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Zeitschri des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte Rechts R g geschichte Rechtsgeschichte www.rg.mpg.de http://www.rg-rechtsgeschichte.de/rg2 Zitiervorschlag: Rechtsgeschichte Rg 2 (2003) http://dx.doi.org/10.12946/rg02/087-103 Rg 2 2003 87 – 103 Francisca Loetz Sprache in der Geschichte Linguistic Turn vs. Pragmatische Wende Dieser Beitrag steht unter einer Creative Commons cc-by-nc-nd 3.0

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  • Zeitschri des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte Rechts Rggeschichte

    Rechtsgeschichte

    www.rg.mpg.de

    http://www.rg-rechtsgeschichte.de/rg2

    Zitiervorschlag: Rechtsgeschichte Rg 2 (2003)

    http://dx.doi.org/10.12946/rg02/087-103

    Rg22003 87 – 103

    Francisca Loetz

    Sprache in der GeschichteLinguistic Turn vs. Pragmatische Wende

    Dieser Beitrag steht unter einer

    Creative Commons cc-by-nc-nd 3.0

  • Abstract

    Historical studies are based predominantly on written sources. These sources, in turn, are the product of verbal portrayal and human communi-cation. In other words, they are linguistic docu-ments. The »linguistic turn« has drawn particular attention to the consequences of this aspect of historical sources and, as a result, has triggered much controversy in the field of history. The »pragmatic turn«, however, has been all but ignored by historians, in spite of its clear focus on human communication. This essay aims to address the problem of verbal portrayal in written sources. It posits the thesis that, under certain circumstances, the »linguistic turn« and the »prag-matic turn« harbour a methodical potential of considerable value in examining the issue of the verbal character of written sources. First of all, the terms »linguistic turn« and »pragmatic turn« will be defined. This will be followed by a discussion of the contribution that the »linguistic« and »prag-matic turn« respectively make to the interpretation of sources, by way of example of early modern lawcourt records. Finally, drawing upon examples of cases of blasphemy in early modern Zurich, the essay will outline the prospects for historical re-search when sources are read not only as linguistic documents but also as records of verbal commu-nication.

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  • Sprache in der GeschichteLinguistic Turn vs. Pragmatische Wende*

    Ohne Quellen keine Geschichtswissenschaft. Ohne Sprachekeine Quellen. Quellen wiederum sind Erzeugnisse verbaler Dar-stellung und menschlicher Kommunikation. Doch wie ernst nimmtdie Geschichtswissenschaft den sprachlichen Charakter ihrer Quel-len?1 Diese Frage hat in letzter Zeit der linguistic turn mit Vehemenzgestellt. Die sprachpragmatische Wende hingegen ist in der Ge-schichtswissenschaft kaum rezipiert worden, obwohl sie mensch-liche Kommunikation in den Brennpunkt ihres Interesses stellt.2

    Zwar kennt die Geschichtswissenschaft das Thema Kommunika-tion, doch fasst sie hierunter Formen der Informationsübermittlungmit Hilfe eines infrastrukturellen Mediums.3 Kommunikation imSinne von sprachlicher Interaktion spielt in dieser Kommunika-tionsgeschichte keine wesentliche Rolle.4 Ziel dieses Aufsatzes ist esdaher, das Problem sprachlicher Vermittlung in textlichen Quellenzu behandeln. »Linguistic turn« und »pragmatische Wende«, so dieThese dieses Beitrags, tragen unter bestimmten Bedingungen me-thodische Potentiale in sich, die bei der Auseinandersetzung mit demProblem des sprachlichen Charakters von Textquellen weiterfüh-rend sind.5 Um diese These auszuführen, wird eingangs erläutert,was unter »linguistic turn« und »sprachpragmatische Wende« ge-fasst werden soll. Dabei wird auf eine Differenzierung der jeweiligenStandpunkte verzichtet, weil hier nur deren sprachphilosophischeGrundsatzpositionen interessieren. Um sodann zu diskutieren, wel-chen Beitrag »linguistische« und sprachpragmatische Wende zurQuelleninterpretation leisten, werden frühneuzeitliche Gerichtsak-ten herangezogen. Sie dienen in Begrenzung auf die deutschsprachi-ge Forschung zur Veranschaulichung der Argumentation, weil sie imSinne des linguistic turn als besonders erzählfreudig gelten undzudem aus der kommunikativen Situation der Befragung herausentstehen. Abschließend wird am Beispiel von Gotteslästerungenaus dem frühneuzeitlichen Zürich gezeigt, welche Perspektiven sichfür die historische Forschung eröffnen, wenn Quellen nicht nur alssprachlich verfasste Dokumente, sondern auch als Zeugnissesprachlicher Kommunikation gelesen werden.6

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    * Ich danke Werner Bomm für diepräzise und ausführliche Kritik amManuskript.

    1 Sprache lässt sich allgemein als einSystem von Bedeutungen verste-hen. In diesem weiten Sinne kön-nen auch Zahlenreihen, Bilderoder materielle Dokumentesprachliche Zeugnisse sein. Frei-lich konzentrieren sich Historikerund Historikerinnen zumeist aufsprachliche Zeugnisse im engeren

    Sinne, auf textliche Quellen. Da-her grenzen die folgenden Über-legungen das Problem nichttextlicher Quellen aus.

    2 Allerdings plädierte Robert Jüttebereits vor einigen Jahren anhandfrühneuzeitlicher Beschwerde-schriften dafür, eine historische»Sprechakt-Analyse« zu ent-wickeln (vgl. R. Jütte, Sprachli-ches Handeln und kommunikativeSituation. Der Diskurs zwischen

    Obrigkeit und Untertanen amBeginn der Neuzeit, in: Kommu-nikation und Alltag in Spätmittel-alter und früher Neuzeit, hg. vonH. Hundsbichler, Wien 1992,159–181). Jüttes Aufforderung istjedoch nahezu folgenlos verhallt.

    3 Nicht umsonst beschäftigen sichFachzeitschriften, Tagungen oderneuere Sammelbände etwa mitdem Thema des Postwesens, derVerkehrswege oder der Presse.Vgl. z. B. das Jahrbuch für Kom-munikationsgeschichte, die Augs-burger Früheneuzeittagung von2001 oder Kommunikation in derländlichen Gesellschaft vom Mit-telalter bis zur Moderne, hg. vonW. Rösener, Göttingen 2000.

    4 So widmet sich die ÖsterreichischeZeitschrift für Geschichtswissen-schaften dem Thema »sprachemacht geschichte«. Sprache wirdhier jedoch unter Aspekten derSemiotik und des linguistic turnbehandelt, ohne Probleme derKommunikation aufzugreifen.Vgl. ÖZG 10 (1999).

    5 Zur eigenen Problematik derHistorischen Semantik vgl.R. Reichardt, Historische Se-mantik zwischen lexicométrie undNew Cultural History. Einführen-de Bemerkungen zur Standort-bestimmung, in: ZHF 21 (1998)7–28; H.-J. Lüsebrink, Begriffs-geschichte, Diskursanalyse undNarrativität, in: ebd., 29–44. Dieälteren programmatischen Überle-gungen Hans Ulrich Gumbrechtszur Begründung einer historischenTextpragmatik sind, soweit ichsehe, ohne größere Konsequenzengeblieben. Vgl. H.U. Gumbrecht,Historische Textpragmatik alsGrundlagenwissenschaft der Ge-schichtsschreibung, in: Lende-mains 6 (1977) 125–135.

    6 Zum Stellenwert von Gerichtsak-ten, die das »pralle Leben« zudokumentieren scheinen, vgl.K. Simon-Muscheid, Gerichts-quellen und Alltagsgeschichte, in:Medium Aevum Quotidianum 30(1994) 28–43; dies., Reden undSchweigen vor Gericht. Klientel-verhältnisse und Beziehungsge-flechte im Prozeßverlauf, in:Devianz, Widerstand und Herr-schaftspraxis in der Vormoderne.Studien zu Konflikten im süd-westdeutschen Raum (15. bis

  • »Linguistic turn« und »pragmatische Wende«

    Mit Linguistik haben die verschiedenen Positionen des »lin-guistic turn« streng genommen nichts zu tun.7 Linguistik be-schäftigt sich mit der Analyse sprachlicher Phänomene, die alsSystem theoretisch begründet werden sollen. Die Diskussion je-doch, die unter dem Stichwort »linguistic turn« läuft, ließe sichtreffender als Kontroverse um eine narrative Wende charakterisie-ren. Aus der Literaturwissenschaft kommend, vertreten die Ver-fechter des linguistic turn – um es auf eine knappe Formel zubringen – die These, dass jeglicher Zugang zur Welt sprachlichvermittelt und damit »Text« ist.8 Da Welt ausschließlich sprach-lich verfasst ist, existiert keine Welt, die es hinter der Sprache zuentdecken gäbe. Texte sind also sprachliche Gebilde, die vielfältigeVersionen von Welt darstellen, ohne dabei in einer eindeutigenBeziehung zur Wirklichkeit zu stehen. Hieraus folgt für die Inter-preten dieser »Texte«, dass sie aus ihren Vorlagen genauso wenigdie eine gültige, in einer tieferen Textschicht verborgene »richtige«Darstellung oder Meistererzählung freilegen wie sie ihre eigeneDarstellung den Regeln sprachlicher Gestaltung entziehen kön-nen.9 Aufgrund ihrer sprachlichen Verfasstheit können Wirklich-keit als objektiv Gegebenes, als Faktum, und Wirklichkeit alsmehrdeutig Gedeutetes, als Fiktion, prinzipiell nicht voneinanderunterschieden werden. Zugespitzt ließe sich für die Geschichts-wissenschaft formulieren, dass zwei Konsequenzen aus diesemVerständnis von »Text« folgen: Historikerinnen können nichteigentlich fragen, was Quellen von vergangener Wirklichkeit be-richten, sondern allein »dekonstruieren«,10 wie sie von ihr be-richten und somit erfassen, wie vergangene Entwürfe von Weltaussehen. Ferner sind Historiker selbst gezwungen, ihre Erkennt-nisse in kulturell definierten Mustern der Erzählung einzubetten.Laut »linguistic turn« hat sich Geschichtswissenschaft also mit derFrage zu beschäftigen, wie einerseits Quellen und wie andererseitsderen Interpreten durch ihre Erzählung Welt darstellen. Die Wen-de, die somit Vertretern des linguistic turn vollziehen, bestehtdarin, dass sie sich von der Vorstellung verabschieden, Welt bzw.Wirklichkeit könne an sich erfasst werden.

