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APuZ Aus Politik und Zeitgeschichte 5 – 6/2010 · 1. Februar 2010 Landwirtschaft Tanja Busse Landwirtschaft am Scheideweg Peter Weingarten Agrarpolitik in Deutschland Karin Jürgens Wirtschaftsstile in der Landwirtschaft Franz-Theo Gottwald Agrarethik und Grüne Gentechnik Werner Rösener Landwirtschaft und Klimawandel in historischer Perspektive Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament

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APuZAus Politik und Zeitgeschichte

5–6/2010 · 1. Februar 2010

Landwirtschaft

Tanja BusseLandwirtschaft am Scheideweg

Peter WeingartenAgrarpolitik in Deutschland

Karin JürgensWirtschaftsstile in der Landwirtschaft

Franz-Theo GottwaldAgrarethik und Grüne Gentechnik

Werner RösenerLandwirtschaft und Klimawandel in historischer Perspektive

Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament

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EditorialLebensmittel sind in Deutschland so billig wie selten zuvor.

Aufgrund des scharfen Wettbewerbs unter den Discountern sinddie Abnahmepreise für Produkte der Milch- und Ackerbauerndrastisch gesunken. Bei der Eröffnung der diesjährigen GrünenWoche kündigte Bundesagrarministerin Ilse Aigner an, Innovati-on und Qualifikation zu unterstützen, um die Betriebe im Wett-bewerb zu stärken, und dafür Sorge zu tragen, dass die Bauernfür ihre Leistungen für die Gesellschaft einen angemessenenAusgleich erhalten.

In der Landwirtschaftspolitik hat Brüssel das letzte Wort: DieGemeinsame Agrarpolitik ist der am stärksten vergemeinschafte-te Politikbereich. Die Europäische Union will in diesem Jahr-zehnt die Milchquotenregelung nicht mehr verlängern und einestärker marktorientierte, an den Zielen der EU-Politik orien-tierte Agrarförderung betreiben.

Mit der von der damaligen Bundesregierung 2001 verkündeten„Agrarwende“ und der Leitlinie „Klasse statt Masse“ ist diehoch industrialisierte Land- und Viehwirtschaft in die Kritik ge-raten, ebenso die Produktion von „Genfood“ und die Nutzunggentechnisch veränderten Saatgutes. Massentierhaltung, übermä-ßiger Fleischkonsum und Überdüngung tragen erheblich zumWandel des Weltklimas bei: Dieser gefährdet nach einer aktuellenOxfam-Studie die Lebensgrundlagen von 1,7 Milliarden Klein-bauern. Die Verfasser des im April 2008 vorgelegten Weltagrar-berichts fordern einen Kurswechsel, um die Ernährung von neunMilliarden Menschen im Jahr 2050 zu sichern und den Klima-wandel einzudämmen. Die Bundesregierung hat die Ergebnissedieses Dokuments nicht unterschrieben. Eine zukunftsfähigeLandwirtschaft wird neben ökonomischen auch ökologischeAspekte berücksichtigen sowie Verbraucher- und Bauerninteres-sen in Einklang bringen müssen.

Hans-Georg Golz

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Tanja Busse

Landwirtschaftam Scheideweg

Essay

Was für ein Projekt: Hunderte vonLandwirtschaftsexpertinnen und -ex-

perten treffen sich vier Jahre lang, um Wissen,Kenntnisse und Erfah-rungen aus der ganzenWelt zusammenzutra-gen und alle verfügba-ren Daten zur Agrar-kultur auszuwerten.Gemeinsam suchen sienach einer Antwortauf die Frage: Wie solldie Welt in Zukunft er-

nährt werden? Welche Art von Landwirt-schaft kann mehr als sieben Milliarden Men-schen und mehr ernähren, ohne weitere öko-logische Schäden anzurichten und dieBodenfruchtbarkeit zu zerstören? Wenn derKlimawandel die Ernten zerstört, wenn weni-ger landwirtschaftliche Nutzfläche für mehrMenschen zur Verfügung steht und in vielenRegionen das Wasser knapp wird? Wenn dieneuen Mittelklassen der Schwellenländer denwestlichen Ernährungsstil übernehmen undso viel Fleisch wie die Europäer und Nord-amerikaner verzehren, was schon auf demheutigen Niveau Umwelt und Klima über alleMaßen belastet?

Die Experten, die Antworten auf all dieseFragen gesucht haben, kommen aus allen Dis-ziplinen und Branchen, die etwas zum ThemaLandwirtschaft und Ernährung zu sagenhaben. Unter ihnen sind Agrarwissenschaftlerund Soziologen, Vertreter der Industrie, vonNichtregierungsorganisationen (NGOs), Ver-braucherorganisationen und des traditionel-len Wissens. Alle Perspektiven sollten be-rücksichtigt werden, von armen Ländern undvon reichen, von Männern und Frauen, vonTheoretikern und Praktikern. „PartizipativeWissenschaft“ war das Ziel des Mammutpro-jekts Weltagrarbericht, der im englischenOriginal den sperrigen Namen International

Assessment of Agricultural Knowledge, Sci-ence and Technology for Development, kurzIAASTD, trägt.

Sein Direktor Robert Watson war Chefwis-senschaftler bei der Weltbank und zuständigfür das Thema Nachhaltigkeit; er hat den Welt-klimarat IPCC geleitet und dann den Welt-agrarbericht auf den Weg gebracht. Der sollteähnlich wie der Weltklimarat zu einer neuen,globalen Instanz für die globalen Ernährungs-fragen werden. Denn Landwirtschaft ist inihrer industrialisierten Variante längst ebensoglobalisiert wie der Rest der Wirtschaft – unddamit ebenso anfällig für Krisen. Der plötzli-che Anstieg der Lebensmittelpreise im Jahr2008 etwa, der Mais, Reis und Brot für viele inden Städten vor allem des Südens unbezahlbarmachte und zahlreiche Hungerrevolten aus-löste, hat die Verantwortlichen bis ins Mark er-schüttert. Vielen wurde deutlich, dass Hungerzum Sicherheitsproblem werde könnte. Unddass sich schon allein deshalb etwas daran än-dern muss an der Art und Weise, wie wir Land-wirtschaft betreiben und vor allen Dingen, wieder Zugang zu Land, Wasser und Lebensmit-teln in Zukunft organisiert wird.

61 Regierungen verabschiedeten den Welt-agrarbericht – doch die Bundesregierung ist bis-her nicht darunter. Kurz nach der Veröffentli-chung 2008 wurde Ilse Aigner zur neuen Mi-nisterin für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz ernannt, doch aus ihremMinisterium kam kein Kommentar. Frustriertüber das Schweigen der Bundesregierung ent-schied eine Gruppe von NGOs, die sich unterdem Namen „Freunde des IAASTD“ zusam-mengeschlossen hatten, der Agrarministerinden Bericht öffentlich zu überreichen, auf derGrünen Woche in Berlin im Januar 2009. EinJournalist fragte die Ministerin daraufhin nachihrer Meinung. Lachend antwortete sie, der Be-richt sei ihr doch gerade erst übergeben worden:„Insofern können Sie nicht erwarten, dass ichdas alles schon gelesen habe. Aber ich habe esgerne entgegengenommen.“ 1

Aigner war kaum drei Monate im Amt,doch wenige Tage später eröffnete sie den 1.

Tanja BusseDr. phil., geb. 1970; Moderatorin

beim Westdeutschen Rundfunk(WDR), Köln; Publizistin zu den

Themen Landwirtschaftund politischer Konsum.

[email protected]

April 2010 erscheint: Tanja Busse, Die Ernährungs-diktatur. Warum wir nicht länger essen dürfen, was unsdie Industrie auftischt. Blessing Verlag, München.1 Ilse Aigner in der Sendung Politikum auf WDR 5 am22. 1. 2009.

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Berliner Agrarministergipfel, bei dem es umeben jenes Thema Welternährung ging. 2 Wiekann ein Ministerium den wichtigsten inter-nationalen Bericht zum Thema, von Welt-bank, Vereinten Nationen und der EU unter-stützt, ignorieren? Bis heute gibt es keine Un-terschrift der Bundesregierung unter denWeltagrarbericht, und vor allem: keineWende in der deutschen und europäischenAgrar- und Ernährungspolitik. Doch genaudas fordert der Weltagrarbericht. Seine klareBotschaft lautet: So wie bisher geht es nichtweiter. Business as usual ist keine Optionmehr. 3 Denn zum einen hungern immermehr Menschen, paradoxerweise vor allemauf dem Land, und zum anderen richtet dieimmer dominanter werdende agrarindus-trielle Produktionsweise irreversible ökologi-sche Schäden an. Es hungern mehr Menschenals jemals zuvor in der Geschichte derMenschheit, über eine Milliarde. Hinzukommt eine weitere Milliarde Mangel- undFehlernährte: Der Weltagrarbericht gibt an,dass nur etwa zwei Drittel der Menschen aus-reichend mit Vitaminen und Mineralstoffenversorgt seien – eine Folge der Weizen-, Reis-und Mais-Monokulturen, die eine Reihenährstoffreicherer Pflanzen verdrängt haben.Menschen, die am Mangel dieser Nährstoffeleiden, sind schwächer und anfälliger fürKrankheiten. 4 Diesen Milliarden schlechtversorgter, armer Menschen stehen über eineMilliarde gegenüber, die so übergewichtigsind, dass sie ihre Gesundheit gefährden.

Der Weltagrarbericht fordert, den Hungernicht mit Nahrungsmittellieferungen von an-derswo zu bekämpfen, sondern durch einenverbesserten Anbau direkt auf den Feldernder Kleinbauern. Denn sie – und nicht diegroßen Betriebe – sind das Rückgrat derWelternährung: Sie produzieren den größtenTeil aller Lebensmittel – auf Höfen, die klei-ner sind als zwei Fußballfelder. Die durch-schnittliche Hofgröße in Asien liegt bei 1,6Hektar, darüber staunten selbst Experten, diesich lange mit kleinbäuerlicher Landwirt-schaft auseinandergesetzt haben. Solche Höfe

dürfen nicht mehr der direkten Konkurrenzvon kapitalintensiven agrarindustriellen Be-trieben ausgesetzt sein, die Arbeitskraft vonMenschen und Tieren durch Maschinen,Kunstdünger und Pestizide ersetzen und die„seit Jahrzehnten politisch und wirtschaftlichso unterstützt wurden, dass sie in zunehmen-dem Maße von volumenbedingten Kostenein-sparungen durch Spezialisierung und zugleichvon einer Externalisierung von sozialen undUmweltkosten profitieren konnten“. 5

Kurz: Die Kleinbauern ernähren die Welt,ohne dabei die langfristigen Grundlagen derAgrarkultur zu zerstören. Sie brauchen Zu-gang zu Land und zu den regionalen Märkten.Und sie müssen vor unfairem und umwelt-schädlichem Wettbewerb der Agroindustriegeschützt werden. Denn der größte Teil deragrarindustriellen Betriebe wirtschaftet aufKosten der Umwelt und der Zukunft. „Wennwir darauf bestehen, weiter zu machen wiebisher, lässt sich die Bevölkerung der Welt inden nächsten 50 Jahren nicht mehr ernähren.Die Umweltzerstörung wird zunehmen, unddie Kluft zwischen Reich und Arm wird grö-ßer werden“, warnt Robert Watson.

Man kann das sehr lange ignorieren, weildie bedrohlichen Veränderungen zunächstunsichtbar sind: die Auswirkungen des Kli-mawandels, der schleichende Verlust der Bo-denfruchtbarkeit und die schwindende Biodi-versität. Die industrialisierte Landwirtschafthat die Artenvielfalt so reduziert, dass geneti-sche Armut droht. Nur fünfzehn Pflanzenar-ten liefern 90 Prozent der Energie für unsereLebensmittel, aber diese Hochleistungspflan-zen sind sehr anfällig, ebenso wie die Turbo-tiere in den Agrarfabriken.

Das System der agrarindustriellen Land-wirtschaft ist auch deshalb gefährdet, weil esauf einem hohen Einsatz von Rohstoffen be-ruht, deren Verfügbarkeit bald zu Ende geht.„Wir haben ein Lebensmittelsystem, das sichbei einem Ölpreis von 15 Dollar pro Barrelentwickelt hat“, sagt Paul Roberts, der in sei-nem Buch „The End of Food“ den Kollapsder Agrarindustrie voraussagt: „Wenn derPreis auf 150 bis 200 steigt, haben wir einNachhaltigkeitsproblem. 40 Prozent derweltweit erzeugten Kalorien beruhen aufkünstlich hergestelltem Stickstoff-Dünger.

2 Vgl. Global Forum for Food and Agriculture, on-line: http://gffa-berlin.de (13. 1. 2010).3 Vgl. Weltagrarbericht. Synthesebericht, dt. Über-setzung hrsg. von Stephan Albrecht/Albert Engel,Hamburg 2009, S. 6; freier Download: http://hup.sub.uni-hamburg.de/products-page/publikationen/78 (13. 1. 2010).4 Vgl. ebd., S. 54. 5 Ebd.

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Die Vorstellung, dass dieser Dünger in dennächsten 50 Jahren vier und fünf und sechsMal so teuer sein wird, ist atemberaubend.“ 6

Atemberaubend ist ein freundliches Wortfür das, was Roberts beschreibt: Die Welter-nährungsindustrie ist von Inputs abhängig,die vor der Erschöpfung stehen: Öl, Wasser,Boden, Dünger. Hans Herren vom Millenni-um Institute in Arlington, Virginia, Ko-Präsi-dent des Weltagrarberichts, bringt es so aufden Punkt: „Die industrialisierte Landwirt-schaft ist bankrott, sie braucht mehr Energie,als sie produziert. Mit dem Auslaufen vonfossiler Energie, der Basis für Kunstdüngerund Agro-Chemikalien, wird sie in fünfzigbis hundert Jahren absterben.“

Aber was ist mit den beeindruckenden Er-folgen der Grünen Revolution? Hat sie mitihren unglaublichen Produktivitätssteigerun-gen durch Kunstdünger und besseres Saatgutnicht Millionen Menschen das Leben gerettet?Das hat sie ohne Zweifel – nur eben in einemSystem, das sich als nicht nachhaltig erwiesenhat. Es hat vor allem daran gearbeitet, reinmengenmäßig den Ertrag pro Hektar oderVieheinheit zu steigern, ohne nach rechts undlinks zu schauen: 110 Doppelzentner Weizenpro Hektar – mit dem Einsatz von Kunstdün-ger, bei dessen Gewinnung (nach dem Haber-Bosch-Verfahren) riesige Mengen fossilerEnergien verbraucht werden. Oder Kühe miteiner Jahresbestleistung von 11 000 LiternMilch, aber einer durchschnittlichen Lebens-erwartung von fünf Jahren. Oder ein in 35Tagen schlachtreif gemästetes Turbohähnchen– gefüttert mit Sojaschrot aus brasilianischenoder argentinischen Monokulturen. Soja istein gutes Beispiel für die Schwächen einer glo-balisierten Landwirtschaft: Ohne dieses billigeEiweißfutter würde unsere industrialisierteTierhaltung nicht funktionieren. In Europawerden immer größere Ställe für immer mehrTiere gebaut, obwohl Milch- und Fleischpro-dukte längst im Übermaß vorhanden sind.Deshalb bemüht sich das Bundeslandwirt-schaftsministerium darum, Exportmärkte fürdeutsches Fleisch in Asien zu erschließen.

Die Berliner Agrarwissenschaftlerin Chris-tina Schuler hat ausgerechnet, wie groß dieSoja-Anbaufläche allein für die Tierprodukti-on in Deutschland ist: 28 000 Quadratkilome-

ter, eine Fläche größer als Mecklenburg-Vor-pommern und das Saarland zusammen. 7 InArgentinien werden beinahe ausschließlichgentechnisch veränderte Sojabohnen ange-baut: Roundup Ready Soja des ehemaligenChemiekonzerns Monsanto wächst dort aufmehr als 15 Millionen Hektar. Auf Deutsch-land übertragen, hieße das, als wüchse aufallen Feldern von Flensburg bis Berchtesga-den nichts als Gensoja – und keine einzige an-dere Pflanze. In Brasilien wiederum wurdejahrelang Regenwald für Sojafelder abge-holzt, bis protestierende Umweltschützer einMoratorium aushandelten. Die weltumspan-nende Sojawirtschaft ist das größtmöglicheGegenteil von ökologischer Kreislaufwirt-schaft, mit Opfern auf allen Seiten: Die gigan-tischen Sojafelder zerstören die Subsistenz-wirtschaft der Kleinbauern in Südamerika,die riesigen Mastställe nehmen den kleinenBauernhöfen hier die Arbeit weg, das billigeFleisch mästet die Bevölkerung, und die welt-umspannenden Transporte befeuern den Kli-mawandel. Und dabei ist Soja als Tierfutterfür die Fleischproduktion nur ein kleinesProblem angesichts der gigantischen Flächen,welche die Produktion von Agrosprit in Zu-kunft noch in Anspruch nehmen könnte.

Das Zauberwort des Weltagrarberichtsgegen solche Entwicklungen heißt Multi-funktionalität der Landwirtschaft: AlleAgrarpolitik und -forschung muss zukünftigim Blick haben, dass Landwirtschaft nicht al-lein ökonomische Aufgaben zu erfüllen hat,sondern auch ökologische und gesellschaftli-che. Es geht nicht allein um die Erträge aufden Feldern, sondern auch darum, dass dieBauern von ihrer Arbeit in Zukunft lebenkönnen. Dass sie nicht weiter verelenden, wiederzeit die Milchbauern in Europa; dass sienicht zur Landflucht gezwungen werden, wiein vielen Teilen Afrikas und Südamerikas.Und es geht um den Erhalt unsere Landschaf-ten und Ökosysteme, die nicht einer Round-up-Ready-Sojabohnen-Monokultur im ar-gentinischen Maßstab weichen sollte.

6 Vgl. Paul Roberts, The End of Food, Chicago 2008.

7 Vgl. Christina Schuler, Für Fleisch nicht die Bohne.Futter und Agrokraftstoff – Flächenkonkurrenz imDoppelpack. Eine Studie zum Sojaanbau für die Er-zeugung von Fleisch und Milch und für den Agro-kraftstoffeinsatz in Deutschland 2007, hrsg. vomBUND, Berlin 2008.

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Peter Weingarten

Agrarpolitik inDeutschland

Obwohl die Gemeinsame Agrarpolitik(GAP) der Europäischen Union (EU)

erst 2008 einem „Gesundheitscheck“ unter-zogen und geringfügigmodifiziert wurde,sind die Diskussionenüber die nächste Re-form der GAP bereitsin vollem Gange.Wichtige Entschei-dungen stehen bevor,wie die Agrarpolitikin der nächsten Fi-nanzperiode der EU(2014–2020) aussehenwird. Wichtig sind

diese Entscheidungen nicht nur für die Ak-teure der Agrar- und Ernährungswirtschaft,sondern auch für Steuerzahler und Verbrau-cher. Die Agrarpolitik ist seit Jahrzehnten deram stärksten vergemeinschaftete Politikbe-reich der EU. Die wesentlichen Entscheidun-gen über die Ausgestaltung der Agrarpolitikin Deutschland fallen daher auf EU-Ebene.

Dies trifft insbesondere für die Agrarmarkt-und -preispolitik sowie die ursprünglich alsAusgleich für Preissenkungen eingeführten di-rekten Einkommenszahlungen an Landwirtezu (diese Politikbereiche bilden die 1. Säule derGAP). Im Bereich der Politik für ländlicheRäume, der so genannten 2. Säule der GAP, 1

obliegt den Bundesländern die Ausgestaltunginnerhalb des von der EU gesetzten Rahmens,dem Bund kommt eine koordinierende und(ebenso wie der EU) mitfinanzierende Rollezu. Die 2. Säule der GAP umfasst Maßnahmender Agrarstruktur- und der Agrarumweltpoli-tik sowie Maßnahmen zur ländlichen Ent-wicklung im engeren Sinne.

Die Agrarumweltpolitik in Deutschlandwird damit einerseits stark von Vorgaben derEU beeinflusst. Andererseits bestehen aberSpielräume, wie die Mitgliedstaaten den Rah-men nutzen und in nationales Recht umset-zen. In einzelnen Bereichen wie dem Boden-

schutz liegen die Kompetenzen bis heutevollständig bei den Mitgliedstaaten. DieAgrarsozialpolitik ist der einzige für dieLandwirtschaft bedeutende Bereich, in demnahezu ausschließlich der Bund zuständig ist.

Ziele der Agrarpolitik

Die gesetzlich proklamierten Ziele der Agrar-politik sind in Deutschland seit mehr als 50 Jah-ren unverändert im Landwirtschaftsgesetz von1955 festgeschrieben. Aus § 1 lassen sich folgen-de Ziele ableiten: a) Teilnahme der Landwirt-schaft an der volkswirtschaftlichen Entwick-lung; b) bestmögliche Versorgung der Bevölke-rung mit Ernährungsgütern; c) Ausgleich dernaturbedingten und wirtschaftlichen Nachteileder Landwirtschaft; d) Steigerung der Produkti-vität; e) Angleichung der sozialen Lage der inder Landwirtschaft Tätigen an die vergleichba-rer Berufsgruppen („Paritätsziel“). In ähnlicherWeise wurden 1957 in den Römischen Verträ-gen (EWG-Vertrag) in Artikel 39 die Ziele derGemeinsamen Agrarpolitik proklamiert: a)Steigerung der Produktivität der Landwirt-schaft durch Förderung des technischen Fort-schritts; b) Gewährleistung einer angemessenenLebenshaltung der in der Landwirtschaft Täti-gen durch die Steigerung der Produktivität; c)Stabilisierung der Märkte; d) Sicherstellung derVersorgung der Bevölkerung; e) Belieferung derVerbraucher zu angemessenen Preisen. DieseZiele wurden unverändert in den Vertrag vonLissabon übernommen. 2

Es verwundert nicht, dass in den 1950erJahren Umwelt-, Natur- und Tierschutzsowie der Verbraucherschutz nicht zum Ziel-katalog der Agrarpolitik gehörten. Aus heuti-ger Sicht kommt ihnen dagegen wichtige Be-deutung für die Agrarpolitik zu. Dass die imLandwirtschaftsgesetz bzw. den RömischenVerträgen festgelegten Ziele der Agrarpolitikseit mehr als einem halben Jahrhundert nichtverändert wurden, dürfte einerseits daran lie-gen, dass ihre Bedeutung für die Ausgestal-tung der Agrarpolitik im Zeitablauf abge-nommen hat. Andererseits legt beispielsweise

Peter WeingartenDr. agr., geb. 1965; Professor

und Direktor, Leiter des Institutsfür Ländliche Räume des Johann

Heinrich von Thünen-Instituts(vTI), Bundesforschungsinstitutfür Ländliche Räume, Wald und

Fischerei, Bundesallee 50,38116 Braunschweig.

[email protected]

1 Maßnahmen der 1. Säule werden vollständig aus demEU-Haushalt finanziert; Maßnahmen der 2. Säulewerden von der EU und dem jeweiligen Mitgliedstaatgemeinsam finanziert und von den Mitgliedstaatenüber mehrjährige Programme zur ländlichen Entwick-lung umgesetzt.2 Art. 39 des Vertrags über die Arbeitsweise derEuropäischen Union.

