaubt uns zu sagen, da eine solche Situation, wie unter gewissenUmstnden in der Vergangenheit geschehen, zur Schaffung von

  • 8/9/2019 Anton Pannekoek und Cornelius Castoriadis - Korrespondenz 1953-1954

    5/63

    aus: Archiv fr die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit (No. 18)

    Seite 5 von 63

    Kampforganisationen fhren kann, die von der ausgebeuteten Klassegegrndet werden, um ihre Interessen zu verteidigen und eventuell diekapitalistische Herrschaft zu beenden. Aber wenn der Kapitalismus sich inder Situation befinden wrde, da er in einer schweren konomischen undpolitischen, seine Existenz bedrohenden Krise vor sich hindmmert, wrdeeine auf die autonomen Akteure eines revolutionren Schubes zielendeRepressionswelle folgen, nicht so sehr von denen ausgehend, die wir alsTrger dieser Repression kennen, sondern von denen, die im Namen ihresrevolutionren Bewutseins" auf die eine oder andere Weise dieaufgeklrte" Fhrung dessen bernehmen wollen, was sie zuvor alszuknftige Gesellschaft konstruiert haben. Von diesem Gesichtspunkt auskann die Debatte als eine Kritik des Leninismus als Ideologie derIntellektuellen gesehen werden, vor allem im Hinblick auf alle Abspaltungenvon den kommunistischen Parteien oder den verschiedenen trotzkistischenGruppen, sowohl in ihrer reformistischen Version als auch jener, die auf derSuche nach dem sind, was sie fr die reine Lehre halten.Auf der Ebene der von den beiden Protagonisten der Debatteeingenommenen Positionen treten persnlichere Kritiken zutage. Auf gewisse Weise kritisieren sie sich jeweils durch den anderen. Auf der einenSeite Castoriadis, der wie ein Intellektueller funktioniert, der (trotz seinesBruchs mit dem Marxismus) noch nicht vollstndig mit der leninistischenAuffassung von der Revolution gebrochen hat (vor allem durch seine jngsten Behauptungen ber die Notwendigkeit der revolutionren

    Organisation) und sich durch sein Geschick auszeichnet, das zu umgehenund zu verbergen, was ihn bezglich seiner eigenen Positionen, seiner Rollein der Gruppe Socialisme ou Barba-rie" und der Funktion, die er dieserGruppe zuschreibt, strt. Auf der anderen Seite Pannekoek, der zur Zeitdieses Briefwechsels nicht mehr derjenige ist, der - auch wenn er sichbezglich seiner Auffassungen ber die Rolle der Partei weiterentwickelt hat-zahlreiche Schriften aus seiner Zeit in der Sozialdemokratie hinterlassen hat(wobei man sich auf einige davon durchaus noch berufen kann), in denen dieAvantgarde als ein Gruppierung mit erzieherischer Funktion verstanden wirdund in denen keine allzu groe Klarheit ber die Perspektiven einer

    Selbstverwaltung der Arbeiterrte besteht. Castoriadis kann mit Rechtbehaupten, da Kmpfe (Klassenkampf oder Auseinandersetzungenzwischen politischen Gruppen) innerhalb der Arbeiterrte fortleben knnen.Doch Pannekoek hat Recht mit seiner Antwort, da dieser Antagonismusnicht durch einen voluntaristischen Akt der Machtergreifung durch eineMinderheit gelst werden kann. Schlielich bleibt die Frage im Raum, und jeder kann darber nachdenken und diskutieren, was der heutigeKapitalismus und die in seinem Rahmen sich abspielenden Kmpfebedeuten.

  • 8/9/2019 Anton Pannekoek und Cornelius Castoriadis - Korrespondenz 1953-1954

    6/63

    aus: Archiv fr die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit (No. 18)

    Seite 6 von 63

    2. Die ersten KontakteAngesichts der schwierigen Anfange war es normal - die Spaltung einerpolitischen Gruppe war nie eine einfache Sache und manchmal sogarmhsam -, da Socialisme ou Barbarie"66 Kontakte zu anderen Gruppensuchte, die ihr politisch nahe erschienen: man hoffte, wenn nicht sich zuvergrern, dann wenigstens die Gelegenheit zu finden, in den Debatten dieeigenen Positionen zu behaupten oder zu verfeinern. Es ist nicht genaubekannt, was die Gruppe dazu brachte, in Kontakt zur hollndischenrtekommunistischen Spartacus"-Gruppe zu treten, und auch nicht, wie dieKontakte hergestellt wurden, aber es ist sicher, da ein Mitglied vonSocialisme ou Barbarie" einem Kongre der hollndischen Gruppebeiwohnte. Andere Kontakte sowohl persnlicher als auch politischer Artwurden geknpft, und im ersten Halbjahr 1953 kam Cajo Brendel, einMitglied von Spartacus", nach Paris, um die Kontakte zu festigen. Er nahmein Exemplar von jedem der bereits erschienenen Hefte der ZeitschriftSocialisme ou Barbarie" (sicherlich von 1 bis 11) mit dem Auftrag nachHolland mit, sie Anton Pannekoek, dem Theoretiker des Rtekommunismus,zu bergeben. Pannekoek war, obwohl er der Spartacus"-Gruppe sehr nahestand, zwar kein Mitglied, hatte aber engsten Kontakt zu mehreren ihrerMitglieder, darunter zu Cajo Brendel. Offensichtlich hoffte Socialisme ouBarbarie" durch ein solches Vorgehen direkte Kontakte zu Pannekoek zuknpfen.Cajo Brendel bergab Pannekoek tatschlich die Hefte von Socialisme ouBarbarie". Letzterer teilte in einem Brief vom 30. Oktober 1953 an CajoBrendel seine ersten Eindrcke mit (der Brief wurde von Cajo Brendel ausdem Hollndischen bersetzt):Die Nummern von .Socialisme ou Barbarie',die Sie mir aus Paris mitgebracht haben, haben mir sehr viel Freudebereitet. Ich habe darin eine Reihe ausgezeichneter Artikel gefunden. Mit

    6 Es gilt als sicher, da die Gruppe um Chaulieu-Montal bei ihrem Austritt aus der Parti CommunisteInternationaliste" (PCI) hoffte, einen Teil der Parteimitglieder mit sich zu ziehen, ja sogar

    Sympathisanten um sich zu scharen. Im Laufe der Jahre wurden individuelle Kontakte, besonders

    durch Vermittlung von Philippe Guillaume, und solche von Gruppe zu Gruppe fortgefhrt (s. dazu

    das Buch von Philippe Gottraux: Socialisme ou Barbarie. Un engagement poli-tique et intellectuel

    dans la France de l'apres-guerre, Lausanne 1997 [Neuauflage 2002]). Eine nicht zu vernachlssigende

    Anzahl derer, die zusammen mit der Gruppe ausgetreten waren, gab in den darauffolgenden Jahren

    jede politische Aktivitt auf. Parallel dazu zielten andere Kontakte darauf ab, ganze oder Teile von

    relativ nahestehenden Gruppen (Bordigisten, Mouvement international des auberges de jeunesse"

    [MIAJ, Internationale Jugendherbergsbewegung"], Parti socialiste unifie" [PSU]) um sich zu

    scharen. Die ffentlichen Versammlungen richteten sich speziell an diese Aktivisten in der Hoffnungauf weitergehende Diskussionen und Beitritte.

    Vor 1958 war der einzige betrchtliche Erfolg der

    Beitritt eines Gutteils der franzsischen bor-digistischen Sektion zu Socialisme ou Barbarie".

  • 8/9/2019 Anton Pannekoek und Cornelius Castoriadis - Korrespondenz 1953-1954

    7/63

    aus: Archiv fr die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit (No. 18)

    Seite 7 von 63

    groer Befriedigung habe ich klar gesehen, da sie nicht sehr weit vonunseren Positionen entfernt sind. Mir scheint, da sie im Laufe der letzten Jahre Schritt fr Schritt in unsere Richtung gegangen sind. Im ersten Artikelvon 1948 spricht Chaulieu noch von ,revolutionrer Partei'. Doch in denletzten Nummern der Zeitschrift besteht er mehr auf der ,Leitung der Produktion' durch die Arbeiter selbst. Er gebraucht zwar nicht den Begriff ,Arbeiterrte', sondern spricht von ,Sowjet-Organen ' und ich denke, da er mit diesen Worten dasselbe benennt. Aus einem Brief von Schonberg7 vor einigen Jahren wei ich, da es Diskussionen gab und da sich in vielenPunkten hnliche Auffassungen herausgebildet haben. Dennoch gibt es Divergenzen. Sie sind nicht vom bolschewistischen Virus befreit, den ihnenTrotzki eingeimpft hat. Dem Virus des Avantgardismus der revolutionrenPartei, die die Revolution machen mu. An diesem Punkt sind wir in Holland schon weiter, weil wir begriffen haben, da die Arbeiter im Kampf um die Macht autonom und ihre eigenen Herren sein und ihren eigenen Wegsuchen mssen. Wir denken auch, da die Fhrungsorgane in diesem Kampf von den Arbeitern geschaffen werden mssen und geschaffen werden, und da diese Organe die Arbeiterrte sein werden, mit eben dieser fhrendenFunktion und da sie gleichzeitig wachsen werden. Diese Meinung finde ich nirgends in ihren Publikationen. Vielleicht nochnicht. Sie denken, da die proletarische Revolution eine einzige und einmalige Aktion ist und dadanach [von Pannekoek unterstrichen, Anm. d.Hg.] die Arbeiter anfangen werden, eine kommunistische konomie

    aufzubauen. Ihnen zufolge verfugt nur die Partei ber das vlligeVerstndnis davon. Laut ihnen ist das die Aufgabe, auf die man sichvorbereiten und wofr man ernsthafte Plne machen und worber manernsthaft diskutieren soll... Knnen sie englisch oder deutsch lesen? Ich frage, weil ich mich besser auf Englisch als auf Franzsisch uern kann... "

    Pannekoeks erster Brief Im folgenden mssen wir der chronologischen Reihenfolge des damitbeginnenden Briefwechsels folgen. Wir haben es vorgezogen, die spter

    erschienenen Kommentare beiseite zu lassen, um nur diesen Briefwechsel7 Szajko Schnberg war, unter dem Pseudonym Laroche, durch seine Aktivitten in der Union

    Communiste" von Henri Chaze (Gaston Davoust) vor 1939 bekannt. Whrend des Krieges in die

    Illegalitt gezwungen, hatte er nach 1945 die Kontakte erneuert, die er vorher vor allem mit Henk

    Canne-Meijer geknpft hatte; er gehrte zu der von Marc Chirik gegrndeten Gruppe (Gauche

    Communiste de France") und bersetzte die erste Ausgabe von Pannekoeks Lenin als Philosoph" ins

    Franzsische. Aus Furcht vor einem neuen Krieg und einer russischen Intervention emigrierte er mit

    seiner Frau und seinem Sohn Anfang der fnfziger Jahre nach Peru. Seine Tochter Rina ist die

    Ehefrau von Daniel Saint-James; beide hielten die Kontakte zu den hollndischen Rtekommunisten

    aufrecht.