    Auch die pragmatische Wende kehrt sich von einem altenErkenntnisziel ab. Sprachpragmatik fragt nicht, wie ein sprach-liches Zeichen Wirklichkeit abbildet, auch nicht, wie die Regeln

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    18. Jahrhundert), hg. von M. Hä-berlein, Konstanz 1999, 35–52;in Bezug auf die Prozessakten desReichskammergerichts: W. Schul-ze, Zur Ergiebigkeit von Zeugen-befragungen und Verhören, in:Ego-Dokumente. Annäherung anden Menschen in der Geschichte,hg. von W. Schulze, Berlin 1996,319–325.

    7 Zu einer Einordnung des »lin-guistic turn« in die sprachphilo-sophische und postmoderneDiskussion der Linguistik vgl.A. Hornscheidt, Der »linguisticturn« aus der Sicht der Linguistik,in: Vom Ende der Humboldt-Kosmen. Konturen von Kultur-wissenschaft, hg. von B. Hen-ningsen und S. M. Schröder,Baden-Baden 1997, 175–206.

    8 Es kann nicht Aufgabe diesesAufsatzes sein, die Diskussion umden linguistic turn im Einzelnen zuverfolgen. Aus der Unmenge derLiteratur seien nur wenige ein-schlägige Reader genannt:Geschichte schreiben in der Post-moderne. Beiträge zur aktuellenDiskussion, hg. von C. Conradund M. Kessel, Stuttgart 1994;Kultur und Geschichte. Neue Ein-blicke in alte Beziehungen, hg. vonC. Conrad und M. Kessel,Stuttgart 1998; The PostmodernHistory Reader, hg. von K. Jen-kins, London, New York 1998;Beyond the Cultural Turn.New Directions in the Study ofSociety and Culture, hg. vonV. E. Bonnell und L. Hunt, Ber-keley, Los Angeles, London 1999.Die sprachlichen Abgrenzungs-strategien, welche die Befürwor-terinnen des linguistic turn bzw.dessen Kritikerinnen verfolgen,untersucht: K. J. MacHardy, Ge-schichtsschreibung im Brennpunktpostmoderner Kritik, in: Österrei-chische Zeitschrift für Geschichts-wissenschaften 4 (1993) 337–369.

    9 Daher provoziert auch die Forde-rung eines »get the story crooked!«den Vorwurf, Geschichtsdarstel-lung im Sinne des linguistic turnführe auf ein »telling as you likeit« hinaus. Zu dieser Debatte vgl.beispielsweise H. Kellner, Lan-guage and Historical Representa-tion, in: The Postmodern History

    Reader (Fn. 8) 127–138; G. Him-melfarb, Telling As You Like It:Postmodernist History and theFlight from the Fact, in: ebd.,158–174. Zur Diskussion, wienach dem Ende der Meistererzäh-lung unter den Bedingungen des»emplotment« postmodern histo-risch erzählt werden kann, vgl. ineiner durchaus selbstkritischenZwischenbilanz K. Halttunen,Cultural History and the Challen-

    ge of Narrativity, in: Beyond theCultural Turn (Fn. 8) 165–181;besonders: 171.

    10 Der theoretisch aufgeladene Be-griff der Dekonstruktion scheintmir teilweise zu einem Synonymvon »Analyse« zu verflachen. Umdie Vorsicht, die mir daher gegen-über dem Dekonstruktionsbegriffgeboten scheint, auszudrücken,setze ich den Begriff hier in An-führungszeichen.

  • einer Sprache erschlossen werden können, die ein Sprachsystembegründen. Vielmehr gilt es die Anwendung von Sprache zu unter-suchen. An die Stelle der Beschäftigung mit Sprache an sich rücktdie Untersuchung der Verständigung von Menschen mittels Spra-che; damit wird verbale Kommunikation zum Untersuchungs-gegenstand. Schematisch gesprochen, geht die linguistische Prag-matik hierbei von zwei Kommunikationskonzepten aus: vonModellen des Sprechakts zum einen und von Modellen der Sprech-handlung zum anderen.11

    Für John Searle und John Austin, die »Väter« der Sprechakt-theorie, stellt jede sprachliche Äußerung einen Sprechakt dar, der inverschiedene Typen eingeteilt (z. B.: Bitte, Aufforderung, Befehletc.) werden kann.12 Ein Sprechakt besteht aus vier Teilakten:einem lokutionären, einem illokutionären, einem propositionalenund einem perlokutionären.13 Der lokutionäre Teilakt bezieht sichauf die lautliche Formulierung einer Äußerung. Der illokutionäreumfasst die Art und Weise, wie sich Sprechende an jemandenwenden. Was sie dabei über die Welt aussagen, bestimmt derenpropositionalen Gehalt.14 Der perlokutionäre Akt weist daraufhin, was oder wen Sprechende eigentlich mit dem meinen, was siesagen.15 Sprechen ist demnach mehr, als grammatikalisch korrekteSätze zu bilden; sprechen heißt mit Worten etwas tun, wie dies dertreffende Titel des Grundlagenwerks von Austin How to do thingswith words verdeutlicht.16 Das Konzept des Sprechakts sucht alsonicht, das Verhältnis von Wirklichkeit und sprachlichem Zeichenzu klären. Es betont vielmehr, dass Welt durch den situations-spezifischen Akt der Rede gedeutet wird.

    Die Sprechakttheorien, die von Austin und Searle in den 60erJahren entwickelt worden sind, weisen einige grundsätzlicheSchwächen auf. Ohne auf die entsprechenden sprachphilosophi-schen und linguistischen Kontroversen einzugehen, sollen hierlediglich zwei prinzipielle Einwände formuliert werden: Sprechakt-theorie orientiert sich zum einen allein an den Sprechenden, zumanderen ausschließlich an deren Intentionen. Es geht um die funk-tionalistische Frage, was Sprechende tun und welche Zwecke sieverfolgen, wenn sie reden. Insofern ließen sich daher Sprechakt-theorien als eine Variante von Motivationsforschung bezeichnen.Dass ein Sprechakt ungewollte Wirkungen auslösen kann, ist imKonzept jedoch nicht vorgesehen. Welche Leistung die Adressiertenvollbringen, um zu verstehen, was die Sprechenden implizit aus-

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    11 Da es hier allein darum geht, dieModelle in ihren Grundzügenvorzustellen, wird auf ihre aus-führliche Diskussion in der Lin-guistik verzichtet. Zur Vermei-dung von Missverständnissen seidarauf hingewiesen, dass in derälteren Literatur der Ausdruck»speech act« häufig als »Sprach-handlung« eingedeutscht wordenist. Sprechhandlung hingegen istein Begriff, der in Kritik am Mo-

    dell des Sprechakts nicht nur denHandlungscharakter von Kom-munikation unterstreichen, son-dern auch hervorheben soll, dasssich sprachliche Handlungen ausverschiedenen verbalen Akten zu-sammensetzen und nicht umge-kehrt. Vgl. hierzu: Sprechakt, in:Metzler Lexikon Sprache, hg. vonHelmuth Glück, Stuttgart, Wei-mar 1993, 592 f.; Sprechhand-lung, in: ebd., 596.

    12 Die folgende Gegenüberstellungvon Sprechakt und Sprechhand-lung orientiert sich an der beson-ders verständlichen Darstellungin: A. Linke, M. Nussbaumer,P. Portmann, Studienbuch Lin-guistik, 3. Aufl. Tübingen 1996,182–202.

    13 Die Teilakte sind im Verlauf derDiskussion des Modells von Sear-le, Austin und deren Kritikern un-terschiedlich konzeptionalisiertworden. Daher variieren derenBezeichnungen. Ich benutze imFolgenden die gängigsten Termini.

    14 Aussagen über die Welt zu treffenheißt z. B eine Information liefern,eine Aufforderung aussprechen,ein Urteil abgeben etc.

    15 Ein Direktor beispielsweise, derseinen Angestellten mit einem»auch schon da« begrüßt, wirdvermutlich nicht konstatieren,dass dieser zu einer bestimmtenUhrzeit eingetroffen ist, sondernwird ihm zu verstehen geben wol-len, dass er unpünktlich sei unddies künftig zu unterlassen habe.

    16 J. Austin, How to Do ThingsWith Words, Oxford 1962.

  • drücken, bleibt im dunkeln. Daraus folgt, dass Sprechakttheoriensprachliche Kommunikation nur »halb«, d. h. aus der Perspektiveder Sprechenden in ihrer jeweils einzelnen sprachlichen Äußerungerfassen. Diese werden somit zu Monologisierenden. Sprechakt-theorien verfehlen also den Dialog- bzw. Kommunikationscharak-ter sprachlicher Äußerungen.

    Aus dieser Kritik sind seit den ausgehenden 60er JahrenModelle der Sprechhandlung entstanden, die mit den Namen ihrerBegründer Erving Goffman, Harvey Sacks und H. P. Grice ver-bunden sind.17 Auch sie beschäftigen sich mit der Frage, wieGesprochenes gleichzeitig Nicht-Gesagtes (in der Terminologievon Grice »Implikaturen«) transportiert.18 Anstatt zu verfolgen,was Sprecher auch unausgesprochen beabsichtigen, setzen Model-le der Sprechhandlung einen anderen Akzent. Sie versuchen zuerklären, wie die Adressierten in der Lage sind, zu begreifen, wasSprecherinnen mit ihrem Gesagten und Nicht-Gesagten meinen.19

    Anstatt hierzu verbale Äußerungen isoliert für sich zu betrachten,untersuchen sie, wie sich Redezüge aufeinander beziehen undaufgrund bestimmter »Konversationsmaximen« Wirkung erzie-len. Sprechhandlungstheorien betrachten somit Kommunikationals Handeln im Sinne einer kooperativen Interaktion:20 Kom-munikation beruht darauf, dass die einen zumindest im Prinzip soreden, dass die anderen verstehen können, was sie meinen.21 Einesprachliche Äußerung wird dadurch zu einer Handlung, dass dieHörenden in jeglicher sprachlichen Formulierung ein Agierenerkennen. Diesem Modell zufolge existiert in der kommunikati-ven Situation keine sprachliche Artikulation für sich; eine sprach-liche Äußerung wird stets interpretiert, indem die Adressierten aufdie Intention der Handelnden zurückschließen. Bei der Ent-schlüsselung dessen, was die Sprecher meinen, d. h. bei der Ent-schlüsselung ihrer Implikaturen, können hierbei verschiedeneInterpretationsmöglichkeiten zur Wahl stehen.22 Kommunikationberuht also darauf, Bewertungen von Handlungen auszutauschen.Dies setzt jedoch voraus, dass diejenigen, die miteinander kom-munizieren, über ein gemeinsames, nicht allein situationsspe-zifisch, sondern auch sozial definiertes Wissen verfügen, mitdessen Hilfe sie sich verständigen.23 Die Sprechenden gehendavon aus, dass sie zusammen mit den Adressierten eine sprach-liche Gemeinschaft bilden. Sie erwarten daher, dass die Adressier-ten Äußerungen in ihren Kontext einzuordnen vermögen und

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    17 Vgl. als einschlägige Publikatio-nen: E. Goffman, Forms of Talk,2. Aufl. Philadelphia 1995;H. P. Grice, Studies in The Way ofWords, Cambridge, Mass. 1989;H. Sacks, Lectures on Conversa-tion, 3. Aufl. Oxford 1998.