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der Vertrag von Lissabon fest, dass bei derFestlegung und Durchführung der Politikender Union – und damit auch der GAP – denErfordernissen des Wohlergehens der Tiere invollem Umfang Rechnung zu tragen ist. Ähn-liches gilt auch bezüglich des Verbraucher-und des Umweltschutzes. Das Landwirt-schaftsgesetz soll laut Koalitionsvertrag indieser Legislaturperiode novelliert werden:„Wir werden das Landwirtschaftsgesetz inRichtung eines modernen Gesetzes für dieLandwirtschaft und den ländlichen Raumweiterentwickeln und das Ziel einer flächen-deckenden, nachhaltigen Landbewirtschaf-tung in Deutschland festschreiben.“ 3

Entwicklung derGemeinsamen Agrarpolitik

Die Gewichte der proklamierten und der im-pliziten Ziele der Agrarpolitik haben sich imLaufe der Zeit verschoben. Die „Geschichteder Agrarpolitik in der Europäischen Union(. . .) ist eine Geschichte der Reformen“, 4 wie

aus der schematischen Darstellung der Ent-wicklung der GAP in der Tabelle deutlichwird. Vor dem Hintergrund von Unterversor-gung und Hunger in den Kriegs- und erstenNachkriegsjahren, dem hohen Anteil derAusgaben für Lebensmittel an den Haushal-ten und den ausgeprägten strukturellen Ein-kommensproblemen in der Landwirtschaftkam der Ernährungssicherung und der Pro-duktivitätssteigerung in den 1960er Jahrengroße Bedeutung zu. 5 Zur Regelung derAgrarmärkte wurden Marktordnungen ge-schaffen, was ein „grundlegender Konstruk-tionsfehler“ 6 war: „Durch Marktordnungenfür landwirtschaftliche Produkte sollten diePreise angehoben, die Landwirte geschütztund deren Einkommen verbessert werden.“ 7

Tabelle: Entwicklung der Gemeinsamen AgrarpolitikProduktivität

Wettbewerbsfähigkeit

Nachhaltigkeit

Die frühenJahre

Krisenjahre MacSharry-Reform (1992)

Agenda 2000(1999)

LuxemburgerBeschlüsse (2003)

GAP „Gesund-heitsprüfung“

(2008)

1960er Jahre1970er bis

1980er Jahre 1990er Jahre1. Hälfte

2000er Jahre2. Hälfte

2000er Jahreab Ende

2000er Jahre

Ernährungs-sicherung

Produktivitäts-steigerung

Markt-stabilisierungEinkommens-

stützung

ÜberproduktionAusgaben-explosion

InternationaleFriktionenStruktur-

maßnahmen

Überschuss-reduzierung

UmweltEinkommens-stabilisierung

Budget-stabilisierung

Vertiefung desReformprozesses

Wettbewerbs-fähigkeitLändliche

Entwicklung

MarktorientierungVerbraucheraspekte

LändlicheEntwicklung

UmweltVereinfachung

WTO-Kompatibilität

Bekräftigung der2003-ReformNeue Heraus-forderungen

Risiko-management

Quelle: European Commission, DG Agriculture and Rural Development (EC DG Agri), Agricultural Policy Per-spectives. The CAP in perspective: from market intervention to policy innovation. Brief no. 1, December 2009, S. 2,online: http://ec.europa.eu/agriculture/publi/app-briefs/01_en.pdf (4. 1. 2010); eigene Übersetzung, ergänzt.

3 Wachstum. Bildung. Zusammenhalt. Der Koali-tionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP, online:www.cdu.de/doc/pdfc/091026-koalitionsvertrag-cducsu-fdp.pdf (4. 1. 2010).4 Dieter Kirschke/Astrid Häger, Agrarpolitik in derEuropäischen Union: Abkehr vom Protektionismus?,in: Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesell-schaftspolitik, 118 (2008) 4, S. 49–54, hier: S. 49.

5 Vgl. Martin Petrick, The Co-evolution of Semanticsand Policy Paradigms: 50 Years of Europe’s CommonAgricultural Policy, in: Intereconomics, 43 (2008) 4,S. 246–252.6 D. Kirschke/A. Häger (Anm. 4), S. 49.7 Ebd. Vor den negativen Folgen einer solchen Politikwurde von wissenschaftlicher Seite frühzeitig gewarnt,vgl. z.B das sogenannte „Professorengutachten“: Ge-meinsames Gutachten von Mitgliedern des Wissen-schaftlichen Beirates beim BML und von wirtschafts-wissenschaftlichen Beratern der Kommission derEWG, Wirkungen einer Senkung der Agrarpreise imRahmen einer gemeinsamen Agrarpolitik der Euro-päischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) auf die Ein-kommensverhältnisse der Landwirtschaft in der Bun-desrepublik Deutschland. EWG-Studien, ReiheLandwirtschaft, Nr. 11, Brüssel 1962.

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Kennzeichnend für die meisten Marktord-nungen waren ein hoher Außenschutz, Min-desterzeugerpreise (die über dem Weltmarkt-preis lagen) und staatliche Aufkäufe zurPreisstützung (Interventionssystem) sowieExportsubventionen, um Überschüsse aufdem Weltmarkt absetzen zu können.

„Milchseen“, „Butter-“ und „Getreideber-ge“ sind Metaphern, welche die Öffentlich-keit in den späten 1970er und den 1980erJahren mit der Agrarpolitik verband, ebensowie ausufernde Agrarausgaben und subven-tionierte Agrarexporte mit negativen Aus-wirkungen auf die Erzeuger in Entwick-lungsländern. Dies alles waren Folgen derstark gestiegenen (Überschuss-)Produktion.Diese Metaphern haben seit mehr als einemJahrzehnt ihre Berechtigung verloren;„Milchseen“, „Butterberge“ und „Getreide-berge“ existieren schon lange nicht mehr.Exportsubventionen haben stark an Bedeu-tung verloren und sollen nach 2013 nichtmehr eingesetzt werden. In den 1980er Jah-ren wurden von der Gesellschaft zunehmendnegative ökologische Auswirkungen der In-tensivierung und regionalen Spezialisierungder Landwirtschaft wahrgenommen, inDeutschland insbesondere, nachdem derSachverständigenrat für Umweltfragen(SRU) 1985 das Sondergutachten „Umwelt-probleme der Landwirtschaft“ veröffentlichthatte. 8

Als Reaktion auf die mit den „Krisenjah-ren“ verbundenen Probleme, aber auch imHinblick auf die laufenden Verhandlungenzur Liberalisierung der Agrarmärkte im Rah-men der Uruguay-Runde des GATT (Gene-ral Agreement on Tariffs and Trade, der Vor-läufereinrichtung der Welthandelsorganisati-on WTO/World Trade Organization) setzteder irische Agrarkommissar Ray MacSharry1992 eine wegweisende Reform der europäi-schen Agrarpolitik durch, die einen erstenSchritt weg von einer einkommensorientier-ten Preispolitik hin zu einer am Markt orien-tierten Agrarpolitik darstellte. Interventions-preiskürzungen von 35 Prozent bei Getreidegingen einher mit der Einführung von flä-chengebundenen Preisausgleichszahlungenund einer obligatorischen Flächenstilllegung.Als flankierende Maßnahme wurde unter an-

derem die Förderung umweltgerechter Pro-duktionsverfahren in die GAP eingeführt. 9

Mit der 1999 beschlossenen Agenda 2000,die unter anderem der Vorbereitung der EUauf die Osterweiterung diente, wurde dieserReformweg einer stärkeren Marktorientie-rung (Kürzung von Interventionspreisen) undeiner Einkommensstützung über direkte Ein-kommenstransfers (die nun nicht mehr Preis-ausgleichs-, sondern Direktzahlungen ge-nannt werden) fortgesetzt. Die Politik zurländlichen Entwicklung wurde als 2. Säule derGAP aufgewertet und fasst Agrarstruktur-und Agrarumweltmaßnahmen sowie über denAgrarsektor hinausgehende Maßnahmen zurländlichen Entwicklung zusammen.

Die Luxemburger Beschlüsse von 2003(„Halbzeitbewertung der GAP“) setzen denRahmen für die GAP bis 2013. Wichtige Ele-mente sind weitere Kürzungen von Interven-tionspreisen bei gleichzeitiger Erhöhung undweitgehender Entkopplung der bisher nochan die Produktion gebundenen Direktzahlun-gen, die Bindung der Direktzahlungen an dieEinhaltung anderweitiger Verpflichtungen(Cross Compliance) 10 und die Umschichtungvon Finanzmitteln aus der 1. in die 2. Säuleder GAP durch Kürzung der Direktzahlun-gen (Modulation). Die Reformen der Markt-organisationen für Zucker (2005), Obst undGemüse (2007) sowie Wein (2007) gehenebenfalls in diese Richtung.

Wie in den Luxemburger Beschlüssen vor-gesehen, erfolgte 2008 eine „Gesundheitsprü-fung“ (Health Check) der GAP. Wichtige Er-gebnisse sind Maßnahmen im Milchbereich,mit denen eine „weiche Landung“ bis zur2015 erfolgenden Abschaffung der Milchquo-te erreicht werden sollen, ferner eine allge-meine Erhöhung der Modulation und dieEinführung einer progressiven Modulation(überproportionale Kürzung der Direktzah-lungen für Großbetriebe). Die durch die

8 Vgl. SRU, Umweltprobleme der Landwirtschaft,Stuttgart 1985.

9 Vgl. Wilhelm Henrichsmeyer/Heinz Peter Witzke,Agrarpolitik. Bd. 2: Bewertung und Willensbildung,Stuttgart 1994, S. 582 ff.10 Diese anderweitigen Verpflichtungen betreffen 18EU-Richtlinien und -Verordnungen aus den BereichenUmwelt, Gesundheit von Mensch, Tier und Pflanzeund Tierschutz (s. Anhang III der EG-Verordnung Nr.1782/2003) und den Erhalt der Flächen in einem gutenlandwirtschaftlichen und ökologischen Zustand (s.Anhang V der Verordnung).

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Health-Check-Beschlüsse aus der 1. in die 2.Säule umgeschichteten Finanzmittel müssenfür die sogenannten „neuen Herausforderun-gen“ verwendet werden, das heißt für Maß-nahmen in den Bereichen Klimawandel, Er-neuerbare Energien, Wassermanagement, bio-logische Vielfalt und Begleitmaßnahmen imMilchsektor.

Die Abbildung spiegelt die zunehmendeMarktorientierung der GAP wider. Bis zurMacSharry-Reform entfielen deutlich über 90Prozent der EU-Agrarausgaben auf Export-subventionen und sonstige Marktstützung(staatlicher Aufkauf von Überschüssen), alsoauf Instrumente, welche die Überschusspro-duktion stimuliert haben, handelsverzerrendwirkten und Anreize für eine über das gesell-schaftlich gewünschte Maß hinausgehendeNutzung von Umweltressourcen setzten. DieReformen seit den 1990er Jahren waren mitder Reduzierung der staatlichen Preisstüt-zung und einer Angleichung an das Niveauauf den Weltagrarmärkten verbunden. AlsAusgleich wurden Direktzahlungen einge-führt, auf die 2008 rund 70 Prozent aller EU-Agrarausgaben entfielen. Während die Di-rektzahlungen anfänglich an die Produktiongekoppelt waren (z. B. an die Getreideflächeoder die Anzahl an Mutterkühen), ist dies seit2005 zunehmend nicht mehr der Fall, was zueiner gewünschten stärkeren Orientierungder landwirtschaftlichen Produktion an dieMarktnachfrage führt. Sonstige Marktstüt-zungen und Exportsubventionen machten2008 nur noch zehn Prozent aus. Zugenom-men hat in den vergangenen Jahrzehnten dieBedeutung von Maßnahmen der Politik zurländlichen Entwicklung: Auf sie entfiel 2008ein Fünftel der EU-Agrarausgaben.

Der Anteil der EU-Agrarausgaben am Ge-samthaushalt ging in den vergangenen 20 Jahrenvon rund 75 auf 44 Prozent zurück und wird2013 bei weniger als 40 Prozent liegen. 11 In ab-soluten Zahlen betrugen die EU-Agrarausga-ben 2008 49,9 Milliarden Euro. Auf Deutsch-land entfielen davon insgesamt 6,5 Milliarden,von denen 5,5 Milliarden für Direktzahlungen,0,2 Milliarden für Marktstützungen sowie 0,8Milliarden für ländliche Entwicklung (2. Säuleder GAP, nur EU-Mittel) verwendet wurden. 12

Die seit Anfang der 1990er Jahre erfolgteAbkehr von der „alten“, einkommensorien-tierten Agrarpreispolitik hin zu einer stärkermarkt- und wettbewerbsorientierten Agrar-politik mit direkten, von der aktuellen Pro-duktion entkoppelten Einkommenstransfersist grundsätzlich positiv zu sehen. Die Refor-men der vergangenen beiden Jahrzehntehaben geholfen, Preisverzerrungen abzubau-en, zu einer besseren Faktorallokation beizu-tragen und Wohlfahrtsverluste zu reduzieren.Sie haben den Weg zu einer Liberalisierungder Weltagrarmärkte und einer Angleichungder Agrarpreise in der EU an das Weltmarkt-niveau geebnet. Sie haben die Transfereffizi-enz erhöht, da die Stützung landwirtschaftli-cher Einkommen über entkoppelte Direkt-

Abbildung: Entwicklung der EU-Agrarausgaben nach Ausgabenbereichen

Quelle: EC DG Agri (wie Tab.), S. 5.

11 Vgl. European Commission, DG Agriculture andRural Development. Agricultural Policy Perspectives.The CAP in perspective: from market intervention topolicy innovation. Brief no. 1, December 2009, S. 10,online: http://ec.europa.eu/agriculture/publi/app-briefs/01_en.pdf (4. 1. 2010).12 Vgl. European Commission, DG Agriculture andRural Development. Agricultural Policy Perspectives.Member States factsheets – 2009 European Union,S. 10, online: http://ec.europa.eu/agriculture/publi/ms_factsheets/2009/de_en.pdf (4. 1. 2010).

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zahlungen wirksamer als über gestützte Er-zeugerpreise erfolgen kann. 13 Sie habenzudem die öffentlichen Haushaltsausgabenbegrenzt und verlässlicher planbar gemacht.Nicht zuletzt haben sie dazu beigetragen, dieKonsumenten zu entlasten, und mit der 2.Säule der GAP ein Instrumentarium geschaf-fen, mit dem die Entwicklung ländlicherRäume unterstützt und Gemeinwohlleistun-gen der Landwirtschaft zum Beispiel im Um-weltbereich gezielt honoriert werden können.

Dass solche Reformen nicht schon eherumgesetzt wurden – produktungebundene,zeitlich befristete, direkte Einkommenszah-lungen wurden bereits im sogenannten Pro-fessorengutachten von 1962 empfohlen 14 –und nicht immer stringent verlaufen sind, 15

hat verschiedene Gründe, auf die hier nichteingegangen werden kann. 16 Auch wenn dieheutige GAP in vielerlei Hinsicht besser istals vor zwei Jahrzehnten, besteht weitererReformbedarf. Hierauf wird weiter unten zu-rückzukommen sein.

Politik zur Entwicklung ländlicherRäume in Deutschland

Im Gegensatz zur 1. Säule der GAP kommtbei der 2. Säule, der Politik zur Entwicklungländlicher Räume, den Mitgliedstaaten – inDeutschland den Bundesländern – eine ge-wichtige Rolle bei der Formulierung, Finan-zierung und Umsetzung der Politik zu. DieEU gibt mit der Verordnung zur „Förderungder Entwicklung des ländlichen Raums durchden Europäischen Landwirtschaftsfonds fürdie Entwicklung des ländlichen Raums(ELER)“ 17 den Rahmen vor. Dem Bund

kommt über die Gemeinschaftsaufgabe „Ver-besserung der Agrarstruktur und des Kü-stenschutzes“ (GAK) 18 eine koordinierendeund (ebenso wie der EU) mitfinanzierendeRolle 19 zu. Zur Umsetzung der 2. Säule derGAP stellen die Bundesländer Programmezur ländlichen Entwicklung auf, die von derKommission notifiziert werden müssen. 20

Die über vierzig Maßnahmen der ELER-VOsind vier Schwerpunkten zugeordnet: 1) Ver-besserung der Wettbewerbsfähigkeit derLand- und Forstwirtschaft; 2) Verbesserungder Umwelt und der Landschaft; 3) Lebens-qualität im ländlichen Raum und Diversifi-zierung der ländlichen Wirtschaft; 4) LEA-DER. 21 Für die Förderperiode 2007 bis 2013stehen Deutschland an EU-Mitteln insge-samt 9,1 Milliarden Euro zur Verfügung. 22

Einschließlich der Bundes- und Landesmit-tel 23 sind insgesamt 17,9 Milliarden an öf-fentlichen Mitteln für ländliche Entwick-lungsmaßnahmen eingeplant. Davon wirdetwa ein Viertel für Agrarumweltmaßnah-men verwendet. 24 Auf die Schwerpunkte 3und 4, die am stärksten einem territorialenund nicht einem sektoralen Entwicklungsan-satz folgen, entfallen zusammen rund 27Prozent. 25

13 Allerdings ist auch bei entkoppelten Direktzah-lungen davon auszugehen, dass diese mittel- bis lang-fristig teilweise an die Bodeneigentümer (und damitauch an Nichtlandwirte) durchgereicht werden.14 Gemeinsames Gutachten (Anm. 7). Vgl. z. B. UlrichKoester/Stefan Tangermann, Supplementing farm pricepolicy by direct income payments: Cost-benefit ana-lysis of alternative farm policies with a special applica-tion to German agriculture, in: European Review ofAgricultural Economics, 4 (1977), S. 7–31.15 Vgl. Stefan Tangermann, Mit einem Fuß auf demGaspedal, mit dem anderen auf der Bremse, in: Frank-furter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 26. 2. 1999, S. 11.16 Vgl. Günther Schmitt, Warum die Agrarpolitik ist,wie sie ist, und nicht, wie sie sein sollte, in: Agrarwirt-schaft, 33 (1984), S. 129–136.17 Verordnung (EG) Nr. 1698/2005 des Rates vom20. 9. 2005.

18 Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaftund Verbraucherschutz (BMELV) (Hrsg.), Rahmen-plan der GAK und Sonderrahmenplan der GAK:Maßnahmen des Küstenschutzes in Folge des Klima-wandels für den Zeitraum 2009–2012, Berlin 2009,online: www. bmelv.de/cae/servlet/contentblob/559830/publicationFile/27939/Rahmenplan2009–2012.pdf(4. 1. 2010).19 Für die GAK standen 2009 Bundesmittel in Höhevon 700 Millionen Euro und Landesmittel in Höhe von433 Millionen zur Verfügung (ebd.).20 Vgl. Andreas Tietz (Hrsg.), Ländliche Entwick-lungsprogramme 2007 bis 2013 in Deutschland imVergleich – Finanzen, Schwerpunkte, Maßnahmen, in:Landbauforschung Völkenrode, Sonderheft 315,Braunschweig 2007.21 LEADER steht für einen territorial orientierten,von privat-öffentlichen Partnerschaften (lokalen Ak-tionsgruppen) getragenen Entwicklungsansatz länd-licher Räume.22 Einschließlich der zusätzlichen Modulationsmittelund ungenutzter Restmittel aus dem Health Checkund EU-Konjunkturmitteln. Vgl. BMELV, NationalerStrategieplan der Bundesrepublik Deutschland für dieEntwicklung ländlicher Räume 2007–2013, in derüberarbeiteten Fassung vom 5. 11. 2009, S. 56.23 Einschließlich der Mittel für rein national finan-zierte sogenannte Artikel-89-Maßnahmen.24 Vgl. A. Tietz (Anm. 20).25 Vgl. Andreas Tietz, Auswirkungen von HealthCheck und EU-Konjunkturprogramm auf die länd-

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Die 2. Säule der GAP ist der Politikbe-reich, der die Förderung der Entwicklungländlicher Räume explizit im Namen führt.Allerdings nehmen auch Maßnahmen ausanderen Politikbereichen Einfluss auf die Ent-wicklung ländlicher Räume. Dies wird bei-spielsweise durch das im April 2009 verab-schiedete „Handlungskonzept der Bundesre-gierung zur Weiterentwicklung der ländlichenRäume“ 26 oder die „Konzeption zur Weiter-entwicklung der Politik für ländliche Räume“des Bundesministeriums für Ernährung, Land-wirtschaft und Verbraucherschutz (BMELV) 27

verdeutlicht.

Die Politik zur ländlichen Entwicklungwird vielfach kritisiert. So mahnen der Wis-senschaftliche Beirat Agrarpolitik beimBMELV und die OECD beispielsweise an,die Politik zur ländlichen Entwicklung stär-ker territorial und problemorientiert und we-niger stark auf den Sektor Landwirtschaftauszurichten. 28 Von wissenschaftlicher Seitewurde auf die Probleme hingewiesen, diedurch die Mehrebenenverflechtung (EU,Bund, Länder, z. T. Kommunen) im BereichZielfindung, Entscheidung, Durchführungund Finanzierung entstehen können, und einestärkere Beachtung des Subsidiaritätsprinzipsgefordert. 29 Evaluationen ländlicher Ent-wicklungsprogramme zeigen zudem, dasszwischen verschiedenen Maßnahmen großeUnterschiede hinsichtlich ihrer Effektivitätbestehen und die Ergebnisse der von derEuropäischen Kommission vorgeschriebenenEvaluationen oftmals kaum vergleichbar

sind. 30 Sollte die Gemeinschaftsaufgabe „Ver-besserung der Agrarstruktur und des Küsten-schutzes“ zu einer Gemeinschaftsaufgabe zurEntwicklung ländlicher Räume weiterentwi-ckelt werden, wie dies im Agrarausschuss desDeutschen Bundestags im April 2008 diskutiertwurde, wäre sorgfältig zu prüfen, wie das Ver-hältnis dieser Gemeinschaftsaufgabe zu jenerder „Verbesserung der regionalen Wirtschafts-struktur“ ausgestaltet sein sollte. 31

Agrarumwelt- und Agrarsozialpolitik

Die Agrarumweltpolitik in Deutschland wirdeinerseits stark von Vorgaben der EU beein-flusst – etwa der ELER-VO, was die Förde-rung umweltfreundlicher Produktionsverfah-ren betrifft, der Nitrat- und Wasserrahmen-richtlinie, was den Gewässerschutz, oder derFlora-Fauna-Habitat (FFH)- und der Vogel-schutzrichtlinie, was den Naturschutz betrifft(Natura 2000). Andererseits bestehen aberSpielräume, wie die Mitgliedstaaten den Rah-men nutzen und in nationales Recht umset-zen. In einzelnen Bereichen wie dem Boden-schutz liegen die Kompetenzen bis heutevollständig bei den Mitgliedstaaten.

In der GAP haben Agrarumweltmaßnah-men seit Anfang der 1990er Jahre stark an Be-deutung gewonnen. Diese setzen Landwirten,die freiwillig an solchen Maßnahmen teilneh-men, finanzielle Anreize, umweltfreundlicherzu produzieren, als es das bestehende Ord-nungsrecht erfordert. Gleichzeitig wurde inden vergangenen Jahrzehnten das Ordnungs-recht verschärft, wobei oftmals ein Vollzugs-defizit beklagt wird. Durch die Einführungvon Cross Compliance hat sich diese Situationtendenziell verbessert, da Verstöße gegen das

lichen Entwicklungsprogramme der deutschen Bun-desländer, Braunschweig (i. E.).26 Online: www.bmelv.de/cae/servlet/contentblob/44

7606/publicationFile/22789/HandlungskonzeptIMAG.pdf (5. 1. 2010).27 BMELV, Politik für ländliche Räume. Konzeptionzur Weiterentwicklung der Politik für ländliche Räu-me, Bonn 2007.28 Vgl. OECD, Das neue Paradigma für den länd-lichen Raum: Politik und Governance, Paris 2006;OECD-Prüfbericht zur Politik für ländliche RäumeDeutschland, Paris 2007; Wissenschaftlicher Beirat fürAgrarpolitik beim BMELV, Weiterentwicklung derPolitik für die ländlichen Räume, o. O. 2006.29 Vgl. Siegfried Bauer, Back to principles: Dezentra-lisierung und Neuausrichtung der ländlichen Regio-nalpolitik, in: Agrarwirtschaft, 55 (2006), S. 137–141;Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium fürErnährung, Landwirtschaft und Forsten, Kompetenz-verteilung für die Agrarpolitik in der EU, Schriften-reihe des BMELF, Reihe A: Angewandte Wissenschaft,H. 468, Bonn 1998.