  • 8/9/2019 Anton Pannekoek und Cornelius Castoriadis - Korrespondenz 1953-1954

    8/63

    aus: Archiv fr die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit (No. 18)

    Seite 8 von 63

    und das, was in den Sitzungen von Socialisme ou Barbarie" oder denKommentaren in der Zeitschrift durchschimmerte, ins Gedchtnis zu rufen.Kurze Zeit nach diesem Brief an Cajo Brendel schreibt Pannekoek anSocialisme ou Barbarie", genauer gesagt an Chaulieu (Castoriadis). DieserBrief ist in Heft 14 der Zeitschrift verffentlicht und ihm ist folgendeEinleitung vorangestellt: Wir haben vom Genossen Anton Pannekoek den Brief erhalten, den wir hier mit der Antwort des Genossen Chaulieuverffentlichen. Es ist gewi berflssig, unsere Leser an die lange und fruchtbare Aktivitt A. Pannekoeks als Aktivist und Theoretiker zu erinnern,an seinen Kampf gegen den Opportunismus im Rahmen der II. Internationale bereits vor 1914, an die entschieden internationalistische Haltung, die die von ihm und Gorter ins Leben gerufene Gruppe von 1914-1918 einnahm, an seine Kritik des brokratischen Zentralismus, der ab1919-1920 in der bolschewistischen Partei aufgekommen war (die inFrankreich nur durch Lenins Antwort in ,Die Kinderkrankheit desKommunismus' bekannt ist; Gorters ,Antwort auf Lenin8 wurde ebenfalls auf Franzsisch verffentlicht). Wir hoffen, da wir in dieser Zeitschrift bald Auszge aus seinem Werk ,Les Conseils ouvriers' verffentlichen knnen,das nach dem Krieg auf Englisch verffentlich wurde. ,9

    8 Herman Gorter: Am einfachsten macht man sich mit diesem hollndischen Rtekommunisten (1864-1927), Weggefhrte von Pannekoek und in Frankreich durch seine Reponse Lenine sur ,1a maladie

    infantile du communisme, 1920" (Paris 1930) bekannt geworden, durch die Neuausgabe dieses

    Buches vertraut: Herman Gorter, Lettre ouverte au camarade Lenine. Reponse la brochure de Lenine

    Le gauchisme, maladie infantile du communisme". Pref. Anton Pannekoek. Intr. et Notes de Serge

    Bricianer, Paris 1979. (Eine deutsche Ausgabe erschien unter dem Titel: Offener Brief an den

    Genossen Lenin. Eine Antwort auf Lenins Broschre: Der Radikalismus eine Kinderkrankheit des

    Kommunismus", Berlin 1920; eine Neuauflage unter dem leicht vernderten Titel: Offener Brief an

    den Genossen Lenin. Eine Antwort auf Lenins Broschre Der linke Radikalismus - die

    Kinderkrankheit im Kommunismus". Einleitung: Die Rtebewegung und der Marxismus der 2.

    Internationale, Hamburg 1974, Ad). 9

    Pannekoeks Buch ber Arbeiterrte" erschien zuerst in einer hollndischen Ausgabe unter dem

    Pseudonym P. Aartsz" und unter dem Titel De Arbeidersraden" in zwei Teilen 1946 im Amsterdam

    (2. Aufl. mit einem Vorwort von B.A. Sijes, Amsterdam 1971); eine englische Ausgabe erschien

    zuerst 1948 als Beilage in der australischen Zeitschrift Southern Advocate for Workers' Councils"

    und unter dem Titel Workers' Concils" 1950 als Buch in Melbourne; ein faksimilierter Nachdruck

    dieser Ausgabe in vier Heften wurde von Echanges et Mouve-ment" in London (o.J.) vorgelegt; eine

    Neuauflage mit einem Vorwort von Robert F. Barsky erschien 2003 in Oakland, Cal./Edinburgh (AK

    Press). Eine franzsische Ausgabe erschien unter dem Titel Les Conseils ouvriers. Traduction,

    preface et notes de I.C.O." 1974 und - in zwei Bnden - 1982 in Paris (Belibaste bzw. Spartacus). Seit

    kurzem liegt auch eine deutsche Obersetzung vor: Arbeiterrte. Texte zur sozialen Revolution,

    Fernwald (Annerod) 2008.

  • 8/9/2019 Anton Pannekoek und Cornelius Castoriadis - Korrespondenz 1953-1954

    9/63

    aus: Archiv fr die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit (No. 18)

    Seite 9 von 63

    Es folgt der Text des Briefes vom 8. November 1953:10 Ich danke euch sehr fr die Folge der 11 Hefte von ,Socialisme ou Barbarie', die ihr dem Genossen B... fr mich gegeben habt. Ich habe sie(wenn auch noch nicht ganz) wegen der groen bereinstimmung der Ansichten zwischen uns mit uerstem Interesse gelesen. Ihr habt vielleicht dieselbe Feststellung getroffen, als ihr mein Buch ,Workers' Councils' gelesen habt. Mir schien es seit vielen Jahren, da die kleine Anzahl vonSozialisten, die diese Ideen entwickelten, sich nicht vergrert hat; das Buchwurde ignoriert und von der gesamten sozialistischen Presse mit Schweigenbergangen (auer jngst im .Socialist Leader' der ILP).11 Ich war also froh, als ich eine Gruppe kennenlernte, die ber einen eigenstndigen Weg zu denselben Ideen gekommen war. Die vollstndige Herrschaft der Arbeiter ber ihre Arbeit, die ihr folgendermaen ausdrckt: ,Die Produzentenorganisieren selbst die Leitung der Produktion ', habe ich in den Kapitelnber ,Die Betriebsorganisation' und ,Die gesellschaftliche Organisation' beschrieben. Die von Delegiertenversammlungen gebildeten Organe, die die Arbeiter zum Entscheiden bentigen, die ihr , Sowjet-Organe' nennt, sind dieselben wie diejenigen, die wir ,conseils ouvriers', ,Arbeiterrte',.Workers' Councils ' nennen. Natrlich gibt es Meinungsverschiedenheiten; ich werde mich damit befassen, wobei ich das als den Versuch eines Beitrags zur Diskussion ineurer Zeitschrift betrachte. Whrend ihr die Aktivitt dieser Organe auf dieOrganisation der Arbeit in den Fabriken nach der bernahme der

    gesellschaftlichen Macht durch die Arbeiter beschrnkt, sind wir der 10 Der hier wiedergegebene Text ist derjenige, der zuerst in Socialisme ou Barbarie" 14/April-Juni

    1954, S. 39-43 verffentlicht und in allen spteren Publikationen nachgedruckt wurde. 11 Wilfred Wigham, Companions Instead of Masters and Men, in: Socialist Leader 13/29. Mrz 1952

    (Vol. XLIV), S. 6 und 9; Jim Graham, Scientific: Without Illusions, in: ebd., S. 7 und 9. Beide

    Beitrge erschienen unter der gemeinsamen berschrift ,Js this an Epoch-Making Book for

    Socialists? ,Workers' Councils' by Anton Pannekoek, Melbourne 1950" und mit einem kurzen

    redaktionellen Beitrag The Author". Die Independent Labour Party" (ILP) war eine der Gruppen,

    die vor 1914 an der Grndung der Labour Party" beteiligt waren, und sollte auf deren linkem Flgel

    bleiben. Diese Gruppe hatte whrend des Krieges von 1914 groen Einflu auf die schottische

    Bewegung der shop-stewards", die in gewisser Hinsicht der Bewegung der Arbeiterrte hnelt. Die

    ILP wurde zwischen beiden Weltkriegen, whrend die Labour Party" Regierungspartei wurde, durch

    die Konkurrenz der englischen Kommunistischen Partei marginali-siert. Es ist also kein Zufall, da

    das Organ der ILP, der Socialist Leader", sich fr Pannekoeks Werk ber die Arbeiterrte

    interessierte. Zur aktivsten Zeit dieser Partei s.: Alan MacKin-ley/R.J. Morris (ed.), The ILP on

    Clydeside, 1893-1932. From foundation to desintegration, Manchester 1991. Die ILP verffentlichte

    einen Auszug aus Pannekoeks Workers' Councils" als Broschre: Anton Pannekoek, The way to

    workers' control. A reprint of chapter 6, section II of WORKERS' COUNCILS. Published by The

    Independent Labour Party by arrangement with the author, London o.J. (ca. 1953).

  • 8/9/2019 Anton Pannekoek und Cornelius Castoriadis - Korrespondenz 1953-1954

    10/63

    aus: Archiv fr die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit (No. 18)

    Seite 10 von 63

    Meinung, da sie auch die Organe sein mssen, durch die die Arbeiter diese Macht erobern werden. Um die Macht zu erobern, knnen wir mit einer .revolutionren Partei', die die Fhrung der proletarischen Revolutionbernimmt, nichts anfangen. Diese .revolutionre Partei' ist eintrotzkistisches Konzept, das (seit 1930) unter den zahlreichen Ex-Anhngernder KP12 Anklang fand, die von deren Praxis enttuscht waren. UnsereOpposition und unsere Kritik gingen bereits auf die ersten Jahre der russischen Revolution zurck und wandten sich gegen Lenin, hervorgerufendurch seine Wendung hin zum politischen Opportunismus. So bleiben wir jenseits der Wege des Trotzkismus; wir waren nie von ihm beeinflut. Wir betrachteten Trotzki als den fhigsten Wortfhrer des Bolschewismus, der Lenins Nachfolger htte werden sollen. Doch nachdem wir in Ruland einenStaatskapitalismus entstehen sahen, richtete sich unsere Aufmerksamkeit hauptschlich auf die westliche Welt des Grokapitals, wo die Arbeiter denam weitest entwickelten Kapitalismus in einen wirklichen Kommunismus (imwrtlichen Sinne) umgestalten mssen. Trotzki sammelte durch seinenrevolutionren Eifer alle Dissidenten, die der Stalinismus aus der KPgeworfen hatte, und machte sie, indem er ihnen den bolschewistischen Viruseinimpfte, so gut wie unfhig, die neuen groen Aufgaben der proletarischen Revolution zu begreifen.Weil die russische Revolution und ihre Ideen noch einen solch mchtigenEinflu auf die Kpfe haben, ist es notwendig, ihren Grundcharakter nochtiefer zu durchdringen. Es handelte sich, in knappen Worten, um die letzte

    brgerliche Revolution, die aber das Werk der Arbeiterklasse war. Einebrgerliche Revolution13 bedeutet eine Revolution, die den Feudalismus zerstrt und der Industrialisierung den Weg ebnet, mit all den damit verbundenen sozialen Konsequenzen. Die russische Revolution liegt also auf der Linie der englischen Revolution von 1647 und der Franzsischen Revolution von 1789 mit ihren Fortsetzungen von 1830, 1848 und 1871. Im Laufe all dieser Revolutionen bildeten die Handwerker, Bauern und Arbeiter die notwendige massive Macht, um das alte Regime zu zerstren; danachtraten die Komitees und Parteien der Politiker, die die reichen Schichtenreprsentierten, welche die zuknftige herrschende Klasse bildeten, in den

    Vordergrund und bemchtigten sich der Regierungsgewalt. Das war der natrliche Ausgang, da die Arbeiterklasse noch nicht reif dafr war, sich

    12 KP - Kommunistische Partei. Pannekoeks berlegung bezieht sich nicht nur auf die hollndischeKommunistische Partei, sondern auf alle von Moskau und der III. Internationale abhngigen

    kommunistischen Parteien. 13 Die folgende Anmerkung ist im ursprnglichen, in Socialisme ou Barbarie" verffentlichten Text

    enthalten: Eine .Revolution der Mittelschichten' (middle-class revolution) im englischen Sinn von

    .Mittelschicht', d.h. der Bourgeoisie." Diese ungenaue bersetzung wird eine Richtigstellung

    Pannekoeks in seiner Antwort vom 15. Juni 1954 nach sich ziehen, die in der vorliegenden

    Dokumentation zitiert ist (S. 40).