    18 Der Terminus Implikatur ist einGricescher Neologismus, der mar-kieren soll, dass Implikatur undImplikation (ebenso wie »impli-katieren« und »implizieren«)voneinander zu unterscheidensind. Hiernach bezeichnen Impli-kationen rein logische odersemantische Informationen, dieohne Rücksicht auf die jeweiligeRedesituation erkannt werdenkönnen. Unter Implikaturen hin-gegen werden Rückschlüsse ver-standen, die aufgrund bestimmterAnnahmen über den kooperativenCharakter der verbalen Interak-tion oder »Konversation« im Ge-sagten das Gemeinte erfassen.»Konversation« bezeichnet alsonicht wie im Deutschen die ge-pflegte Unterhaltung, sondern denkontextgebundenen sprachlichenAustausch; daher auch der Begriffder konversationellen Implikatur.Zu dieser Erklärung vgl. E. Rolf,Sagen und Meinen. Paul GricesTheorie der Konversations-Impli-katuren, Opladen 1994, 14. ZurBenutzung des Verbs »implikatie-ren« vgl. F. Liedtke, Das Gesagteund das Nicht-Gesagte. Zur Defi-nition von Implikaturen, in: Im-plikaturen. Grammatische undpragmatische Analysen, hg. vonF. Liedtke, 3. Aufl. Tübingen1995, 19–46.

    19 Zur Problematik der GriceschenTrennung von Gesagtem undNicht-Gesagtem sowie dessenKonversationsmaximen vgl.R. Keller, Rationalität, Relevanz

    und Kooperation, in: Implikatu-ren (Fn. 18) 5–18; hier: 5–12.

    20 Die Bestimmung dieser Konversa-tionsmaximen wird weiterhin vonder Sprachwissenschaft diskutiert.Vgl. etwa hierzu die kritischenAusführungen bei: E. Rolf, Sagenund Meinen (Fn. 18), bes.: 113–254.

    21 Kooperation meint also ein mini-males gemeinsames Interesse anVerständigung, nicht unbedingt

    gegenseitiges, produktives Einver-ständnis. Zu dieser Präzisierungvgl. A. Linke, M. Nussbaumer,P. Portmann, Studienbuch(Fn. 12) 196.

    22 Vgl. G. Harras, Handlungsspra-che und Sprechhandlung. EineEinführung in die handlungstheo-retischen Grundlagen, Berlin, NewYork 1983, 22.

    23 Vgl. G. Harras, Handlungsspra-che (Fn. 22) 64.

  • diese somit entlang bestimmter verbaler Verhaltenskonventionenauffassen.24

    Diese Theorie der Sprechhandlung oder konversationellenImplikatur25 ergänzt die Sprechakttheorie in entscheidender Weise.Zum einen bindet sie die Interpretationsleistung der Hörenden inKommunikation ein: Kommunikation ist nicht eine Summe ver-einzelter Sprechakte, sondern eine Kette Zug um Zug miteinanderausgetauschter Sprechhandlungen. Zum anderen verweist sie aufdas soziale Wissen, ohne das sich Sprechende und Hörende nichtverständigen können: Das Verständnis von Kommunikation wirdgrundsätzlich kontextabhängig. Die dritte konzeptionelle Erweite-rung besteht darin, dass die Theorie der konversationellen Im-plikatur zwischen dem Gelingen und dem Erfolg einer Sprech-handlung unterscheidet. Eine kommunikative Handlung gilt dannals »gelungen«, wenn die Adressierten verstehen, was die Spre-chenden wollen. »Erfolgreich« ist die Sprechhandlung hingegennur dann, wenn die Adressierten die Intentionen der Sprechendenauch erfüllen.26 Sprachlich miteinander zu kommunizieren heißtalso, dass Sprechende und Adressierte sich dank sozial definierterWissensbestände gegenseitig verständigen können, ohne dass siedeswegen ein Einverständnis erreichen müssen. Modelle derSprechhandlung versuchen demnach nicht, zu erfassen, was Spre-chende bewegt, ein bestimmtes Ziel erreichen zu wollen; Sprech-handlungstheorien betreiben insofern keine Motivationsforschung.Sprechhandlungstheorien erschließen vielmehr die Absichten derSprechenden allein indirekt aus den Wirkungen, die ihre Äuße-rungen bei den Adressierten zeitigen.

    Vertreter des linguistic turn und der pragmatischen Wende,»Narrativisten« und »Pragmatiker«, teilen hinsichtlich des Ver-hältnisses von Sprache und Welt eine gemeinsame philosophischePosition.27 Sie suchen nicht, Aussagen über das Verhältnis vonSprache und Welt zu treffen. Für beide verständigen sich Sprech-ende lediglich darüber, wie sie Wirklichkeit anhand bestimmtersprachlicher Konventionen beschreiben. Wirklichkeit ist also fürbeide Disziplinen eine prinzipiell sprachliche Konstruktion undnichts objektiv Gegebenes und Erkennbares. Trotz dieser gemein-samen sprachphilosophischen Prämissen unterscheiden sich lin-guistic turn und pragmatische Wende jedoch in einem wesentlichenPunkt. Im Prinzip können »Narrativisten« die Welt beliebig kon-struieren. Fiktion kennt keine grundsätzlichen Grenzen. Fiktion

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    24 Wenn z. B. um zwei Uhr morgensbei einer Professorin das Telefonklingelt, diese abnimmt und einStudent sich nach der Öffnungszeitder Institutsbibliothek erkundigt,die Professorin darauf ihren Stu-denten entrüstet fragt, ob er wisse,wieviel Uhr es sei, dann erwartetsie nicht die Angabe einer Uhrzeit.Sie macht vielmehr deutlich, dasssie die nächtliche Störung fürhöchst unangebracht hält. Diese

    Implikatur aber lebt davon, dassbeide die sozialen Regeln im Um-gang mit Telefonaten kennen undsich daher darüber verständigenkönnen, dass der Anruf deplaziertist. Doch zum Glück ist das Bei-spiel fiktiv.

    25 Zum Begriff s. Fn. 18.26 Vgl. G. Harras, Handlungsspra-

    che (Fn. 22) 167.27 Der hiesige Begriff der Narrativis-

    ten bezieht sich auf die diversen

    Vertreter des linguistic turn. Er istnicht zu verwechseln mit den»Narrativisten«, die sich dagegenverwahren, dass Geschichtsdar-stellung zugunsten von Struktur-analyse auf Erzählung verzichtenmüsse. Vgl. zu dieser Debatte OttoUlbrichts Plädoyer, mit den Mit-teln der mikrohistorischen Erzäh-lung zu einer aussagekräftigenAnalyse zu gelangen: O. Ul-bricht, Der Tod eines Bettlers.Dörfliche Lynchjustiz 1727. EinExperiment in Narration undAnalyse, in: Historie und Eigen-Sinn. Festschrift für Jan Peterszum 65. Geburtstag, hg. vonA. Lubinski, T. Rudert undM. Schattkowsky, Weimar1997, 379–397.

  • kann auch mit den gesellschaftlichen Regeln der Erzählkonventio-nen brechen. Sie muss sich weder an diese Regeln halten nochbrauchen diese nachprüfbar zu sein. »Pragmatiker« hingegen gehenvom Prinzip der interaktiven Kooperation aus. Gesprächspartner-innen verständigen sich über eine gemeinsame Welt, wie sie imsozialen Wissen verankert ist, ohne sich deswegen über die Inter-pretation der Wirklichkeit einig sein zu müssen. Auch diese Welt istzwar konstruiert, aber nicht willkürlich produzierbar, da sie not-wendig an das Regelwissen der Gesellschaft zurückgebunden, alsointersubjektiv nachvollziehbar ist.

    Was nutzen die obigen Überlegungen der historischen For-schung? Sie stellen die weiterhin vielfach unterschätzte Frage nachdem ontologischen Charakter von »Fakten« in der Geschichte. Inseiner radikalen Konsequenz besagt der linguistic turn, dass Ge-schichtswissenschaft nicht einmal von facta bruta ausgehen kann,da auch diese sprachlich konstruierten Deutungen einer vergange-nen Wirklichkeit sind. »Narrativisten« erteilen somit der durchausverbreiteten Vorstellung, Historikerinnen hätten die Realität derVergangenheit auf der Grundlage von Fakten zu rekonstruieren,eine Absage.28 Für sie kann Geschichtswissenschaft Quellen alleinals sprachliche Deutungen von Wirklichkeit wiederum auslegen;Faktum und Fiktion sind nicht voneinander zu trennen. Hier istjedoch zu Recht eingewandt worden, dass Historiker in ihrerInterpretation an die Quellenüberlieferung gebunden sind. Zwarproduzieren sie eine sprachliche und mehrdeutige Konstruktion derVergangenheit, doch ist diese nicht beliebig.29 Sie muss den »Kon-struktionsregeln« der scientific community, die wiederum in denRegelerwartungen ihrer Gesellschaft eingebunden ist, genügen undkann daher die von den Quellen gelieferten Bausteine nicht beliebigzusammensetzen.30 Somit sind Historikerinnen in ihrer narrativen»Kreativität« Grenzen gesetzt, wollen sie ernsthafte Geschichts-schreibung betreiben und nicht »reine Erfindungen« präsentie-ren.31 Dies bleibt am Beispiel von Gerichtsakten auszuführen.

