Archäologie - Der Siegeszug der Wikinger

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ARCHÄOLOGIE Der Siegeszug der Wikinger Mit Jubelfeiern und historischen Bootsregatten feierten die USA die Anlandung der Wikinger vor gut 1000 Jahren. Doch der Ruf der Jubilare ist zweifelhaft. Grabungen beweisen: Die Nordmannen waren Schutzgelderpresser, sie meuchelten auf vier Kontinenten und handelten mit Sklaven. In Untersuchungen werden die nordischen Seefahrer als geldgierige Kaufleute mit einem weltumspannenden Handelsnetz beschrieben. DPA Filmszene: Wikingerboot

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ARCHÄOLOGIE

Der Siegeszug der Wikinger

Mit Jubelfeiern und historischen Bootsregatten feierten die USA die Anlandung der Wikinger vor gut 1000 Jahren. Doch der Ruf der Jubilare ist zweifelhaft.

Grabungen beweisen: Die Nordmannen waren Schutzgelderpresser, sie

meuchelten auf vier Kontinenten und handelten mit Sklaven. In

Untersuchungen werden die nordischen Seefahrer als geldgierige Kaufleute

mit einem weltumspannenden Handelsnetz beschrieben.

DPA

Filmszene: Wikingerboot

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Fachbüchern findet sich für den Einsatzkeine Anleitung. Zernikow hat seine Er-fahrung durch Experimentieren und ausErkenntnissen bei der Therapie von Er-wachsenen erlangt.

Dabei unterscheidet sich die Wirkung derMittel zwischen Jung und Alt erheblich. Dielindernden Substanzen werden über dieNieren der Kinder schneller ausgeschiedenals bei den Alten. So kann es passieren, dassdie Dosis, berechnet pro Kilogramm Kör-pergewicht, im Verhältnis zum Erwachsenenhöher angesetzt werden muss.

Von der Pharmaindustrie erhalten dieÄrzte wenig Unterstützung. Häufig sindArzneimittel für Kinder gar nicht zugelas-sen. Dafür müssten eigens Studien in Auf-trag gegeben werden. „Weil es aber zu we-nig Kinder als Abnehmer der Mittel gibt,rechnet sich das meistens nicht“, klagt Zernikow. Folglich müssten die Ärzte dasrechtliche Risiko tragen und sich über dieZulassungsbestimmungen hinwegsetzen.Nicht jeder Mediziner traut sich das. Er-forderlich ist ein virtuoser Umgang mit denpotenten K.-o.-Stoffen: „Ist die Dosierungzu hoch, dämmert das Kind, ist sie zu nied-rig, sind die Schmerzen zu stark.“

Bei manchen seiner Juniorpatientenmuss Zernikow gar ganz die Pfade derSchulmedizin verlassen. Als er die 16-jähri-ge Gymnasiastin Eva Mieczkowski kennenlernte, kämpfte sie gegen einen Feind in ihrer Hand. In den Fingerspitzen stach essie, als würde sie mit den Fingern auf ei-nem Nagelbrett trommeln. Waren dies dieSpätfolgen einer Operation, mit der Ärztevor zwölf Jahren eine angeborene Fehl-bildung der Finger korrigiert hatten?

Zernikow experimentierte zunächst mitgering dosiertem Morphin, musste aberfeststellen, dass bei Eva eine häufige Ne-benwirkung dieser Substanz weit heftigerausgeprägt war als üblich. Ihre Verdauungkam komplett zum Erliegen.

Zernikow entschied sich daher für eineunkonventionelle Methode. Er verordnete

Streng und finster, nicht gerade wie einSpaßvogel, blickt Olof Öhman in dieKamera. Der schwedische Bauer im

Sonntagsanzug, gerahmt von zwei unifor-mierten Landsleuten, präsentiert auf demuralten Foto seinen Sensationsfund: einenbeim Roden entdeckten Runenstein.