  • 8/9/2019 Anton Pannekoek und Cornelius Castoriadis - Korrespondenz 1953-1954

    11/63

    aus: Archiv fr die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit (No. 18)

    Seite 11 von 63

    selbst zu regieren; die neue Gesellschaft war wieder eineKlassengesellschaft, in der die Arbeiter ausgebeutet wurden; eine solcheherrschende Klasse braucht eine Regierung, die aus einer Minderheit von Beamten und Politikern besteht. Die jngere russische Revolution schieneine proletarische Revolution zu sein, da die Arbeiter durch ihre Streiks und ihre Massenaktionen deren Urheber waren. Dann jedoch gelang es der bolschewistischen Partei nach und nach, sich die Macht anzueignen (die Arbeiterklasse war eine kleine Minderheit unter der buerlichen Bevlkerung); so wurde der brgerliche Charakter (im weiten Sinne) der russischen Revolution vorherrschend und nahm die Form desStaatskapitalismus an. Danach wurde die russische Revolution, was ihrenideologischen und geistigen Einflu in der Welt betrifft, das genaueGegenteil der proletarischen Revolution, welche die Arbeiter befreien und sie zu Herren des Produktionsapparats machen soll. Fr uns besteht die glorreiche Tradition der russischen Revolution darin,da sie in ihren ersten Explosionen von 1905 und 1917 zum ersten Mal dieOrganisationsform ihrer autonomen revolutionren Aktion, die Sowjets,entwickelt und den Arbeitern auf der ganzen Welt gezeigt hat. Aus dieser Erfahrung, die spter auf kleinerer Ebene in Deutschland besttigt wurde,haben wir unsere Ideen ber die Formen der Massenaktion geschpft, dieder Arbeiterklasse eigen sind und die sie fr ihre eigene Befreiung einsetzenmu. Genau entgegengesetzt sehen wir die Traditionen, die Ideen und die

    Methoden, die aus der russischen Revolution hervorgingen, nachdem die KPdie Macht ergriffen hatte. Diese Ideen, die einer korrekten proletarischen Aktion einzig als Hindernis dienen, bildeten das Wesen und die Grundlagevon Trotzkis Propaganda. Unsere Schlufolgerung ist die, da dieOrganisationsformen der autonomen Macht, die in den Begriffen ,Sowjets' oder ,Arbeiterrte' ihren Ausdruck finden, sowohl der Eroberung der Macht als auch der Leitung der produktiven Arbeit nach dieser Eroberung dienensollen. Erstens, weil die Macht der Arbeiter ber die Gesellschaft nicht anders erlangt werden kann, zum Beispiel durch das, was man einerevolutionre Partei nennt. Zweitens, weil diese Sowjets, die spter fr die

    Produktion ntig sind, sich nur durch den Klassenkampf zwecks Eroberungder Macht herausbilden knnen. Es scheint mir, da in diesem Konzept der ,Kern des Widerspruchs' des Problems der ,revolutionren Fhrung' verschwindet. Denn die Quelle der Widersprche ist die Unmglichkeit, die Macht und die Freiheit einer Klasse, die ihr eigenes Schicksal bestimmt, mit der Forderung zu harmonisieren, einer Fhrung zu gehorchen, die von einer kleinen Gruppe oder Partei gebildet wird. Knnen wir denn eine solcheForderung aufrechterhalten? Sie widerspricht geradezu dem meist zitiertenGedanken von Marx, da die Befreiung der Arbeiter nur das Werk der Arbeiter sein kann. Zudem kann die proletarische Revolution nicht mit einer

    einmaligen Rebellion oder einem militrischen Feldzug verglichen werden,der von einer zentralen Kommandozentrale geleitet wird; auch nicht mit

  • 8/9/2019 Anton Pannekoek und Cornelius Castoriadis - Korrespondenz 1953-1954

    12/63

    aus: Archiv fr die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit (No. 18)

    Seite 12 von 63

    einer der groen Franzsischen Revolution vergleichbaren Kampfperiode,die selbst nur eine Episode im Aufstieg der Bourgeoisie zur Macht war. Die proletarische Revolution ist viel breiter und tiefgehender; in ihr erlangen dieVolksmassen das Bewutsein ihrer Existenz und ihres Charakters. Sie wird keine einmalige Erhebung sein; sie wird den Inhalt einer ganzen Periode inder Geschichte der Menschheit bilden, in der die Arbeiterklasse ihre eigenenFhigkeiten und ihre Mglichkeiten sowie ihre eigenen Ziele und Kampfmethoden entdecken und verwirklichen mu. Ich habe mich bemht,einige Aspekte dieser Revolution im Kapitel ,Die Arbeiterrevolution ' meines Buches ,Arbeiterrte' auszuarbeiten. Sicherlich liefert all dies nur einabstraktes Schema, das man dazu benutzen kann, um die verschiedenenagierenden Krfte und ihre Beziehungen zueinander anzufhren. Nun mgt ihr euch fragen: wozu dient also, im Rahmen dieser Position, einePartei oder eine Gruppe und was sind ihre Aufgaben? Wir knnen sicher sein, da unsere Gruppe nie dazu kommen wird, die Arbeitermassen in ihrer revolutionren Aktion zu kommandieren; neben uns gibt es ein halbes Dutzend und mehr Gruppen oder Parteien, die sich als revolutionr bezeichnen, sich in ihrem Programm und in ihren Ideen aber vlligvoneinander unterscheiden und verglichen mit der groen sozialistischenPartei nur Liliputaner sind. Im Rahmen der Diskussion in Heft 10 eurer Zeitschrift wurde zu Recht betont, da unsere Aufgabe in erster Linie einetheoretische ist: durch Studium und Diskussion den besten Aktionsweg fr die Arbeiterklasse zu finden und aufzuzeigen14. Die darauf beruhende

    Bildung darf jedoch nicht nur fr die Mitglieder der Gruppe oder der Parteivorgesehen sein, sondern fr die Massen der Arbeiterklasse. Sie sind es, diein ihren Fabrikversammlungen und Rten ber die beste Vorgehensweiseentscheiden werden mssen. Aber damit sie sich fiir die bestmgliche Art und Weise entscheiden, mssen sie durch wohlberlegte Hinweise aufgeklrt sein, die aus mglichst vielen Richtungen kommen. Deshalb wird eineGruppe, die proklamiert, da die autonome Aktion der Arbeiterklasse diehauptschliche Kraft der sozialistischen Revolution ist, der Meinung sein,da ihre vordringliche Aufgabe die ist, zu den Arbeitern zu sprechen; zum Beispiel durch einfache Flugbltter, die Klarheit in die Ideen der Arbeiter

    bringen, indem sie die wichtigen Vernderungen in der Gesellschaft und die Notwendigkeit einer Fhrung der Arbeiter durch sich selbst sowohl in allihren Aktionen als auch in der zuknftigen produktiven Arbeit erklren. Hier habt ihr einige der berlegungen, die durch die Lektre der hochinteressanten Diskussionen in eurer Zeitschrift angeregt wurden.

    14 Pannekoek bezieht sich hier auf folgende Beitrge: Pierre Chaulieu, La direction proletarienne, in:Socialisme ou Barbarie 10/Juli-August 1952, S. 10-18 (wieder abgedruckt in: Cornelius Castoriadis,

    L'experience du mouvement ouvrier 1. Comment lutter, Paris 1974, S. 145-161) und Claude Montal

    (Claude Lefort), Le Proletariat et le probleme de la direction revolution-naire, in: ebd., S. 18-27

    (Ad).

  • 8/9/2019 Anton Pannekoek und Cornelius Castoriadis - Korrespondenz 1953-1954

    13/63

    aus: Archiv fr die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit (No. 18)

    Seite 13 von 63

    Zudem mu ich sagen, wie zufrieden ich ber die Artikel ber den ,amerikanischen Arbeiter' war, die einen Groteil des rtselhaften Problemsdieser Arbeiterklasse ohne Sozialismus klren;15 und ber den lehrreichen Artikel ber die Arbeiterklasse in Ostdeutschland.16 Ich hoffe, eure Gruppehat die Mglichkeit, noch weitere Nummern eurer Zeitschrift zuverffentlichen. Entschuldigt, da ich den Brief auf Englisch geschrieben habe; ich habeSchwierigkeiten, mich zufriedenstellend auf Franzsisch zu uern."

    3. Castoriadis' erste Antwort auf Pannekoek Socialisme ou Barbarie" antwortete Pannekoek mit folgendem undatiertenund von Chaulieu (Castoriadis) gezeichneten Brief:17 ,Jhr Brief hat bei allen Genossen der Gruppe groe Befriedigung ausgelst; Befriedigung darber, da unsere Arbeit von einem geehrten Genossen wie Ihnen geschtzt wird, einem, der sein ganzes Leben dem Proletariat und demSozialismus gewidmet hat; Befriedigung darber, da unser Gedanke einer grundlegenden bereinstimmung zwischen Ihnen und uns ber diewichtigsten Punkte besttigt wird; schlielich Befriedigung darber, mit Ihnen diskutieren und unsere Zeitschrift mit dieser Diskussion bereichern zuknnen. Bevor ich die beiden Punkte diskutiere, denen Ihr Brief gewidmet ist (dasWesen der russischen Revolution, die Konzeption und die Rolle der Partei)mchte ich die Punkte betonen, auf denen unsere bereinstimmung beruht: Autonomie der Arbeiterklasse sowohl im Hinblick auf den Weg als auch das Ziel ihrer historischen Aktion, die vollstndige Macht des Proletariats auf konomischer wie auf politischer Ebene als einziger konkreter Inhalt desSozialismus. Ich mchte brigens diesbezglich ein Miverstndnis klren.Es stimmt nicht, da wir ,die Aktivitt dieser Organe (Sowjets) auf dieOrganisation der Arbeit in den Fabriken nach der bernahme der Macht'

    15 In den Heften 1 (Mrz/April 1949) - 8 (Januar/Februar 1951) von Socialisme ou Barbarie" erschieneine bersetzung der 1947 in New York von Paul Romano (Pseudonym von Phil Singer) und Ria

    Stone (Pseudonym von Grace C. Lee) verffentlichten Broschre The American Wor-ker", die einen

    Bericht ber seine Erfahrungen als Fabrikarbeiter bei General Motors von Ro mano (Life in the

    Factory") und einen diesen interpretierenden theoretischen Text von Lee (The Reconstruction of

    Society") enthielt (Ad). 16 Hugo Bell (Benno Sternberg), Le Stalinisme en Allemagne Oriental, in: Socialisme ou Barbarie

    7/August-September 1950, S. 1-45; 8/Januar-Februar 1951, S. 31-49 (Ad). 17

    Wir haben hier den in Socialisme ou Barbarie" 14/April-Juni 1954, S. 44-50 abgedruckten und in

    allen weiteren Publikationen nachgedruckten Brief bernommen.