    Linguistic turn und Pragmatische Wende in derGeschichtswissenschaft: Die Auswertung von Gerichtsakten

    Wem ist es nicht schon einmal so ergangen? Man sitzt imArchiv, liest diverse Dokumente und trifft plötzlich auf Figuren, die

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    28 Hierbei spielt es keine Rolle, obFakten positivistisch als etwasbetrachtet werden, das geschehenist und damit unabhängig vonhistorischer Interpretation exis-tiert oder ob Geschehenes erstdurch Interpretation den Statuseines historischen Faktums erhält.Als prononcierter Vertreter despositivistischen Faktenverständ-nisses vgl. Richard J. Evans,Fakten und Fiktionen. Über dieGrundlagen historischer Erkennt-nis, Frankfurt, New York 1998,78–103. Zur Gegenüberstellungvon »nudum factum« und histori-scher Tatsache hingegen vgl. ausder Fülle der Literatur beispiels-weise H.-J. Goertz, Umgang mitGeschichte. Eine Einführung in dieGeschichtstheorie, Reinbek 1995,95 f.

    29 Dies bringt m. E. Hans-JürgenGoertz auf den Punkt, wenn erdavon spricht, dass Historiker in-terpretieren, was und wie etwasgeschehen, nicht aber, dass es ge-schehen ist. Vgl. H.-J. Goertz,Umgang mit Geschichte (Fn. 28)96.

    30 So hält etwa Roger Chartier daranfest, dass selbst um literarischeQualität bemühte Geschichtsdar-stellung im Gegensatz zu Belle-tristik immer an die überliefertenQuellen und an die Interpreta-tionsregeln der scientific commu-nity gebunden ist. Vgl. R. Char-tier, L’Histoire culturelle entre»Linguistic Turn« et Retour auSujet, in: Wege zu einer neuenKulturgeschichte, hg. vonH. Lehmann, Göttingen 1995,31–58; hier: 55.

    31 Freilich können solche »Phanta-sieprodukte« für die Geschichts-wissenschaft dann ein nützlichesArbeitsinstrument sein, wenn sieals kontrafaktische Geschichte

    Gedankenexperimente zu heuris-tischen Zwecken anzustellen su-chen. Zur Auseinandersetzung mitder Frage des Erkenntniswertssolcher Gedankenexperimentevgl.: H. Mulisch, Die Zukunftvon gestern. Betrachtungen übereinen ungeschriebenen Roman,Berlin 1995; A. Demandt, Unge-schehene Geschichte. Ein Traktatüber die Frage: Was wäre gesche-hen, wenn?, 2. Aufl. Göttingen

    1986. Das gleiche Experiment wieDemandt unternehmen verschie-dene Autoren in: Was wäre gewe-sen wenn?, hg. von R. Cowley,München 2000. Zur Diskussiondes Stellenwerts von »Alternativ-und Parallelgeschichte« vgl. außer-dem: Was wäre wenn. Alternativ-und Parallelgeschichte, Brückenzwischen Phantasie und Wirklich-keit, hg. von M. Salewski, Stutt-gart 1999.

  • direkt einem Pikaroroman zu entstammen scheinen. Hans Win-garten aus Zürich ist ein solcher Fall.32 Im Jahre 1520 musste erunter der Hand des Scharfrichters sein Leben lassen. Im Todesur-teil, das auf die Aussagen der Zeugen verweist, heißt es:

    uff ein zit hatt Er Ein kartenspil zum venster uß wellenwerffenn unnd so Im sollichs gewert wordenn, hatt Er, derhanns Wingarten gerett, Es muß hinuß, obschon gott selbstdaruff sässe, unnd daruff geschworen, das dich gotz Joseph alsKindli müßli machers schend, kan Ich darin keins gewinnenn,Gots funff wunden, gotz küre, gots feltï, gots lidenn unndsollichs onzall. So denne uff Ein zitt hatt er Im spil geschworn,das dich gotz krütz Im himel schend als Joseppen, warumb hastunserm hergott nit Ein oppriment In sin müßli gethan, damitIm Du vergeben hettest, unnd das dich gots krütz als Registersschend und derglichen schwüre gots wunden, gots macht, gotssacrament, gotz funnf lidenn. Witer hat Er mit verdachtemmuott an Ein Wand geschribenn: »Frid und gnad, wen hast Einend, das dich gotz ertrich schend.« Aber hatt er geschribennallein ein oder samer gotz himmelll und Ertrich Ich schißdarzu.33

    Folgt man den Überlegungen des linguistic turn, ist die zitiertePassage alles andere als ein sachliches Rechtsdokument. Statt dasFaktum einer Gotteslästerung zu registrieren, erzählt sie eine Ge-schichte. Da will ein Spieler – wohl im Zorn über die verlorenge-gangene Partie – ein Kartenspiel aus dem Fenster werfen. Als erdaran gehindert wird, begeht er mannigfaltige, unerhörte Gottes-lästerungen.34 Doch damit nicht genug. Wingarten wird sich beieiner anderen Gelegenheit erneut an Gottes Ehre vergreifen undzugleich sein zweifelhaftes poetisches Talent zum Besten geben. Auseinem banalen Alltagsgeschehen ist eine eindrückliche Erzählunggeworden.35 Sie spiegelt wider, wie ein Blasphemiker juristischkonstruiert wird. Bereits die auffälligen Lücken im Urteilstextverdeutlichen dies. So weiß die Akte nichts davon zu berichten,dass Wingarten für seinen ersten Tabubruch bestraft worden war.Wollte die Justiz, die sonst gerne mit dem guten bzw. schlechtenLeumund der Angeklagten argumentierte, vertuschen, dass ihrWingarten durch die Finger gegangen war? Oder stilisierte sichdie Justiz als milde Obrigkeit, die einen Fehltritt auch mal durch-gehen ließ? Die Frage ist nicht zu klären. Doch eines wird ersicht-

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    32 Nicht umsonst wurde Wingartendie Ehre zuteil, zum Helden einesComics zu avancieren. Vgl.F. Bünzli und M. Illi, Hirsebar-den und Heldenbrei, Bern 1995,42–44.

    33 Staatsarchiv Zürich (= StZH),B VI. 2498, f. 30r.

    34 Zu den Einzelheiten der Formu-lierungen, die hier nicht weiter zuinteressieren brauchen, vgl.F. Bünzli und M. Illi, Hirse-

    barden und Heldenbrei (Fn. 32)42–44.

    35 Allerdings hat diese Geschichteweder einen Anfangs- noch einenMittelteil. Die Zürcher Akten ge-ben über Wingarten nichts weiterals das Todesurteil preis.

  • lich: Die Story von der Wiederholungstat lässt das FehlverhaltenWingartens als um so schwerwiegender erscheinen. Die Geschichteerhält somit einen dramatischen Spannungsbogen. Die Akte Win-garten bietet jedoch nicht nur einen packenden Plot, sie kreiert sichauch ihren eigenen Protagonisten. Statt sich mit der üblichenjuristischen Kategorisierung zu begnügen, Wingarten habe schant-lich böß uncristenlich schwür und gotslestrung gethan und mitverdachtem muott gerett,36 führt sie die einzelnen Formulierungenauf, die dieser im Munde geführt haben soll. Somit unterstreicht dieAkte den unerhörten Charakter der Worte, die Wingarten zumübermütigen Maulhelden, cholerischen Spieler, tragischen Narrenund religiösen Provokateur werden lassen.37 Das Urteil, das einenfaktischen Straftatbestand sachlich zu überliefern scheint, entpupptsich als mehrdeutiges und nach juristischen Kriterien dramatur-gisch gestaltetes Dokument.

    Mit den Augen des linguistic turn gelesen, sind nicht nurGerichtsurteile, sondern auch Gerichtsprotokolle38 Zeugnisse er-zählerischer Darstellung.39 Die Einsicht, dass Aussagen vor Ge-richt keine unbefangene freie Rede, sondern zweckgebundeneErzählungen sind, ist nicht neu.40 Doch verweisen auch jüngeredeutschsprachige Publikationen zusätzlich auf die sprachliche Ver-fasstheit dieser »Texte«,41 die es verbiete, in ihnen zwischenFactum und Fictio trennen zu wollen.42 Die folgende Argumenta-tion soll zeigen, dass diese These nur begrenzt trägt, weil mensch-liche Kommunikation »rein fiktive« Erzählung ausschließt. Hierzuein Beispiel aus der Zürcher Justizpraxis:43 Im Jahre 1636 schickteHans Heinrich Meyer als Vogt von Knonau ein Protokoll seinesVerhörs mit Michael Wyß an den Zürcher Rat. Der Vogt meldete,er habe Wyß verhört, weil dieser die Allmacht Gottes, desglïchen,die herren predicannten, ehrverletzlich angriffen, gschächt undgschändt habe. Der Angeklagte habe geantwortet:

    er wüßße um söllichem allen nüt, er seig gar treuncken gsïn,habe er etwas wider die heilig Bibblen, oder herren predicann-ten gredt, seige imme sölliches von grund sïnes hertzens leid.Begäret daruff mit weinenden augen, von Gott dem Allmäch-tigen und eurer ersamen Oberkeit, gnad unnd barmhertzigkeit,seige allwëgen zuo kilchen ganngen, deßen sïn her pfarrer unndkilchgnoßßen ime zügnüs gëben verdint, heüge sich auch in derherschaft verhalten, daß sïnes halben kein klag.44

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    36 StZH, B VI. 2498, f. 30r.37 Zur theatralischen Selbstinszenie-

    rung von Blasphemikern vgl.G. Schwerhoff, Starke Worte.Blasphemie als theatralische In-szenierung von Männlichkeit ander Wende vom Mittelalter zurFrühen Neuzeit, in: Hausväter,Priester, Kastraten. Zur Kon-struktion von Männlichkeit inSpätmittelalter und Früher Neu-zeit, hg. von M. Dinges, Göttin-gen, 1998, 237–263.

    38 Allerdings können Gerichtspro-tokolle sehr unterschiedlich aus-sehen. Inquisitionsprotokolle inder Form des gebrochenen Blattshalten die Fragen der Untersu-chenden fest und reduzieren dieAntwort der Befragten auf ein jaoder nein, das nur vereinzelt inknappen Sätzen ausgeführt wird.Andere Gerichtsprotokolle hin-gegen räumen den vermeintlichfreien Darstellungen der Befragteneinen großen Raum ein, ohne diegestellten Fragen zu notieren. ZurGeschichte des Inquisitionsverfah-rens und der hierbei entwickeltenProtokollformen vgl. K. Härter,Strafverfahren im frühneuzeitli-chen Territorialstaat: Inquisition,Entscheidungsfindung, Supplika-tion, in: Kriminalitätsgeschichte.Beiträge zur Sozial- und Kulturge-schichte der Vormoderne, hg. vonA. Blauert und G. Schwerhoff,Konstanz 2000, 459–480. ZurDiskussion der erzählfreudigenAkten der Zürcher Frühen Neuzeitvgl. F. Loetz, Mit Gott handeln,Von den Zürcher Gotteslästerernder Frühen Neuzeit zu einer Kul-turgeschichte des Religiösen, Göt-tingen, 2002, 97–108.