Im Hügelland von Minnesota, der neu-en Heimat Hunderttausender skandinavi-scher Einwanderer, hatte Öhman 1898 denmit Ritzzeichen beschriebenen Stein ge-funden. Der graugrüne Block berichtet voneiner Entdeckungsfahrt, die für zehn Nord-mannen tödlich endete: Ihre Kumpanehätten sie auf der Rückkehr vom Fischenerschlagen vorgefunden. Aus dem Wur-zelwerk einer Espe, so Öhman, habe er dasMonument herausgehauen – doch als ar-chäologischer Ausgräber wurde der Bauerkaum ernst genommen.

Das Objekt, nach dem nahe gelegenenStädtchen Kensington benannt, versetztezwar die Immigranten in Hochstimmung:Der Datierung zufolge hätten Nordman-

Eva ein so genanntes Tens-Gerät, das überzwei Elektroden geringe Stromstöße inihren Unterarm jagt. „Abends bei der ‚Ta-gesschau‘ lege ich die Spannung an. Nach30 Minuten habe ich ein taubes Gefühl inder Hand“, berichtet Eva. „Die Schmerzensind dann fast wie verflogen.“

Warum die Stromstöße helfen, kann dieForschung bislang nicht genau erklären.„Die Impulse wirken offenbar nicht auf dieNerven in der Hand, sondern auf be-stimmte Regionen im Rückenmarksnerv“,vermutet Zernikow. Die dortigen Nervensenden Gegenimpulse aus, die das aus demKörper eintreffende Schmerzgefühl neu-tralisieren sollen. „Der Stromstoß aus demTens-Gerät stimuliert diese Region des zen-tralen Nervensystems.“

Aus dem Erdgeschoss der Instituts-villa hallt derweil Kindergetöse nach oben:Das sind die „Bauchtänzer“, neun Jun-gen und Mädchen, die von funktionellenBauchschmerzen geplagt werden. Das Lei-den hat keine körperlichen Ursachen, son-dern resultiert offenbar aus Stress und anderen psychosomatischen Belastungenund ist eine häufige Begleiterscheinungdes Heranwachsens.

Unter fröhlichem Gejohle schlüpfen dieKinder in ihren Anorak. Es ist sechs Uhrabends. Das Haus leert sich, Ruhe kehrtein. Zernikow betrachtet Bilder, die die„Bauchtänzer“ gegen ihren Schmerz gemalthaben, Figuren, die ihnen ihr Leiden neh-men sollen: Marina hat eine Schmerzfee ge-zeichnet, Jeremy einen Schmerzzauberer.

Yasins Phantasie war düsterer. Der Elf-jährige hat einen Schmerzfighter gemalt –einen Muskelmann mit bedrohlicher To-tenschädel-Fratze, der wohl die bösen Geister vertreiben soll, die in seinem Bauchtoben. Doch der Kraftprotz ist machtlos.Schwarze Ketten umklammern seineArme, Füße und den Hals.

Zernikow steckt das Bild ein: „Für dennächsten Fachkongress.“

Gerald Traufetter

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Wissenschaft

G E S C H I C H T E

Das Geheimnisder TreppenstufeErreichten die Wikinger lange vor

Kolumbus das amerikanischeBinnenland? Der berühmte Runen-

stein aus Kensington soll aufseine Echtheit untersucht werden.

Bauer Öhman (M.), Kensington-Stein: „Jede Antwort

Psychologin Damschen mit der „Bauchtänzer“-Gruppe: Leiden der Heranwachsenden

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USA

GRÖN-LAND

ISLANDNOR-WEGEN

A t l a n t i k

Hudson-Bay

Chicago

KANADA

Routen derWikinger

umstritteneRoute

Fundstättedes Runen-steins 1898

EUROPA

Neufundland

LabradorMinne-sota

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nen schon 1362, lange vor Kolumbus, ihreSpur tief im amerikanischen Kontinenthinterlassen. Doch fast alle Experten hielten das Fundstück für eine Fälschung.Für den Rest seines Lebens litt Öhman un-ter dem Ruf, ein Scherzbold und Lügnerzu sein. Mit der Schrift nach unten, ver-legte er den Stein als Treppenstufe zu sei-nem Haus.