30 Vgl. z. B. Regina Grajewski, Ex-post-Bewertungvon Proland Niedersachsen: Programm zur Entwick-lung der Landwirtschaft und des ländlichen Raumesgem. Verordnung (EG) Nr. 1257/1999, Braunschweig2008; dies., Evaluation in der Agrarpolitik in Deutsch-land, in: Thomas Widmer/Wolfgang Beywl/Carlo Fa-bian (Hrsg.), Evaluation. Ein systematisches Hand-buch, Wiesbaden 2009, S. 75–86.31 Vgl. Peter Weingarten, Weiterentwicklung der Ge-meinschaftsaufgabe Verbesserung der Agrarstrukturund des Küstenschutzes zu einer Gemeinschafts-aufgabe zur Entwicklung ländlicher Räume. Stellung-nahme im Rahmen einer öffentlichen Anhörung desAusschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Ver-braucherschutz des Deutschen Bundestags am 9. 4.2008, Ausschussdrucksache 16(10)775-C, Braun-schweig 2008.

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Fachrecht, soweit es bei Cross Complianceeinbezogen ist, Kürzungen der Direktzahlun-gen nach sich ziehen können. 32 Neben ord-nungsrechtlichen und anreizorientierten In-strumenten kommt in der Agrarumweltpoli-tik insbesondere der Beratung eine wichtigeBedeutung zu.

Wie für die Sozialpolitik allgemein, so giltauch für die Agrarsozialpolitik, dass diese na-hezu ausschließlich in der Kompetenz derMitgliedstaaten liegt. In Deutschland ist hier-bei von Bedeutung, dass die Absicherung derRisiken Alter, Krankheit und Unfall für land-wirtschaftliche Unternehmen und mitarbei-tende Familienangehörige nicht im Rahmender allgemeinen Sozialversicherungssystemeerfolgt, sondern durch Sondersysteme (land-wirtschaftliche Alterssicherung, landwirt-schaftliche Krankenversicherung, landwirt-schaftliche Unfallversicherung). 70 Prozent(3,7 Milliarden Euro) des gesamten Agrar-haushalts des Bundes (5,29 Milliarden) entfie-len 2009 auf die Agrarsozialpolitik. 33

Als schrumpfender Sektor weist die Land-wirtschaft seit Jahrzehnten eine Verringe-rung der Anzahl der in der LandwirtschaftBeschäftigten von etwa 2,5 bis drei Prozentpro Jahr aus. 34 Hieraus ergibt sich eine sehrungünstige Relation von Beitragszahlern undLeistungsempfängern: 2007 standen in derAlterssicherung einem Beitragszahler 2,2Leistungsempfänger gegenüber. 35 Bundeszu-schüsse zum Ausgleich der strukturwandel-bedingten Defizite sind daher gerechtfertigt.Während das Beitrags-Leistungs-Verhältnisin den agrarsozialen Sicherungssystemenlange Zeit erheblich vorteilhafter war als inden allgemeinen Sozialversicherungssyste-men, haben sich diese Vorteile aufgrund desvoranschreitenden Strukturwandels und ver-schiedener Reformen der Agrarsozialversi-cherungen in den vergangenen Jahren starkverringert. 36 Allerdings stellen Bundeszu-

schüsse zu den Agrarsozialversicherungenweiterhin eine der wenigen nationalen Mög-lichkeiten dar, Einkommenspolitik für Land-wirte zu betreiben. So soll laut Koalitions-vertrag „aufgrund der krisenbedingt aktuellschwierigen Einkommenssituation“ in derMilchwirtschaft der Bundeszuschuss zurlandwirtschaftlichen Unfallversicherung „zurVermeidung von Beitragserhöhungen“ 2010und 2011 um insgesamt 200 Millionen Euroerhöht werden. 37

Neben der Agrarpolitik haben weiterePolitikfelder an Bedeutung für die Land-wirtschaft in Deutschland gewonnen. Bei-spielsweise hat die Energiepolitik mit der2004 erfolgten Novellierung des Erneuerba-re-Energien-Gesetzes (EEG) zu einemBoom in der Erzeugung von Biogas ge-führt. 38 Die Klimapolitik wird künftig ver-stärkt auch die Treibhausgasemissionen ausder Landwirtschaft in den Blick nehmen. 39

Die Technologiepolitik wird über die För-derung oder Hemmung neuer Technologien– etwa im Bereich der Gentechnik – dieWettbewerbsfähigkeit der Landwirtschaftbeeinflussen.

32 Vgl. Bernhard Osterburg, Effizienz von Über-wachungs- und Sanktionsmaßnahmen in der Agrar-umweltpolitik. Bundesamt für Naturschutz (BfN),Skripten 219, Bonn 2008, S. 131–148.33 Vgl. Regierung bringt Sonderprogramm Landwirt-schaft auf den Weg. Länderberichte, in: Agra-Europevom 21. 12. 2009, S. 19–22.34 Vgl. BMELV (Hrsg.), Statistisches Jahrbuch überErnährung, Landwirtschaft und Forsten der Bundes-republik Deutschland 2008, Bremerhaven 2008, S. 54.35 Vgl. ebd., S. 62.

36 Vgl. Peter Mehl, Die Reform der landwirtschaft-lichen Alterssicherung in der BundesrepublikDeutschland. Eine Analyse zehn Jahre nach dem In-krafttreten des Agrarsozialreformgesetzes 1995, in:Berichte über Landwirtschaft, (2006), S. 438–454;ders., Risikostruktur und strukturwandelbedingte Be-lastungen der landwirtschaftlichen Krankenver-sicherung, in: Soziale Sicherheit in der Landwirtschaft,(2009) 2, S. 141–208.37 Vgl. Koalitionsvertrag (Anm. 3), S. 48. Der Kabi-nettsentwurf für den Haushalt 2010 sieht vor, dass dieMittel für die landwirtschaftliche Unfallversicherungim Vergleich zu 2009 nicht nur um 100 Mio. Euro,sondern um weitere 100 Mio. Euro aufgestockt wer-den, die laut Koalitionsvertrag ursprünglich für dasGrünlandmilchprogramm vorgesehen waren; vgl.Agra-Europe (Anm. 33).38 Vgl. zur Bioenergiepolitik: Wissenschaftlicher Bei-rat Agrarpolitik beim BMELV, Nutzung von Biomassezur Energiegewinnung. Empfehlungen an die Politik,o.O. 2007. Zum Energiemaisanbau s. Horst Gömann/Peter Kreins/Thomas Breuer, Deutschland – Energie-Corn-Belt Europas?, in: Agrarwirtschaft, 56 (2007),S. 263–271.39 Vgl. Bernhard Osterburg/Hiltrud Nieberg/Sebas-tian Rüter/Folkhard Isermeyer/Hans-Dieter Haenel/Jochen Hahne/Jan-Gerd Krentler/Hans Marten Paul-sen/Frank Schuchardt/Jörg Schweinle/Peter Weiland,Erfassung, Bewertung und Minderung von Treibhaus-gasemissionen des deutschen Agrar- und Ernäh-rungssektors, in: Arbeitsberichte aus der vTI-Agrar-ökonomie, (2009) 3, Braunschweig 2009.

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Vorschläge für die GAP nach 2013

Die Diskussionen über die Ausgestaltung derGAP nach 2013 gewinnen an Fahrt. Für diezweite Jahreshälfte 2010 ist eine diesbezügli-che formale Mitteilung der Kommission zuerwarten; Legislativvorschläge der Kommis-sion könnten Mitte 2011 folgen. WichtigeHinweise auf die künftige Ausgestaltung derAgrarpolitik sind auch von der 2010 erfolgen-den Überprüfung des EU-Haushalts zu er-warten. Allgemein wird erwartet, dass derAnteil der Agrarausgaben am EU-Haushaltin der Finanzperiode 2014 bis 2020 weiter zu-rückgehen wird.

Im Mittelpunkt der Reformdiskussionensteht die Zukunft der Direktzahlungen, aufdie 2008 rund 70 Prozent aller EU-Agraraus-gaben entfielen. Sie werden auch deshalbkontrovers diskutiert, weil ihre ursprünglicheLegitimation als Einkommensausgleich fürPreiskürzungen umso mehr schwindet, je län-ger diese Preiskürzungen zurückliegen, unddie in der politischen Rhetorik zunehmendbetonte „neue“ Legitimierung durch CrossCompliance wenig überzeugt, solange die ein-zuhaltenden Standards nur unwesentlich überdas geltende Fachrecht hinausgehen.

Für die Diskussion um die Zukunft der Di-rektzahlungen ist ebenfalls wichtig, dass ins-besondere die neuen Mitgliedstaaten daraufdrängen, dass ihre pro Hektar deutlich niedri-geren Direktzahlungen an das Niveau deralten Mitgliedstaaten angeglichen werden. 40

Nicht zuletzt könnten die Direktzahlungen –auch wenn sie von der Produktion entkoppeltsind – aufgrund ihres Finanzvolumens in denWTO-Verhandlungen unter Druck geraten.

Mittlerweile liegt aus der Politik, der Wis-senschaft und von Verbänden eine Vielzahlvon Studien und Empfehlungen für die künf-tige Ausgestaltung der GAP vor. Auch wennsie sich in ihren Aussagen zum Teil deutlichvoneinander unterscheiden, so ist ihnen zwei-erlei gemeinsam: Zum einen fordert niemanddie Rückkehr zur „alten“ Agrarpolitik der1980er Jahre; zum anderen soll die Entloh-nung der Landwirtschaft für die von ihr er-brachten gesellschaftlich erwünschten, nichtmarktgängigen Leistungen grundsätzlich einwichtiger Bestandteil der Agrarpolitik sein.Bei Letzterem bestehen große Unterschiede,wenn es um die Konkretisierung geht: Was istunter diesen Leistungen, die oft auch als Ge-meinwohlleistungen oder im wirtschaftswis-senschaftlichen Sinne als öffentliche Güterbezeichnet werden, zu verstehen?

Genannt werden Ernährungssicherung,Umweltleistungen (Biodiversität, Gewässer-schutz), Erhalt der Kulturlandschaft, Beitragzu vitalen ländlichen Räumen und anderes.Welchen Wert misst die Gesellschaft ihnenbei? 41 Soll eine Entlohnung auch dann erfol-gen, wenn diese Leistungen als Koppelpro-dukt einer rentablen landwirtschaftlichenProduktion ohnehin anfallen? Mit welchenInstrumenten kann die Erbringung dieserLeistungen zu den gesamtwirtschaftlich ge-ringsten Kosten erreicht werden? WelcheRolle kommt bei der Ausgestaltung des Ent-lohnungssystems und der Finanzierung derEU, welche den Mitgliedstaaten zu?

Von der Bundesregierung oder demBMELV gibt es bisher keine abgestimmte Po-sition zur GAP nach 2013, so dass offizielleÄußerungen eher vage sind: „Aus Sicht derBundesregierung muss die Agrarpolitik denmit den Reformen von 2003 begonnenen Wegzu mehr Marktorientierung, Wettbewerbsfä-higkeit und Nachhaltigkeit fortsetzen.“ 42

Bundesministerin Ilse Aigner hat im Rahmen40 Vgl. in diesem Zusammenhang die im Rahmendes Health Check entstandene gemeinsame De-klaration von Agrarministerrat und EuropäischerKommission: „In the framework of the discussions(. . .) on the future of the Common AgriculturalPolicy after 2013 (. . .) the Council and the Com-mission are committed to thoroughly examine thepossibilities for development of the direct paymentsystem in the Community and addressing the dif-fering level of the direct payments between Mem-ber States.“ Council of the European Union, Ad-options of the Health Check. Interinstitutional File:2008/0103 (CNS); 2008/0104 (CNS); 2008/0105(CNS); 2008/0106 (CNS); 5263/09 ADD1, Brüssel,15. 1. 2009.

41 Zu den Schwierigkeiten der Quantifizierung vgl.Reiner Plankl/Peter Weingarten/Hiltrud Nieberg/Yel-to Zimmer/Folkhard Isermeyer/Janina Krug/GerhardHaxsen, Quantifizierung „gesellschaftlich ge-wünschter, nicht marktgängiger Leistungen“ derLandwirtschaft, Braunschweig (i. E.).42 BMELV, Gemeinsame Agrarpolitik der EU: Ent-wicklung und Aufgaben, online: www.bmelv.de/cln_182/SharedDocs/Standardartikel/Europa-Internationales/Agrarpolitik/GAP.html (5. 1. 2010).

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der Aussprache zur Regierungserklärung derBundeskanzlerin am 10. November 2009 be-kräftigt, dass sie sich „auf europäischer Ebene(. . .) deshalb intensiv dafür einsetzen (wird),(. . .) dass wir nach 2013 weiterhin eine star-ke erste und eine gut ausgestattete zweiteSäule haben werden“. 43 Die Agrarminister-konferenz hat sich im September 2009 imHinblick auf die GAP nach 2013 für „sta-bile entkoppelte Direktzahlungen sowie dieBeibehaltung eines Sicherheitsnetzes imRahmen der Gemeinsamen Marktorganisati-on“, die Beibehaltung der 2. Säule der GAP(wobei der Spielraum zur Maßnahmenge-staltung auf regionaler Ebene vergrößertwerden soll) und eine Abschaffung der Mo-dulation ausgesprochen. 44 Insgesamt lässtsich daraus eine Präferenz ableiten, an derbestehenden GAP keine größeren Änderun-gen vorzunehmen.

Die niederländische Regierung dagegenhat sich bereits 2008 in ihrem Positionspa-pier „Grundriss der europäischen Agrarpoli-tik 2020“ für drastische Veränderungen aus-gesprochen. Sie befürwortet einen „fließen-de(n) Übergang vom heutigen System derEinkommensbeihilfen und der Marktstüt-zung zum erwünschten neuen System derVergütung gesellschaftlich relevanter Leis-tungen und der Förderung der Wettbe-werbsfähigkeit und der Nachhaltigkeit“ 45.Auf lange Sicht solle es „keine allgemeinenAgrarbeihilfen mehr geben“. 46 DrastischeÄnderungen der GAP werden auch voneiner Gruppe europäischer Agrarökonomengefordert. 47 In der im November 2009 ver-

öffentlichten Deklaration „Eine Gemeinsa-me Agrarpolitik für europäische Gemeingü-ter“ werden vier mögliche Ziele für diekünftige GAP genannt: a) Steigerung derökonomischen Effizienz und Wettbewerbs-fähigkeit; b) Sicherung der Nahrungsmittel-versorgung; c) Einkommensumverteilung; d)die Förderung von Gemeinwohlleistungen.Von diesen Zielen biete lediglich das letzteeine Basis für die künftige Ausgestaltungder GAP. Allerdings solle sich die Förde-rung von Gemeingütern im Rahmen derGAP auf diejenigen beschränken, die Mit-gliedstaaten überschreitende Bedeutunghaben (Klimaschutz, Biodiversität, Gewäs-serschutz).

Die „Steigerung der ökonomischen Effi-zienz und der Wettbewerbsfähigkeit“ derLandwirtschaft lasse sich am besten überfunktionierende Märkte erreichen. Hand-lungsbedarf auf EU-Ebene sehen die Auto-ren nur im Bereich der Förderung von For-schung und Entwicklung als Teil der EU-Forschungspolitik. Die „Sicherung derNahrungsmittelversorgung“ sei aufgrundder Kaufkraft innerhalb der EU generellgegeben. Im Falle sehr hoher Agrarpreisekönnte armen Bevölkerungsschichten, wennnotwendig, über sozialpolitische Maßnah-men der Mitgliedstaaten geholfen werden.„Öffentliche Mittel für den Kampf gegenHunger und Armut in der Welt sollten bes-ser dafür verwendet werden, Agrarfor-schung und Infrastruktur in den Entwick-lungsländern zu fördern, statt das Geldeuropäischen Landwirten zu geben.“ 48

Im Bereich der GAP rechtfertige das Ziel„Sicherstellung der Ernährungssicherung“ le-diglich Maßnahmen, welche die Produktions-kapazitäten der europäischen Landwirtschaftso erhalten, dass sie im Falle dauerhafterKnappheit leicht aktiviert werden können.„Einkommensumverteilung“ im Sinne einergesellschaftlich gerechteren Einkommensver-teilung lässt sich durch agrarpolitische Maß-nahmen nicht zielgerichtet erreichen. „Öf-fentliche Hilfe sollte daher auf Haushalte mitniedrigen Einkommen und Vermögen kon-

43 Bulletin der Bundesregierung Nr. 112-5 vom 10. 11.2009, online: www.bundesregierung.de/Cont ent/DE/Bulletin/2009/11/Anlagen/112–5-bmelv,property=publicationFile.pdf (5. 1. 2010).44 Agrarministerkonferenz am 18. 9. 2009 in der Lu-therstadt Eisleben: Ergebnisprotokoll, online: www.agrarministerkonferenz.de/uploads/AMK_Ergebnisprotokoll_a75.pdf (5. 1. 2010).45 Grundriss der europäischen Agrarpolitik 2020,o. O., online: www.minlnv.nl/cdlpub/servlet/CDLServlet?p_ file_ id=36031 (5. 1. 2010), S. 19.46 Ebd., S. 10.47 A Common Agricultural Policy for European Pub-lic Goods: Declaration by a Group of Leading Agri-cultural Economists, o. O., 2009, online: www.reformthecap.eu/sites/default/files/declaration%20on%20cap%20reform.pdf (23. 12. 2009), dt.: www.reformthecap.eu/Declaration-on-CAP-reform/Declaration-on-CAP-reform-German (23. 12. 2009). Vgl. auch ValentinZahrnt, Public Money for Public Goods: Winners andLosers from CAP Reform, ECIPE Working Paper No.

8/2009, Brüssel 2009, und Copenhagen Economics, EUbudget review : options for change, Kopenhagen, 2009,online: http://ec.europa.eu/budget/reform/library/focus/study_options_for_change_June09.pdf (4. 1. 2010).48 A Common Agricultural Policy (ebd.).

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zentriert werden, unabhängig vom Sektor, indem sie tätig sind.“ 49

Der Sachverständigenrat für Umweltfra-gen (SRU) spricht sich in seiner im Novem-ber 2009 verabschiedeten Stellungnahme„Für eine zeitgemäße Gemeinsame Agrarpo-litik (GAP)“ für eine Weiterentwicklung derGAP zu einer „ökologisch orientiertenAgrarpolitik“ aus, „indem die Verteilungvon finanziellen Mitteln eng an die Bereit-stellung öffentlicher Güter gekoppeltwird“. 50 Für die Honorierung dieser positi-ven externen Effekte der Landwirtschaftschlägt der SRU drei Instrumente vor: a)eine ökologische Grundprämie für den Um-weltschutz in der Fläche (Voraussetzung:Der Landwirt stellt zehn Prozent seinerlandwirtschaftlichen Nutzfläche als „ökolo-gische Vorrangfläche“ bereit und erbringtbestimmte, über das bestehende Fachrechthinausgehende Mindestleistungen); b) Agrar-umweltmaßnahmen für den punktuellenUmweltschutz; c) Landschaftspflegemittelfür die Erhaltung von Kulturlandschaften,die ohne diese Unterstützung wegfallenwürden. 51

Andere agrarpolitisch relevante Bereichewie die Verbesserung der Wettbewerbsfähig-keit werden zwar als „zentrale Ansatzpunktefür Reformen“ 52 benannt. Sie werden aberweder weiter thematisiert, noch wird disku-tiert, welche Auswirkungen die geforderteökologisch orientierte Agrarpolitik auf dieWettbewerbsfähigkeit oder andere agrarpoli-tische Ziele hat.

In einer für den Thinktank Notre Europeerstellten Studie wird ein dreistufiges Ver-tragszahlungssystem vorgeschlagen. 53 Dieerste Stufe sieht eine Grundzahlung proHektar landwirtschaftlicher Fläche in ländli-chen Räumen vor. Die Zahlung ist von der

Produktion entkoppelt, die Flächen müssenin einem guten landwirtschaftlichen undökologischen Zustand gehalten und einigewenige, leicht kontrollierbare Umweltleis-tungen erbracht werden. Als Größenord-nung werden beispielhaft 100 oder 150 Europro Hektar genannt. Gemäß der zweitenStufe wird für Flächen in benachteiligtenGebieten (dünn besiedelte Regionen, Berg-regionen) eine höhere Flächenprämie ge-währt, die an eine extensive Bewirtschaftunggekoppelt sein kann. Die dritte Stufe sieht„Umweltzahlungen“ vor, die für besondereUmweltleistungen in ökologisch sensiblenoder wertvollen Regionen etwa durch öko-logischen Landbau erbracht werden. Er-gänzt werden sollen diese drei Stufen durchRuhestandszahlungen an Kleinlandwirte, dieihre Flächen zur Verbesserung der Wettbe-werbsfähigkeit der Landwirtschaft an größe-re Betriebe abgeben.

Ein ähnliches, auf Alois Heißenhuber zu-rückgehendes Modell enthält in der erstenStufe neben einer entkoppelten Flächenprä-mie und einer Ausgleichszulage für benach-teiligte Gebiete auch eine Prämie für boden-gebundene Tierhaltung als „Grundvergütungfür Leistungen, die die europäische Land-wirtschaft vom Weltmarkt abheben“. 54 Diessoll die „Sicherstellung der Marktversorgung+ Grundversorgung mit öffentlichenGütern“ 55 gewährleisten. Angelehnt an dasgegenwärtige EU-Agrarbudget werden als„Zahlenbeispiel“ 150 Euro pro Hektar alsFlächenprämie, 100 Euro pro Großviehein-heit für maximal zwei Großvieheinheitenpro Hektar und eine Ausgleichszulage inbenachteiligten Gebieten in Höhe vondurchschnittlich 36 Prozent der Flächenprä-mie genannt. 56 Die zweite und dritte Stufesehen Zahlungen für Gemeinwohlleistungender Landwirtschaft vor, die über die Grund-versorgung durch die erste Stufe hinausge-hen.

49 Ebd.50 SRU, Für eine zeitgemäße Gemeinsame Agrar-politik (GAP). SRU-Stellungnahme Nr. 14, 2009, S. 3.Vgl. auch Naturschutzbund Deutschland, Landwirt-schaft und Umwelt: Anforderungen an eine zukunfts-fähige Agrarpolitik, Berlin 2009.51 Vgl. SRU (ebd.), S. 15.52 Ebd., S. 4.53 Vgl. Jean-Christophe Bureau/Louis-Pascal Mahé,CAP reform beyond 2013: An idea for a longer view,in: Studies & Research, 64 (2008).

54 Alois Heißenhuber/Christine Hebauer/Kurt-Jür-gen Hülsbergen, Ein Konzept für 2013, in: DLG-Mit-teilungen, (2008) 6, S. 22–25; vgl. Eduard Hofer unterMitarbeit von Christine Hebauer/Helmut Hoffmann/Leopold Kirner, Direktzahlungen an die Landwirt-schaft in der Europäischen Union nach 2013, Freising2009.55 E. Hofer u. a. (ebd.), S. 118.56 Vgl. ebd., S. 136 f.