    39 Vgl. etwa U. Gleixner, »DasMensch« und »der Kerl«. DieKonstruktion von Geschlecht inUnzuchtsverfahren der FrühenNeuzeit (1700–1760), Frankfurt,New York 1994; S. Kienitz,Sexualität, Macht und Moral.Prostitution und Geschlechter-beziehungen Anfang des 19. Jahr-hunderts in Württemberg, Berlin1995. Am programmatischsten:U. Gleixner, Geschlechterdiffe-renzen und die Faktizität desFiktionalen. Zur Dekonstruktionfrühneuzeitlicher Verhörproto-kolle, in: Werkstatt Geschichte 11(1995) 65–70.

    40 Vgl. L. Hoffmann, Kommunika-tion vor Gericht, Tübingen 1983,107.

    41 Freilich bleibt hierbei der Textbe-griff meist recht offen. Symptoma-tisch scheint mir hierfür zu sein,dass Monika Mommertz in ihremVorschlag, Gerichtsakten alssprachlich konstituierte Hand-lungszusammenhänge zu lesen,nicht nur mit einem pauschalenVerweis auf den Handlungs-

    charakter von Sprache auskommt,sondern auch Sprache mit Diskursgleichsetzt und dabei »Diskurs«als sprachpragmatischen Terminusund zugleich spezifischen Fou-caultschen Begriff verwendet(vgl. M. Mommertz, »Ich, LisaThielen«, Text als Handlung undsprachliche Struktur – ein metho-discher Vorschlag, in: HistorischeAnthropologie 4 [1996], 303–329;zum Handlungsbegriff: 304,

  • Das Knonauer Schreiben beschreibt eine Kommunikation vorGericht und enthält die typischen Brechungen der TextgattungGerichtsprotokoll: Der Angeklagte nimmt zunächst zu einem ab-geschlossenen Geschehen Stellung. Dies geschieht aus seiner eige-nen Perspektive. Er versucht dabei mit Blick auf das Gericht zuargumentieren, d. h. sich auf möglichst geschickte Weise zu recht-fertigen. Der Vogt wiederum nimmt schließlich als Protokollanteine Einordnung des Vergehens unter justizrelevanten Kriterienvor. Im weiteren Verlauf des Protokolls wird er die umstritteneAussage, die Bibel sei nicht Gottes Wort, als Gotteslästerungkategorisieren. Wie erzählerisch das Schreiben auch erscheinenmag, es ist weder ein Dokument unmittelbarer Wirklichkeit nochein Produkt freier Erfindung. Es ist vielmehr zu unterscheidenzwischen dem, was der Vogt herausfinden und als Delikt katego-risieren will, und dem, was der Befragte auszusagen willens und inder Lage ist. Wie jedes Gerichtsprotokoll ist die Knonauer Aktealso ein komplexes, da narrativ und kommunikativ mehrfachgebrochenes Zeugnis. Sie ist ein Ausdruck verschiedener Darstel-lungsperspektiven und Darstellungsinteressen, die sich jeweils anden Relevanzkriterien des Gerichts orientieren.

    Dieses Ergebnis ist nicht so trivial, wie es auf den ersten Blickzu sein scheint. Unterzieht man das Knonauer Schreiben einerGriceschen Konversationsanalyse, wird ersichtlich, inwiefern dasModell der Sprechhandlung konventionelle Formen der Quellen-kritik zu verfeinern erlaubt: Über den illokutionären Akt des Wyßlassen sich lediglich Vermutungen anstellen. Der propositionaleGehalt der Anklage dagegen ist unzweifelhaft. Der Vogt macht eineAussage über die Welt, er beschuldigt Wyß eines Vergehens. Wasder Vogt damit meint, ist ebenso unmissverständlich. Wie dieReaktion des Angeklagten zeigt, verfolgt der Vogt perlokutionärdas Ziel, vom Angeklagten ein Schuldbekenntnis zu erreichen. Wyßjedoch schlüsselt die Implikaturen des Vogts auf ambivalente Weiseauf. Einerseits lässt er die Sprechhandlung des Vogts gelingen. Ergibt zu erkennen, dass er verstanden hat, wessen er angeklagt wird.Er räumt ein, einen Fehler begangen zu haben, sofern die Anklagegerechtfertigt sei. In diesem Falle bitte er um Gnade, die er alsrechtschaffener Bürger verdiene. Andererseits bringt Wyß dieSprechhandlung des Vogts zum Scheitern. Wyß behauptet, sichkeiner Schuld bewusst zu sein. Die konversationellen Implikaturendieser verbalen Handlungskette verdeutlichen demnach, inwiefern

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    Anm. 10; als Beispiel der Gleich-setzung von Text als Handlung undDiskurs, 323). Diskurs bezeichnetin der Sprachpragmatik jedochStrukturen, die es erlauben, Folgenvon Sprechhandlungen zu größe-ren kommunikativen Einheiten zukombinieren. Der Begriff ist alsonicht mit dem Habermasschenoder Foucaultschen Verständnisvon Diskurs zu verwechseln. Vgl.

    hierzu: Diskurs, in: Metzler Lexi-kon Sprache, 144 f.

    42 Vgl. hierzu etwa U. Gleixner,»Das Mensch« und »der Kerl«(Fn. 39) 19–21. Malcolm Gaskillgeht sogar soweit, »Fiction in theArchives« dadurch nachweisen zuwollen, dass Morddarstellungenim frühneuzeitlichen Englandnach heutigen Maßstäben mitübernatürlichen Phänomenen ar-gumentierten. Diese Tatsache

    belege, dass die Erzähler sich nichtan einer objektiv gegebenen, son-dern an einer kulturell konstruier-ten Welt orientierten. Dabeiübergeht Gaskill die Frage, ob dieDarstellung von Mordfällen (vor-nehmlich in Druckschriften) allge-mein mit Aussagen vor Gerichtgleichzusetzen ist. Vgl. M. Gas-kill, Reporting Murder. Fiction inthe Archives in Early ModernEngland, in: Social History 23(1998) 1–30; insbesondere 1–5,27–30.

    43 Die folgenden Beispiele sind be-wusst einfach gewählt, um eineDiskussion im Detail, die zu vielRaum in Anspruch nähme, zuvermeiden.

    44 StZH, A.27.74, Aussage MichaelWyß, 21.8.1636.

  • Vogt und Angeklagter sprachlich kooperieren. Sie teilen beide dieVorstellung, dass die Behauptung, die Bibel sei nicht Gottes Wort,einen Normbruch darstelle. Wyß stellt die Anklage als solche nichtin Frage. Vogt und Angeklagter gehen weiterhin davon aus, dassein Untertan, der ein Delikt begangen hat, sich als reuig zu erweisenhabe. Wer aber bereue, der dürfe auch als einsichtiger Untertan andie Barmherzigkeit der Obrigkeit appellieren. Die Verantwortungfür ein Vergehen trage aber nur, wer zurechnungsfähig sei. Trun-kenheit mache jedoch geschäftsunfähig. Dies habe die Obrigkeit zuberücksichtigen. Wyß hätte sich wohl kaum dieser Argumentationbedient, hätte er nicht vorausgesetzt, dass er mit ihr das Gerichtüberzeugen könne. Propositional führt Wyß also in seiner AussageArgumente für seine Unschuld an. Dabei anerkennt er auf derperlokutionären Ebene symbolisch die Aufsichtsfunktion der Ob-rigkeit, die dem reuigen Sünder Nachsicht schuldet.

    Der Vorteil dieser Analyse besteht darin, dass es das Modellder konversationellen Implikatur erlaubt, präzis zu explizieren,worin der Unterschied zwischen dem Gesagten und dem Gemein-ten liegt.45 Sie ermöglicht es systematisch zu paraphrasieren undsomit nachzuvollziehen, wie die Sprecher und Adressaten sprach-lich kooperieren und dabei unterschiedliche Darstellungsinteressenverfolgen. Der springende Punkt in der Rechtfertigung des Wyß istnicht die Frage, ob er tatsächlich aus Trunkenheit Gott gelästert hatoder nicht. Der Schlüssel zum Verständnis der Gerichtsszene liegtvielmehr darin, dass die Art und Weise, wie sich Zürcher derFrühen Neuzeit auf religiöse Normen bezogen, etwas Spezifischesüber die Relevanz von Religion in dieser Gesellschaft aussagt.46

    Das Beispiel Wingarten und Wyß zeigt, dass Sprechhandlungs-modelle durchaus mit dem linguistic turn kompatibel sind, da sieeine Möglichkeit bieten, Zeugnisse menschlicher Kommunikationals sprachlich verfasste Ausdrucksformen zu behandeln. Sie fragennach der Inhaltsseite einer verbalen Äußerung, doch nicht um eineobjektive Wirklichkeit, die hinter ihr verborgen wäre, freizulegen.Sprechhandlungsmodelle analysieren vielmehr die Prinzipien, nachdenen sich die Kommunikationsteilnehmer/innen gegenseitig ver-ständlich machen und untersuchen somit sprachlich intersubjektivgedeutete Welt. Sprechhandlungsmodelle tragen daher zur Sensibi-lisierung gegenüber dem Problem der »Textproduktion« bei, aufdas die dekonstruierenden Ansätze zu Recht hinweisen. Die kon-versationsanalytische Auswertung der Beispiele verdeutlicht aber

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    45 In seinem Plädoyer für eine histo-rische Diskursanalyse unterstrichJütte die Notwendigkeit, »Inhaltund Form sprachlichen Handelnsin seiner historisch-sozialen Be-dingtheit und Entwicklung« zu er-fassen, um »Texte nicht mehr alleinvon der Inhaltsseite aus zu betrach-ten, sondern hinter der sprachli-chen Form auch gesellschaftlicheKonventionen, Ritualisierungenund Institutionalisierungen zu er-kennen« (R. Jütte, SprachlichesHandeln [Fn. 2], 161 bzw. 180).Mit dieser Konzentration auf dieAusdrucksseite, auf die sprachli-che Form einer verbalen Äußerunggerät jedoch deren Inhaltsseite alsSpannungsverhältnis von Gesag-tem und Gemeintem zu sehr ausdem Blickfeld.