Die Ehre ihres Vorfahren sehen dieNachkommen des vierschrötigen Man-nes nun wiederhergestellt: Die Öhmanswaren zum Eröffnungssymposium einerAusstellung geladen, mit der das Stock-holmer Historische Museum „Das Rätseldes Kensington-Steins“ klären möchte.Erstmals ist das Fundstück zu diesem An-lass in Europa.

Neue mineralogische Untersuchungenund unterschiedliche Deutungen des Tex-tes hätten den „geheimnisvollsten aller Runensteine“ wieder in den Blickpunktgerückt, sagt Museumschef Kristian Berg.

von Blut und tot“ gefunden. Die christlicheFormel „Erlöse uns von dem Übel“ be-schließt den Text. In die Schmalseite istdie Jahreszahl 1362 graviert.

Die schlichte Zahl, geschrieben nach ei-nem speziellen, auf der Zahl fünf basie-renden System, ist für Helmer Gustavson,Chefrunologe am Stockholmer Reichs-denkmalsamt, ein Beleg für die Unecht-heit: Diese Datierungsart und weitere Auf-fälligkeiten finden sich nur noch ein ein-ziges Mal wieder – auf einem hölzernenJoch, das ein Runenschreiber 1907 in derabgelegenen schwedischen Region Dalarnaritzte, wo sich diese Tradition bis in dieNeuzeit erhielt: „Aus dieser Epoche“, sofolgert Gustavson, „stammt auch der Ken-sington-Stein.“

Andererseits bescheinigt der US-Geolo-ge Scott Wolter der Inschrift ein Alter, dasdie Zweifler in Erklärungsnot bringt: Wol-ter verglich die Verwitterung einzelner Zei-chen mit denjenigen von Grabsteinen ausdem 19. Jahrhundert. Die Analyse ergab,dass der schwarze Glimmer aus der Zeitder Inschrift 194 Jahre brauchte, um voll-ständig wegzuwittern.

Die Oberfläche wird jetzt durch denStockholmer Geologen Runo Löfvendahlerneut untersucht, der Spezialist für Ver-witterung von Runensteinen ist. Drei-dimensionale, berührungsfrei erstellte Auf-nahmen der gesamten Steinoberfläche sol-len den Runenforschern die Interpretationder Buchstabenformen erleichtern.

„Jedes Wort, jede Rune auf dem Ken-sington-Stein kann diskutiert werden“, sagt Philologe Williams. Unstimmigkeiten und Fehler in dem Text leugnet er nicht: Einige Worte passen ins 19. Jahrhundert, andere sind der Sprache mittelalterlicherskandinavischer Texte nahe. Aber dieskönne auch auf mundartliche Eigenhei-ten oder schlichte Fehler des mutmaß-lichen Runenschreibers zurückzuführensein.

So sieht sich Forscher Düwel in seinerEinsicht bestätigt, „dass es mit der Runen-deutung seine besondere Bewandtnis hat“. Im Grundsatz gelte für diese Wis-senschaft: „Alles ist denkbar, vieles istmöglich, wenig ist wahrscheinlich, nichtsist sicher.“ Renate Nimtz-Köster

Die jüngsten Auseinandersetzungen mitdem Findling aus Minnesota seien „wie einThriller“, so Berg: „Jede Antwort wirft so-gleich wieder eine neue Frage auf.“

Bis zum Februar haben die Wissen-schaftler jetzt ausgiebig Gelegenheit, derWahrheit anhand des Exponats nachzu-spüren, das danach ins Museum der Klein-stadt Alexandria bei Kensington zurück-kehrt. Über die Touristenattraktion wachtdort „Big Ole“ – ein 8,50 Meter hoher Plas-tik-Wikinger, dessen Schild die kühne Auf-schrift trägt: „Alexandria Birthplace ofAmerica“.