  • 8/9/2019 Anton Pannekoek und Cornelius Castoriadis - Korrespondenz 1953-1954

    14/63

  • 8/9/2019 Anton Pannekoek und Cornelius Castoriadis - Korrespondenz 1953-1954

    15/63

    aus: Archiv fr die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit (No. 18)

    Seite 15 von 63

    Proletariat feindlichen Klassen vertreten, wie die Reformisten und dieStalinisten. Selbst wenn sie sich nicht in ihrer aktuellen Form dort einfinden,wird man sie in einer anderen vorfinden, dessen knnen Sie sicher sein. Aller Wahrscheinlichkeit nach haben sie von Anfang an eine vorherrschendePosition. Und die ganze Erfahrung der letzten zwanzig Jahre - desSpanischen Brgerkriegs, der Okkupation und auch jeder beliebigenheutigen Gewerkschaftsversammlung - lehrt uns, da Aktivisten, die unsere Meinung teilen, sich in diesen Organen das Rederecht richtiggehend erkmpfen mssen. Die Verstrkung des Klassenkampfes whrend der revolutionren Phasewird unweigerlich die Form der Verstrkung des Kampfes zwischen denverschiedenen Fraktionen in den Organen der Massen annehmen. Unter diesen Bedingungen zu sagen, eine revolutionre Avantgarde-Organisationwerde sich darauf beschrnken, die Rte mit ,wohlberlegte(n) Hinweise(n)' aufzuklren, ist das, so glaube ich, was man im Englischen ein ,Understatement' 19 nennt. Wenn die Rte der revolutionren Periode sichschlielich als diese Versammlungen von Weisen herausstellen, bei denenniemand die notwendige Ruhe fr eine ausgewogene Reflexion strt, werdenwir die Ersten sein, die sich darber freuen; wir sind uns nmlich sicher,da unsere Meinung vorherrschen wrde, wenn die Dinge so verliefen. Doch nur in diesem Falle knnte die ,Partei oder Gruppe' sich auf die Aufgabe beschrnken, die Sie ihnen zuordnen. Und dieser Fall ist der beiweitem unwahrscheinlichste. Die Arbeiterklasse, die diese Rte bilden wird,

    wird nicht anders sein als die, die heute existiert; sie wird einen riesigenSchritt voran gemacht haben, doch, um einen berhmten Ausspruch zu zitieren, sie wird auf der Stirn noch die Zeichen der Situation tragen, aus der sie kommt. Sie wird an der Oberflche von zutiefst feindlichen Einflssenbeherrscht sein, denen sich anfangs nur ihr noch konfuser revolutionrer Wille und eine minoritre Avantgarde entgegenstellt. Diese mu mit allen Mitteln, die mit unserem Grundgedanken der Autonomie der Arbeiterklassevereinbar sind, ihren Einflu auf die Rte vergrern und vertiefen und die Mehrheit fr ihr Programm gewinnen. Sie mu vielleicht schon vorher handeln; was soll sie tun, wenn sie, die 45% der Rte vertritt, erfhrt, da

    irgendeine neostali-nistische Partei sich darauf vorbereitet, amdarauffolgenden Tag die Macht zu ergreifen? Mu sie es sich nicht zur Aufgabe machen, sich ihr unmittelbar zu bemchtigen? Ich denke nicht, daSie mit all dem nicht bereinstimmen; ich glaube, da Sie mit Ihrer Kritik insbesondere auf den Gedanken der ,revolutionren Fhrung' abzielen. Ichhabe dennoch zu erklren versucht, da die Partei nicht die Fhrung der Klasse sein kann, weder vor noch nach der Revolution: weder vorher, weildie Klasse ihr nicht folgt und sie hchstens nur eine Minderheit anfhren

    19

    Anmerkung in Socialisme ou Barbarie": 'Understatement', ein Ausdruck, der sich allzu groer

    Migung schuldig macht".

  • 8/9/2019 Anton Pannekoek und Cornelius Castoriadis - Korrespondenz 1953-1954

    16/63

    aus: Archiv fr die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit (No. 18)

    Seite 16 von 63

    kann (und auerdem ,anfhren' in einem sehr relativen Sinne: sie mit ihren Ideen und ihrer exemplarischen Aktion beeinflussen); noch danach, denn die proletarische Macht kann nicht die Macht der Partei sein, sondern die Macht der Klasse in ihren autonomen Massenorganen. Der einzige Moment,in dem sich die Partei einer Rolle wirklicher Fhrung annhern kann, alseine Gruppierung, die die Aufgabe hat, ihren Willen selbst gewaltsamdurchzusetzen, kann eine bestimmte Phase der revolutionren Periode sein,die unmittelbar ihrer Auflsung vorangeht; es kann sein, da wichtige praktische Entscheidungen auerhalb der Rte gefllt werden mssen, wenndie Vertreter von wirklich konterrevolutionren Organisationen sich dort beteiligen, und die Partei kann unter dem Druck der Umstnde mit einer entscheidenden Aktion eingreifen, selbst wenn sie nicht die Mehrheit der Klasse hinter sich hat. Die Tatsache, da die Partei dabei nicht alsbrokratisches Organ agiert, das darauf abzielt, der Klasse ihren Willenaufzudrngen, sondern als historischer Ausdruck der Klasse selbst, hngt von einer Reihe von Faktoren ab, ber die man schon heute zwar abstrakt diskutieren kann, deren konkrete Bewertung aber erst dann erfolgen kann:welcher Teil der Klasse ist mit dem Programm der Partei einverstanden, wieist der ideologische Zustand der brigen Klasse, wie sieht es aus mit demKampf gegen die konterrevolutionren Tendenzen in den Rten, welchessind die weiteren Perspektiven usw. Heute schon eine Reihe vonVerhaltensregeln fr die verschiedenen Flle aufzustellen, wre sicherlichkindisch; wir knnen sicher sein, da die einzigen Flle, die eintreten

    werden, die nicht vorhergesehenen sind. Manche Genossen sagen: diese Perspektive zu entwerfen bedeutet, einer mglichen Entartung der Partei im brokratischen Sinne die Tr zu ffnen. Die Antwort lautet: sie nicht zu entwerfen, bedeutet schon heute, die Niederlage der Revolution oder die brokratische Degeneration der Rtehinzunehmen, und dies nicht mehr als Mglichkeit, sondern als Gewiheit. Letztendlich erscheint mir der Verzicht auf das Handeln, aus Angst zum Brokraten zu werden, genauso absurd wie der Verzicht auf das Denken,aus Angst sich zu irren. So wie die einzige , Garantie' gegen den Irrtum inder Ausbung des Denkens besteht, besteht die einzige ,Garantie' gegen die

    Brokratisie-rung in einer permanenten Aktion im antibrokratischen Sinne,im Kampf gegen die Brokratie und im praktischen Beweis, das eine nicht-brokratische Avantgardeorganisation mglich ist und da sie nicht-brokratische Beziehungen zur Klasse unterhalten kann. Denn die Brokratie entsteht nicht aus falschen theoretischen Auffassungen, sondernaus eigenen Notwendigkeiten der Arbeiteraktion in einer gewissen Etappe,und in der Aktion geht es darum zu zeigen, da das Proletariat auf die Brokratie verzichten kann. Letztlich vergit man, wenn man sich vor allemvon der Angst vor Brokratisierung leiten lt, da unter den heutigen Bedingungen eine Organisation nur dann einen beachtenswerten Einflu bei

    den Massen erreichen kann, wenn sie ihre antibrokratischen Bestrebungenuert und verwirklicht; es bedeutet zu vergessen, da eine

  • 8/9/2019 Anton Pannekoek und Cornelius Castoriadis - Korrespondenz 1953-1954

    17/63

    aus: Archiv fr die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit (No. 18)

    Seite 17 von 63

    Avantgardegruppe nur dann zu einer wirklichen Existenz gelangen kann,wenn sie sich stndig an diesen Bestrebungen der Massen orientiert; esbedeutet zu vergessen, da es keinen Platz mehr fr das Auftauchen einer neuen brokratischen Organisation gibt. Das permanente Scheiterntrotzkistischer Versuche, schlicht und einfach wieder eine ,bolschewistische' Organisation zu grnden, findet hier seine tiefste Ursache. Zum Abschlu dieser wenigen berlegungen denke ich auch nicht, da mansagen knnte, in der aktuellen Periode (und bis zur Revolution) sei die Aufgabe einer Avantgardegruppe eine ,theoretische' Aufgabe. Ich glaube,diese Aufgabe ist auch und vor allem eine Aufgabe des Kampfes und der Organisation. Denn der Klassenkampf ist permanent, mit Hhen und Tiefen,und das ideologische Heranreifen der Arbeiterklasse geschieht durch diesenKampf. Nun sind aber das Proletariat und seine Kmpfe derzeit vonbrokratischen Organisationen (Gewerkschaften und Parteien) beherrscht,was zum Ergebnis hat, da die Kmpfe unmglich gemacht, von ihremKlassenziel abgelenkt oder in die Niederlage gefhrt werden. Eine Avantgardeorganisation kann diesem Schauspiel nicht gleichgltiggegenberstehen und sich auch nicht darauf beschrnken, wie die Eule der Minerva bei Einbruch der Nacht aufzutauchen und aus ihrem SchnabelFlugbltter fallen zu lassen, die den Arbeitern die Grnde ihrer Niederlageerklren. Sie mu fhig sein, in diese Kmpfe einzugreifen, den Einflu der brokratischen Organisationen zu bekmpfen und den Arbeitern Handlungs-und Organisationsanweisungen anzubieten; sie mu manchmal sogar fhig

    sein, sie ihnen aufzuzwingen. Fnfzehn entschlossene avantgardistische Arbeiter gengen in manchen Fllen, um eine Fabrik mit 5000 Arbeitern inden Streik zu fhren, wenn sie bereit sind, einige stalinistische Brokraten zustrzen - was weder theoretisch und nicht einmal demokratisch ist, da diese Brokraten stets mit einer komfortablen Mehrheit von den Arbeitern selbst gewhlt worden sind. Bevor ich diese Antwort beende, mchte ich noch einige Worte ber unsere zweite Divergenz verlieren, die auf den ersten Blick nur theoretischer Art ist: die ber das Wesen der russischen Revolution. Wir denken, da dieCharakterisierung der russischen Revolution als brgerliche Revolution den

    Tatsachen, den Ideen und der Sprache Gewalt antut. Da es in der russischen Revolution mehrere Elemente einer brgerlichen Revolution gab- insbesondere die , Verwirklichung der brgerlich-demokratischen Aufgaben' -, wurde stets zugegeben, und Lenin und Trotzki haben dies, langevor der Revolution selbst, zur Grundlage ihrer Strategie und Taktik gemacht. Aber diese Aufgaben konnten in der gegebenen Etappe der historischen Entwicklung und angesichts der Konstellation der gesellschaftlichen Krfte in Ruland nur von der Arbeiterklasse angegangenwerden, die sich gleichzeitig nur essentiell sozialistische Aufgaben stellenkonnte.