    46 Zur sprechakttheoretischen Dis-kussion von frühneuzeitlichenGotteslästerungen vgl. program-matisch: J. Favret-Saada, Rush-die et compagnie. Préalables à uneanthropologie du blasphème, in:Ethnologie française 22 (1992)251–260. Disparate, empirischeUntersuchungen trägt in An-schluss an einen knappen theore-tischen Vorspann zusammen:A. Cabantous, Histoire du

    blasphème en Occident XVIe –XIXe siècle, Paris 1998. Einetheoretisch wie empirisch begrün-dete Monographie hat vorgelegt:G. Schwerhoff, Gott und dieWelt herausfordern, TheologischeKonstruktion, rechtliche Bekämp-fung und soziale Praxis der Blas-phemie vom 13. bis zum Beginndes 17. Jahrhunderts, Habilita-tionsmanuskript, Bielefeld 1996.

  • auch, dass diejenigen, die vor Gericht aussagen, keinen frei fiktiven»Text« erschaffen. Die Situation der Rede vor Gericht bedingtvielmehr, dass die Sprechenden nicht nur ihre subjektiven Stand-punkte äußern, sondern in spezifischer Weise sprachlich miteinan-der kooperieren, sofern sie sich der kommunikativen Situationnicht völlig verweigern. Den Sprechenden stehen somit zwarsprachliche Spielräume zur Verfügung, in denen sie ihre Wortestrategisch einsetzen können, doch sind die Befragten genausowe-nig autonom Erzählende wie die Richter autonome Hörer/Leserihrer »Texte« sind. Vor den Schranken des Gerichts sind Beklagte,Zeuginnen und Richter vielmehr an die Kriterien gebunden, die fürdas Justizverfahren relevant sind, wenn auch viele erzählerischeMomente in die Darstellungen einfließen. Diese belegen, wie sichdie Beteiligten unter bestimmten Relevanzsetzungen über dastatsächlich Geschehene narrativ verständigen.47 Die Gegenüber-stellung von Tathergang (Faktum) und dessen sprachlicher Ver-fasstheit in den Aussagen (Fiktion) ist deswegen zwar nicht in derSchärfe möglich, wie häufig vorausgesetzt, kann aber auch nichtprinzipiell aufgehoben werden.48

    Die bisherige Umsetzung von Überlegungen des linguistic turnwirft nicht nur die Frage auf, ob die Grenzen zwischen Tatsächli-chem und Erzähltem zu sehr verwischt werden. Mir scheint ebensoder skeptische Einwand berechtigt zu sein, ob in der – zumindestdeutschsprachigen – empirischen Forschung zwar die Terminologiedes linguistic turn zur Anwendung gelangt, dessen sprachphiloso-phische Prämissen jedoch nicht konsequent vollzogen werden. Solässt sich durchaus formulieren, dass Schöffen, Richter oder einUrteilstext ein fiktives Bild von den Beklagten konstruieren49 unddiese somit »über Attribuierungen definiert«50 werden, also dieBedeutung eines Textes sich »nicht ausschließlich auf der Ebeneseiner sprachlichen Gestaltung, sondern sozusagen zwischen dis-kursiven und nichtdiskursiven Akten konstituiert«.51 Ist dies abernicht mit der argumentativ weniger aufwendigen Feststellungidentisch, dass die an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligtenjeweils aus ihrer Perspektive einen Sachverhalt beschreiben unddabei Tatsachenaussagen treffen? Wird nicht die Ausgangspositiondes linguistic turn, es gebe hinter den Texten keine eindeutigeWirklichkeit zu entdecken, trivialisiert, wenn Quellen aufgrundeiner semantisch-syntaktischen Textanalyse »unterhalb ihrer aufden ersten Blick faßbaren … Bedeutungen ›zum Sprechen gebracht‹

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    47 Zur Bedeutung von Gerichts-protokollen und Suppliken alsQuellen, die von der Selbst- bzw.Fremdwahrnehmung der beteilig-ten Subjekte zeugen, vgl. Ego-Do-kumente (Fn. 6).

    48 Insofern stimme ich dem Argu-ment von Michael Stolleis zu, dassder »changierende Grenzbereichzwischen gesicherter Geschichts-schreibung und frei erfundenerDichtung seine Schrecken« verlie-

    ren sollte. Vgl. M. Stolleis,Rechtsgeschichte als Kunstpro-dukt. Zur Entbehrlichkeit von»Begriff« und »Tatsache«, Baden-Baden 1997, 16. Als Tagungsbe-richt zur Diskussion der vermeint-lichen Schrecken der Diskursana-lyse und linguistischen Wendeaußerdem: J. Landwehr, VomBegriff zum Diskurs. Die »linguis-tische Wende« als Herausforde-rung für die Rechtsgeschichte?,

    in: Zeitschrift für Geschichtswis-senschaft 48 (2000) 440–442.

    49 Da dankenswerterweise, so weitich sehe, Monika Mommertz eineder wenigen im deutschenSprachraum ist, die den Versuchunternommen hat, an einem kur-zen, prägnanten Beispiel eineQuelleninterpretation im Sinnedes linguistic turn vorzuführen, seies hier erlaubt, ihre Argumenta-tion als prototypisches Beispieleiner empirischen Anwendung deslinguistic turn zu diskutieren. Zuihrer präzisen und textnahenInterpretation eines eidlichenSchuldzugeständnisses einer1604/05 im BrandenburgischenAngeklagten, die »Konstruktionenvon Geschlecht im Kontext vonHerrschaft und auf der Ebene vonSprache zu historisieren versucht«,vgl. M. Mommertz, Lisa Thielen(Fn. 41), hier: 304.

    50 Ebd. 321.51 Ebd. 328.

  • werden«52 sollen? Dies scheint mir ebenfalls der Fall zu sein, wenn»das in einem Eidestext konstruierte ›Ich‹ in gewisser Weise fiktiv«ist, weil die zur Verbannung verurteilte Person der Ausweisungnicht folgt, das Urteil also erst einmal folgenlos bleibt.53 Aus derForschung ist indes bekannt, dass frühneuzeitliche Justiz auf derNormebene mit scharfen Strafen wie der langfristigen Ausweisungdroht, um sich als streng und gerecht zu stilisieren und symbolischihren Machtanspruch zum Ausdruck zu bringen. In der Strafpraxishingegen folgt die Justiz einem pragmatischen Kurs der Toleranz, indem Urteile deutlich abgemildert oder aufgehoben werden kön-nen.54 Verwässert daher das Argument vom gewissermaßen fikti-ven Subjekt des Eidestextes nicht das Konzept der Fiktion alsnarrativ konstruierte Wirklichkeit, wenn Fiktion und symbolischerDrohcharakter von Gesetzestexten gleichgesetzt werden?

    In der Anwendung, so das Zwischenfazit, steht der linguisticturn in der Gefahr, auf unnötig komplizierte Weise Ergebnisse zuTage zu fördern, die auch mit konventionellen semantisch-syntak-tischen Mitteln der Quelleninterpretation erreichbar sind. Um Textals Konstruktion von Wirklichkeit durch Subjekte und damit alsHandlung zu dechiffrieren, bedarf es eines präziseren Verständnis-ses von sprachlicher Handlung. Hierzu leisten Sprechhandlungs-theorien einen wichtigen Beitrag, wie ein weiteres Beispiel ausZürich illustrieren soll.55 Um 1545 gerieten in der Stadt ZürichHeini Breitinger aus Hottingen und ein Mann namens Sprünglimiteinander in Streit. Der Aussage Thoman Wetzels zufolge hatteBreitinger zuerst provoziert, indem er Sprüngli als Zwergen betitelthabe. Auf die Herausforderung habe Sprüngli erwidert:

    »alls gewüß er ein Zwerg wer, so gwüß were der Breitinger einKetzer und Boßwicht. Da zwergete Inn der Breitinger aber-maln. Daruff sprecher der Sprüngli: ›alls gwüß ich ein zwergbin, so gwüß hast du ein ku gehey

    ..t.‹ Da seite der Breitinger:

    ›Sprüngli, du tribst unzimliche wort.‹ Uff das seigte der Sprüng-li, der Breitinger solt zu Im kam. Da gienge er gegen Inn undspreche: ›Da bin Ich‹, gryffe auch mithin an sin gwer. Da flucheer Sprüngli.«56

    Zwar hatte sich Breitinger aufgrund seines Fluchens eigentlicheiner Gotteslästerung schuldig gemacht, doch ist leicht zu erken-nen, dass es sich hier um einen typischen frühneuzeitlichen Ehr-konflikt handelt. Der handfeste Krach erfolgte nach den Regeln der

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    52 Ebd. 305.53 Ebd. 326.54 Dies wird etwa in Ausgsburg

    ersichtlich, wo die Justiz dasStrafmittel des Stadtverweisesdifferenziert und flexibel zu hand-haben weiß. Vgl. C. A. Hofmann,Der Stadtverweis als Sanktions-mittel in der Reichsstadt Augsburgzu Beginn der Neuzeit, in: NeueWege strafrechtsgeschichtlicherForschung, hg. von H. Schlosserund D. Willoweit, Köln, Wei-mar, Wien 1999, 193–237; insbe-sondere 203 f. Zur Diskussion derpräventiven wie auch integrativenFunktion von Strafpraxis undsymbolischer Strafandrohung vgl.K. Härter, Soziale Disziplinie-rung durch Strafe? Intentionenfrühneuzeitlicher Policeyordnun-gen und staatliche Sanktionspra-xis, in: ZHF 26 (1999) 365–379;insbesondere 375 f.

    55 Eine kritische Würdigung derkonversationsanalytischen Mo-delle für die Auswertung von

    Sprechhandlungen im Gerichts-saal nimmt in Hinblick auf eineTheorie richterlichen Urteilens dieHamburger Psychologin GabrielePötscher vor. Vgl. G. Pötscher,Bausteine für eine psychologischeTheorie richterlichen Urteilens,Baden-Baden 1999. Vergleichbaregrundlegende methodologischeReflexionen fehlen für die Ge-schichtswissenschaft. Einen erstenBeitrag leistet vom Strafrecht

    herkommend: W. Naucke, DieStilisierung von Sachverhaltsschil-derungen durch materielles Straf-recht und Strafprozeßrecht, in:Erzählte Kriminalität. Zur Typo-logie und Funktion von narrativenDarstellungen in Strafrechtspflege,Publizistik und Literatur zwischen1770 und 1920, hg. von J. Schö-nert, K. Imm und J. Linder, Tü-bingen 1991, 59–86.