Mit der akribischen Analyse des Runen-textes werde im nordischen Ursprungslandnachgeholt, „was wir längst hätten machenmüssen“, sagt Henrik Williams, Philologean der Universität Uppsala. Es war „Ru-nen-Janne“, Schwedens berühmter Ge-lehrter Sven Jansson, der die Inschrift 1948zur Fälschung erklärt hatte – und damiteingehende Studien blockierte.

Der mysteriöse Fund erhitzte erst in denachtziger Jahren wieder die Gemüter: Eineeigene Rubrik unter dem Stichwort „Ken-singtonia“ widmet seither das norwegi-sche „Runenarchiv“ dem Stein, dessen gegenwärtig laufende Enträtselung auchder deutsche Runenkundler Klaus Düwel„hoch spannend“ findet.

Die massigen Gedenksteine der Wikin-ger künden von Tatkraft und Expansion,ihre geritzten Inschriften markierten dieWege des Händler- und Piratenvolks zumLadogasee, den Dnjepr abwärts, zum Kas-pischen Meer und nach Grönland und Neu-fundland.

Dass ein Trupp Seefahrer sich von dortaus bis ins amerikanische Binnenlanddurchgeschlagen haben soll, gilt den meis-ten Historikern als kaum denkbar – dochgenau das erzählen die Ritzer des Ken-sington-Steins.

Dem Runentext zufolge nahm die Reiseindes eine tragische Wende: „8 Männeraus Götaland (dem heutigen Schweden)und 22 Norweger“, so berichtet der unbe-kannte Chronist auf neun Zeilen, hättenauf der „Entdeckungsfahrt … ein Lager …eine Tagesreise nördlich von diesem Stein“errichtet. Als einige vom Fischen zurück-gekehrt seien, hätten sie „10 Männer rot

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wirft eine neue Frage auf“

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Im Oktober 1965 traten Historiker deramerikanischen Yale-Universität mit ei-nem brüchigen Pergament vor die Welt-

presse. Vorsichtig entrollten sie die ver-gilbte Tierhaut, auf der mit Eisengallus-tinte die Kontinente Europa, Asien undNordafrika gezeichnet waren – und dieKüste Kanadas.

Dann folgte der Knüller. Das Werk sei„zwischen 1431 und 1449“ entstanden, sodie Forscher – rund 50 Jahre vor derlegendären Überfahrt von Christoph Ko-lumbus.

Die „Vinlandkarte“ gibt bis heute Rätselauf. Die einen geißeln das 28 mal 40 Zen-timeter große Papier als schlüpfriges Mach-

werk und Ausgeburt einesdiabolischen Fälschers. An-dere bürgen für seine Echt-heit und geben den Wert desOriginals mit über 20 Millio-nen Dollar an.

Vergangene Woche er-reichte der Streit seinen Hö-hepunkt. Gleich zwei In-stitute haben mit Laserstrah-len und Spektroskopen dasstrittige Manuskript abgetas-tet. Die Ergebnisse sorgen fürVerwirrung:• Das US-Fachmagazin „Ra-

diocarbon“ bringt in seinerAugust-Ausgabe eine neueC-14-Altersdatierung. Dem-

* Gemälde von Archibald Webb (um1887).

Werk an den Banker und Kunstmäzen PaulMellon weiter. Der schenkte es der Elite-Universität in Connecticut.

Die angebliche Weltkarte der Wikingersteckte in einer größeren Pergament-sammlung. Auf den anderen Blättern warein (bis dahin unbekannter) Reiseberichtdes Gesandten Johannes de Plano Carpiniverzeichnet. Dieser Gottesmann existiertewirklich: 1245 brach er im Auftrag von In-nozenz IV. in die Mongolei auf, um dieSöhne Dschingis Khans zu bekehren. Ver-bürgt ist, dass der Diplomat fast bis nachKarakorum vorstieß.