    Sie sagen: die Beteiligung der Arbeiter gengt nicht. Natrlich, sobald einKampf zum Massenkampf wird, sind die Arbeiter dabei, denn sie sind die

  • 8/9/2019 Anton Pannekoek und Cornelius Castoriadis - Korrespondenz 1953-1954

    18/63

    aus: Archiv fr die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit (No. 18)

    Seite 18 von 63

    Massen. Doch das ist nicht das Kriterium; es geht darum, ob die Arbeiter alsreine und einfache Infanterie der Bourgeoisie dabei sind oder ob sie fr ihreeigenen Ziele kmpfen. In einer Revolution, in der die Arbeiter fr ,Freiheit,Gleichheit, Brderlichkeit' kmpfen - was auch immer die Bedeutung ist, diesie diesen Parolen subjektiv geben - sind sie die Infanterie der Bourgeoisie.Wenn sie fr ,Alle Macht den Sowjets' kmpfen, dann kmpfen sie fr denSozialismus. Was aus der russischen Revolution eine proletarische Revolution macht, ist, da das Proletariat dort als dominierende Kraft mit eigener Fahne, eigenem Gesicht, eigenen Forderungen, eigenenKampfmitteln und seinen eigenen Organisationsformen aufgetreten ist; eshat nicht nur Massenorgane gebildet, die sich die ganze Macht aneignenwollten, sondern es ist selbst zur Enteignung der Kapitalisten geschrittenund hat begonnen, die Fabriken in Arbeiterverwaltung zu nehmen. All dasmacht die russische Revolution auf immer zur proletarischen Revolution,unabhngig davon, was ihr weiteres Schicksal gewesen sein mag - ebensowie weder ihre Schwchen noch ihre Konfusion und auch nicht ihreletztendliche Niederlage etwas daran ndern, da die Pariser Kommuneeine proletarische Revolution gewesen ist. Diese Divergenz mag auf den ersten Blick theoretischer Art sein: Ich denkeaber, da sie in dem Mae praktische Bedeutung hat, wie sie eineunterschiedliche Methodologie bezglich eines der wichtigsten aktuellenProbleme par excellence zeigt: dem Problem der Brokratie. Die Tatsache,da die Degeneration der russischen Revolution nicht zu einer Restauration

    der Bourgeoisie gefhrt hat, sondern zur Grndung einer neuen Ausbeuterschicht, der Brokratie; da das Regime, das Trger dieser Schicht ist, trotz seiner tiefreichenden Identitt mit dem Kapitalismus (als Herrschaft der toten Arbeit ber die lebendige Arbeit) von ihm in einer ganzen Reihe von Aspekten abweicht, die man nicht vernachlssigen kann,ohne sich dem geringsten Verstndnis zu verweigern; da dieselbe Schicht seit 1945 dabei ist, ihre Herrschaft ber die Welt auszuweiten; da sie inden Lndern Westeuropas durch tief in der Arbeiterklasse verwurzelteParteien reprsentiert wird - all das veranlat uns zu denken, da diePosition, die russische Revolution sei eine brgerliche Revolution gewesen,

    bedeutet, freiwillig gegenber den wichtigsten Zgen der heutigenWeltsituation die Augen zu verschlieen. Ich hoffe, da diese Diskussion fortgesetzt und vertieft werden kann, und ich glaube, es ist nicht ntig zuwiederholen, da wir mit Freude alles in ,Socialisme ou Barbarie' aufnehmen werden, was Sie uns schicken mchten."

    4. Pannekoeks zweiter Brief anSocialisme ou Barbarie"Nach diesem ersten Austausch schienen sich, trotz der bereits auftauchendenDivergenzen, endgltig fruchtbare Beziehungen anknpfen zu lassen. Von

  • 8/9/2019 Anton Pannekoek und Cornelius Castoriadis - Korrespondenz 1953-1954

    19/63

    aus: Archiv fr die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit (No. 18)

    Seite 19 von 63

    daher ist es verstndlich, wenn Pannekoek am 15. Juni 1954 mit einem Brief antwortete, der wie der erste nominell an Chaulieu gerichtet ist:20 ,Sehr erfreut habe ich festgestellt, da ihr in eurer Zeitschrift ,Socialisme ou Barbarie ' eine mit kritischen Bemerkungen versehene bersetzung meines Briefes verffentlicht habt, um eure Leser an einer Diskussion ber grundlegende Fragen teilnehmen zu lassen. Da ihr den Wunsch geuert habt, die Diskussion fortzusetzen, schicke ich euch einige Anmerkungen zueurer Antwort. Natrlich bleiben Meinungsverschiedenheiten, die in der Diskussion klarer hervortreten knnen. Solche Divergenzen sind normalerweise das Ergebnis einer unterschiedlichen Einschtzung der alsam wichtigsten eingeschtzten Punkte, was wiederum im Zusammenhang mit unseren praktischen Erfahrungen oder dem Umfeld steht, in dem wir unsbefinden. Fr mich war es die Untersuchung der politischen Streiks in Belgien (1893), in Ruland (1905 und 1917) und in Deutschland (1918/1919), eine Untersuchung, mit deren Hilfe ich versuchte zu einemklaren Verstndnis des grundlegenden Charakters solcher Aktionen zugelangen. Eure Gruppe lebt und arbeitet im Kontext einer Klassenagitationunter Arbeitern einer industriellen Grostadt; deshalb konzentriert sich eure Aufmerksamkeit vllig auf ein praktisches Problem: wie knnen sichwirksame Kampfmethoden jenseits des ineffizienten Kampfes der heutigenParteien und partiellen Streiks entwickeln? Natrlich behaupte ich nicht,da sich die revolutionren Aktionen der Arbeiterklasse alle in einer Atmosphre friedlicher Diskussion abspielen. Was ich behaupte ist da das

    Ergebnis des oft gewaltttigen Kampfs nicht von zuflligen Umstandenbestimmt wird, sondern von dem, was im Denken der Arbeiter als Grundlageeines in der Erfahrung, der Untersuchung oder ihren Diskussionenerworbenen festen Bewutseins lebendig ist. Wenn das Personal einer Fabrik beschlieen soll, einen Streik zu beginnen oder nicht, dann wird diese Entscheidung nicht dadurch getroffen, da man mit der Faust auf denTisch haut, sondern normalerweise durch Diskussionen. Sie stellen dasProblem auf gnzlich praktische Art: was wrde die Partei tun, wenn sie45% der Rtemitglieder hinter sich htte und erwartete, da eine anderePartei (NeoStalinisten, die sich bemhen, die Herrschaft zu bernehmen)

    versuchte, gewaltsam die Macht zu ergreifen? Eure Antwort ist: man muihr zuvorkommen, indem man tut, was sie zu tun droht. Was wre dasdefinitive Ergebnis einer solchen Aktion? Seht euch an, was in Ruland geschehen ist. Dort gab es eine Partei mit guten revolutionren Prinzipien,die vom Marxismus beeinflut war, und die zudem die Untersttzung der

    20 Dieser Text wurde zum ersten Mal in Heft 8 (Mai 1971) der Cahiers du Communisme de Con-seils"verffentlicht. Diese Publikation wurde nach zwlf Nummern (Oktober 1968 - November 1972)

    eingestellt, nachdem sich ihr Grnder Robert Camoin 1972 der Gruppierung um Revolution

    Internationale" angeschlossen hatte, die spter zur Grndung des Courant Communiste International"

    (CCI) fhrte.

  • 8/9/2019 Anton Pannekoek und Cornelius Castoriadis - Korrespondenz 1953-1954

    20/63

    aus: Archiv fr die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit (No. 18)

    Seite 20 von 63

    bereits von den Arbeitern gegrndeten Rte hatte; dennoch war siegezwungen, die Macht zu ergreifen und das Ergebnis war der totalitreStalinismus (wenn ich sage: ,sie war gezwungen', so heit dies, da dieUmstnde noch nicht reif fr eine wirkliche proletarische Revolution waren. In der westlichen Welt, wo der Kapitalismus weiter entwickelt ist, sind dieUmstnde sicherlich reifer; deren Ma wird von der Entwicklung desKlassenkampfs vorgegeben). Also mu die Frage gestellt werden: kann der Kampf der Partei, so wie ihr ihn vorschlagt, die proletarische Revolutionretten? Mir scheint, dies wre eher ein Schritt hin zu einer neuenUnterdrckung. Sicherlich wird es immer Schwierigkeiten geben. Wenn dieSituation in Frankreich oder in der Welt einen massenhaften Kampf der Arbeiter erforderte, wrden die kommunistischen Parteien sofort versuchen,die Aktion in eine pro-russische Demonstration im Rahmen der Partei zuverwandeln. Wir mssen einen energischen Kampf gegen diese Parteien fhren. Aber wir knnen sie nicht schlagen, indem wir ihre Methodenbernehmen. Das ist nur mglich, wenn wir unsere eigenen Methoden praktizieren. Die wirkliche Aktionsform einer kmpfenden Klasse ist dieKraft der Argumente, die auf dem grundlegenden Prinzip der Autonomie der Entscheidungen beruht! Die Arbeiter knnen eine Unterdrckung durch diekommunistische Partei nur durch die Entwicklung und Strkung ihrer eigenen Klassenmacht verhindern; das heit durch ihren eigenen einhelligenWillen, die Produktionsmittel unter ihre Kontrolle zu nehmen und sie zuverwalten.

    Die Hauptbedingung fr die Eroberung der Freiheit fr die Arbeiterklasseist, da die Vorstellung einer Selbstregierung und einer Selbstverwaltungdes Produktionsapparates im Massenbewutsein verwurzelt ist. Das stimmt in gewissem Mae mit dem berein, was Jean Jaures in seiner ,HistoireSocialiste de la Revolution Francaise' ber die Konstituante geschriebenhat: Diese Versammlung, die sich erst seit kurzem mit politischen Angelegenheiten beschftigte, verstand es, kaum da sie sich gebildet hatte,alle Manver des Hofes zu durchkreuzen. Warum? Weil sie ber einigegroe und abstrakte Ideen verfgte, die lange und ernsthaft herangereift

    waren und ihr eine klare Sicht der Lage verliehen. "21

    Sicherlich sind die beiden Flle nicht identisch. Anstelle der groen politischen Ideen der Franzsischen Revolution geht es hier um groesoziale Ideen der Arbeiter, das heit: die Verwaltung der Produktion durcheine organisierte Kooperation. Anstelle von 500 Deputierten voller abstrakter Gedanken, die durch das Studium erworben wurden, werden die Arbeiter Millionen sein, die von der Erfahrung eines ganzen Lebens der Ausbeutung in einer produktiven Arbeit geleitet sind. Deshalb sehe ich die

    21

    Jean Jaures, La Constituante (1789-1791) (= Histoire Socialiste [1789-1900]. Sous la direction de

    Jean Jaures, Tome 1), Paris o.J. (1901), S. 754.