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Zwischenfazit zurWeiterentwicklung der GAP

Diese hier beispielhaft aufgeführten Studienund Empfehlungen 57 unterstreichen, dassder seit Anfang der 1990er Jahre eingeschla-gene Weg zu einer stärker marktorientiertenLandwirtschaft weithin nicht in Frage ge-stellt wird. Zugleich wird deutlich, dass dieErbringung von Gemeinwohlleistungendurch die Landwirtschaft zunehmend wich-tiger für die Legitimierung einer Agrarpoli-tik wird, die nach wie vor beträchtliche öf-fentliche Mittel beansprucht, deren Umfangindes in der nächsten Finanzperiode zurück-gehen dürfte. Konsens besteht auch darüber,dass von einer weiteren Liberalisierung desAgrarhandels auszugehen ist, sei es als Folgeeines erfolgreichen Abschlusses der laufen-den WTO-Verhandlungen oder als Folgezunehmender bilateraler Handelsabkommen.Einigkeit besteht auch darüber, dass die2015 auslaufende Milchquotenregelung nichtverlängert wird. Übereinstimmend wirdauch davon ausgegangen, dass die Erzeuger-preise in der EU zukünftig bedeutend vola-tiler sein werden, als dies zu Zeiten der um-fassenden staatlichen Preisstützung in frühe-ren Jahrzehnten der Fall war, und dass auchdie Erzeugermengen aufgrund des Klima-wandels größeren Schwankungen unterlie-gen werden. Damit gewinnt das Risikoma-nagement für Landwirte an Bedeutung.

Weit auseinander liegen die Positionen beider Frage, welche Gemeinwohlleistungenüberhaupt entlohnt werden sollen, inwieweitdies in den Kompetenzbereich der EU odereher der Mitgliedstaaten fallen sollte undwelche Rolle die bisherigen Direktzahlun-gen hierbei leisten können und sollten. DieVorschläge reichen von einer langfristigenAbschaffung der Direktzahlungen und einergezielten Entlohnung nur derjenigen öffent-lichen Leistungen, die eindeutig über ein-zelne Mitgliedstaaten hinausgehende Aus-

wirkungen haben (beispielsweise der Klima-schutz und Biodiversität), bis hin zu einerweitgehend unveränderten Beibehaltung derbestehenden Direktzahlungen, die dann nurals Entgelt für Gemeinwohlleistungen um-etikettiert würden. Unterschiedlich sind dieMeinungen auch darüber, ob die Maßnah-men zur Verbesserung der Lebensqualität inländlichen Räumen und zur Förderung derDiversifizierung der ländlichen WirtschaftTeil der 2. Säule der GAP bleiben oder zurRegionalpolitik der EU verlagert werdensollen.

Aus ökonomischer Sicht spricht vielesdafür, die von der Landwirtschaft erbrach-ten, nicht marktgängigen Leistungen durchspezifische Instrumente wie Agrarumwelt-maßnahmen zu honorieren. Das heutigeSystem der Direktzahlungen, die ursprüng-lich als Preisausgleichzahlungen eingeführtwurden, stellt hierfür kein geeignetes Instru-ment dar. Landwirte brauchen verlässlicheRahmenbedingungen. Die Beschlüsse zurGAP nach 2013 sollten daher einen Anstiegder Mittel zur gezielten Honorierung vonGemeinwohlleistungen vorsehen und einenschrittweisen Abbau der flächendeckendenDirektzahlungen einleiten mit dem langfris-tigen Ziel des (nahezu) vollständigen Ab-baus. Vielfach werden höhere Standards inder EU im Vergleich zu anderen Wettbewer-bern auf den Weltagrarmärkten als Argu-ment für die bestehenden Direktzahlungenangeführt.

Dieses Argument steht indes auf tönernenFüßen: Die in der EU geltenden Produktstan-dards müssen auch von importierten Erzeug-nissen erfüllt werden, so dass sich das Argu-ment nur auf höhere Produktionsstandardsbeziehen kann, die sich nicht im Produkt ma-nifestieren. Vergleichende Untersuchungenfür ausgewählte Länder und Produkte deutendarauf hin, dass die aus höheren Umweltstan-dards resultierenden zusätzlichen Produkti-onskosten in der EU relativ gering sind undallenfalls sehr geringe Direktzahlungen proHektar rechtfertigen könnten. 58

57 Vgl. auch Wissenschaftlicher Beirat für Agrarpolitikdes BMELV, Stellungnahme zur Mitteilung der Kom-mission an den Rat und das Europäische Parlament:Vorbereitung auf den „GAP Gesundheitscheck“, o. O.2008, online: www.bmelv.de/cae/servlet/contentblob/382592/publicationFile/23016/GAP-Gesundheitscheck.pdf (5. 1. 2010).

58 Vgl. Yelto Zimmer/Gerhard Haxsen/FolkhardIsermeyer/Janina Krug, Kosten der Umwelt-regulierungen für die deutsche Landwirtschaft unterbesonderer Berücksichtigung des Ackerbaus, in: R.Plankl u. a. (Anm. 41).

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Eine Flächenprämie als pauschales Entgeltfür den Erhalt einer flächendeckendenLandbewirtschaftung bzw. für den Erhaltder Flächen in einem guten landwirtschaftli-chen und ökologischen Zustand kann in denRegionen gerechtfertigt sein, wo diese Flä-chen ansonsten brach fallen würden undnach einiger Zeit nicht mehr landwirtschaft-lich genutzt werden könnten. Die Flächen-prämie sollte sich dann nach den Kosten derOffenhaltung der Flächen (z. B. durch Mul-chen) 59 richten. Bei einem Abbau der Di-rektzahlungen könnte auch die bestehendeCross Compliance-Regelung abgeschafftwerden. Die Einhaltung von Standards undAuflagen ist in den einschlägigen Fachgeset-zen geregelt, deren Vollzug auch ohne dieCross Compliance-Regelung sichergestelltsein sollte.

Die finanzielle Ausstattung der GAP nach2013 einschließlich der Politik zur Entwick-lung ländlicher Räume sollte sich an Zielen,Konzepten und alternativen Mittelverwen-dungen bemessen. Eine Umschichtung vonMitteln aus der 1. in die 2. Säule (Modulati-on) erübrigt sich dann. Dies beugt auch un-begründeten Erwartungen vor, dass in die 2.Säule umgeschichtete Mittel notwendiger-weise an Landwirte zurückfließen sollten(„Bauerngeld in Bauernhand“). Die bisheri-gen Diskussionen über die GAP nach 2013und die Erfahrungen mit früheren Agrarre-formen zeigen, dass die Auswirkungen vonReformen auf die (Um-)Verteilung der EU-Agrarausgaben zwischen den Mitgliedstaatenoftmals stärker im Mittelpunkt stehen, als esfür eine optimale Politikausgestaltung wün-schenswert ist.

Seit dem Inkrafttreten des Vertrags vonLissabon gilt für die GAP das ordentlicheGesetzgebungsverfahren, 60 bei dem Europä-isches Parlament und Rat gleichberechtigteMitgesetzgeber sind. Damit wurde die Rolledes Parlaments gestärkt, das zuvor im Kon-sultationsverfahren lediglich (unverbindliche)Stellungnahmen abgeben konnte.

Welchen Einfluss diese institutionelle Än-derung auf die Ausgestaltung der GAP nach

2013 hat, bleibt abzuwarten. Möglicherweisewird das Europäische Parlament stärker dieInteressen aller Wählerinnen und Wählerberücksichtigen, als dies der Agrarminister-rat tut. Entscheidungen werden transparen-ter getroffen, da diese nun nicht mehr wiein der Vergangenheit oft geschehen in einerlangen Nachtsitzung vom Rat alleine getrof-fen werden können. Insgesamt könnte soden Präferenzen der landwirtschaftlichenWähler ein geringeres Gewicht bei den Ent-scheidungen über die GAP nach 2013 zu-kommen.

Fazit

In den nächsten beiden Jahren werden dieWeichen dafür gestellt, wie die Agrarpolitikin Deutschland, die wesentlich durch die Ge-meinsame Agrarpolitik der EU bestimmtwird, für den Zeitraum von 2014 bis 2020aussehen wird. Vieles spricht dafür, dass dermit der MacSharry-Reform 1992 begonnenepositive Reformweg weiter beschritten wird.

Abzuwarten bleibt, welchen Einfluss dieinstitutionelle Änderung, dass das Europä-ische Parlament nun neben dem Agrarminis-terrat gleichberechtigtes Entscheidungsorganist, auf die Ausgestaltung der GAP nach2013 haben wird. Wenn es zu einer Kürzungvon Mitteln im Bereich der heutigen 1.Säule – was sehr wahrscheinlich ist – undeiner Aufwertung von Maßnahmen zur ge-zielten Honorierung von Gemeinwohllei-stungen, die derzeit in der 2. Säule der GAPverortet sind, kommt, erweitert dies den na-tionalen Gestaltungsspielraum der Mitglied-staaten und in Deutschland den der Bundes-länder.

59 Vgl. Hiltrud Nieberg, Kosten der Offenhaltung derLandschaft, in: ebd.60 Art. 43, Abs. 2 des Vertrags über die Arbeitsweiseder Europäischen Union.

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Karin Jürgens

Wirtschaftsstilein der

Landwirtschaft

Wie lassen sich zeitgemäße und zu-kunftsfähige Konzepte gemeinsam mit

der und für die Landwirtschaft entwickeln?Die akademische Aus-einandersetzung umdas wirtschaftlicheHandeln in der Land-wirtschaft dreht sichseit dem ausgehenden19. Jahrhundert immerwieder um die Fragenach gutem oderschlechtem Wirtschaf-ten: als Bauer oder Un-ternehmer, als Klein-oder Großbetrieb? Für

eine auf höchste Erträge ausgerichtete Land-wirtschaft galt es lange Zeit, Landwirte voneiner rationellen Wirtschaftsgesinnung undder Bereitschaft zur Intensivierung und Ver-größerung der Betriebe zu überzeugen. Sowar auch die wissenschaftliche Debattedavon geprägt, Landwirte über die „richtige“wirtschaftliche Grundhaltung aufzuklären.Sie blieb losgelöst von der wirtschaftlichenRealität und den Vorstellungen und Leitliniender Landwirte.

Zu Leitbegriffen des zukunftsgerichtetenTypus wirtschaftlichen Handels sollte inWestdeutschland ab den 1950er Jahren derlandwirtschaftliche Familienbetrieb, späterdann das landwirtschaftliche Familienunter-nehmen werden. Im Rückblick handelt essich bei beiden um Begriffe, die nicht mehrals geschickte theoretische Spielarten waren,um Wirtschaftsformen zu überwinden, wel-che der gewünschten, fremdbestimmten Mo-dernisierung und Rationalisierung entgegen-standen. Heute gilt Landwirtschaft als zu-kunftsfähig, wenn sie im Konsens mit dendringenden Ansprüchen an den Klima-, Um-welt- und Naturschutz sowie dem Wunschnach sozialer Gerechtigkeit gestaltet wird.

Eine echte, vom tatsächlichen Handeln in derlandwirtschaftlichen Praxis hergeleitete wis-senschaftliche Auseinandersetzung liefertdazu die Basis. Das hier vorzustellende Kon-zept der Landwirtschaftsstile ist ein zukunfts-weisender Ansatz.

Optimales Landwirtschaften

Trotz vieler gemeinsamer Strukturmerkmalewar und ist die Landwirtschaft in sich vielfäl-tig sozioökonomisch differenziert. JüngsteAntriebskräfte dafür waren neben dem fort-schreitenden wirtschaftstrukturellen Wandelsowie Modernisierungs- und Individualisie-rungsprozessen auch politische Neuorientie-rungen (deutsche Vereinigung, Agrarwende,EU-Agrarreformen). Diese Prozesse habenzur Pluralisierung landwirtschaftlicher Ent-wicklungspfade geführt. 1 Die Landwirte fol-gen nicht unmittelbar der von außen an siegerichteten Leitlinie, ein rein gewinnorien-tiertes landwirtschaftliches Unternehmenaufzubauen. Viele versuchen, die Landwirt-schaft als Sozial- und Lebensform zu erhal-ten. Perspektiven dazu bieten alternative Ein-kommensquellen, Arbeitsfelder und Betriebs-zweige oder die ökologische und/oderregionale Produktion. Wirtschaftsstrategienwie Low-Input-Verfahren haben an Bedeu-tung gewonnen. 2 Tendenziell ist der Anteilder Nebenerwerbs- gegenüber den Haupter-werbsbetrieben gewachsen. Hofgemeinschaf-ten, Kooperationen und Hofneugründungensind neben den Familienwirtschaften immerbedeutsamer geworden. 3

Doch trotz dieser Vielfalt dienen bis heutetheoretische Gegenentwürfe mit substantiel-len Unterscheidungen zwischen traditionellbäuerlichem und fortschrittlich unternehme-rischem Wirtschaften als konzeptionelle Ins-trumente zur Erklärung landwirtschaftlichenHandelns. Geschaffen wurden diese polari-

Karin JurgensDr. sc. agr., geb. 1968; freiberuf-liche Wissenschaftlerin im Büro

für Agrarsoziologie und Land-wirtschaftskultur (BAL),

Heiligenstädter Straße 2,37130 Gleichen.

[email protected]

1 Vgl. Götz Schmidt/Ulrich Jasper, Agrarwende,München 2001.2 Vgl. Jan Douwe van der Ploeg, Revitalizing Agri-culture, in: Sociologia Ruralis, 40 (2000) 4, S. 498–511.3 Dieser Text bezieht sich auf die westdeutsche Land-wirtschaft. Auch in den ostdeutschen Bundesländernentstanden nach 1990 differenzierte Produktions- undSozialstrukturen mit vielfältigen Organisations- undRechtsformen. Einzelbäuerliche Neu- und Wiederein-richtungsbetriebe entstanden, viele Genossenschafts-mitglieder hielten aber auch an der gemeinschaftlichen,kollektiven Landbewirtschaftung fest.

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sierenden Denkansätze im 19. Jahrhundert,als die industrielle Modernisierung undMarktorientierung der Landwirtschaft zu denvordringlichsten Zielen des städtischen Bür-gertums gehörte. Mit der Intention, die eige-nen Erwartungen an die Entwicklung land-wirtschaftlicher Strukturen und staatlicheAnsprüche an die Landwirtschaft zu rechtfer-tigen, betrieben Agrartheoretiker, ob Ökono-men, Volkskundler oder Soziologen, eineIdealisierung oder Stigmatisierung entwederbäuerlicher oder unternehmerischer Bewirt-schaftungsformen. Drei ideologische Rich-tungen bestimmten in dieser Zeit die Debatte:liberale, konservative und marxistische – inallen drei Ideologien wurde das Gegensatz-paar Bauer – Unternehmer verwendet. 4

Für Albrecht Daniel Thaer, dem Begründerder Agrarwissenschaften, war die bäuerlicheWirtschaft der Antityp (ohne Eigenpotenzial,Dynamik, Überlebensfähigkeit) und der land-wirtschaftliche Großbetrieb der Prototyp, umdie Landwirtschaft nach kapitalistischen, ge-winnorientierten Grundsätzen zu organisie-ren. 5 Nach Thaers Vorstellung konnten ent-scheidende Produktions- und Produktivitäts-steigerungen in der Landwirtschaft nur übereine konsequente Einführung kapitalistischerWirtschaftsmethoden erreicht werden. SeinVorbild war der historische Sonderfall derAgrarrevolution in England (18. Jahrhundert):Im dörflichen Verband organisierte, bäuerlicheBetriebe wurden zu Gunsten großbetriebli-cher Strukturen zerstört. Eine soziale Klasseabhängig wirtschaftender Pächter entstand.Nationalökonomen wie Karl Bücher, Fried-rich List und Werner Sombart oder der Kapita-lismuskritiker Karl Marx deuteten bäuerlicheWirtschaftsweisen als primitive wirtschaftlicheEntwicklungsstufe und setzten deren unaus-weichliche Überwindung mit kultureller undgesellschaftlicher Entwicklung gleich. 6 Stell-

vertretend für die konservative Richtung ste-hen die Arbeiten des Kulturhistorikers Wil-helm Heinrich Riehl, 7 der sich gegen die Ent-wicklungsinteressen der „landwirtschaftlichenTheoretiker“ seiner Zeit wandte und eine Poli-tik für den Erhalt des „Bauernstandes“ for-derte. „Bauern von guter Art“ repräsentierenhier gesellschaftliche Stabilität, Bauernbetriebemit spezialisierten Arbeitsweisen, Handel,Gelderwerb und gewinnorientiertem Absatzdagegen „entartete“. 8

Im Nationalsozialismus begannen Agrar-theoretiker damit, die beiden alternativ ge-dachten Szenarien vom guten oder schlechtenLandwirtschaften zu einem einzigen, univer-salistischen und zugleich widersprüchlichenAnspruch zu verschmelzen. Sie legten ihn alsMaßstab an das wirtschaftliche Handeln allerBauern an. Trotz aller ideologischen Bevor-zugungen und mystisch verklärender Zu-schreibungen zielte die nationalsozialistischeAgrarpolitik auf eine umfangreiche Rationali-sierung der landwirtschaftlichen Produktionund eine Veränderung der landwirtschaftli-chen Markt-, Verbands- und Gesetzesstruk-turen. Die „unvergleichliche Beständigkeitdes bäuerlichen Wesens“ durfte nach demNS-Ideologen Gunter Ipsen nicht dafür ste-hen, dass die Bauern selbst unberührt von ge-sellschaftlicher Entwicklung blieben. 9

Die gesellschaftlichen Probleme nach demEnde des Zweiten Weltkriegs (Ernährungssi-cherung, Eingliederung von Flüchtlingen,zweite Industrialisierung) führten schließlichdazu, dass die Agrartheoretiker die fiktiven,simplen, aber scharfen Kontrastbilder über-gangslos übernahmen. Sie behielten die Deu-tungsmacht darüber, welche Art des Land-wirtschaftens als das unerwünschte Andere,als das Dysfunktionale überwunden werdenmusste. 10 Ohne die kulturellen, wirtschaftli-chen und sozialen Ausgangsbedingen wirt-schaftlichen Handelns in der Landwirtschaftzu beachten wurde von der Agrartheorie einunauflöslicher Orientierungswiderspruch aufdie Menschen übertragen: nämlich sozial und

4 Vgl. Andreas Bodenstedt/Andreas Nebelung, Agar-Kultur-Soziologie, Gießen 2003.5 Hauptwerke: Die Landwirtschaft ist ein Gewerbe(1809); Grundsätze der rationellen Landwirtschaft(1809–1812).6 Vgl. Michael Kopsidis, Agrarentwicklung, Stuttgart2006. Die Gedanken des in Russland wirkenden Ale-xander Tschajanow, der eine auf der sozialen Eigen-ständigkeit begründete „Lehre von der bäuerlichenWirtschaft“ (1923) erarbeitete, erfuhren erst ab den1960er Jahren unter deutschen Entwicklungs-soziologen Anerkennung; vgl. A. Bodenstedt/A. Ne-belung (Anm. 4), S. 289.

7 Vgl. ebd., S. 286.8 Wilhelm H. Riehl, Die bürgerliche Gesellschaft,Stuttgart 1861.9 Vgl. Gunter Ipsen, Das Landvolk, Hamburg 1933,S. 17.10 Vgl. Clemens Dirscherl, Bäuerliche Freiheit undgenossenschaftliche Koordination, Bamberg 1989,S. 50 f.

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kulturell als Bauern zu handeln, wirtschaftlichaber als kalkulierender Unternehmer. DieserWiderspruch sollte sich in den folgenden Jahr-zehnten nicht auflösen. Denn dieser an dieLandwirtschaft gerichtete Wertmaßstab solltein Form begrifflicher Spielarten wie „bäuerli-cher Familienbetrieb“ (1970er/1980er Jahre),„landwirtschaftliches Familienunternehmen“(1980er/1990er Jahre) oder – aktuell – dem„erweiterten Familienunternehmen“ nichtnur in der wissenschaftlichen Agrardebatteimmer wieder auftauchen; er hatte großenEinfluss auf Beratungsansätze, das Politikver-ständnis und vor allem auf die Umsetzungagrarpolitischer Förderinstrumente.

Bis über die 1990er Jahre hinaus blieb derBlick auf die tatsächlichen Aspekte wirtschaft-lichen Handelns in der Landwirtschaft ver-stellt. Selbst als die Forschung begann, sichkritisch den Folgen der industrialisiertenLandwirtschaft zuzuwenden, blieb sie in dendenselben Kontrastbildern verhaftet: etwa,wenn sie wirtschaftliche Anpassungsleistun-gen und soziale Bewältigungsstrategien desAgrarstrukturwandels als Ablösung vom bäu-erlichen Oikos, als Austarieren von Traditi-onserhalt und -bruch, als Bereitschaft zur Ra-tionalisierung oder in Form von Handlungs-typen wie subsistenz-/marktlogisch denkendeLandwirte beschrieben. 11 Damit trug sie diealte Dichotomie und ihre impliziten Bewer-tungen stillschweigend weiter. Auch die fach-wissenschaftliche Diskussion von heute leidetnoch unter den alten Agrarkonzepten: AlsKonsequenz der „Agrarwende“, die als neueslandwirtschaftliches Leitbild „Klasse stattMasse“ propagierte, stand Anfang 2000 dieAusweitung der ökologischen Landwirtschaftan. Von Neuem begann die deutsche Agrarfor-schung, das wirtschaftliche Handeln (nun: derÖkobauern) anhand der markanten Trennliniezwischen marktorientiert/modern und ideali-stisch/traditionell einzuteilen. 12

Landwirtschaftsstile

In den Niederlanden dagegen lösten sich kriti-sche Agrarforscher von agrarwissenschaftlichenDefinitionsansätzen, in denen das wirtschaftli-

che Handeln eng an der Anpassungs- und Be-wältigungsfähigkeit des Modernisierungspara-digmas gemessen wurde. Eine Forschergruppeum den Agrarsoziologen Jan Douwe van derPloeg präsentierte eine Konzeption, die von deralltäglich beobachtbaren Vielfalt wirtschaftli-cher Rationalitäten und den vielfältigen Bedürf-nissen und Ausgangsbedingen des Landwirt-schaftens hergeleitet wurde: die der farming sty-les 13 (Landwirtschaftsstile). Die Idee hinter denLandwirtschaftsstilen war es, das Typische ander Vielfalt zu systematisieren, um unterschied-liche Entwicklungsmöglichkeiten erklären zukönnen. Anregungen dazu fanden die Forscherdurch ein in der damaligen Agrarforschungnicht selbstverständliches, partizipativ mit re-gionalen Beratungsdiensten und Praktikernumgesetztes Projekt, in dem das wirtschaftlicheHandeln von Milchbauern exemplarisch undnah an der Lebenswelt betrachtet werden sollte.

Bereits in den 1920er Jahren hatten sich auchdeutsche Landbauwissenschaftler (FriedrichAeroboe 14/ Theodor Brinkmann 15) mit derVielgestaltigkeit landwirtschaftlicher Ökono-mien beschäftigt. Sie brachen mit der herr-schenden Lehrmeinung, nur Großbetriebekönnten wirtschaftlich überlegen und kapitalis–tisch organisiert sein. Das Landwirtschaftenwurde verstanden als Kunst des Notwendigsten,als Kunst stets das Notwendigste herauszufin-den und zuerst zu tun. 16 Die Art und Weise desLandwirtschaftens war für sie eine Frage desGesamtgefüges der Betriebe. Ihre Integration inVolkswirtschaft und Märkte, die Betriebsgrößeund erreichbare Preise waren für sie definitiveGründe für eine extensive oder intensive Aus-richtung. Wirtschaftlicher Erfolg und Kompe-tenz im Wirtschaften waren keine Frage derWirtschaftsgesinnung, sondern Landwirtemussten in ihren Augen Experten ihrer je eige-nen Wirtschaftspraxis sein. Der Betrieb warihnen „auf den Leib geschnitten“: Wirtschaftli-cher Erfolg konnte sich durch Geschäftstüch-tigkeit, durch unternehmerisches Risiko, aberebenso durch andere berufliche Leidenschaften(z. B. Viehzucht) einstellen – vorausgesetzt, denLandwirten gelingt es, die vielfältigen Ansprü-che eines Betriebes in der Balance zu halten.

11 Vgl. Peter Schallberger, Subsistenz und Markt.Bäuerliche Positionierungsleistungen unter veränder-ten Handlungsbedingungen, Bern 1996.12 Vgl. hierzu Katrin Hirte/Jürgen Walter, Hand-lungsstrategien und Werte, Neubrandenburg 2005.