    56 StZH, A.27.10, um 1545.

  • Retorsion und Eskalation, wie sie im zeitgenössischen Ehrkon-zept57 begründet waren: In der ersten Runde wählt Breitinger eineprovozierende Sprechhandlung. Seine Äußerung, Sprüngli sei einZwerg, lässt sich illokutionär, propositional und perlokutionär mitden Sätzen »ich fordere dich heraus«,»du bist physisch deutlichkleiner als die Norm«, d. h. »ich bin dir haushoch überlegen«umschreiben. Breitingers Sprechhandlung ist gelungen und erfolg-reich zugleich. Sprüngli erkennt Breitingers Anrede als Provokation(Gelingen der Sprechhandlung), nimmt die Herausforderung an(Erfolg der Sprechhandlung) und stellt das Kräftegleichgewicht mitder Beleidigung »Ketzer, Bösewicht« wieder her. Es folgt die zweiteRunde, in der deutlich wird, welche Reaktionen Sprüngli auslöst.Sprüngli gibt sich nicht mit dem wiederhergestellten Patt zufrieden,sondern verschärft den Konflikt mit dem Vorwurf der »Bestiali-tät«.58 In der nächsten Runde mahnt Breitinger Sprüngli ab (derVorwurf der unziemlichen Rede). Die Sprechhandlung gelingtzwar, bleibt jedoch ohne Erfolg. Sprüngli verweigert sich demAusgleichsangebot Breitingers und treibt stattdessen die Eskalationweiter. Drohend fordert er seinen Kontrahenten auf, sich ihm dochzu nähern und gibt ihm damit zu verstehen, er stehe zu einemZweikampf bereit. Breitinger läutet mit seinem »hier bin ich« dasFinish ein. Mit seiner Äußerung gibt er nicht einfach seinenphysischen Standort an, sondern macht deutlich, dass er die Auf-forderung zur physischen Auseinandersetzung unbeeindruckt an-nimmt. Auch dieser Redezug zeigt Wirkung. Breitinger machtAnstalten, von der verbalen zur physischen Gewalt (Ziehen desMessers) überzugehen, um schließlich zur letzten blanken Waffeverbaler Gewalt zu greifen: die Verfluchung des Gegners.59 In derFolge der Redezüge wird klar, dass der Angegriffene die Flüchenicht nur lokutionär in den Mund nimmt. Er legt sich auch nichtpropositional fest, dass etwa der Teufel Breitinger holen oder ihneine Krankheit heimsuchen solle.60 Vielmehr signalisiert er illoku-tionär, dass nunmehr der Konflikt unausweichlich sei und er denAngreifer abwehre. Dabei sendet er ihm perlokutionär die Bot-schaft, dass Gott auf seiner Seite stehe, er also er Stärkere sei, daGott ihn, seinen Kontrahenten, strafen werde. So jedenfalls dürftedie Wirkung von Flüchen zu erklären sein, wie sich anhandunzählig anderer Beispiele ausführen ließe.61

    Die angeführten Zürcher Beispiele zeigen, dass textliche Quel-len als Produkte sprachlicher Kommunikation ernst genommen

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    57 Vgl. zum Begriff der Ehre und derdamit einhergehenden Ehrhändelaus der mittlerweile vielfältigenLiteratur: D. Garrioch, VerbalInsults in Eighteenth Century Pa-ris, in: Social History of Language,hg. von P. Burke und R. Porter,Cambridge 1987, 104–119;L. Faggion, Points d’honneur,poings d’honneur. Violence quo-tidienne à Genève au XVIIe siècle,in: Revue du Vieux Genève (1989)

    15–25; M. Dinges, Ehrenhändelals »Kommunikative Gattungen«.Kultureller Wandel und Volkskul-turbegriff, in: Archiv für Kultur-geschichte 75 (1992) 359–393;H. Roodenburg, De notaris ende erehandel. Beledigingen vorrhet Amterdamse notariaat, 1700–1710, in: Volkskundig Bulletin 18(1992) 367–388; L. Gowing,Gender and the Language of Insultin Early Modern London, in:

    History Workshop 35 (1993)1–21; Verletzte Ehre. Ehrkonfliktein Gesellschaften des Mittelaltersund der frühen Neuzeit, hg. vonK. Schreiner und G. Schwer-hoff, Köln, Weimar, Wien 1995;R.-P. Fuchs, Um die Ehre. West-fälische Beleidigungsprozesse vordem Reichskammergericht (1525–1805), Paderborn 1999.

    58 Die Bezeichnung beinhaltete denVorwurf, mit einer Kuh Ge-schlechtsverkehr gesucht bzw. ge-trieben zu haben. Zu diesem in derSchweiz besonders häufig verfolg-ten Delikt vgl.: In Helvetios – Wi-der die Kuhschweizer. Fremd- undFeindbilder von den Schweizern inantieidgenössischen Texten ausder Zeit von 1386 bis 1532, hg.von C. Sieber und T. Wilhelmi,Bern, Stuttgart, Wien 1998.

    59 Die Lesart, »da fluche der Sprüngliden Breitinger« ist aus sprachli-chen Gründen außerordentlichunwahrscheinlich, wenn sie auchder Logik des Schlag um Schlagentgegenkommt. Die Protokollelegten es darauf an, die Handeln-den unmissverständlich zu be-zeichnen. Deswegen wäre zuerwarten, dass der Protokollantentweder bei der Überarbeitungseiner Mitschrift eine andere Fo-mulierung gewählt hätte oder dasOriginal Korrekturspuren erken-nen lassen würde, um Sprüngli alsden Fluchenden auszumachen.Beides aber ist nicht der Fall.

    60 Die Flüche Breitingers sind nichtüberliefert. Meine fiktive Ausfor-mulierung entspräche jedoch denverbalen Usancen seiner Zeit.

    61 Vgl. F. Loetz, Mit Gott handeln(Fn. 38) 174–214.

  • werden müssen. Wer Quellen einseitig auf das inhaltlich Gesagte,auf die illokutionäre und propositionale Ebene, hin untersucht,wird gerade bei Gerichtsakten verleitet, sich auf die Rekonstruk-tion von Tathergängen zu konzentrieren und womöglich nochretrospektiv ein »richterliches Urteil« über die Vorkommnisseauszusprechen.62 Dieser Ansatz stellt die eigene historische Analy-se unnötig auf dünnes Eis. Wer vorrangig einem detektivischen»wer war’s und was haben er oder sie getan?« folgt, gelangt zumehr oder weniger wahrscheinlichen Aussagen darüber, wie es sichdenn wohl mit dem überlieferten Fall verhalten habe.63 Die Fragehingegen, wie Betroffene einen bestimmten Tathergang präsentie-ren und nach welchen Normen sie sich in ihrer Darstellungorientieren, was sie mit ihren perlokutionären Handlungen mei-nen, führt auf fruchtbareren Boden. Die Quellen dokumentierendurchaus, dass etwas passiert ist, dies jedoch immer aus derWahrnehmungsperspektive der am Gerichtsverfahren Beteiligten.Daher ist nicht der Vorfall selbst, der hinter den Aussagen verbor-gene »wahre Sachverhalt«, das historisch relevante »Faktum«,sondern die Interpretation dieses Vorfalls durch die Beteiligten;dessen »fiktionale« Ausgestaltungen verweisen auf die Art undWeise, wie diese ihre Welt gedeutet haben. Wie die klassischeHistorik geht somit der linguistic turn von der Perspektivenge-bundenheit der Quellen aus. Im Unterschied zu den konventio-nellen Ansätzen jedoch gibt der linguistic turn das Ziel auf, dieunterschiedlichen Standpunkte der Quellen zu einer faktischen,vergangenen Wirklichkeit zusammenzusetzen. Stattdessen verfolgter die Vorstellung, vergangene Wirklichkeit in der Vielfalt ihrersubjektiven sprachlichen Deutungen unter Verzicht auf eine Meis-tererzählung zu erkennen. Somit vertritt der linguistic turn eineZugangsweise, die es Historikern erlaubt, behutsamer mit dersprachlichen Verfasstheit ihrer Quellen umzugehen.

    Gerade das Beispiel der Gerichtsakten zeigt allerdings, worindie Grenzen dekonstruktivistischer Ansätze bestehen. Die »Dekon-struktion« der Akte Breitinger contra Sprüngli ist auf drei Inter-pretationsansätze beschränkt: Erstens lässt sich festhalten, dass derOriginalton dessen, was die beiden Kontrahenten sich an den Kopfgeworfen haben mögen, verloren gegangen ist. Dann ist zu beden-ken, dass die Formulierung, »da fluche er Sprüngli« nicht diegefallenen Worte wiedergibt, sondern eine summarische und ge-richtsrelevante Kategorisierung der Zeugen bzw. der Protokollan-

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    62 Zu dieser Frage im Zusammen-hang mit dem Problem der »Ver-gangenheitsbewältigung« vgl.Geschichte vor Gericht. Histori-ker, Richter und die Suche nachGerechtigkeit, hg. von N. Frei,D. van Laak und M. Stolleis,München 2000. Für die Proble-matik in Frankreich vgl. Le Gé-nocide des Juifs entre procès ethistoire 1943–2000, hg. vonF. Brayard, Paris 2000.

    63 Kritik an einer solchen »retro-spektiven Kriminalistik« übtebenfalls aus mikrohistorischerPerspektive O. Ulbricht, AusMarionetten werden Menschen.Die Rückkehr der unbekanntenhistorischen Individuen in die Ge-schichte der Frühen Neuzeit, in:Neue Blicke. Historische Anthro-pologie in der Praxis, hg. von

    E. Chovjka, R. v. Dülmen undV. Jung, Wien, Köln, Weimar1997, 16. Unter der Bedingung,dass Prozessakten in ihren Entste-hungszusammenhang eingeordnetwerden, hält es hingegen HelgaSchnabel-Schüle für möglich, die»Akten auf ihren Wahrheitsgehaltzu prüfen«. Vgl. H. Schnabel-Schüle, Ego-Dokumente imfrühneuzeitlichen Strafprozeß, in:Ego-Dokumente (Fn. 6) 295–317,

    hier: 298. Dass gerade diese»Wahrheit« der umstrittene Ver-handlungsgegenstand eines Ge-richtsverfahrens ist und daher aufdie Darstellungsinteressen der Be-teiligten hin »dekonstruiert« wer-den muss, betont: A. Griesebner,Konkurrierende Wahrheiten. Ma-lefizprozesse vor dem LandgerichtPerchtoldsdorf im 18. Jahrhun-dert, Wien, Köln, Weimar 2000,insbesondere: 144–176.