  • 8/9/2019 Anton Pannekoek und Cornelius Castoriadis - Korrespondenz 1953-1954

    21/63

    aus: Archiv fr die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit (No. 18)

    Seite 21 von 63

    Dinge folgendermaen: Die edelste und ntzlichste Aufgabe einer revolutionren Partei ist es, durchihre Propaganda in tausend kleinen Zeitungen, Broschren usw. das Wissender Massen im Proze eines immer klarer und breiter werdenden Bewutseins zu bereichern. Nun einige Worte ber den Charakter der russischen Revolution. Die bersetzung des englischen Wortes , middleclass revolution' mit, brgerlicher Revolution' drckt nicht genau dessen Bedeutung aus. Als in England die sogenannten Mittelschichten die Macht ergriffen, setzten sie sich zum groen Teil aus kleinen Kapitalisten oder Geschftsleuten zusammen, die Eigentmer des industriellenProduktionsapparats waren. Der Kampf der Massen war notwendig, um die Aristokratie von der Macht zu vertreiben; doch trotz dieser Tatsache war die Masse noch nicht fhig, sich selbst des Produktionsapparats zubemchtigen; die geistige, moralische und organisatorische Fhigkeit dafr konnten die Arbeiter erst durch den Klassenkampf in einem gengend entwickelten Kapitalismus erlangen. In Ruland gab es keine hnlichbedeutende Bourgeoisie; die Folge davon war, da aus der Avantgarde der Revolution eine neue ,Mittelschicht' als fhrende Klasse der produktiven Arbeit entstehen sollte, die den Produktionsapparat leitete, jedoch nicht alseine Reihe von einzelnen Eigentmern, von denen jeder einen bestimmtenTeil dieses Produktionsapparats besitzt, sondern als kollektiver Eigentmer des Produktionsapparats in seiner Gesamtheit. Allgemein knnen wir sagen:Wenn die werkttigen Massen (denn sie sind das Produkt der

    vorkapitalistischen Bedingungen) noch nicht fhig sind, die Produktion inihre eigenen Hnde zu nehmen, wird das unweigerlich zur Folge haben, daeine neue fhrende Klasse zum Herren der Produktion wird. Diesebereinstimmung brachte mich dazu zu sagen, da die russische Revolution(in ihrem wesentlichen und dauerhaften Charakter) eine brgerliche Revolution war. Sicherlich war die massenhafte Macht des Proletariatsnotwendig, um die Macht des alten Systems zu zerstren (und das war ein Lehrstck fr die Arbeiter der ganzen Welt). Aber eine soziale Revolutionkann nicht mehr erreichen, als das, was dem Charakter der revolutionrenKlassen entspricht, und auch wenn der grtmgliche Radikalismus ntig

    war, um allen Widerstand zu besiegen, so mute man spter in alte Zustnde zurckfallen. Das scheint bis zum heutigen Tag eine allgemeine Regel aller Revolutionen zu sein: bis 1793 wurde die Franzsische Revolution immer radikaler, bis zu dem Punkt, an dem die Bauern definitiv die freien Herrenihres Bodens und die auslndischen Armeen zurckgeworfen wurden; indiesem Moment wurden die Jakobiner massakriert und der Kapitalismushielt als neuer Herr seinen Einzug. Wenn man die Dinge auf diese Weisebetrachtet, so war der Ablauf der russischen Revolution der gleiche wie inden vorangegangenen Revolutionen, die alle die Macht besiegten, inEngland, in Frankreich, in Deutschland. Die russische Revolution war

    keineswegs eine verfrhte proletarische Revolution. Die proletarische Revolution gehrt der Zukunft an. Ich hoffe sehr, da diese Erklrung, auch

  • 8/9/2019 Anton Pannekoek und Cornelius Castoriadis - Korrespondenz 1953-1954

    22/63

    aus: Archiv fr die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit (No. 18)

    Seite 22 von 63

    wenn sie keine neuen Argumente enthalten mag, dazu dienen kann, einige Divergenzen in unseren Ansichten zu klren."

    5. Ein schwer zu erklrendesSchweigen?Dieser zweite Brief Pannekoeks vom 15. Juni 1954 wurde bis zur Auflsungder Gruppe im Jahre 1967 nie in Socialisme ou Barbarie" verffentlicht.Die Frage, die man sich stellen kann, ist: Warum? Und dies umso mehr, als,wie wir spter sehen werden, in Heft 18 von Socialisme ou Barbarie"(Januar-Mrz 1956) ein Brief des hollndischen Genossen Theo Maassenvon der Spartacus"-Gruppe erschien (der vollstndige Text dieses Briefs istauf S. 51 ff. abgedruckt).Dennoch findet sich noch eine Erwhnungen des Kontakts mit Pannekoek,doch merkwrdigerweise vllig beilufig, in Heft 15/16 von Socialisme ouBarbarie" (Oktober-Dezember 1954), in einer kleiner Anmerkung mit demTitel 'Socialisme ou Barbarie' a l'etranger":22 Wir dachten, da es die Leser von ,Socialisme ou Barbarie' interessierenwird, ber das Echo, das die Zeitschrift in den revolutionren Kreisenanderer Lnder erweckt, und ber Kommentare oder bersetzungen unserer Texte in auslndischen Zeitungen oder Zeitschriften informiert zu werden.Wir tun das nicht, um uns mit Lobpreisungen durch andere Personen zuschmcken - wir glauben, da die auslndischen Genossen uns nur helfenknnen, indem sie uns kritisieren, wobei sie uns zur Zeit kaum kritisieren -,sondern wegen der politischen Bedeutung, die die Wiederaufnahme vonKontakten zwischen Gruppen und Publikationen der Avantgarde und dieideologische bereinstimmung haben, die sich zwischen ihnen abzuzeichnenbeginnt. ,Socialisme ou Barbarie' erscheint nun seit fast sechs Jahren. Indieser Zeit gab es kaum ein, um nicht zu sagen, gar kein Echo auf unsere Bemhung, weder in Frankreich noch im Ausland. Wir wuten, da es nicht anders sein konnte und da wir weitermachen und abwarten muten. Wir wuten, da anderswo Genossen eine untergrndige Anstrengung machten,

    die eines Tages an die Oberflche kommen wrde, da andere eineideologische Entwicklung durchliefen, die sie zwangslufig unserenPositionen nherbringen wrde. Das geschieht jetzt und besttigt unsere Meinung ber die Macht der revolutionren Ideen und die unweigerlicheWiedergeburt der internationalen proletarischen Bewegung. Sicherlich geht es nicht darum, triumphalistisch zu werden. Der Tag, an demeine weltweite revolutionre Organisation entstehen kann, ist noch sehr weit entfernt. Doch es ist wichtig festzustellen, da eine bedeutende Etappe zur

    22

    Socialisme ou Barbarie" l'etranger, in: Socialisme ou Barbarie 15-16/Oktober-Dezember 1954, S.

    82-83 (Ad).

  • 8/9/2019 Anton Pannekoek und Cornelius Castoriadis - Korrespondenz 1953-1954

    23/63

    aus: Archiv fr die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit (No. 18)

    Seite 23 von 63

    Zeit berwunden ist und sich dessen vollkommen bewut zu sein, denndaraus folgt nicht nur eine Besttigung unserer revolutionren Perspektive,sondern es ergeben sich auch und vor allem neue ideologische und praktische Aufgaben. Die in den Vereinigten Staaten erscheinende Arbeiterzeitschrift ,Correspondence23 (ber die wir in der Heften 13 [S. 82J und 14 [S. 74dieser Zeitschrift] 24 gesprochen haben), verffentlicht in ihrer Nr. 21 (10. Juli 1954) eine Anmerkung ber ,Socialisme ou Barbarie', in der sieinsbesondere auf den Beitrag unserer Zeitschrift zur ,Schaffung einer Brcke zwischen der europischen und der amerikanischen Arbeiterklasse' hinweist,wobei sie die Verffentlichung der bersetzung von ,Der amerikanische Arbeiter' in den Heften 1 bis 8 erwhnt, der eine Einleitung25 vorangestellt war, die ,zeigt, wie sehr der bersetzer den spezifisch amerikanischen Aspekt sowie die universelle Bedeutung dieses Textes verstanden hat'. Die hollndische ,Spartacus '-Gruppe, ber die wir unsere Leser in einer der nchsten Nummern informieren mchten (und die den Positionen AntonPannekoeks nahe steht), verffentlicht, nachdem sie bereits eine Anmerkungber unsere Zeitschrift und unsere Positionen publiziert hatte, in ihrer Zeitschrift ,Spartacus' eine bersetzung des Textes ,La greve chez Renault' und in ihrer theoretischen Zeitschrift eine bersetzung von ,La bureaucratiesyndicale et les ouvriers' aus Heft 13 von .Socialisme ou Barbarie '.26 In Italien druckt die Zeitschrift , Prometeo', die von den Genossen der ,Partito Comu-nista Internazionalista' (,Internationalistische

    Kommunistische Partei') in Zusammenarbeit mit anderen linken Gruppenherausgegeben wird,27 in ihrer Mrznummer eine bersetzung weiter Teile

    23 Correspondence": Die Johnson-Forest-Tendency", die vom amerikanischen Trotzkismus herkam,schien groen Einflu auf Castoriadis und die Gruppe um Chaulieu-Montal in der Parti Communiste

    Internationaliste" (PCI) gehabt zu haben. Die Gruppe gab seit Oktober 1953 Cor-respondence"

    heraus und erlebte spter mehrere Spaltungen. Die bersetzung der im Kontext der Johnson-Forest-

    Tendency" 1947 in New York von Paul Romano (Pseudonym von Phil Singer) und Ria Stone

    (Pseudonym von Grace C. Lee) verffentlichten Broschre The American Worker" war in den

    Heften 1 (Mrz/April 1949) - 8 (Januar/Februar 1951) von Socialisme ou Barbarie" erschienen. 24 nos lecteures, in: Socialisme ou Barbarie 13/Januar-Februar 1954, S. 82; R.M., Intellectuels et

    ouvrier. Un article de Correspondence, in: Socialisme ou Barbarie 14/April-Juni 1954, S. 74-79

    (Ad). 25 Ph. Guillaume, L'ouvrier americain par Paul Romano, in: Socialisme ou Barbarie 1/Mrz-April 1949,

    S. 78 (Ad). 26 Daniel Mothe, La greve chez Renault, in: Socialisme ou Barbarie 13/Januar-Februar 1954, S. 34-46;

    Daniel Mothe, La bureaucratie syndicale et les ouvriers, in: ebd., S. 54-59 (Ad). 27 Ein langer Artikel von Alberto Vega in der Nr. 11/November-Dezember 1952 (S. 26-47) von

    Socialisme ou Barbarie", La crise du bordiguisme italien", enthlt eine komplette Analyse der

    damaligen Situation der sich auf den Bordigismus berufenden Tendenz. Prometeo" war das

  • 8/9/2019 Anton Pannekoek und Cornelius Castoriadis - Korrespondenz 1953-1954

    24/63

    aus: Archiv fr die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit (No. 18)