13 Vgl. Jan Douwe van der Ploeg, Styles of Farming,in: ders./Ann Long, Born from Within, Assen 1994.14 Vgl. Friedrich Aeroboe, Allgemeine Landwirt-schaftliche Betriebslehre, Berlin 1923.15 Vgl. Theodor Brinkmann, Die Ökonomik deslandwirtschaftlichen Betriebes, Tübingen 1922.16 Vgl. F. Aeroboe (Anm. 14), S. 613.

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Nicht den maximalen Geldgewinn, sondernden hohen, nachhaltigen privatwirtschaftlichenNutzen, der über den Geldverdienst ebenso wieüber die Natural- und Versorgungswirtschafterreicht werden könnte, definierten sie als opti-male (land-)wirtschaftliche Rationalität.

Bei den Landwirtschaftsstilen geht es alsoim Kern um die Beziehungen, Einstellungenund Strategien, welche Landwirtsfamilien inAbgrenzung zur wirtschaftlichen Praxis an-derer Betriebe entwickeln. In einem landwirt-schaftlichen Betrieb muss eine Bandbreitevariabel auftretender Aufgaben sorgfältig ko-ordiniert werden. Dies enthält eine je spezifi-sche Koordination im Bereich der Produk-tion und Reproduktion. Innovative Stärkedieses Konzeptes ist es, wirtschaftliches Han-deln als Ergebnis der Aushandlung dieserpraktischen, persönlichen und theoretischenElemente zu verstehen. Wie gelingt es Land-wirten, ökonomische, politische und techno-logische Aspekte des Wirtschaftens mit prak-tischen Anforderungen sowie persönlichenund kulturellen Ansprüchen, Werten und In-teressen zu verbinden? Ein Landwirtschafts-stil entfaltet sich dauerhaft durch die sorgfäl-tige Koordination der komplexen und vielfäl-tigen Aufgaben, die Landwirte in deralltäglichen Arbeits- und Wirtschaftspraxiszu bewältigen haben. 17 Van der Ploeg grenztebeispielsweise die Landwirtschaftsstile vonMilchbauern in den 1990er Jahren in Formtypischer Gruppen voneinander ab: intensive,große oder wirtschaftliche Bauern; Züchteroder Maschinenbauern.

Landwirtschaftsstile beschreiben eine gere-gelte Art und Weise des wirtschaftlichenHandelns, eine grundlegende ökonomischeRationalität der Bauern. Sie repräsentierendie eigenständigen Antworten, die beispiels-weise die Milchbauern auf den landwirt-schaftlichen Strukturwandel seit den 1950erJahren in den Niederlanden fanden (auf dieeigenen Ressourcen orientiert zu wirtschaf-ten, ohne Schulden zu machen, statt den Er-trag durch maximalen Einsatz externen Kapi-tals und Ressourcen permanent zu steigern;auf langsames Wachstum zu setzen, statt sehrexpansive Wachstumsschritte vorzunehmen;auf eigene handwerkliche Kompetenzen undFamilienarbeitskraft setzen, statt neue, Ar-

beitszeit sparende Technologien einzusetzen).Es steht der wirtschaftliche Gestaltungs- undHandlungsspielraum von Landwirten im Vor-dergrund – ein Manövrierraum, in demMärkte und Technologien den Kontext fürVarianten der wirtschaftlichen Ausgestaltungder Betriebe bieten. Bevorzugen Landwirteetwa Technologien neuesten Standards, sindsie abhängiger von externen Dienstleistungenund Fachwerkstätten und damit stärker in ex-terne Märkte integriert; setzen sie dagegeneher Gebrauchtmaschinen ein, die selbst re-pariert werden können, dann führt dies zueiner geringeren Marktintegration. SolcheManövrierräume ergeben sich immer dort,wo nicht nur die Produktion, sondern auchdie Reproduktion wichtiger Ressourcen aufdem Hof selbst möglich ist (Viehhaltung,Futter, Arbeit).

Landwirtschaftsstile in Deutschland

International nahmen viele Wissenschaftlerdas Konzept der farming styles auf und ent-wickelten es am Beispiel unterschiedlicherlandwirtschaftlicher „Branchen“ weiter (z. B.italienische Rindermäster; niederländischeSchweinehalter; australische Wein- und Obst-bauern). Methodisch gibt es keinen einheitli-chen Weg zur Erforschung von farming sty-les. 18 Mittlerweile nutzen sogar Agrarhistori-ker dieses Konzept. 19

In Deutschland wurden Mitte der 2000erJahre erste Untersuchungen zu den Wirt-schaftsstilen unter Milchbauern durchge-führt. 20 Methodisch und konzeptionellwurde eine wesentliche Kritik an dem Ansatzvon van der Ploeg aufgenommen, indem dieEntwicklung von Landwirtschaftsstilen aufMilchviehbetrieben aus einer längerfristigenPerspektive, also betriebsbiografisch betrach-tet wurde. Dabei wurden grundlegende ethi-sche Wertorientierungen und Leitbilder eben-so wie familiäre Strukturen einbezogen. Auchsollte sich die Forschungsperspektive nochstärker auf die Praxis der milchviehhaltenden

17 Vgl. Jan Douwe van der Ploeg, The Virtual Farmer,Assen 2003.

18 Vgl. Frank Vanclay/Luciano Mesiti, Specifying thefarming styles in viticulture, in: Australian Journal ofExperimental Agriculture, 46 (2006) 4, S. 585–593.19 Vgl. Ernst Langthaler/Rita Garstenauer/SophieKickinger/Ulrich Schwarz, Landwirtschaftsstile, Ms.,St. Pölten 2008.20 Vgl. Karin Jürgens, Der Blick in den Stall fehlt, in:Der kritische Agrarbericht 2008, Kassel 2008, S. 140–144.

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Betriebe verdichten: von den wirtschaftlichenGrundprinzipien über die Arbeitspraxis undBetriebsorganisation zu den gewählten Hal-tungs- und Stallformen, der Zuchtpraxis undFütterung bis hin zu Fragen über die Bedeu-tung der Arbeit mit Nutztieren. GegebeneRessourcen (Betriebsgröße, Milchquote), po-litische und institutionelle Vorgaben, aberauch die Visionen aller auf dem Betrieb wir-kenden Personen und Generationen nahmenEinfluss auf die Betriebsgestaltung. Wie dieBetriebe geführt wurden, hing stark vom Ge-nerations- und Lebensstadium der Menschenab, in dem sie sich mit ihrem Betrieb befan-den: Landwirtschaftsstile sind dynamisch.

Als grundlegende Ausprägungen ihres wirt-schaftlichen Handelns und damit als Land-wirtschaftsstile zeichnete sich Mitte der2000er Jahre unter den Milchviehbetrieben ab,dass sie neue Balancen zwischen Vielseitigkeitund Spezialisierung suchten. Drei Landwirt-schaftsstile lassen sich unterscheiden.

Stil 1: Vielseitig bleiben und im Plus wirt-schaften. Auf Größe und Wachstum kommtes nicht an – diesem Handlungsmotiv folgteeine Gruppe der Milchviehbetriebe mit dreiwesentlichen Leitlinien: 1) den bestehendenwirtschaftlichen Rahmen bestmöglich auszu-nutzen (Gebäude, Land, Betriebsgröße,Milchquote, Vieh); 2) „im Plus wirtschaften“(keine/wenig Schulden; größere Investitionennur auf Basis finanzieller Rücklagen; Wachs-tum Schritt für Schritt; low input); 3) Vielsei-tigkeit in der eigentlichen landwirtschaftli-chen Produktion. Sich modernisieren heißtfür diese Landwirte nicht, allgemein empfoh-lene, schlüsselfertige „Projekte“ nachzuah-men und die Betriebe durch Intensivierungund Vergrößerung weiterzuentwickeln. Sieverfolgen relativ autonome Wirtschaftsstrate-gien, in dem sie die benötigten Ressourcenfür die Produktion wie Arbeit, Futtermittel,Vieh möglichst auf dem eigenen Betrieb mo-bilisieren. Die Betriebsentwicklung gestaltensie durch ständige kleine Innovationen imDetail und indem sie die Wertschöpfung ausihrer Produktion erhöhen (z. B. durch eigeneVermarktung von Fleischprodukten). Bei die-sen Betrieben bleiben Milchkuhbestand undMilchleistung über Jahrzehnte stabil. IhreStrategie besteht darin, mit weniger Milch-leistung mehr Geld zu verdienen. Sie kreuzendafür robuste Rinderrassen ein, achten aufeine gute Gesundheit (geringe Tierarztkosten)

und Langlebigkeit der Tiere, das Grünlandwird durch Weidehaltung und zur Grundfut-terwerbung voll ausgenutzt, Kraftfutterzu-kauf vermieden (Verfütterung von eigenemGetreide). Die Arbeit organisieren sie durchinformelle Betriebs- und Maschinenkoopera-tionen und eigene handwerkliche und techni-sche Fähigkeiten.

Stil 2: Spezialisierung und neue Vielseitig-keit. Diese Betriebe haben sich im Laufe ihrerBetriebsgeschichte auf intensive Milchpro-duktion spezialisiert, den Gemischtbetriebabgeschafft und trotzdem eine neue Vielsei-tigkeit aufgebaut. Sie streben eine Vergröße-rung des Viehbesatzes an und relative Unab-hängigkeit von den eigenen begrenzten be-trieblichen Ressourcen. Sie erhöhen dieGröße der Herde und die Milchleistungdurch den Einsatz und Zukauf externer Be-triebsmittel wie Futterkonzentrate, Dünge-mitteln, Maschinen oder Tiere. In Abständenwerden relativ große Investitionen für ele-mentare Wachstumsschritte und technologi-sche Erneuerungen in der Milchviehhaltungumgesetzt (Stallneubauten, Vergrößerung derAnbaufläche, Einsatz neuester Reprodukti-onstechnologien). In der Milchviehhaltungsetzen sie auf hohe Leistung, die Nutzungs-dauer der Tiere ist kurz. Sie entscheiden sichfür Spezialisierung – aber auf einer alten wirt-schaftlichen Grundstrategie, der Vielseitigkeit–, ausgefüllt mit neuen Inhalten: Auf diesenBetrieben finden sich immer weitere, beson-dere wirtschaftliche Standbeine, etwa die Bul-lenmast für Rindfleischmarkenprogramme,eine eigene Molkerei zur Selbstvermarktungvon Milch, Dienstleistungstätigkeiten, Solar-energie und Zuchttiere.

Stil 3: Spezialisierung und Vergrößerungdurch gemeinsames Wachstum. Eine andereGruppe von Betrieben nutzt alle Ressourcen,um Arbeitsteilung, Spezialisierung und Ver-größerung der Milchviehhaltung für ihrenBetrieb voranzutreiben. Sie organisieren be-triebliche Arbeitsteiligkeit, indem sie Koope-rationen mit anderen spezialisierten Betrieben(Ackerbau, Milchvieh) eingehen. Ihre wirt-schaftliche Philosophie gilt dem „gemeinsa-men Wachstum“, mit dem sie sich im Kampfum das betriebliche Überleben Vorteile ver-schaffen wollen. Eine kostenorientierte, leis-tungsstarke, optimierte Milchproduktionselbst steht hier im Vordergrund, aber nichtdie Hochleistungszucht mit einer ständigen

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Verbesserung der Milchleistung. Kühe sindfür diese Betriebe zum Melken da: Sie ver-zichten durchaus auf modernste Zuchttech-nologien (Besamung, Embryotransfer) undsetzen kostensparend auch Deckbullen ein.Im Glauben, dass nur wenige, aber ebengroße Betriebe wirtschaftlich überleben kön-nen, ordnen diese Milchbauern Verbesse-rungsmöglichkeiten in internen betrieblichenProduktionsprozessen immer dem betriebli-chen Wachstum unter.

Es gibt aber auch Landwirte, die nichtdurch einen Stil, sondern vielmehr durchOrientierungslosigkeit im wirtschaftlichenHandeln auffallen. Sie verhalten sich zöger-lich, wenn es um Entscheidungen zur weite-ren Veränderung ihrer Betriebe geht. Ange-sichts einer schwierigen wirtschaftlichen Lagewird improvisiert und gelegenheitsorientiertgewirtschaftet.

Landwirtschaftsstileals Wege zur Veränderung

Um die Landwirtschaft in Richtung Nachhal-tigkeit verändern zu wollen, brauchen wir einvertieftes Verständnis davon, wie die Men-schen von der bisherigen zu einer zukunftsge-richteten Landwirtschaft kommen können.Das Agrarkonzept der Landwirtschaftsstileerscheint hier als innovativer und zugleichrealistischer Weg, praxisorientierte Optionenund Vorschläge zu finden, statt Landwirteneine bloße Wirtschaftsgesinnung anzuratenoder Technologie und Wissenschaft allein alsVerbündete im Streben um eine gute Art desLandwirtschaftens zu sehen. Landwirt-schaftstile lassen sich nicht nur auf Aspektewie die Vielseitigkeit der Betriebe, ihre spezi-fischen Wachstumsstrategien, die Integrationin Märkte, auf den Einsatz der Technologienoder den Zugang zu benötigten Ressourcenwie Arbeit (Fremdarbeit oder Familienkräfte)oder Betriebsmittel (Kauf oder Eigenproduk-tion) übertragen. Mit den Landwirtschaftssti-len können unterschiedliche Ausprägungenwirtschaftlichen Handelns zweifellos auchaus ethischer, umweltbezogener oder sozialerSicht erklärt werden.

Mit den Landwirtschaftsstilen wurden ei-genständige Antworten auf die Frage entwi-ckelt, welcher Umgang mit den Tieren ange-messen und verantwortbar ist. Im Stil 1 besit-

zen die Landwirte Kenntnisse über jedeseinzelne Tier, sie bemühen sich um gesunde,langlebige Tiere, die sie überwiegend auf derWeide halten. Im Stil 2 werden regelmäßigVerbesserungsmöglichkeiten in der Laufstall-haltung umgesetzt. Betont werden die richti-gen technischen Ausstattungen der Ställe, umTiere vernünftig behandeln zu können. Wei-dehaltung wird zu Gunsten der Stallhaltungaufgegeben. Im Stil 3 ist Tierhaltung mehreine Frage des Managements. Im Vorder-grund stehen vor allem physiologische Be-dürfnisse von Nutztieren (Futter, Gesund-heit), die es für eine verbesserte Leistung zuoptimieren gilt.

Landwirtschaftsstile können in der alltägli-chen Praxis und mit dem Erfahrungswissenerarbeitete Wege aufzeigen, die einen Kom-promiss zum ständigen Intensivierungs- undVergrößerungsdruck darstellen – ohne dassdie Betriebe sich von der eigentlichen land-wirtschaftlichen Produktion entfernen müs-sen. Gerade in Stil 1 wird die Landwirtschaftan die vorhandenen Ressourcen angepasst;durch eine flexible Nutzung produktionsrele-vanter Ressourcen und eine hohe Wertschöp-fung gelingt es, eine relativ geringe Basis anexternen Ressourcen zu verbrauchen. 21 Stil 3dagegen ist auf die Ausnutzung externer Res-sourcen ausgerichtet. Wie labil diese Ausrich-tung sein kann, zeigte sich in Zusammenhangmit der aktuellen Wirtschaftskrise, als dieBundesregierung Liquiditätshilfen gerade fürdiese Betriebe auflegen musste.

Aus der landwirtschaftlichen Praxis herauswurden Antworten auf unterschiedlichsteKonsequenzen des dominierenden Moderni-sierungsparadigmas des „Wachsen oder Wei-chens“ gefunden. Hier gilt es weiterzuarbei-ten. Das Konzept der Landwirtschaftsstile er-möglicht es, gemeinsam mit der Praxis guteLösungen herauszuarbeiten – bereits in derPraxis etablierte Fähigkeiten, die es ermögli-chen, Landwirtschaft in vielerlei Hinsicht„gut“ zu betreiben: ökonomisch, nachhaltig,tier-, umwelt- und auch klimagerecht.

21 Vgl. hierzu J. D. van der Ploeg (Anm. 2).

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Franz-Theo Gottwald

Agrarethik undGrüne Gentech-

nik – Plädoyerfür wahrhaftige

Kommunikation

Die ablehnende Haltung breiter Bevölke-rungsschichten gegenüber der Grünen

Gentechnik in Deutschland ist seit Jahren un-verändert stark. EineBefragung des Mei-nungsforschungsinsti-tuts Emnid im August2009 ergab, dass 65Prozent der Deut-schen gentechnischveränderte Organis-men (GVO) in Le-bensmitteln ablehnen.Nur sechs Prozentbefürworten derartigeNahrungsmittel. Auf-fallend ist, dass selbstWählerinnen undWähler der wissen-

schafts- und fortschrittsliberalen FDP mit 60Prozent mehrheitlich gegen Grüne Gentech-nik und Hightech-Landwirtschaft eingestelltsind. 1 In einer Forsa-Umfrage für SlowFoodim Mai 2009 sprachen sich sogar 78 Prozentder Deutschen gegen gentechnisch veränderte(gv) Lebensmittel aus. 2

Das Bayerische Staatsministerium für Um-welt und Gesundheit stellte in einer Umfrageim Juni vergangenen Jahres fest, dass in auf-fälliger Weise die Urteile über andere Ein-satzgebiete der Gentechnik, etwa in der Me-dizin, in verschiedenen Bevölkerungsschich-ten differenziert ausfallen, während dieAnwendung dieser Technologie speziell inder Landwirtschaft bei 74 Prozent der baye-rischen Bevölkerung auf Ablehnung stößt. 3

Auch bei den Landwirten ist die Skepsisgroß – mittlerweile gibt es deutschlandweit

190 gentechnikfreie Regionen, Kommunenund Initiativen. 4 Diese wohl größte land-wirtschaftliche Basisbewegung der vergange-nen Jahre begann 2004; seitdem beschließenLand- und Forstwirte in ganz Deutschlandauf Grundlage freiwilliger Selbstverpflich-tungserklärungen oder per Beschluss aufBauernversammlungen, ihre Felder gentech-nikfrei zu bewirtschaften.

Das lässt den Schluss zu, dass die Informa-tionspolitik und die vielfältigen kommunika-tiven Bemühungen der Befürworter der Grü-nen Gentechnik – beispielsweise durchRoadshows oder Ausstellungen Aufklärungund Wohlwollen zu schaffen – weitgehendfehlgeschlagen sind. Im Gegenteil: Eine de-zentral sich organisierende Gegenöffentlich-keit ist entstanden, die teils auch mit Mittelndes zivilen Ungehorsams (Feldbefreiungen)nicht nur Widerstand leistet, sondern auchKommunikationsangebote seitens staatlichgetragener Bildungseinrichtungen oder durchpolitiknahe Stiftungen ablehnt.

Die derzeitige kommunikative Lage kannmit einem Stellungskampf verglichen wer-den: Die Fronten sind festgefahren. Zwi-schen ihnen liegen Wissens-, Unsicherheits-und Wertekonflikte. Beide Seiten interpretie-ren die komplexen sachlichen Zusammen-hänge unterschiedlich und erhalten so Wis-senskonflikte aufrecht. Sie beschreiben undbeurteilen Unsicherheiten unüberbrückbarunterschiedlich, die aufgrund mangelnderErkenntnisse auftreten können, etwa hin-sichtlich der Folgen von Patenten aufLeben. Gegner und Befürworter befindensich in teils radikalen Wertekonflikten. Ihreweltanschaulichen oder moralischen Bewer-tungen von vorhandenem Wissen undNicht-Wissen sind meist diametral entge-

Franz-Theo GottwaldDipl.-Theol., Dr. phil., geb. 1955;

Honorarprofessor für Umwelt-,Agrar- und Ernährungsethik an

der Humboldt-Universität zuBerlin; Lehrbeauftragter für Poli-

tische Ökologie an der Hoch-schule für Politik, München; Vor-stand der Schweisfurth-Stiftung,

Südliches Schlossrondell 1,80638 München.

[email protected]

1 Vgl. Emnid, Der Einfluss des Themas Gentechnikauf die Bundestagswahl 2009. Umfrage im Auftrag von„Vielfalt ernährt die Welt“, online: www.vielfalt-ernaehrt-die-welt.de (24. 11. 2009).2 Vgl. Forsa, Meinungen zur Gentechnik 2009. Um-frage im Auftrag von Slowfood Deutschland, online:www.slowfood.de/intro_09/gentechnik (24. 11. 2009).3 Vgl. Bayerisches Staatsministerium für Umwelt undGesundheit, Ökotrend Bayern. Einstellungen derbayerischen Bevölkerung zu umweltpolitischen Fra-gen, online: www.stmugv.bayern.de/umwelt/oekotrend/index.htm (18. 11. 2009).4 Gentechnikfreie Regionen in Deutschland, Regio-nen & Gemeinden, online: www.gentechnikfreie-regionen.de/regionen-gemeinden.html (17. 11. 2009).

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gengesetzt. 5 In diesem Zusammenhang wirdauch vom „Verlust des gesamten Sittenko-dex“ gesprochen. 6

Rolle der Medien

Die blockierte kommunikative Lage wirddurch Medien, speziell Printmedien, nochverschärft. Sie entscheiden, worüber die Öf-fentlichkeit informiert wird und vor allem aufwelche Weise. So kann die Grüne Gentechnikje nach Auswahl der Quellen und je nachPlatzierung im Blatt mal Heilsbringer undmal Gefahr für Mensch und Umwelt sein.Ein dankbares Thema; objektive, harte Fak-ten kommen dabei leider häufig zu kurz. 7

Die unabhängige journalistische Arbeit inFernsehen, Radio und Printmedien wirddurch die Abhängigkeit von Anzeigen- undWerbekunden häufig torpediert. Denn diekaufmännische Orientierung der Verlagshäu-ser und Sendeanstalten nimmt gerade in Kri-senzeiten zu.

Die Folgen sind fatal: Informationen, sowichtig sie auch für die Bevölkerung seinmögen, gelangen nicht mehr zwangsläufig andie Öffentlichkeit – sofern die Konzerninter-essen eines Werbepartners entgegenstehen. Sogeschehen in den USA, wo der Saatguther-steller Monsanto nicht nur auf Verlage ein-wirkt, sondern bereits die Ausstrahlung einerkritischen Reportage des Fernsehsenders Foxverhindert hat. 8

Auch wird von einigen Meinungsmacherngerade in Umweltfragen zunehmend ein un-sachlicher, sehr einseitiger Kommunikations-stil gepflegt. So ist die Rede von der „Tech-nikfeindlichkeit der Deutschen“ und vom„Ressentiment gegen jegliche Weiterentwick-lung“. Ökologisch engagierte Mitmenschen,die Atomkraft und Grüner Gentechnik kri-

tisch gegenüber stehen, werden als „Ökoakti-visten“, „romantische Heimatschützer“ sowie„Untergangspropheten und Verzichtsapostel“diffamiert. 9 Das ist weder hilfreich für einenernsthaften Diskurs, noch zollt es diesenMenschen den angemessenen Respekt. Eszeugt aber beredt von einer weltanschauli-chen, teils totalitäre Züge annehmenden Fort-schrittsgläubigkeit bzw. ihres Gegenteils, derFortschrittsskepsis. Selten finden die for-schenden Bemühungen, Saat- und Zuchtgutmit verschiedenen, konventionellen oder al-ternativen Technologien weiterzuentwickeln,eine Stimme in den großen Printmedien. Diemonoman erscheinende mediale Fokussie-rung auf Zuchterfolge durch Grüne Gentech-nik nimmt bei weitem den größten Raum einund erzwingt damit geradezu dialektisch einErstarken der Gegenkräfte.