  • ten sein dürfte. Die Formulierung ist also das Produkt einerjuristischen Darstellung der Wirklichkeit. Schließlich regen dieÜberlegungen des linguistic turn zu Vermutungen darüber an,warum der Protokollant bzw. der Zeuge die dramatische Formder direkten Rede wählten. Hier kommen die kommunikations-analytischen Zugangsweisen ergänzend zum Zuge. Die Trennungin die vier Ebenen des Sprechakts ermöglicht es, die verschiedenenBotschaften, welche die Kontrahenten in der geschilderten Szeneaustauschen, genau zu bezeichnen. Um zum Ergebnis zu gelangen,dass Breitinger mit seinen Worten nicht zum Ausdruck brachte,dass Sprüngli kleinwüchsig sei, sondern Sprüngli zu provozierensuchte, dass Breitinger also etwas anderes sagte, als er meinte, mussman nicht den linguistic turn oder Konversationsanalysen bemü-hen. Das Ergebnis jedoch, dass Breitinger sich mit gezielt heraus-fordernden bzw. beleidigenden Redewendungen an Sprüngli wen-det, dabei von seiner physischen Präsenz spricht, um eigentlichGott als potentiellen Strafrichter zu funktionalisieren und mit ihmzu drohen, ist um vieles präziser, da sie Illokution, Proposition undPerlokution analytisch voneinander zu trennen erlaubt.

    Die größere Genauigkeit, welche Sprechhandlungsmodelle beider Beschreibung des Ehrkonflikts erbringen, ist nicht allein termi-nologischer Natur. Dies wird ersichtlich, wenn man den FallBreitinger contra Sprüngli mit anderen Ehrkonflikten vergleicht.Dieser Vergleich kann hier nicht im Einzelnen vorgeführt werden.Es genügt festzustellen, dass blasphemische Sprechakte wie Fluchund Schwur häufig mit Ehrkonflikten Hand in Hand gingen.Untersucht man nun genauer, was die blasphemischen Sprechersagten und was sie dagegen meinten, lässt sich zeigen, dass selbst inder zutiefst religiös geprägten Epoche der Frühen Neuzeit Gottes-lästerungen in der Regel nicht auf Gott, sondern auf den dies-seitigen Gegner zielten.64 Dank dieser Unterscheidung zwischenGesagtem und Gemeintem erhalten religiöse Tabubrüche in derhistorischen Betrachtung einen nun anderen Stellenwert. Statt sieals vorwiegend theologisches, ideengeschichtliches oder banalesaffektives Phänomen zu betrachten, lassen sie sich als verbaleFormen des Handelns mit offiziell untolerierbaren Worten inter-pretieren. Verallgemeinernd gesprochen leistet also die Analysekonversationeller Implikaturen einen zweifachen Beitrag zur Inter-pretation von Quellen: Sie erlaubt es nicht nur, Vorfälle präziserdarzustellen, sie schafft auch eine Möglichkeit, die Normen zu

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    64 Da im Rahmen dieses Aufsatzesder Nachweis des profanen Cha-rakters von Gotteslästerung nichtim Einzelnen ausgeführt werdenkann, sei verwiesen auf:G. Schwerhoff, Starke Worte(Fn. 37); G. Schwerhoff, Gottund die Welt herausfordern(Fn. 46) 399–408 sowie F. Loetz,Mit Gott handeln (Fn. 38) 174–214.

  • erschließen, auf welche die Sprechenden referieren, und somitderen kulturelle Praktiken zu erfassen:65 Ob in Gerichtsakten,Verwaltungsberichten, in Briefen, in Ansprachen oder anderenQuellengattungen, Sprechende und Adressierte tauschen in ihremverbalen Verhalten subjektive Wahrnehmungen und Verhaltens-entscheidungen und damit ihre Deutungen der Wirklichkeit mit-einander aus.66

    Linguistic turn und pragmatische Wende: Wendehälse fürdie Geschichtswissenschaft?

    Die Rezeption des linguistic turn in der deutschen Geschichts-wissenschaft lässt bisweilen den Verdacht aufkommen, dass dieQuellen empirisch nicht so heiß »gegessen« werden, wie der »Text«nach seinen theoretischen Ansprüchen postmodern »gekocht«werden müsste. Manchmal mag der Eindruck entstehen, »dekon-struieren« sei ein marktträchtiges Synonym für »analysieren«.Selbst wenn dies zuweilen der Fall ist, so trifft diese Kritik nichtden Kern des Diskussionsbeitrags, den der linguistic turn leistet:Jegliche Beschreibung der Welt ist insofern eine erzählerischeKonstruktion oder ein »Text«, als sie sprachlich verfasst ist. Mitdieser Grundposition ist die Geschichtswissenschaft zu Rechtdamit konfrontiert worden, dass sie die narrative Qualität ihrerQuellen unterschätzt und zu scharf zwischen Faktum und Fiktumtrennt. Quellenkritik beginnt sicherlich nicht erst mit dem linguisticturn, doch mahnt der linguistic turn in all seinen Schattierungen,vorsichtiger gegenüber den narrativen Mustern der Quellen zusein. Er hilft sich von der Vorstellung zu verabschieden, historischeFakten lägen in Archiven bereit und bräuchten lediglich nach denbewährten Regeln der Quelleninterpretation ausgewertet zu wer-den, um die »hinter« den Dokumenten liegenden Tatsachenver-halte aufzudecken. Gerade Gerichtsakten, die unmittelbar vomAlltag zu berichten scheinen, verdeutlichen, dass zum einen dasGeschehene nur aufgrund der Darstellung durch die Beteiligtenrekonstruiert werden kann. Zum anderen ist aber nicht dasrekonstruierbare Geschehen, sondern die zu interpretierendesprachliche Gestaltung des Geschehens für die historische Analyserelevant. Die Bezüge, welche die Quellentexte herstellen, gebendarüber Auskunft, wie sie eine Person oder einen Vorfall einord-

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    65 Um dies am Fall Breitinger contraSprüngli zu konkretisieren: Brei-tinger muss nicht davon überzeugtgewesen sein, dass Gott Sprüngliheimsuchen werde, wenn er,Breitinger, den Herrn durch einenFluch dazu »beauftragte«. Die re-ligiöse Motivation Breitingers istnicht zu klären. Dass aber Brei-tinger mit seinen Flüchen, für dieer schließlich auch vor Gerichtgeführt wurde, zur Eskalation desKonflikts beitrug, lässt erkennen,dass Breitinger das Maß des To-lerierbaren überschritten hatte.Sprüngli entschied sich dazu,Breitingers Injurie nicht auf sichsitzen zu lassen. Der Rat als Ver-treter einer Obrigkeit, die mit demGroßen Mandat von 1532 der

    Gotteslästerung den Kampf ange-sagt hatte, sah sich genausowenigin der Lage, über die Gottesläste-rung Breitingers hinwegzugehen.Somit verweist die HaltungSprünglis und der Justiz auf dengesellschaftlichen Stellenwert, densie als Subjekte dem verbalenNormbruch zuordneten. Zur Ver-folgung der Gotteslästerung inZürich vgl. F. Loetz, Mit Gotthandeln (Fn. 38) 77–101.

    66 Zur Frage, inwiefern diese Ver-haltensentscheidungen an gesell-schaftliche Normen gebundensind, ohne durch sie determiniertzu sein, vgl. M. Dinges, »Histo-rische Anthropologie« und »Ge-sellschaftsgeschichte«. Mit demLebensstilkonzept zu einer »All-tagskulturgeschichte«?, in: ZHF24 (1997) 179–214; O. Ulbricht,Marionetten (Fn. 63) 13–32.

  • nen, wie sie also Wirklichkeit deuten. Um nicht den Traum einer»objektiven« Wirklichkeit zu träumen, die man möglichst um-fassend erschließen müsse, ist es daher notwendig, die sprachlicheVerfasstheit von Wirklichkeitsdeutungen ernst zu nehmen.

    Vermag der linguistic turn den Blick für die narrative Kon-struktion der in Quellen überlieferten Wirklichkeit zu schärfen,verdeutlichen die bisherigen Versuche, den linguistic turn empirischumzusetzen, dass auch das dekonstruktivistische Argusauge nichtalles durchschauen kann. Das Verständnis von Wirklichkeit alsnarrativer Text führt leicht in terminologische und konzeptionelleUnwegsamkeiten. Die Auswertung von Quellen als »Text« stößtdort an eine Grenze, wo die sprachlich konstruierte Wirklichkeiteiner Gesellschaft in »fiktive«, rein subjektbezogene Deutungenvon Realität aufgelöst wird. Subjekte einer Gesellschaft bewegensich jedoch nicht autonom, sondern bilden eine (Sprach-)Gemein-schaft. Dieser Tatsache tragen Sprechhandlungsmodelle Rechnung,wenn sie Kommunikation auf die Kooperationsprinzipien derSprechenden zurückführen. Konversationsmodelle stellen nichtdie ontologische Frage, was (überhaupt) ist, ob objektiv odersubjektiv. Sie zielen vielmehr auf die Frage, was für die Spre-chenden in der Verständigung mit anderen ist. Modelle der Sprech-handlung berücksichtigen nicht allein, dass Welt intersubjektivkonstruiert ist; sie setzen darüber hinaus systematisch am Unter-schied von Gesagtem und Gemeintem an. Dieses Konzept bietetsomit ein Instrumentarium, mit dem sich präzise paraphrasierenund analysieren lässt, wie Menschen in ihrer Kommunikation aufgemeinsame Normen verweisen, um sprachlich miteinander zukooperieren und sich dadurch über ihre Wirklichkeit zu verständi-gen. Sich den Anregungen des linguistic turn wie der Sprach-pragmatik zu stellen bedeutet nicht, den Hals nach methodischenModetrends zu wenden. Historische Quellen auch aus sprachlicherSicht zu würdigen, heißt vielmehr die »Texte« auf ihre vergange-nen, intersubjektiven und damit kulturgeschichtlich relevantenDeutungen von Wirklichkeit hin zu erschließen. Wer historischeSchriftzeugnisse als Ausdruck sprachlicher Handlungen liest,braucht sich nicht in einer undurchsichtigen Vielfalt beliebig»fiktiver« Wahrnehmungen zu verlieren, sondern erhält vielmehreine Chance, besser zu verstehen, was zwischen den Worten ge-schrieben steht.

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