    Seite 24 von 63

    des Editoriais ,Socialisme ou Barbarie' aus unserem Heft 1 ab28 Andererseits hat die Zeitung ,L 'Impulso', das Organ der , Gruppi Anarchicidi Azione Proletaria', (,Anarchistischen Gruppen proletarischer Aktion',GAAP, Ad), in Italien einen Kommentar zu unserem Heft 14 verffentlicht. Die GAAP vertreten in Italien die neue Tendenz, die sich seit einigen Jahrenin der alten anarchistischen Bewegung durchgesetzt und schlielich mit dentraditionellen Auffassungen und Gruppen gebrochen hat. Genau wie die ,Federation communiste li-bertaire' in Frankreich haben sie eineinternationalistische und revolutionre Position; ihr Programm deslibertren Kommunismus ,sttzt sich auf eine materialistische Analyse der Gesellschaftsverhltnisse und der Entwicklung der modernen Welt'.brigens arbeiten sie mit der oben erwhnten Zeitschrift ,Prometeo' zusammen. ,L 'Impulso' (Jg. VI, Nr. 6, 15. Juni 1954) schreibt: ,Die franzsische Zeitschrift ,Socialisme ou Barbarie', deren Positionen als Arbeiterlinke denen von ,Prometeo' hneln, hat gerade eine uerst reichhaltige Ausgabe verffentlicht. Ein langer Text von Pierre Chaulieu ber die ,Situation des Imperialismusund die Perspektiven des Proletariats' zeichnet den Rahmen der imperialistischen Entwicklung in den letzten fnfzig Jahren nach und analysiert dabei besonders den Zweiten Weltkrieg und die jngste Nachkriegszeit. Die gemeinsamen Zge des amerikanischen und russischen Imperialismus sowie ihre strukturellen Unterschiede, die Tendenzen der beiden antagonistischen Blcke zum Krieg, die Aufgaben der revolutionren

    Avantgarde werden beeindruckend in einer kompletten und berzeugenden Analyse dargestellt. Daniel Mothe verffentlicht einen interessanten Artikel ber die Phase des Niedergangs der Gewerkschaften (,Das Problem der Gewerkschaftseinheit').Unwiderlegbar vom theoretischem Standpunkt aus (der von den GAAP auf ihrer ersten nationalen Konferenz bernommen wurde), ist er auf taktischemGebiet diskutierenswert. Die Diskussion zwischen Anton Pannekoek, demwohlbekannten Fhrer der hollndischen ,Tribunisten' im Ersten Weltkrieg,Weggefhrte von Herman Gorter und ernsthafter Gegner der Kommunistischen Internationale, nachdem er einer ihrer Grnder gewesen

    war, und Pierre Chaulieu, einem der Redakteure der Zeitschrift, ist vongroer Bedeutung, was die Erarbeitung der revolutionren Theorie betrifft. Man mu einverstanden sein mit der entschiedenen und brillanten Kritik vonletzterem an Pannekoek, dessen Positionen gegenber der KI historischgerechtfertigt sind oder vielmehr waren, die sich aber heute als ebensoberholt erweisen wie die Thesen, auf die sie eine gesunde Reaktion waren. Schlielich gibt es ein lebendiges polemisches Portrt von Wilhelm Pieck 29

    theoretische Organ der italienischen Partito Comunista Internazionalista". 28

    (Editorial) Socialisme ou Barbarie, in: Socialisme ou Barbarie 1/Mrz-April 1949, S. 7-46 (Ad).

    29 Heft 14 von Socialisme ou Barbarie" enthlt tatschlich eine Biographie von Wilhelm Pieck.

  • 8/9/2019 Anton Pannekoek und Cornelius Castoriadis - Korrespondenz 1953-1954

    25/63

    aus: Archiv fr die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit (No. 18)

    Seite 25 von 63

    eine bersetzung aus , Correspondence', der Zeitschrift der amerikanischen Arbeiterlinken, und Dokumente aus ,La Vie ouvriere'.30 Die Abschweifung lohnt zur Kenntnis genommen zu werden: Nachdem imVorwort zur Publikation der ersten beiden Briefe ,die lange und fruchtbare Aktivitt A. Pannekoeks als Aktivist und Theoretiker'' gelobt wurde, verweistein Zitat aus einer italienischen Zeitschrift besagten Pannekoek mit seinenhistorisch gerechtfertigten", aber ,heute berholten" Thesen in das Dunkelder Geschichte, wobei dieentschiedene und brillante Kritik?' betont wird,die Chaulieu an Pannekoek in einer Diskussion gebt hat, dievon groer Bedeutung(ist), was die Erarbeitung der revolutionren Theorie betrifft". Man htte denken knnen, da, da Socialisme ou Barbarie" es fr ntighielt, mit einem solchen lobenden Zitat aus einer italienischen Zeitung einenStandpunkt zu diesem Thema zu beziehen, die franzsische Gruppe auch diediesbezgliche ,groe Bedeutung der Diskussion"in Betracht gezogen unddie Diskussion mit der Verffentlichung von Pannekoeks zweitem Brief fortgesetzt htte, und dies um so mehr, als sie ansonsten betonte, dieBeziehungen zur hollndischen rtekommunistischen Spartacus"-Gruppefortsetzen zu wollen. Daraus wurde nichts, doch das Problem, nicht nurdieser Korrespondenz, sondern vor allem der darin angeschnittenen Fragen,konnte nicht so leicht vertuscht werden und mute theoretisch und praktischwieder auftauchen.

    6. Noch einmal zur Frage derPartei (1. Episode)Encore sur la question du parti" war der Titel eines Artikels der Rubrik

    Ursprnglich aus der radikalen Linken der deutschen Sozialdemokratie vor 1914 hervorgegan genund dann Kriegsgegner, wird er zum treuen Parteimann, kann dem Nationalsozialismus entkommenund verfolgt in Moskau eine Karriere als Apparatschik, um schlielich von 1949 bis zu seinem Tod1960 zum ersten Prsidenten der DDR zu werden.

    Bei den genannten Beitrgen handelt es sich um folgende Texte: Pierre Chaulieu, Situation de

    l'imperialisme et perspectives du Proletariat, in: Socialisme ou Barbarie 14/April-Juni 1954, S. 1-26;

    Daniel Mothe, Le probleme de l'unite syndicale, in: ebd., S. 27-37; Anton Pannekoek, Lettre a

    Chaulieu, in: ebd., S. 39-43; Pierre Chaulieu, Reponse au camarade Pannekoek, in: ebd., S. 44-50;

    Hugo Bell, Wilhelm Piek, ou la carriere d'un grand bureaucrate, in: ebd., S. 62-65; D. Faber, La greve

    des postiers des bureaux-gares, in: ebd., S. 66-74; R. M.: Intellectuels et ouvriers: Un article de

    Correspondfejnce (traduit de l'americain), in: ebd., S. 74-79 (Ad). 30 Eine Anmerkung im Artikel von Socialisme ou Barbarie" verweist auf die Artikel von Alberto Vega:

    La crise du bordiguisme italien", in: Socialisme ou Barbarie 11/November-Dezember 1952, S. 26-

    47, und Les theses du P.C.I. dTtalie (traduit de Thalien par A. Vega)", in: Socialisme ou Barbarie

    12/August-September 1953, S. 89-96.

  • 8/9/2019 Anton Pannekoek und Cornelius Castoriadis - Korrespondenz 1953-1954

    26/63

    aus: Archiv fr die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit (No. 18)

    Seite 26 von 63

    Discussions" in Heft 18 (Januar-Mrz 1956) von Socialisme ouBarbarie".31 Bevor wir den Text dieses Artikels wiedergeben, sollte versuchtwerden, vorher anhand der heute noch zugnglichen Dokumente ber dieseZeit das geheimnisvolle Schicksal der Korrespondenz Chaulieu - Pannekoekzu durchdringen. Einerseits handelt es sich um schwache und selektiveErinnerungen weniger noch lebender Aktivisten aus dieser Zeit; andererseitshandelt es sich um glaubhaftere Dokumente, die aber manchmal wegen ihrerDichte schwer zu interpretieren sind: die Protokolle der vierzehntgigenSitzungen der Gruppe Socialisme ou Barbarie", die leider erst ab dem 22.Juli 1954 angefertigt worden sind, um das Informationsbedrfnis derGenossen aus der Provinz und das der Abwesenden zu stillen.Das Protokoll vom 22. Juli 1954 erwhnt genau unser Thema. Bei dieserVersammlung wird ber den Inhalt von Heft 15 der Zeitschrift und ber diePublikation von Pannekoeks Antwort auf Chaulieu diskutiert. Einhollndischer Genosse von Sparta-cus" (Theo Maassen) ist anwesend undgibt nhere Erluterungen zu Pannekoeks letztem Brief, der, wie dasProtokoll vermerkt,in der nchsten Nummer der Zeitschrift verffentlicht wird. Da Theo Maassen sich nur schlecht auf Franzsisch uern kann,wird er .Socialisme ou Barbarie' schreiben, um seine Kommentare zuerlutern". Der Text dieses Briefes von Theo Maassen kam tatschlichspter an und folgt daher bei uns in der chronologischen Reihenfolge (S. 51ff), denn er wurde erst Anfang 1956 in der Zeitschrift verffentlicht.Nach dieser Vorgeschichte und nach der Lektre von Socialisme ou

    Barbarie" knnte man denken, da es dabei geblieben und dies das Ende desBriefwechsels zwischen Chaulieu (Socialisme ou Barbarie") undPannekoek gewesen wre. Wie wir spter sehen werden, sollte mehr als zehnJahre spter, nach der Verffentlichung von Pannekoeks zweitem Brief -zum ersten Mal in Frankreich und nach der Auflsung von Socialisme ouBarbarie" -, eine Polemik ausbrechen. Und diese Verffentlichung sollteanllich der Publikation seiner gesammelten Werke in der Reihe 10/18"unter dem grosprecherischen Aufmacher Socialisme ou Barbarie" eineReaktion von Chaulieu/Castoriadis nach sich ziehen.32Wir werden noch auf

    31 Theo Maassen, Encore sur la question du parti, in: Socialisme ou Barbarie 18 (Januar-Mrz 1956), S.95-99.

    32 In der Reihe 10/18" sind insgesamt acht Bnde mit Schriften von Castoriadis unter dem SignumSocialisme ou Barbarie" erschienen: La societe bureaucratique 1. Les rapports de pro-duction en

    Russie, Paris 1973; La societe bureaucratique 2. La revolution contre la bureaucratie, Paris 1973;

    L'experience du mouvement ouvrier 1. Comment lutter, Paris 1974; L'experience du mouvement

    ouvrier 2. Proletariat et Organisation, Paris 1974; Capitalisme moderne et Revolution 1.