Agrarethisches Plädoyer:mehr Wahrhaftigkeit

In dieser vielfältig verfahrenen kommunikati-ven Frontenlage ist der Ruf nach agrarethi-schen Klärungen verständlich. Agrarethik re-flektiert systematisch und mit Anspruch aufverallgemeinerbare Aussagen die weltan-schaulichen, moralischen, religiösen und spi-rituellen Grundlagen agrarkultureller, land-wirtschaftlicher Praxis, aber auch von Agrar-forschung und Agrarpolitik. AgrarethischeReflektionen verfolgen die Absicht, die Ent-scheidungen und Tätigkeiten in diesen dreiFeldern auf ihre Legitimität zu prüfen. Ihr er-kenntnisleitendes Interesse besteht darin,Werte benennen zu können, welche die jewei-ligen Entscheidungen oder Tätigkeiten imlandwirtschaftlichen Betrieb, in den Agrar-wissenschaften und ihnen folgenden Ausbil-dungen und in der politischen Normierungwie im verwaltenden Vollzug als ethisch fun-diert rechtfertigen können.

Die Güte der Legitimation bemisst sichdabei zum einen am Umfang der Wertbezüge,die zur Begründung, in diesem Fall des Ein-satzes oder der Nichtverwendung von Grü-ner Gentechnik, bemüht werden können (In-klusivitätsprinzip). Zum anderen bemisst siesich daran, dass möglichst viele Anspruchs-

5 Vgl. Markus Hertlein/Eva Klotmann/ChristophRohloff, Biologisch-dialogisch: Risikokommunikationzur Grünen Gentechnik, in: Technikfolgenab-schätzung in Theorie und Praxis, 13 (2004) 3, S. 89–93.6 Marc Lappé/Britt Bailey, Machtkampf Biotechno-logie. Wem gehören unsere Lebensmittel?, München2000, S. 16.7 Vgl. Per Pinstrup-Andersen/Ebbe Schiøler, DerPreis der Sattheit. Gentechnisch veränderte Lebens-mittel, Wien 2001, S. 5 f.8 Vgl. Jeffrey M. Smith, Trojanische Saaten. Gen-manipulierte Nahrung – Genmanipulierter Mensch,München 2004.

9 Michael Miersch, Deutschland fehlt eine Fort-schrittspartei, in: Cicero. Magazin für Politische Kul-tur, (2009) 9.

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gruppen in einem lösungsorientierten Dis-kurs über die Nutzung oder Nicht-Nutzungzu einem konsensfähigen Verhalten finden(Kohärenzprinzip). Bauern, Verbraucher,Saat- und Zuchtguthersteller, Industrie- undHochschulforscher, Düngemittel- und Pflan-zenschutzmittelhersteller, Futtermittelerzeu-ger, Verarbeiter, Lebensmittelhändler, Logis-tiker, Politiker verschiedenster Provenienz,Kirchen, Vertreter von Nichtregierungsorga-nisationen (NGOs), Medien- und Kultur-schaffende gleichermaßen auf Augenhöhe ineinen agrarethischen Diskurs einzubeziehenist praktisch möglich und hat sich in verschie-denen Sachfragen auch mit agrarischen Bezü-gen bewährt. 10

Ein am Diskurs der Anspruchsgruppenorientierter Zugang zu Fragen eines moder-nen Agrarethos hat allerdings eines zurnormativen Voraussetzung: Es ist allen Ver-tretern von Anspruchsgruppen ein aufrichti-ges Anliegen, zu einer guten, weitreichendüberzeugend zu begründenden Praxis zugelangen. Nur wenn alle Beteiligten sichdeshalb auf Wahrhaftigkeit 11 als Grundlageihrer Lösungssuche verständigen, kann einzukunftsfähiger Weg im Umgang mit derGrünen Gentechnik und ihren Folgen ein-geschlagen werden.

Wahrhaftigkeit als Norm für zukünftigeDiskurse zwischen Befürwortern und Geg-nern der Grünen Gentechnik zu postulie-ren hat zwei Folgen. Zum einen wird diebewusste Lüge, die gewollte Falschaussage,das beabsichtigte falsche Zeugnis widereine Person und Anspruchsgruppe ausge-schlossen. Zumindest kann, unter der Be-dingung, dass alle Diskursteilnehmer sichzu Wahrhaftigkeit als Spielregel ihrer Kom-munikation verständigen, das jeweilige Ver-letzen dieser Regel angesprochen und

damit überwunden werden. Die zweiteFolge, Wahrhaftigkeit neu für die Entschär-fung der derzeit so verfahrenen kommuni-kativen Lage rund um die Grüne Gentech-nik in Deutschland zu bemühen, ist ebensovielversprechend. Der aktuelle Stellungs-krieg ist nämlich auch dadurch gekenn-zeichnet, dass sich die Gegner bei derSuche nach Gründen für ihre technologi-sche Präferenz selektiv verhalten. Sie lassennur das als Argument zu, was ihrer je eige-nen Beweisabsicht entgegenkommt. Sie ver-schweigen und verdrängen, was gegen sieselbst sprechen würde. Rationalisierungen,also unwahrhaftige Begründungen, werdenvorgenommen, um die persönlichen oderunternehmensspezifischen Interessen so zubemänteln, dass es dem Selbstinteresse ein-seitig entgegenkommt. Im medialen undpolitischen Raum werden ideologische Vor-zugswertungen entsprechend in Argumentegekleidet, die ebenfalls kommunikativ ver-zerrend, weil nur teils wahrhaftig wirken.Würde also weniger oder gar nicht rationa-lisiert bzw. ideologisiert, könnte eine neueOffenheit entstehen. Die Anerkennung derargumentativen Positionen der jeweils an-deren Anspruchsgruppe könnte gelingenund damit eine Voraussetzung für eine ge-meinsame Lösungsorientierung jenseits derkonventionellen Kontroverse geschaffenwerden. 12

Das klare Bekenntnis zum kommunikati-ven Leitwert Wahrhaftigkeit und die Be-reitschaft zum konsequenten Verfolgen die-ses scheinbar so selbstverständlichen Ge-bots der Ehrlichkeit ist die Grundlage fürjedwede agrarethische Güterabwägung prooder contra Grüner Gentechnik. Die viel-fältigen, von Gegnern wie Befürwortern inden vergangenen Jahrzehnten in Anschlaggebrachten, mehr oder weniger wahrhafti-gen Argumentationen beziehen sich imKern immer auf unterschiedliche Werte-portfolios (etwa Produktionssteigerung;Nachhaltigkeit; Eigentumsschutz; Hunger-bekämpfung; Umweltverträglichkeit; Ernäh-rungssouveränität; Schöpfungsbewahrung).

10 Vgl. Barbara Skorupinski/Heike Baranzke/HansWerner Ingensiep/Marc Meinhardt, Consensus Con-ferences – A Case Study: Publiforum in Switzerlandwith Special Respect to the Role of Lay Persons andEthics, in: Journal of Agricultural and EnvironmentalEthics, 20 (2007) 1, S. 37–52; Kristen C. Nelson/Mi-chael J. Banker, Problem Formulation and OptionsAssessment Handbook 2007, online: http://www.gmoera.umn.edu/public/publications/index.html(7. 1. 2010).11 Vgl. Johannes Heinrichs/John Hormann, Wörter-buch des Wandels. Einsichten für Manager, Mys-tiker. . . und Menschen, München 1991, S. 211.

12 Vgl. Axel Honneth, Kampf um Anerkennung: Zurmoralischen Grammatik sozialer Konflikte, Berlin2008; Reinhard Ueberhorst/Tom R. Burns, CreativeDemocracy. Systematic Conflict Resolution and Poli-cymaking in a World of High Science and Technology,New York 1988.

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Um, möglicherweise Fall für Fall, zu ent-scheiden, ob es moralisch legitim ist, Saat-gut aus bestimmten Zuchtverfahren einzu-setzen oder nicht, ist angesichts der Kom-plexität der Wertsetzungen, Interessen undStrategien der unterschiedlichen Anspruchs-gruppen, die in diese Entscheidung einflie-ßen, eine wahrhaftige und weitgehende Of-fenlegung dieser Inwertsetzungen notwen-dig. Da dies inhaltlich, also Wert um Wert,in einem überschaubaren Zeitrahmen eherschwierig werden dürfte, braucht es füreinen gelingenden Diskurs wenigstens einegemeinsame, konsensfähige Spielregel zurSteuerung der Kommunikation. 13 Wahrhaf-tigkeit kann als die wesentliche Verfahrens-regel anerkannt und genutzt werden, umdiesseits der mitgebrachten Wertepluralitätund der weltanschaulichen Voraussetzungenüberhaupt einen Diskurs in ethischer Ab-sicht über Grüne Gentechnik zu führen.

Die jedweden ethischen Diskurs fundie-rende Verfahrensregel Wahrhaftigkeitkönnte kommunikationspsychologisch einDiskursklima des Vertrauens und derGlaubwürdigkeit schaffen. Grundsätzlichgilt, dass die praktizierte Kommunikations-kultur wegweisend für die Legitimität deragrarethischen Entscheidungen ist. Unstrit-tig scheint zu sein, dass die bisherige Kom-munikation von vorhergesagten oder ver-sprochenen Erfolgen Grüner Gentechnikund die von Kritikern festgestellte Wirk-lichkeit zumindest für den deutschen Dis-kursraum wenig Vertrauen oder Glaubwür-digkeit geschaffen hat. 14 Jedoch kann einkommunikativer Neubeginn nur glücken,wenn dieses teils krasse Auseinanderfallenzwischen Anspruch und Wirklichkeit Grü-ner Gentechnik anerkennend aufgearbeitetwird. Um seitens der Verfechter GrünerGentechnik zu signalisieren, dass Wahrhaf-tigkeit und Diskurswilligkeit (neu) gegebensind, wäre also eine stichhaltige Bearbei-tung der Einwände der Gegner notwendig,wie sie sich im Überblick derzeit darstel-len.

Grüne Gentechnik –Versprechen und Wirklichkeit

Die Versprechen der gv-Saatgut produzieren-den Unternehmen vor zwei Jahrzehntenwaren vielfältig und weitreichend. Sie adres-sierten Werte und Erstrebenswertes: Voneiner zweiten Grünen Revolution war dieRede, von einer Vervielfachung der Erträgeund von krankheitsresistenten Pflanzen.Gentechnisch verändertes Saatgut schonedie Umwelt, weil der Pestizideinsatz durch„eingebaute“ Resistenzen bedeutend sinke.Ungefährlich für Mensch und Tier, könnteso das weltweite Hungerproblem gelöstwerden.

Tatsächlich blieb der beschworene Sieges-zug aus. Nur wenige, relativ einfach zu reali-sierende genmanipulierte Pflanzen haben esbislang überhaupt bis zur Marktreife ge-schafft. Sie sind entweder herbizid- oder in-sektenresistent; manche Pflanzen enthaltenauch eine Kombination aus beiden Resisten-zen. 15 Von einer nennenswerten, beständigenErtragssteigerung kann keine Rede sein; 16

ebenso wenig hat sich durch Agrogentechnikdie Menge der eingesetzten Pestizide verrin-gert. Wissenschaftlichen Erkenntnissen zufol-ge ist sogar ein Anstieg des Pestizideinsatzeszu verzeichnen. 17 Nach einer aktuellen Stu-die ist in den USA seit der Markteinführungherbizidresistenter gv-Pflanzen im Jahr 1996die Menge der ausgebrachten Herbizide um175 Millionen Kilogramm gestiegen. 46 Pro-zent davon entfallen auf die Jahre 2007 und2008. 18 Grund hierfür ist insbesondere dasAuftreten resistenter Ackerkräuter, die von

13 Vgl. Jürgen Habermas, Theorie des kommuni-kativen Handelns. 2 Bde., Berlin 2006.14 Vgl. Dagmar Wiebusch, Politische Kommunikation– Gratwanderung zwischen Information und In-szenierung, in: Forschungsjournal Neue Soziale Be-wegungen, 13 (2000) 3, S. 75–80.

15 Vgl. Ulrich Dolata, Schlechte Ernte, in: ManuelSchneider (Hrsg.), Genopoly – Das Wagnis GrüneGentechnik, in: Politische Ökologie, 21 (2003) 81–82,S. 45–48.16 Vgl. Doug Gurian-Sherman, Failure to Yield. Eva-luating the Performance of Genetically EngineeredCrops, Union of Concerned Scientists Publications,Cambridge 2009.17 Vgl. Charles Benbrook, Impacts of GeneticallyEngineered Crops on Pesticide Use in the United Sta-tes: The First Nine Years. BioTech InfoNet, TechnicalPaper Nr. 7, (o. O.) October 2004; Juan Lopez-Villar/Bill Freese, Who benefits from GM-crops? The rise inpesticide use. Friends of the Earth, Amsterdam 2008.18 Vgl. Charles Benbrook, Impacts of GeneticallyEngineered Crops on Pesticide Use in the United Sta-tes: The First Thirteen Years. Organic Center, (o. O.)2009.

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den Landwirten durch höhere Dosen sowieden Einsatz von Breitbandpestiziden be-kämpft werden.

Statt der versprochenen „sicheren“ Erntenstellt sich in der Praxis ein ganz anderes, hete-rogenes Bild dar. Zwar gibt es durchaus Peri-oden mit höheren Erträgen sowie mit einemgeminderten Pestizideinsatz. Doch ebensoverzeichnen die betreffenden Landwirteeinen Rückgang der Produktivität und/odersteigende Mengen an Insekten- und Unkraut-vernichtungsmitteln. 19 Der versprochenewirtschaftliche Vorteil wird häufig durch diewesentlich höheren Kosten für gv-Saatgut re-lativiert. Die Auswirkungen von gv-Saatgutauf Umwelt und Biodiversität seien, so dieKritiker, nicht hinreichend erforscht. So gibtes seit Jahren Bedenken, dass die in denPflanzen synthetisierten Gifte sowie die spe-zifischen Insektizide und Herbizide Böden,Mikroorganismen, Wildpflanzen und ver-schiedenste Tierarten schädigen. 20

Ferner wird die Frage, ob gv-Pflanzen ge-sundheitliche Risiken für Tier und Menschmit sich bringen, äußerst kontrovers disku-tiert. Während man sich bei den Zulassungs-behörden auf „fundierte“ wissenschaftlicheErgebnisse beruft, sind Skeptiker zunehmendbeunruhigt. Zunächst einmal: Die gesund-heitliche Unbedenklichkeit für Mensch undTier kann gv-Produkten aufgrund fehlender,wissenschaftlich einwandfreier und unab-hängiger Studien, auch über längere Zeit-

räume hinweg, überhaupt nicht assistiertwerden.

Ein Beispiel ist der gv-Mais Bt-176 derFirma Novartis (heute Syngenta). In denZellkern des Bt-176 waren drei Gene einge-schleust worden: Ein Gen von Bacillus thu-ringiensis (Bt) ermöglicht die Produktioneines Giftes gegen den Maiszünsler. Einzweites Gen macht den Mais resistent gegendas Herbizid „Basta“, das dritte Gen produ-ziert eine Resistenz gegen das AntibiotikumAmpicillin. Der hessische Milchbauer Gott-fried Glöckner begann 1997, den damalsvon den zuständigen Behörden gerade alsunbedenklich zugelassenen Mais anzubauenund zu verfüttern. Bis zum Jahr 2004 verlorder Milchbauer 135 Kühe. Entgegen derAussagen von Syngenta blieb das Bt-Gift inder Maissilage bestehen. Es erreichte die Or-gane der Kühe, konnte im Blut, denLymphknoten und im Kot nachgewiesenwerden und gelangte über die Gülle wieder-um auf die Weiden. Nach etlichen Gutach-ten zahlte in einem gerichtlichen VergleichSyngenta Schadensersatz an Glöckner. Biszu diesem Schuldeingeständnis versuchteSyngenta systematisch, den ursächlichen Zu-sammenhang zwischen dem Erkranken derKühe und seinem gv-Mais zu verharmlosenund zu verschleiern. Bt-176 darf seit März2000 nicht mehr landwirtschaftlich angebautwerden. 21

Tatsächlich besteht der begründete Ver-dacht, dass die Toxine, die von den Pflanzenproduziert werden, unspezifisch ebenfalls„Nicht-Zielorganismen“ schädigen können.Konsequente Risikoforschung gibt es zudiesen Problemen kaum. 22 Es mehren sichzudem die Hinweise darauf, dass auchdie von den jeweiligen Herstellern mitgelie-ferten Pestizide alles andere als ungefähr-lich sind. Das UnkrautvernichtungsmittelRoundUpH des US-Saatgutriesen Monsantokann einer aktuellen Studie zufolge mensch-liche Zellen schädigen. 23 Nicht zuletzt auf-

19 Vgl. Anita Idel, Enttäuschte Hoffnung – ErhoffteTäuschung?, in: M. Schneider (Anm. 15), S. 49–53.20 Vgl. Deepak Saxena/Saul Flores/Günther Stotzky,Transgenic plants: Insecticidal toxin in root exudatesfrom Bt corn, in: Nature, 402 (1999) 6761, S. 480; Pau-lina E. Kramarz/Annette de Vaufleury/Piotr M. S.Zygmunt/Cyrille Verdun, Increased response to cad-mium and Bacillus thuringiensis maize toxicity in thesnail Helix aspersa infected by the nematode Phas-marhabditis hermaphrodita, in: Environmental Toxi-cology and Chemistry, 26 (2007), S. 73–79; Emma J.Rosi-Marshall/Jennifer L. Tank/Todd V. Royer/MattR. Whiles/Michelle Evans-White/Catherine Cham-bers/Nathalie A. Griffiths, Toxins in transgenic cropby-products may affect headwater stream ecosystems,in: Proceedings of the National Academy of Science ofthe United States of America, 26 (2007) 104, S. 204–208; Thomas Bøhn/Raul Primicerio/Dag O. Hessen/Terje Traavik, Reduced fitness of Daphnia magna fed aBt-transgenic maize variety, in: Archives of Envi-ronmental Contamination and Toxicology, 55 (2008) 4,S. 584–592.

21 Vgl. Sievert Lorenzen/Sabine Ohm, Wie Gen-technik-Riesen uns zu ihren Opfern machen, in:PROVIEH Magazin, (2009) 3, S. 14–17.22 Vgl. Martha Mertens, Riskantes Nichtwissen.Ökologische Risiken und Nebenwirkungen transgenerPflanzen, in: M. Schneider (Anm. 15), S. 31–35.23 Vgl. Nora Benachour/Gilles-Eric Séralini, Gly-phosate Formulations Induce Apoptosis and Necrosisin Human Umbilical, Embryonic, and Placenta Cells,

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grund großer Unsicherheiten und bedenkli-cher Ergebnisse in Tierstudien forderte dieAmerican Academy for Environmental Me-dicine im Mai 2009 ein sofortiges Moratori-um für gv-Lebensmittel. 24

Mit dem Ausbleiben erhoffter Vorteilesowie dem wachsenden Widerstand gegen gv-Saatgut in Europa und anderen Teilen der Weltändert sich die Kommunikationsstrategie, mitder die Befürworter der Grünen Gentechnikdiese Technologie durchsetzen wollen. Neues-tes Hauptargument ist die Hungerbekämp-fung: Durch gentechnische Veränderungenkönnten Pflanzen geschaffen werden, die sichan widrige Umweltbedingungen besser anpas-sen und so auch in extrem trockenen odernährstoffarmen Böden besser gedeihen könn-ten. Soweit die Theorie.

Jedoch kommt beispielsweise das Büro fürTechnikfolgenabschätzung beim DeutschenBundestag in einem aktuellen Bericht zu demSchluss, dass gv-Pflanzen für die Ernährungs-sicherung und lokale Märkte in Entwick-lungs- und Schwellenländern kaum eine Rollespielen. 25 Zudem sei der generelle Nutzentransgenen Saatguts bisher noch immer nichtzweifelsfrei nachgewiesen. 26 Zu einem ähn-lich ernüchternden Ergebnis kommen auchzahlreiche nichtstaatliche Organisationen, diein der Grünen Gentechnik keine geeigneteWaffe gegen den Welthunger sehen. 27 Es gibt

also genügend Gründe, den Versprechungender Befürworter der Grünen Gentechnikskeptisch oder zumindest kritisch gegenüberzu stehen.

Für einen kommunikativen Neubeginn

Für einen kommunikativen Neubeginn, derein Hauptanliegen der aktuellen agrarethi-schen Diskussionen darstellt, 28 braucht es,wie zuvor begründet, das Bekenntnis und dieBereitschaft, mit Wahrhaftigkeit als Verfah-rensregel die vorgebrachten Einwände zu dis-kutieren und zu beurteilen. Wahrhaftigkeitals Leitwert und Norm des Diskurses anzuer-kennen ist die wichtigste Voraussetzung füreinen Neuanfang.

Darüber hinaus gibt es aber noch eineReihe – hier ohne Vollständigkeitsansprucherhobener – Forderungen an die einzelnenAnspruchsgruppen, die Diskursrelevanzhaben. Ohne sie kann keine neue Glaubwür-digkeit entstehen. Ohne ihre Erfüllung bleibtes beim frontalen Gegeneinander. Werden siejedoch konstruktiv bearbeitet, kann ein Geistdes Miteinanders oder der Lösungsorientie-rung entstehen. Dieser ist möglicherweiseumwelt- und zukunftsgerechter als eine Aus-einandersetzung in einem Geist, der auf Miss-achtung und Meinungsmanipulation basiert.

Eine wesentliche Forderung, welche dieSaatgutindustrie für einen kommunikativenNeubeginn erfüllen muss, richtet sich auf dasverlässliche Zugänglichmachen von Faktenund Informationen aus der industriefinan-zierten Forschung, insbesondere der Risiko-forschung. Doch gerade hier mangelt es der-zeit an Transparenz. Auch kommt es immernoch zu abzustellenden Irreführungen, dieden Verbraucher nicht nur verunsichern, son-dern auch zu Recht verärgern.

in: Chemical Research Toxicology, 22 (2009) 1, S. 97–105.24 Vgl. AAEM (American Academy for Environmen-tal Medicine), The American Academy Of Envi-ronmental Medicine Calls For Immediate MoratoriumOn Genetically Modified Foods, Pressemitteilung vom19. 5. 2009.25 Vgl. Büro für Technikfolgenabschätzung beimDeutschen Bundestag, Transgenes Saatgut in Entwick-lungsländern – Erfahrungen, Herausforderungen,Perspektiven. Endbericht zum TA-Projekt „Aus-wirkungen des Einsatzes transgenen Saatguts auf diewirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischenStrukturen in Entwicklungsländern“, online: www.tab.fzk.de/de/projekt/zusammenfassung/ab128.pdf(1. 12. 2009).26 Vgl. Büro für Technikfolgenabschätzung beimDeutschen Bundestag, Transgenes Saatgut – Ein Bei-trag zur nachhaltigen Landwirtschaft in Entwick-lungsländern?, in: TAB-Brief Nr. 35, Juni 2009, S. 10–16.27 Vgl. Greenpeace, Gentechnik: Keine Hoffnung fürdie Hungernden. Genpflanzen sind keine Hoffnung,sondern Teil des Problems, 2004, online: www.greenpeace.de/themen/gentechnik/welternaehrung/artikel/

gentechnik_keine_hoffnung_fuer_die_hungernden(2. 12. 2009); Oxfam Deutschland, Oxfam zieht Bi-lanz des Welternährungsgipfels, Pressemitteilung vom18. 11. 2009, online: www.oxfam.de/a_611_presse.asp?id=441 (28. 11. 2009); Misereor, Grüne Revolu-tion, online: www.misereor.de/themen/vielfalt/gruene-revolution.html (28. 12. 2009); vgl. auch J. Lopez-Villar/B. Freese (Anm. 17).28 Vgl. Gary L. Comstock, Ethik und gentechnischmodifizierte Lebensmittel, in: Gerhard Wiegleb/An-dreas Briese (Hrsg.), Ethik in den Lebenswissen-schaften, Münster 2008.