    L'imperialisme et la guerre; Paris 1979; Capitalisme moderne et Revolution 2. Le mouvement

    revolutionnaire sous le capitalisme moderne, Paris 1979 ; Le contenu du socialisme, Paris 1979; La

    societe francaise, Paris 1979 (Ad)

  • 8/9/2019 Anton Pannekoek und Cornelius Castoriadis - Korrespondenz 1953-1954

    27/63

    aus: Archiv fr die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit (No. 18)

    Seite 27 von 63

    diese Polemik zurckkommen, doch zunchst wollen wir zum Briefwechselzurckkehren. Bis vor kurzem fand sich keine Spur einer weiterenKorrespondenz nach Pannekoeks zweitem Brief vom Juni 1954, der bis nach1968 verheimlicht blieb. Und selbst die Verffentlichung dieses Briefes inden Cahiers du Communisme de Conseils" im Jahre 1971 lieferte keineAnhaltspunkte - und konnte keine liefern -, die es erlaubt htten, eineErklrung fr unsere Frage zu finden: Warum wurde diese Korrespondenzso pltzlich unterbrochen?Der Lauf der Dinge ist manchmal von Zufllen geprgt, und es sindtatschlich Zuflle, die es erlaubten, die plausibelste Antwort zu liefern.Einerseits das unerwartete Auffinden smtlicher Protokolle der Sitzungenvon Socialisme ou Barbarie" bei italienischen Genossen, andererseits dieEntdeckung einer Fortsetzung der bis dahin bekannten Korrespondenz imNachla Pannekoeks im Instituut voor Sociale Geschie-denis" inAmsterdam durch einen kanadischen Genossen, der die Verffentlichung derKorrespondenz Chaulieu - Pannekoek auf Englisch beabsichtigte. Manchmalfinden sich Spuren dieser unbekannten Briefe in den Protokollen derGruppensitzungen, was nicht nur einen Beweis der Existenz dieser Briefeliefert, sondern auch zeigt, da sie in den Sitzungen erwhnt wurden. DerGesamtzusammenhang erlaubt vor allem, den Proze zu verfolgen, der darinmndete, eine Diskussion auf Eis zu legen, die doch von der Zeitschriftselbst als von groer Bedeutung, was die Erarbeitung der revolutionrenTheorie betrifft"betrachtet wurde.

    Pannekoek schreibt am 10. August 1954 noch einmal an Chaulieu undschlgt vor allem einen kritischen Artikel zu einem Text von MaximilienRubel ber die marxistische Ethik vor. Leider wurde weder der Text nochder Entwurf dieses letzten Briefes wiedergefunden, aber seine Existenz istbekannt, sowohl durch Chaulieus Antwort vom 22. August 1954 als auchdurch das Protokoll der Gruppensitzung vom 2. September desselben Jahres,in der Chaulieu diese Antwort vorliest, dessen vollstndiger Text hier folgt:Entschuldigen Sie, da ich mit etwas Versptung auf Ihren Brief vom 15. Juni antworte; ich war auerhalb von Paris und wollte Ihnen erst antworten, nachdem ich mit den Genossen unserer Gruppe darber

    diskutiert hatte. Inzwischen habe ich auch Ihren Brief vom 10. August mit der Skizze ber die marxistische ,Ethik', ber die wir diskutiert haben,erhalten. Was Ihren Brief vom 15. Juni betrifft, so haben wir einstimmig beschlossen,ihn im nchsten Heft 33 von , Socialisme ou Barbarie' zu verffentlichen. Er

    33 Dieses nchste Heft von Socialisme ou Barbarie" sollte die Nr. 15-16 (Oktober-Dezember 1954)sein, genauer gesagt, diejenige, die Pannekoek in das Dunkel der Geschickte verweisen und den

    berhmten zweiten Brief Pannekoeks nicht enthalten sollte. Man kann nur das wir haben einstimmig

    beschlossen" aus der Sitzung vom 22. Juli bewundern, das am 22. August noch gltig ist und vierzehn

    Tage spter annulliert wird, brigens im Namen anderer Versprechungen, die ebenfalls nicht gehalten

  • 8/9/2019 Anton Pannekoek und Cornelius Castoriadis - Korrespondenz 1953-1954

    28/63

    aus: Archiv fr die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit (No. 18)

    Seite 28 von 63

    knnte sicherlich helfen, unseren Lesern Ihren Standpunkt sowohl ber dieFrage der Partei als auch ber den Charakter der russischen Revolutionverstndlicher zu machen. Was mich betrifft, so glaube ich nicht, da ichdem, was ich in Heft 14 geschrieben habe, noch etwas Wichtigeshinzuzufgen habe. Nur Ihnen gegenber mchte ich noch bemerken, daich niemals gedacht habe, da wir die KP .schlagen knnen, indem wir ihre Methoden bernehmen', und da ich immer gesagt habe, da die Arbeiterklasse - oder ihre Avantgarde - eine neue Organisationsweisebraucht, die den Notwendigkeiten des Kampfes gegen die Brokratieentspricht, nicht nur gegen die uere und existierende Brokratie (die der KP), sondern auch gegen die potentielle innere Brokratie. Ich sage: Die Arbeiterklasse braucht vor der Bildung von Rten eine Organisation - Sieantworten mir: Sie braucht keine Organisation des stalinistischen Typs. Wir sind einer Meinung, aber Ihre These verlangt, da Sie beweisen, da eineOrganisation stalinistischen Typus die einzig realisierbare ist. Ich denkebrigens, da wir auf dieser Diskussionsebene nicht weiterkommen: Ichhabe die Absicht, die Frage mit dem in Heft 14 von .Socialisme ou Barbarie' verffentlichten Text Jntellectuels et ouvriers' wiederaufzugreifen, und ichhoffe, in Heft 16 einen Artikel dazu verffentlichen zu knnen.34 Ich wage zuglauben, da wir dann unsere Diskussion auf fruchtbarere Weise wieder aufnehmen knnen. Was Ihren Artikel gegen Rubel betrifft, so denken wir, da es sehr schwierigist, die Kritik eines Buches zu verffentlichen, das noch nicht erschienen ist.

    Rubels Dissertation existiert nmlich nur maschinengeschrieben,35

    dieffentlichkeit (uns eingeschlossen) kennt sie nur nach der Zusammenfassungvon, wenn ich mich nicht irre, Jean Lacroix in ,Le Monde', der nur bei der Diskussion am Tag der mndlichen Disputation der Dissertation anwesend war und sie wahrscheinlich nicht gelesen hat; auf alle Flle halte ich es fr schwierig, ein Buch auf der Basis der Zusammenfassung in einer Zeitung zukritisieren. Es stimmt, da Rubel seine Konzeption, die nicht neu ist, wie siesehr zutreffend sagen, bereits in seiner .Einleitung' zu den ,Pages choisies' von Marx dargelegt hat;36 da er sich aber die Mhe macht, ber diese Frage

    werden. 34 Gemeint ist der Artikel: R. M., Intellectuels et ouvriers: Un article de Correspondence (traduit de

    l'americain), in: Socialisme ou Barbarie 14 (April-Juni 1954), S. 74-79. 35 Maximilien Rubels Dissertation erschien 1957 unter dem Titel Karl Marx, essai de biographie

    intellectuelle" in Paris in der Edition Marcel Riviere, eine Neuauflage in Paris bei Payot 1971. 36 Karl Marx, Pages choisies pour une ethique socialiste. Textes reunis, trad. et annot., pref. d'une

    introduction a l'ethique marxienne par Maximilien Rubel, Paris 1948 (eine im Titel leicht vernderte

    zweibndige Ausgabe - Pages de Karl Marx pour une ethique socialiste - erschien 1970 in Paris).

    Pannekoek war mit Rubels Interpretation des Marxismus tatschlich absolut nicht einverstanden.

    Einen ersten Eindruck von Rubels Positionen findet man in dem Werk Avec Maximilien Rubel...

  • 8/9/2019 Anton Pannekoek und Cornelius Castoriadis - Korrespondenz 1953-1954

    29/63

    aus: Archiv fr die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit (No. 18)

    Seite 29 von 63

    ein Buch zu schreiben, werden die Leute richtigerweise denken, da wir htten warten knnen, um die Entwicklung seiner Position und deren Argumentation zu bercksichtigen. Denn momentan sind wir fast im Begriff,uns um eine Vokabel zu streiten. Wir bitten Sie also, die Publikation von Rubels Buch abzuwarten: gleich nach dessen Erscheinen werden wir Ihnenein Exemplar schicken, und vielleicht werden Sie feststellen, da an Ihrem Artikel absolut nichts zu ndern ist - doch wir mchten die Regeln der literarischen Korrektheit befolgen. P.S.: Infolge eines Miverstndnisses glauben Sie, da sich in diebersetzung Ihres Briefs ein Fehler eingeschlichen hat. Der Ausdruck (S.40, Zeile 13 in Heft 14) ,nous n'avons que faire d'un parti revolutionaire' ist ein Gallizismus, der bedeutet ,wir haben keine revolutionre Partei ntig,wir brauchen keine revolutionre Partei' - diese bersetzung ist sehr nahean Ihrem englischen ,we have no usefor' 37 . Zu diesem Brief knnen zweiDinge angemerkt werden, die damals offenbar die Positionen von Chaulieuund der Gruppe Socialisme ou Barbarie" widerspiegelten: einerseits einbetontes Einvernehmen hinsichtlich der Verffentlichung von Pannekoekszweitem Brief (was die Angaben in dem zu Anfang dieses Kapitelserwhnten Protokoll der Sitzung vom 22. Juli 1954 besttigt); andererseitsder Ansatz eines Dialogs ber die Frage der Organisation und, anllich desArtikels zu Rubel, sogar etwas, das man als den Beginn einerZusammenarbeit zwischen Pannekoek und Socialisme ou barbarie"betrachten knnte.

    Pannekoek scheint das wohl in diesem Sinne zu verstehen, denn er antwortetfast unmittelbar, am 3. September 1954, auf Chaulieus Brief vom 22.August; hier ist der Wortlaut:Danke .fr Ihren Brief vom 22. August. Erlauben Sie mir, die Reihenfolgeder Themen umzukehren und zuerst den Artikel gegen Rubel zu behandeln. Ich habe seine ,Pages choisies' einst gelesen,38 aber ohne ihnen viel Aufmerksamkeit gewidmet zu haben, obwohl er in unsere Korrespondenz oft ethische Behauptungen einbrachte und ich ihm versuchte zu erklren, was Marxismus wirklich bedeutet. Doch wenn ich heute den Artikel aus ,Le

    Combat pour Marx", herausgegeben von den Amis de Maximilien Rubel", das auch eine

    Bibliographie seiner Schriften enthlt (erhltlich bei Echanges et Mouvement", BP 241, 75866 Paris

    Cedex 18) Zu Maximilien Rubel s. auch das Maximilien Rubel Dossier" in: Die Aktion. Zeitschrift

    fr Politik, Literatur, Kunst, Heft 152/156 - 1996, S. 64-98, das neben einer Notiz des Herausgebers

    und einer Einleitung von Martin Rheinlnder Rubels Text Marx als Theoretiker des Anarchismus"

    enthlt (AdO). 37 Man kann in dieser Diskussion ber die bersetzung schwerlich etwas anderes sehen als eine

    linguistische Diskussion. Doch die unterschiedlichen Herangehensweisen der beiden

    Gesprchspartner an das Problem der Partei erklrt Pannekoeks Reaktion.

    38 Karl Marx, Pages choisies pour une ethique socialiste, a.a.O.

  • 8/9/2019 Anton Pannekoek und Cornelius Castoriadis - Korrespondenz 1953-1954

    30/63

    aus: Archiv fr die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit (No. 18)

    Seite 30 von 63

    Monde' lese, stelle ich fest, da dieses Thema in Wirklichkeit eine grere Bedeutung hatte: whrend de