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Als Beispiel sei das Internetinformations-portal TransGen.de, Transparenz für Gen-technik bei Lebensmitteln, genannt. DiePlattform wird als unabhängig und neutraldargestellt, finanziert wird sie jedoch unteranderem von Bayer CropScience, BASF,Dow Agro Sciences, Monsanto Agrar, DuPont/Pioneer Hi-Bred International undSyngenta Agro. Die Verbraucher Initiativee.V. tritt seit 2009 nicht mehr als ideeller Trä-ger des Portals auf. Stattdessen wurde eigensdas Forum Bio- und Gentechnologie, Vereinzur Förderung der gesellschaftlichen Diskus-sionskultur e.V., gegründet.

Von der Wissenschaft muss gefordert wer-den, dass sie ihre häufig ausschließlich spezia-lisierte Perspektive der Forschung und Kom-munikation, ihr Expertentum, transdiszipli-när weitet. Tatsächlich ist die Sichtweise derWissenschaft häufig sehr eng; Pflanzen wer-den auf ihren genetischen Aufbau reduziert,mehr noch, auf einzelne Gene und deren Ma-nipulierbarkeit. Damit war die Ausrichtungder Wissenschaft in Bezug auf die Erfor-schung von Nutzen und Risiken gentechnischveränderter Pflanzen in der Vergangenheitstark reduktionistisch geprägt. Betrachtetwerden ausschließlich Gensequenzen imLabor, kaum jedoch die ökologischen, undschon gar nicht die sozioökonomischen Fol-gen.

Für eine vom Vorsorgeprinzip geleitete,glaubwürdige und umfassende Risikofor-schung wird die Wissenschaft in Zukunftstärker einem systemischen Ansatz folgenmüssen, der agrarkulturelle, ethische, öko-logische und sozioökonomische Faktorengleichermaßen einbezieht. Die Wissenschaftmuss sich einer breiten gesellschaftlich-kul-turellen Debatte öffnen und stärker Verant-wortung übernehmen für das, was sie tutund warum sie es tut. Denn was im Laborgeschieht und wie diese Prozesse wissen-schaftlich bewertet werden, hat Einflussauf die Anwendung der Grünen Gentech-nologie.

Die für Risikobewertung und Risikoma-nagement politisch verantwortlichen Behör-den müssen ebenfalls ihren Beitrag für eineneue, wahrhaftige Kommunikationskulturleisten. Insbesondere die Europäische Behör-de für Lebensmittelsicherheit (EFSA) gerätimmer wieder in die Kritik. Die EFSA wird

im Bereich der Lebensmittel- und Futtermit-telsicherheit gerne als die Basis der Risikobe-wertung der Europäischen Union dargestellt.Ihre Experten äußern sich zu sämtlichen Fra-gen der EU-Lebensmittelsicherheit, unter an-derem auch bei der Zulassung von gv-Pflan-zensorten. Hier bewerten sie die Anträge derIndustrie und sprechen Empfehlungen aus,auf deren Grundlage die Kommission Ent-scheidungen trifft. Die Behörde mit Sitz inParma kostet den EU-Steuerzahler jährlichüber 60 Millionen Euro. Man könnte alsoannehmen, dass für die Risikoforschungaufwändige unabhängige Untersuchungendurchgeführt werden. Doch tatsächlich arbei-tet man dort mit Datenmaterial, das von denbetreffenden Unternehmen zur Verfügunggestellt wird; eigene Befugnisse besitzt dieBehörde nicht. 29 Vielmehr wurde der EFSAvon Anfang an eine gewisse Industrienäheunterstellt. Der kürzliche Wechsel der lang-jährigen Leiterin der Abteilung für Gentech-nik, Suzy Renckens, zum schweizerischenSaatguthersteller Syngenta zieht die Unab-hängigkeit der Behörde weiter in Zweifel, sodas Institut für unabhängige Folgenabschät-zung in der Biotechnologie, TestBioteche.V. 30

Ganz anders wird dies im zweiten Gen-technologiebericht der Berlin-Brandenburgi-schen Akademie der Wissenschaften darge-stellt. Hier klagt man über gravierende Defi-zite der deutschen Forschungspolitik imHinblick auf die Grüne Gentechnologie undstellt fest: „Die umfangreiche wissenschaftli-che Überprüfung möglicher Risiken durchdie Europäische Behörde für Lebensmittelsi-cherheit (EFSA) hat sich bewährt, und derwissenschaftlichen Qualität der Expertise istkeine konkrete Fehlerhaftigkeit vorzuwer-fen.“ 31 Angesichts so unterschiedlicher Ein-

29 Vgl. Thomas Migge, Europas unnütze Lebens-mittelwächter sitzen im italienischen Parma, in: Ober-badisches Volksblatt vom 2. 7. 2008, S. 3.30 Vgl. TestBiotech e.V. – Institut für unabhängigeFolgenabschätzung in der Biotechnologie, FührendeMitarbeiterin der Europäischen LebensmittelbehördeEFSA wechselt zur Industrie, online: www.testbiotech.org/node/261 (8. 12. 2009).31 Bernd Müller-Röber/Mathias Boysen/Boris Fehse/Ferdinand Hucho/Kristian Köchy/Jens Reich/Hans-Jörg Rheinberger/Hans-Hilger Ropers/Karl Sperling/Anna M. Wobus, Zweiter Gentechnologiebericht.Analyse einer Hochtechnologie in Deutschland,Dornburg 2009.

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schätzungen der behördlichen Arbeit ist derVeränderungsbedarf für einen kommunikati-ven Neubeginn offensichtlich.

Von den Nichtregierungsorganisationen istzu fordern, dass auch sie selektive Lesartenvon Forschungsergebnissen in Zukunft ver-stärkt meiden und in ihren Bemühungennicht nachlassen, Skandale aufzudecken, bei-spielsweise bei Futter- oder bei Lebensmittel-importen, die genetisch verändertes, nicht zu-gelassenes Material enthalten. Von den Me-dien muss erwartet werden, dass sie mitkritischem Sachverstand Fragen nach demlangfristigen ökologischen und sozialen Nut-zen Grüner Gentechnik stellen. Der Nutzenvon genmanipulierten Organismen ist derdeutschen Verbraucheröffentlichkeit bislangjedenfalls nicht hinreichend verständlich ge-macht worden.

Einige dieser Forderungen mögen ange-sichts der historisch gewachsenen Verhärtun-gen im Kommunikationsstil der Anspruchs-gruppenvertreter utopisch erscheinen. Diefaktisch schon vorhandenen oder für die naheZukunft prognostizierten Engpässe ausKlima-, Energie- und Finanzkrise einerseitsund veränderte Ernährungsgewohnheiten an-dererseits (Stichwort: Weltweit steigenderKonsum tierischer Produkte) bringen jedoch,national wie global, neue, auch mit agrarethi-schen Argumenten zu führende Auseinander-setzungen mit sich.

Der harte Diskurs darüber, was die ange-messenen Technologien zur Ernährungssiche-rung sein werden, steht erst noch bevor. Be-lastbare Plattformen für diesen Diskurs gilt esneu zu organisieren. Dafür muss jede An-spruchsgruppe sich in Richtung größererKommunikationsfähigkeit und gesteigerterKommunikationsbereitschaft bewegen. Undnochmals: Wahrhaftigkeit ist die Vorausset-zung.

Werner Rösener

Landwirtschaftund Klimawandelin historischerPerspektive

Das Weltklima verändert sich seit einigerZeit fundamental, wie kaum mehr

ernsthaft bestritten wird. Die große Klima-konferenz von Kopen-hagen hat sich im De-zember 2009 in zähenVerhandlungen be-müht, die globale Er-wärmung durch ver-schiedene Maßnahmenbis zum Jahre 2050 aufzwei Grad Celsius zubegrenzen. Die welt-weit registrierte Erwär-mung ist zweifellos zurglobalen Herausforderung des 21. Jahrhun-derts geworden. Die Klimazonen verschiebensich, vielen Weltregionen und Ländern dro-hen Hitzewellen, Dürrezeiten, Starknieder-schläge, Sturmfluten und ein beträchtlicherAnstieg des Meeresspiegels. Die Auswirkun-gen des Klimawandels auf die Landwirtschaftin Form von Wassermangel, Überschwem-mungen, Missernten und Bodenerosion sinddabei besonders gravierend.

Während die Erderwärmung und ihre Aus-wirkungen offenbar unstrittig sind, wird dieentscheidende Frage, wie hoch der menschli-che Anteil am Klimawandel zu bewerten ist,kontrovers diskutiert. Seriöse Klimaforscherverweisen zu Recht darauf, dass das Weltkli-ma seit Jahrtausenden keineswegs konstantgeblieben ist, sondern großen Schwankungenunterworfen war. Nach dem Ende der letztenEiszeit (10 000 v. Chr.) kam es bereits voretwa fünf- bis sechstausend Jahren zu einerWarmzeit mit hohen Durchschnittstempera-turen. 1 Bei der Erforschung der Klimaent-

Werner RosenerDr. phil., geb. 1944; Professor fürGeschichte des Mittelalters amHistorischen Institut der Justus-Liebig-Universität Gießen,Otto-Behaghel-Straße 10,35394 Gieß[email protected]

1 Vgl. Wolfgang Behringer, Kulturgeschichte des Kli-mas. Von der Eiszeit bis zur globalen Erwärmung,

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wicklung der vergangenen tausend Jahre stie-ßen Klimahistoriker auf das Wärmeoptimumdes Hochmittelalters, das im Unterschied zurheutigen Erwärmung natürliche Ursachenhatte und keinesfalls anthropogen bedingtwar. Wie verhält es sich mit dieser Wärmepe-riode des Hochmittelalters? Welche Auswir-kungen hatte sie auf Bevölkerungsentwick-lung, Siedlungsstruktur und Landwirtschaft?

Klimaoptimum des Hochmittelalters

Das Bild einer hochmittelalterlichen Warm-periode wurde seit 1965 vor allem von demenglischen Historiker Hubert Lamb geprägt,der den Höhepunkt dieser Warmzeit zwi-schen 1000 und 1300 terminierte. 2 Das Aus-maß der Erwärmung schätzte er auf ein biszwei Grad über dem Mittelwert der Normal-periode von 1931 bis 1960. Diese Klimaphasemit warmen Sommern und milden Wintern,die im nordskandinavischen Raum sogarWerte von bis zu vier Grad über Normal er-reichte, setzte sich mit regionalen Unterschie-den offenbar bis in die Zeit um 1300 fort.

Gegen das Bild einer hochmittelalterlichenWarmzeit, das auch von Klimaforschern ent-worfen wurde, wandten sich in den Jahrennach 1990 einige Wissenschaftler und Um-weltaktivisten. 3 Sie stellten die These von derWarmzeit des Hochmittelalters in Frage, dasie anscheinend dazu diente, die von mensch-lichen Kräften verursachte Erwärmung desausgehenden 20. Jahrhunderts zu verharmlo-sen: Wenn es ohne menschliche Einflüsse imHochmittelalter noch wärmer gewesen warals gegen Ende des 20. Jahrhunderts, warumsollte dann die heutige Erwärmung nichtauch natürliche Gründe haben? Die vonLamb festgestellte Erwärmung des hochmit-telalterlichen Klimas wurde zu einer heiklenAngelegenheit, weil sie die gemessenen 0,6Grad Erwärmung des 20. Jahrhunderts weitübertraf. Aus diesem Grund bemühten sich

einige Forscher, die Existenz einer hochmit-telalterlichen Warmphase zu bezweifeln.

Neben direkten Klimadaten und schriftli-chen Hinweisen (Urkunden, Chroniken) wur-den in der Historischen Klimatologie vorallem Proxydaten ausgewertet, das heißt Ern-teertragszahlen, Vereisungsbelege oder Hoch-wasserangaben. 4 Im Allgemeinen werden siein biologische (Getreideerträge, Baumringeetc.) und physikalische Daten (Vereisungsda-ten, Wasserstände etc.) unterteilt. Die Unter-schiede von Ernteerträgen, das Auftreten be-stimmter Wetterphänomene oder die Qualitätdes Weines erregten schon im Mittelalter dieAufmerksamkeit vieler Zeitgenossen. Da dieSicherung der Ernährung und der wirtschaftli-che Erfolg von solchen Ertragshöhen abhin-gen, registrierte man mit großer Sorgfalt diejährlichen Ernteergebnisse in Rechnungsbü-chern. Aus ihnen lassen sich lange Listen undhomogene Zeitreihen erstellen, die Aussagenzur Klimaentwicklung des Hoch- und Spät-mittelalters erlauben.

Die hochmittelalterliche Warmzeit tritt mar-kant hervor, wenn man die Klimadaten desHochmittelalters mit denen der späteren Klei-nen Eiszeit (14. bis 18. Jahrhundert) vergleicht.Die Forschungen von Rüdiger Glaser, HubertLamb und Pierre Alexandre haben ergeben,dass die hochmittelalterliche Epoche vom 11.bis 13. Jahrhundert durch eine signifikante Er-wärmung der Durchschnittstemperatur um einbis zwei Grad Celsius gekennzeichnet war,wobei regionale und zeitliche Unterschiedekonstatiert wurden. 5 Untersuchungen beleg-ten, dass sich im Zeitraum zwischen 900 und1300 die Gletscher auffallend zurückzogen.Der Klimahistoriker Pierre Alexandre kamnach einer systematischen Auswertung hoch-mittelalterlicher Quellen zu dem Ergebnis,dass sich eine überzeugende Dokumentationzur Klimaentwicklung erst seit dem 12. Jahr-hundert erstellen lässt. 6 Allgemein beobachte-te er auffällige regionale Unterschiede, die sichwährend des Hochmittelalters insbesonderezwischen den Ländern nördlich der Alpen undden Regionen des Mittelmeerraumes zeigten.

München 2007, S. 10; Karl-Heinz Ludwig, Eine kurzeGeschichte des Klimas. Von der Entstehung der Erdebis heute, München 2006, S. 116.2 Vgl. Hubert H. Lamb, Klima und Kulturgeschichte.Der Einfluß des Wetters auf den Gang der Geschichte,Reinbek 1994 (Orig.: Climate, History and the Mo-dern World, London 1982).3 Vgl. Malcolm K. Hughes/Henry F. Diaz, Was there a„medieval warm period“, and if so, where and when,in: Climatic Change, 26 (1994), S. 109–142.

4 Vgl. Rüdiger Glaser, Klimageschichte Mitteleuropas.1000 Jahre Wetter, Klima, Katastrophen, Darmstadt2001, S. 21–27.5 Vgl. R. Glaser (ebd.); H. H. Lamb (Anm. 2); PierreAlexandre, Le climat en Europe au Moyen Age, Paris1987.6 Vgl. P. Alexandre (ebd.), S. 775–808.

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Die Sommertemperaturen waren vom11. bis zum 13. Jahrhundert überwiegendwarm, wurden aber von Kaltphasen unter-brochen. 7 Dabei verhielten sich die Nieder-schlagstendenzen häufig gegenläufig, daheiße Sommer in der Regel auch trockenwaren. Zwischen 1261 und 1310 und inden Jahren nach 1321 traten in Mitteleuro-pa die längsten Phasen anhaltender Som-merwärme auf. Im Jahre 1342 kam es infol-ge ergiebiger Regenfälle zu einer gewaltigenHochwasserkatastrophe: Durch Starkregenwurden in Süddeutschland viele Landschaf-ten beeinträchtigt, Ernten zerstört undFlussbrücken hinweggerissen. In der erstenHälfte des 14. Jahrhunderts begann eineKlimaphase, die durch kühlere Sommer,strengere Winter und ungünstige Ernteer-träge gekennzeichnet war.

Bevölkerungsexpansionund Landesausbau

Welche Auswirkungen hatte die hochmittel-alterliche Warmphase auf Agrarwirtschaftund Bevölkerungsdichte? In seinen grundle-genden Untersuchungen zur Agrar- und Er-nährungsgeschichte Mitteleuropas seit demHochmittelalter hat Wilhelm Abel die Zeitdes 12. und 13. Jahrhunderts als Auf-schwungsepoche charakterisiert, die im 14.und 15. Jahrhundert von einer Phase derAgrardepression abgelöst wurde. 8 Bei derFrage nach den Ursachen des hochmittelal-terlichen Booms wies Abel neben den agri-kulturellen Fortschritten in Agrartechnikund Bodennutzung vor allem auf dendemographischen Faktor hin: Die enormeBevölkerungszunahme, die vom 11. bis zumfrühen 14. Jahrhundert annähernd zu einerVerdreifachung führte, sei die Voraussetzungfür die großartige Ausweitung und Intensi-vierung des Ackerbaus gewesen. Bei den Ur-sachen des hochmittelalterlichen Auf-schwungs fehlt bei Abel noch jeglicher Hin-weis auf die klimatischen Veränderungen derWarmphase, wodurch die Expansion desAckerbaus und die Intensivierung der Agrar-wirtschaft befördert wurden.

Vom 11. bis zum 13. Jahrhundert vergrö-ßerte sich die Bevölkerung in den meistenwest- und mitteleuropäischen Ländern um dasZwei- bis Dreifache. In Frankreich wuchs indiesem Zeitraum die Bevölkerung von etwasechs auf 19 Millionen, während in Deutsch-land eine Zunahme von etwa vier auf 12 Mil-lionen stattfand. 9 In Wechselwirkung zurenormen Bevölkerungsexpansion wurde dasKultur- und Ackerland auf Kosten der bisdahin noch anders genutzten Flächen und derWaldareale ausgeweitet. Dieser hochmittelal-terliche Landesausbau vollzog sich inDeutschland in zwei Bereichen: einerseits inder Binnenkolonisation und dem Ausbau desaltdeutschen Siedlungsgebietes und anderer-seits in der Ostsiedlung, wodurch die Gebietejenseits von Elbe und Saale kolonisiert wur-den. 10 Der intensive Landesausbau verwan-delte das Bild der mitteleuropäischen Land-schaft in ein blühendes Kulturland von Hof-und Dorfgemarkungen. Gleichzeitig verän-derte sich im Gunstklima des Hochmittelaltersdas Siedlungsbild Europas durch die Entste-hung zahlreicher Städte als Zentren von Han-del und Gewerbe.

Intensivierung der Getreidewirtschaft

Im warmen Makroklima des Hochmittelaltersverschoben sich die Anbaugrenzen der Kul-turpflanzen, so dass die Expansion der Agrar-wirtschaft und die Verdichtung der Siedlungenvorangetrieben wurden. Man muss berück-sichtigen, dass selbst geringe Veränderungenin der Durchschnittstemperatur und im Aus-maß der Niederschläge beachtliche Auswir-kungen auf die Pflanzenwelt haben konnten.Die Länge der Wachstumsperiode verschobsich durch die erhöhte Durchschnittstempera-tur im mittel- und nordeuropäischen Raumum bis zu vier Wochen. Dies wirkte sich äu-ßerst vorteilhaft auf die Wachstumsperiodeder Pflanzen und die Höhe der Ernteerträgeaus. Die Erwärmung des Klimas begünstigteden für die Ernährung der anwachsenden Be-völkerung wichtigen Getreideanbau, so dassman zu Recht von einer hochmittelalterlichen

7 Vgl. R. Glaser (Anm. 4), S. 61–66.8 Vgl. Wilhelm Abel, Agrarkrisen und Agrar-konjunktur. Eine Geschichte der Land- und Er-nährungswirtschaft Mitteleuropas seit dem Hoch-mittelalter, Hamburg–Berlin 19662, S. 25–60.

9 Vgl. Werner Rösener, Agrarwirtschaft, Agrarver-fassung und ländliche Gesellschaft im Mittelalter,München 1992, S. 17.10 Vgl. Wilhelm Abel, Geschichte der deutschenLandwirtschaft vom frühen Mittelalter bis zum 19.Jahrhundert, Stuttgart 19672, S. 25–66; W. Rösener(Anm. 9), S. 16–20.

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„Vergetreidung“ der europäischen Kultur-landschaft gesprochen hat.

Sorgfältige Untersuchungen zur Getreide-wirtschaft in England und Schottland habenergeben, 11 dass sich das Ackerland währenddes 12. und 13. Jahrhunderts in manchen Re-gionen in Höhen ausdehnte, die lange Zeitzuvor nicht und auch in späteren Epochennicht mehr bebaut wurden. Interessante Stu-dien zu Getreidebau und Klimawandel in eini-gen Bergregionen des südöstlichen Schottlandlegte der Geograph Martin Parry vor. 12 Im 13.Jahrhundert erreichte demnach der Ackerbaumit unterschiedlichen Getreidesorten in vielenGemarkungen der Lammermuir Hills eine er-staunliche Ausdehnung und Bedeutung. Ex-akte Angaben zu den Getreidebaugrenzen desHochmittelalters in dieser Bergregion lassensich auf Grund der geringen schriftlichen Be-zeugung zwar nicht vorlegen, doch ergebensich durch Vergleiche mit anderen Orten undRegionen einige Anhaltspunkte.

Die Ausdehnung der Getreidebaugrenzennach Norden hin lässt sich im Hochmittelalterbesonders im skandinavischen Raum beob-achten. In Norwegen reichte der Anbau vonGerste und anderen Getreidesorten im 11.Jahrhundert bis nach Malangen im Norden,und sogar im Gebiet von Trondheim wuchsWeizen auf klimatisch günstig gelegenen Fel-dern. 13 Aufzeichnungen aus der TrondheimerGegend deuten darauf hin, dass der Getreide-bau in dieser Region erst im späten Mittelaltereingestellt wurde, als die Klimagunst desHochmittelalters vergangen war. AndreasHolmsen entdeckte, dass sich in Norwegendie gerodeten Waldgebiete und die von Bauernbewirtschafteten Flächen bereits seit dem 10.Jahrhundert stark ausdehnten und bis zu 200Metern in die Höhe hinaufreichten. 14

Ausweitung der Weinbaugrenzen

Inwieweit kann der Weinbau, der auf warmeTemperaturen angewiesen ist, als Indikatorder hochmittelalterlichen Wärmegunst imnordalpinen Raum dienen? Zahlreiche Stu-

dien zur Verbreitung des Weinbaus konntenaufzeigen, dass Wein im Hochmittelalternicht nur in den alten Anbaugebieten anMosel und Rhein in Lagen bis zu 200 Meternoberhalb der heutigen Weinbaugrenze er-zeugt wurde, sondern auch weit im Nordenbis nach Holstein und Ostpreußen sowie inEngland und im südlichen Skandinavien. 15

Die mittelalterlichen Nordgrenzen des Wein-baus sind teilweise zu Beginn des 21. Jahr-hunderts im Umfeld einer neuen Warmphasewieder erreicht worden, wie in den Medienspektakulär berichtet wurde.

Die Weinrebe gehört zu denjenigen Kul-turpflanzen, bei denen Klima und Witterungeine große Rolle spielen. Ihren hohen An-sprüchen kann der Weinbau in nördlichenBreiten daher nur an günstigen Standortengerecht werden. 16 Weinbau deutet daraufhin, dass Nachtfröste im Frühjahr selten sindund die Sonnenscheindauer im Sommer undHerbst ausreichend ist, um Wein zu erzeu-gen. Die jährlichen Qualitätsunterschiedeeinzelner Weinsorten zeugen von der Rele-vanz des Klimafaktors für den Weinbau,zumal alle menschlichen Bemühungen daraufgerichtet sind, optimale Qualität zu garantie-ren. Über die Anforderungen an das Klimasind allerdings eindeutige Aussagen schwie-rig. Anhand von Temperaturskalen und Mit-telwerten wurde zwar immer wieder ver-sucht, klare Anbauregeln für Reben festzule-gen und Grenzwerte für ihre Verbreitungherauszuarbeiten, aber dies hatte nur partiellErfolg.

Wie sehr verschob sich die nördliche Wein-baugrenze während der Warmphase desHochmittelalters? Ausgehend von den spät-römischen Rebanlagen an Mosel und Rheinhatte sich der Weinbau bereits in der Karolin-gerzeit vom linksrheinischen Raum auf dieGebiete rechts des Rheins ausgebreitet. Einevermehrte Anlage von Weinbergen ist in Mit-teleuropa vor allem seit dem 11. Jahrhundertzu registrieren. 17 Vom 11. bis zum 13. Jahr-hundert verdichtete sich die Rebkultur nichtnur im Rheinland, sondern auch im Elsass,

11 Vgl. H. H. Lamb (Anm. 2), S. 296 f.12 Vgl. Martin L. Parry, Climatic Change, Agricultureand Settlement, Folkestone 1978.13 Vgl. H. H. Lamb (Anm. 2), S. 196.14 Vgl. Andreas Holmsen, Norges historie, Oslo–Ber-lin 1961.

15 Vgl. Wilfried Weber, Die Entwicklung der nörd-lichen Weinbaugrenzen in Europa, Trier 1980; HelmutHahn, Die deutschen Weinbaugebiete, Bonn 1956.16 Vgl. Alois Gerlich (Hrsg.), Weinbau, Weinhandelund Weinkultur, Stuttgart 1993.17 Vgl. W. Weber (Anm. 15), S. 15–24.

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auf der rechten Seite des Oberrheins und inden innerschwäbischen Regionen. Bis um1300 wurden auch das Maingebiet und derangrenzende Raum für die Weinrebe er-schlossen, so dass der Weinbau hier im 14.Jahrhundert bereits sein späteres Verbrei-tungsgebiet erreichte.

Im Bereich von Saale und Unstrut, im Thü-ringer Becken und im Elbtal hatte sich derWeinbau ebenfalls ausgedehnt. Von den älte-ren Weinbauregionen aus war der Weinbauwährend des Hochmittelalters auch in klima-tisch weniger begünstigte Anbaugebietetransferiert worden, etwa in die Eifel undnach Westfalen. Nach Norden hin drang derWeinbau bis Schleswig-Holstein, Mecklen-burg und Ostpreußen vor. In Polen wirdWeinbau bereits im 13. Jahrhundert an derunteren Nida erwähnt; in anderen Teilen Po-lens werden Rebanlagen in Posen und Plockgenannt. Im Gebiet des Deutschen Ritteror-dens gab es Weinberge vor allem in der Ge-gend von Rastenburg, Leunenburg undThorn. 18 Detaillierte Studien zu den Wein-bauregionen in Nord- und Ostdeutschlandhaben ergeben, dass sich die Rebpflanzen aufausgesuchten Flächen im Umkreis von Städ-ten, Klöstern und Kirchen zur Deckung desEigenbedarfs konzentrierten.

Klimaverschlechterung im Spätmittelalter

Im 14. und 15. Jahrhundert setzte nach demEnde der hochmittelalterlichen Warmzeiteine Phase der Klimaverschlechterung undAbkühlung ein, die schließlich zur „KleinenEiszeit“ der Frühen Neuzeit überleitete. DerKlimawandel trat besonders im Verlauf dergroßen Hungersnot von 1315 bis 1317 hervor.Strenge Winter, verregnete Sommer und über-wiegend kühle Frühlings- und Herbstzeitenleiteten eine Hungerkatastrophe ein, diedurch ihre Dauer alle Hungersnöte des Jahr-hunderts davor weit übertraf. 19 Das Not-standsgebiet schlechter Ernten und hoherMenschenverluste erstreckte sich von Eng-land über Frankreich und Deutschland bis zuden skandinavischen Ländern.

Nach einigen guten Jahren begann Mitteder 1330er Jahre erneut eine Phase schwieri-ger Klimaverhältnisse mit ernsten Auswir-kungen auf Landwirtschaft und Agrarkon-junktur. Mitte des 14. Jahrhunderts war diePest der Jahre 1347 bis 1352 ein Ereignis, daskatastrophale Auswirkungen auf Gesellschaftund Wirtschaft hatte. Während weniger Jahrewurde die Bevölkerung um mehr als ein Drit-tel dezimiert, als sich die todbringendeKrankheit ausbreitete. 20 Warum hatte der„Schwarze Tod“, der vom Orient einge-schleppt worden war, so verheerende Auswir-kungen auf die europäische Bevölkerung?Zweifellos traf die Pest, die in mehreren Seu-chenzügen daherkam, auf eine Bevölkerungmit geminderter Resistenz und schwachenReserven. Die Klimaveränderungen undkrankheitsfördernde Momente erklären abernur einen Teil der offenen Fragen, zumal diePestepidemien in den einzelnen Ländernunterschiedlich stark auftraten.

Wüstungen und verlassene Siedlungen

Im Spätmittelalter entstanden in vielen Re-gionen Europas zahlreiche Wüstungen undabgegangene Höfe, Dörfer und Fluren. 21 Aufder Suche nach den Ursachen der spätmittel-alterlichen Wüstungsprozesse sind unter-schiedliche Gründe und Theorien vorgelegtworden, die nur partiell überzeugen. AlsHauptgrund für die Bildung von Wüstungenwurden lange Zeit die zahlreichen Kriege undFehden jener Epoche genannt. Neben dieserKriegstheorie behauptete sich bei den Geo-graphen besonders die Konzentrationstheo-rie: Wüstungen seien im Spätmittelalter vorallem durch die Zusammenlegung mehrererOrtschaften zu größeren Siedlungen entstan-den. Der Wirtschaftshistoriker Wilhelm Abelstellte in diesem Zusammenhang die Agrar-krisentheorie auf, 22 die eine enge Verbindungvon krisenhaften Phänomenen in der Agrar-wirtschaft und Abwanderungsvorgängen imländlichen Raum sah. Die wichtige Frage, obdie Wüstungsvorgänge eine Folge von Klima-

18 Vgl. Janusz Tandecki, Weinbau im mittelalterlichenPreußen, in: Beiträge zur Geschichte Westpreußens, 12(1991), S. 83–99.19 Vgl. William Chester Jordan, The Great Famine.Northern Europe in the Early Fourteenth Century,Princeton 1996.

20 Vgl. Neithard Bulst, Der Schwarze Tod, in: Saecu-lum, 30 (1979), S. 45–67; Klaus Bergdolt, Der Schwar-ze Tod in Europa, München 1994.21 Vgl. Wilhelm Abel, Die Wüstungen des aus-gehenden Mittelalters, Stuttgart 19763; Martin Born,Die Entwicklung der deutschen Agrarlandschaft,Darmstadt 1974, S. 67–73.22 Vgl. W. Abel (Anm. 10), S. 22–81.

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veränderungen waren, wurde von ihm jedochnicht erörtert.

Die Siedlungsforschung hat zu Recht dar-auf hingewiesen, dass während des Spätmit-telalters die höher gelegenen und von derNatur benachteiligten Siedlungen den stärks-ten Abgang erlebten. Die starke Bevölke-rungszunahme, die im 12. und 13. Jahrhun-dert den Landesausbau vorantrieb, hatte dazugeführt, dass bäuerliche Siedlungen auch aufGrenzertragsböden und an solchen Orten an-gelegt wurden, wo bäuerliche Siedlung aufdie Dauer nicht möglich war oder zu hoheKosten verursachte. Von der Wüstungsbil-dung des Spätmittelalters waren daher dieRodungssiedlungen des Hochmittelalters inden deutschen Mittelgebirgsregionen amstärksten bedroht. Der ungünstigen Lage vonSiedlungen kommt bei der spätmittelalterli-chen Wüstungsbildung aber nur eine mitver-ursachende Rolle zu, da die Abwanderungaus den klimatisch gefährdeten und wenig be-günstigten Orten erst erfolgte, als durch denallgemeinen Bevölkerungsrückgang Platz inden günstiger gelegenen Siedlungen entstan-den war. 23

In Norwegen, das durch seine Randlageauf Klimaveränderungen äußerst empfindlichreagiert, war die Wüstungsbildung im Spät-mittelalter besonders ausgeprägt. Die Aufga-be vieler Einzelhöfe und Dörfer war nachAnsicht der norwegischen Forschung vorallem eine Folge der Klimaverschlechterung,die dort im Spätmittelalter zusammen miteinem beträchtlichen Bevölkerungsrückgangin erheblichem Maße wirksam war. Durchdetaillierte Untersuchungen zur Siedlungs-und Agrargeschichte konnte gezeigt werden,dass die bäuerliche Agrarwirtschaft währenddes klimatisch günstig beeinflussten Hoch-mittelalters in Skandinavien einen Höchst-stand erreichte. 24 In Norwegen mit seinerausgeprägten Einzelhofsiedlung begann im14. Jahrhundert eine schwierige Phase. VieleEinzelhöfe wurden besonders in den höhergelegenen Regionen reihenweise aufgegeben.In den Bergregionen über 300 Meter hatte

sich die Vegetationsperiode so weit verkürzt,dass der Getreidebau zu einer unsicheren An-gelegenheit geworden war. Die demographi-schen Auswirkungen waren gravierend, dader um 1300 erreichte Höchststand der Be-völkerungszahl mit den Hungerkrisen desfrühen 14. Jahrhunderts zuerst dramatischund dann kontinuierlich zurückging und im17. Jahrhundert einen Tiefstand erreichte.

Die norwegische Bevölkerung hat sichüber Jahrhunderte hinweg von den Folgender Klimaverschlechterung nicht erholt.Während dieser Zeit wurden die meisten Ge-höfte in höheren Lagen verlassen, zumal ab-wandernde Bauernfamilien in den Tälernleergewordene Hofstellen mit besserenBöden übernehmen konnten. Zweifelloswirkten sich Klimawandel und Bevölke-rungsrückgang besonders auf Ackerbau undGetreidewirtschaft aus. Schriftlichen Zeug-nissen zufolge belief sich die norwegischeGetreideernte noch im Jahre 1665 auf ledig-lich 67 bis 70 Prozent der Erträge aus derBlütezeit um 1300. 25

„Kleine Eiszeit“

Der Begriff der „Kleinen Eiszeit“ wurde inAnalogie zu den „Großen Eiszeiten“ in vor-geschichtlicher Zeit gebildet und bezeichneteine sich vom 14. bis zum frühen 19. Jahrhun-dert erstreckende Klimaphase, die von einerlangfristigen Abkühlung der Durchschnitts-temperatur von ein bis zwei Grad Celsius be-stimmt war. 26 Innerhalb dieser Zeit gab esbeträchtliche Klimaschwankungen und einigePhasen, die günstigere oder ungünstigereWitterungsbedingungen aufwiesen. Die Ab-kühlung des Klimas wirkte sich auf Flora undFauna aus und beeinflusste die Landwirt-schaft in Mittel- und Nordeuropa stark. In Is-land musste im Zuge dieses Klimawandelsder Getreidebau ganz aufgegeben werden; inanderen Ländern gab man den Anbau vonWeizen auf und behalf sich mit Hafer undRoggen. 27 Hinsichtlich der Erntezeiten er-fährt man aus den Quellen, dass sich dieObstblüte, die Getreideernte oder die Reife-zeit der Weintraube wegen der schlechtenWitterung beträchtlich hinausschoben.

23 Vgl. Werner Rösener, Bauern im Mittelalter, Mün-chen 1985, S. 258.24 Svend Gissel u. a., Desertion and Land Colonisationin the Nordic Countries c.1300–1600. ComparativeReport from the Scandinavian Research Project onDeserted Farms and Villages, Stockholm 1981.

25 Vgl. H. H. Lamb (Anm. 2), S. 222.26 Vgl. W. Behringer (Anm. 1), S. 119.27 Vgl. ebd., S. 130.

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Die Zeit von 1565 bis 1601 war eine Peri-ode, die in besonderem Maße von einer Kli-maverschlechterung geprägt war. ChristianPfister hat diese Klimaphase am Beispiel derSchweiz detailliert untersucht. 28 Die Tempe-ratur war damals im Frühjahr häufig unge-wöhnlich kühl, während die sommerlichenNiederschläge stark zunahmen. Die Talfahrtder Sommertemperaturen von 0,8 Grad zwi-schen 1565 und 1601 ging mit einer starkenZunahme der Niederschläge und einer Ver-vierfachung der schweren Überschwemmun-gen einher. Außerdem wurden die Winterschneereicher und dauerten viel länger alsfrüher. Die auf den Anbauflächen der Spitälervon Zürich, Basel und Winterthur pro Flä-cheneinheit erzeugten Getreidemengen gin-gen um 18 Prozent zurück, ebenso die Zehnt-erträge.

Wie aus den Schriftstücken der Berner Ob-rigkeit hervorgeht, war der Rückgang derGetreideproduktion ursächlich mit einerSchrumpfung der Viehherden verbunden.Schon im Jahre 1591 mussten ausgedehnteAckerflächen brach gelassen werden, weil esan Zugvieh für die Pflüge und Dünger für dieÄcker fehlte. Dies könnte darin begründetsein, dass in den katastrophalen Regensom-mern zwischen 1585 und 1589 nicht ausrei-chende Heumengen in die Scheunen gebrachtwurden, um die Zugtierbestände zu halten.Auch die Weinmosterträge gingen von derJahrhundertmitte an in den Weinbaugebietender Schweiz kontinuierlich zurück; im Jahr-zehnt von 1590 bis 1599 wurde nur noch halbso viel Wein pro Flächeneinheit gekeltert wievon 1550 bis 1559. Dies dürfte einerseits mitden ungünstigen Klimaverhältnissen und an-dererseits mit der schlechteren Düngung zu-sammenhängen. 29

Klimawandel der Moderne

Im Unterschied zur Abkühlungsperiode der„Kleinen Eiszeit“ brachte der Klimawandeldes 20. und 21. Jahrhunderts eine Erderwär-mung mit sich, die andere Auswirkungen aufdie Landwirtschaft hatte. 30 Messdaten aus

aller Welt belegen, dass in den vergangenenhundert Jahren die mittlere Temperatur deut-lich gestiegen ist. Die wichtigsten Daten lie-fern die weltweiten Wetterstationen, die seitdem Jahr 1900 einen globalen Anstieg derTemperatur um 0,7 Grad melden. Ein andererDatensatz resultiert aus Messungen der Mee-restemperatur. Die globale Erwärmung wirddurch Satellitenmessungen bestätigt, fernerdurch den starken Gletscherschwund, dasSchrumpfen des arktischen Meereises, dasimmer spätere Gefrieren von Flüssen undSeen sowie das frühere Austreiben der Bäumeund Pflanzen. Betrachtet man die Erwärmungdes 20. Jahrhunderts genauer, so kann mandrei Phasen unterscheiden: Bis 1940 gab eseine frühe Erwärmungsphase, danach stag-nierten die Temperaturen bis in die 1970erJahre; seitdem gibt es einen neuen Erwär-mungstrend, der im ersten Jahrzehnt des 21.Jahrhunderts unvermindert anhält.

Auf der Suche nach den Ursachen der Erd-erwärmung begnügte man sich nicht mit na-türlichen Faktoren wie der verstärkten Son-nenaktivität oder internen Schwankungen inder Atmosphäre, sondern suchte vor allemnach den anthropogenen (vom Menschen ver-ursachten) Gründen des Klimawandels. Dabeistieß man auf die Verschmutzung der Luft alsFolge der Industrialisierung, des vermehrtenAusstoßes von Treibhausgasen und der Ver-mehrung des Individualverkehrs mit Verbren-nungsmotoren. Es wurde argumentiert, dassdas rapide Bevölkerungswachstum, die Zu-nahme der Großstädte und urbanen Zentrensowie die Folgen der Industrialisierung genaueinen ebenso großen Einfluss auf die Erwär-mung hätten wie natürliche Prozesse. In deröffentlichen Diskussion spielt die Frage einewichtige Rolle, ob die derzeitige Erderwär-mung singulär ist oder ob es historisch ver-gleichbare Phasen gab.

Folgen für die Landwirtschaft

Die sozialen und wirtschaftlichen Folgen derglobalen Erwärmung sind zweifellos enorm,soweit sich dies heute abschätzen lässt. Welchetatsächlichen oder prognostizierten Auswir-kungen hat der Klimawandel auf die Agrar-wirtschaft und den ländlichen Raum? Der Kli-mawandel bewirkt, dass extreme Naturereig-nisse, das heißt starke Regenfälle mitnachfolgenden Überschwemmungen, große

28 Vgl. Christian Pfister, Klimageschichte der Schweiz1525–1860, Bern-Stuttgart 1984, Bd. 1, S. 119–126.29 Vgl. ders., Historische Umweltforschung und Kli-mageschichte, in: Siedlungsforschung, 6 (1988), S. 125.30 Vgl. Stefan Rahmstorf, Klimawandel – einige Fak-ten, in: APuZ, (2007) 47, S. 7–13.

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Hitzewellen und Stürme mit ungewöhnlicherIntensität, weiter zunehmen. 31 In Nordameri-ka sind extreme Stürme und Tornados zu er-warten, während in Asien große Überschwem-mungen drohen. In Europa ist in Zukunftneben extremen Hitzewellen und Fluten auchmit mehr Wirbelstürmen und Orkanen zurechnen. Starke Regenfälle und drückendeHitzeperioden waren im vergangenen Jahr-zehnt bereits in ganz Europa zu spüren. ImOsten und Süden Deutschlands sowie inÖsterreich und Ungarn kam es im Jahre 2002zu außerordentlichen Überschwemmungen anDonau, Elbe, Moldau und Inn.

Welche Auswirkungen wird der Klima-wandel speziell im deutschen Wirtschafts-raum haben? Die klimatischen Veränderun-gen berühren die Sektoren der Volkswirt-schaft in unterschiedlichem Maße. 32 Infolgeder Zunahme von extrem heißen Sommernwird die Forstwirtschaft künftig vermehrtdurch Waldbrände gefährdet sein; ferner kannWassermangel die Wachstumsbedingungender Bäume beeinträchtigen und die Schäd-lingsausbreitung begünstigen. Bei der Forst-bewirtschaftung sind Waldumbaumaßnah-men notwendig, da Mischwälder weniger ge-fährdet sind als Monokulturen von Fichten.

Gibt es regionale Unterschiede bei den Kli-maveränderungen? Durch extrem heiße Som-mer wird in Zukunft besonders die Landwirt-schaft in Süddeutschland mit Trockenheitund Wasserknappheit zu rechnen haben, dadie Extremlagen zu schweren Ernteeinbußenführen können. Zu den Kosten des Klima-wandels kommen Kosten der Anpassung, umdie Schäden zu begrenzen. Im Frühjahr undSommer kann es auf Grund starker Regen-fälle insbesondere in flussnahen Gebieten undan den Küsten der Nord- und Ostsee zuHochwasser und schweren Überschwem-mungen kommen.

Schluss

Klimatische Veränderungen haben starke Aus-wirkungen auf den Agrarsektor und allgemeinauf Wirtschaft und Gesellschaft. Hinsichtlich

der Ursachen des Klimawandels ist nochimmer ungeklärt, welchen Anteil natürlicheoder vom Menschen beeinflusste Faktorenhaben. Die Erkenntnis, dass das Wärmeopti-mum des Hochmittelalters auf natürlichen Ur-sachen beruhte und nicht anthropogen bedingtwar, sollte bei der Diskussion über die Ursa-chen der gegenwärtigen Erderwärmung zurVorsicht mahnen.

Will man effektiv handeln, um möglichenFolgen der Erderwärmung entgegenzuwir-ken, ist ein Wissen darüber erforderlich, wasdie Zukunft bringen könnte. Kernfrage allerKlimaprognosen ist vor allem die Höhe derEmission von Treibhausgasen. Berechnungendes dadurch zu erwartenden Temperaturan-stiegs im 21. Jahrhundert basieren indes aufunterschiedlichen Prämissen im Hinblick aufdie Zusammensetzung der Atmosphäre.

Realistische Prognosen beschreiben eineZukunft mit schnellem Wirtschaftswachstum,der Einführung neuer energiesparender Tech-niken bei zunehmender Globalisierung undeiner Weltbevölkerung, die bis 2050 rund neunMilliarden erreicht. Die Zusammensetzungder Atmosphäre wird sich durch menschlicheEinflüsse weiter verändern; die mittlere glo-bale Temperatur wird, je nach Standpunkt undSzenarium, während des 21. Jahrhunderts umzwei bis vier Grad Celsius ansteigen. Währenddieser Zeit ist in vielen Weltgegenden verstärktmit extremen Wetterereignissen in Gestalt vonDürren, Überschwemmungen und Stürmen zurechnen. Die Folgen der globalen Erwärmungwerden enorm sein, wobei die Auswirkungenauf einzelne Länder und Wirtschaftssektorenganz unterschiedlich sind. Eine vermehrteSonneneinstrahlung kann sowohl größereSchwierigkeiten in der Landwirtschaft bedeu-ten als auch neue Vorteile – je nach geographi-scher Lage und Wirtschaftsstand.

Viele Fragen zum Klimawandel in Vergan-genheit und Zukunft sind noch ungelöst undbedürfen der wissenschaftlichen Erforschung.Die politischen und gesellschaftlichen Aufga-ben bei der Bewältigung der Klimaproblemesind gewaltig, doch sollte vor Horrorszena-rien gewarnt werden.

31 Vgl. Claudia Kemfert, Ökonomische Folgen desKlimawandels, in: APuZ, (2007) 47, S. 14–19; NicholasStern, The Economics of Climatic Change. The SternReview, Cambridge 2006.32 Vgl. C. Kemfert (Anm. 31), S. 16–18.

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APuZNächste Ausgabe 7/2010 · 15. Februar 2010

Strafvollzug

Winfried HassemerVom Sinn des Strafens

Frieder DünkelStrafvollzug in Deutschland

Horst EntorfStrafvollzug oder Haftvermeidung – was rechnet sich?

Philipp WalkenhorstJugendstrafvollzug

Georg StolpmannPsychiatrische Maßregelbehandlung

Klaus LaubenthalGefangenensubkulturen

Joachim WalterMinoritäten im Strafvollzug

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Redaktionsschluss dieses Heftes:15. Januar 2010

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Landwirtschaft APuZ 5–6/2010

Tanja Busse3-5 Landwirtschaft am Scheideweg

Die Landwirtschaft steht vor einem Paradigmenwechsel. Die industrialisierteLandwirtschaft richtet schwere ökologische Schäden an und lässt eine MilliardeMenschen hungern. Der Weltagrarbericht macht Vorschläge für eine nachhaltige,klimaschonende und gerechtere Landwirtschaft.

Peter Weingarten6-17 Agrarpolitik in Deutschland

Die Agrarpolitik in Deutschland wird wesentlich durch die Gemeinsame Agrar-politik (GAP) der EU bestimmt. Die GAP wurde seit 1992 grundlegend refor-miert, weitere Reformen stehen bevor. Die Diskussionen über die GAP nach2013 treten bald in die entscheidende Phase.

Karin Jürgens18-23 Wirtschaftsstile in der Landwirtschaft

In dem Beitrag werden die Landwirtschaftsstile als innovatives, realistischesAgrarkonzept vorgestellt, um gemeinsam mit der landwirtschaftlichen Praxisgute Lösungen für eine zukunftsgerichtete, nachhaltige, tier-, umwelt- und kli-magerechte Landwirtschaft zu finden.

Franz-Theo Gottwald24-31 Agrarethik und Grüne Gentechnik

Engpässe aus Klima-, Energie- und Finanzkrise und veränderte Ernährungsge-wohnheiten bringen neue, auch mit agrarethischen Argumenten zu führende Aus-einandersetzungen mit sich. Der harte Diskurs über angemessene Technologienzur Ernährungssicherung steht erst noch bevor.

Werner Rösener31-38 Landwirtschaft und Klimawandel in historischer Perspektive

Klimatische Veränderungen haben in der vorindustriellen Epoche wie in derModerne starke Auswirkungen auf die Landwirtschaft gehabt. Das Wärmeopti-mum des Hochmittelalters beruhte auf natürlichen und nicht auf anthropoge-nen Ursachen.