Aber hatte der taffe Johannes tatsächlichauch die Vinlandkarte im Gepäck? Warendie Törns der Wikinger im Mittelalter be-kannt? Dann besaß vielleicht auch dergeborene Genueser Kolumbus ein Exem-plar. Das aber wiederum würde bedeu-ten, dass der furchtlose Kapitän, der mitSpritzwasser in der Hose ins Unbekannteschaukelte, in Wahrheit ein fader Leicht-matrose war, der mit fremder Leute Bord-karten navigierte.

Doch gemach! Unter dem Stichwort„Entdeckung Amerikas“ finden sich gernSpinner zusammen. Einige Archäologenglauben, dass schon die Pharaonen in Bin-senbooten rübermachten. Und US-Geo-grafen prüfen derzeit ein Dokument ausChina: Admiral Zheng He, ein Eunuch desDrachenthrons soll um 1430 in der Karibikgewesen sein. Alles Zinnober.

In diese Reihe scheint auch die Vinland-karte zu passen. Ihre Bestrahlung mit Laserlicht habe „Rückstände von Titan-

dioxid“ enthüllt, die ein-deutig synthetischen Ur-sprungs seien, heißt es in deraktuellen Untersuchung ausLondon.

Die US-Forscher vom„Brookhaven National Labo-ratory“ halten nun voll dage-gen. Sie schnitten einenSchnipsel aus dem rechtenRand der Landkarte. Ergeb-nis: Das Tier, aus dessen Hautdas Pergament gespannt wur-de, war 1434 gestorben.

Unerfindlich sind die WegeGottes, aber was geht da ab?Besaß der Fälscher ein au-thentisches Pergament, das ergeschickt voll kritzelte? Oderhaben die C-14-Datierer ein-fach nur Mist gebaut?

Der verantwortliche Ra-diokarbon-Physiker GarmanHarbottle weist solche Vor-würfe zurück. Die Resultateseien korrekt. Er denkt eheran das Werk eines Meisterbe-trügers: „Wenn die Karte eineFälschung ist, stammt sie vomgeschicktesten Kriminellen,der je auf diesem Gebiet tätigwar.“ Matthias Schulz

nach ist das Pergament echt und stammtaus dem Jahr 1434.

• Im Gegenzug untersuchten Chemikervom University College London die Tinte und fanden darin Spuren von Ti-tandioxid – diese Substanz wird erst seit 1923 zum Schreiben verwendet.Die Pioniertaten der Wikinger zweifeln

beide Gruppen nicht an. Fest steht, dassden Nordmännern zwischen 1000 und 1005mindestens drei Atlantikquerungen gelan-gen. Von Grönland aus pullten sie nachLabrador, wo die Hörnerhelme alsbald mit„Skrälingars“ („Schmächtigen“) in bluti-gen Streit gerieten. Gemeint sind damitwohl die Algonkin-Indianer.

Doch Hägar und Co. konnten auf demKontinent nicht Fuß fassen, ihre nautischenTaten gerieten in Vergessenheit. Erst 1960kamen in Neufundland acht Wikinger-Ka-ten zu Tage. Viele Historiker mochten an-fangs kaum glauben, dass in den Grasdach-Bunkern einst mettrinkende Besucher ausEuropa gehaust hatten.

In jene Zeit hitziger Debatten platztendie Yale-Leute plötzlich mit ihrer Vin-landkarte. Allerdings tischten sie eineschräge Fundgeschichte auf. Demnach hat-te ein italienischer Händler den wurmsti-chigen Atlas 1957 zum Verkauf angebo-

ten. Drei große Antiquariatein Genf, London und Paris un-tersuchten die Ware – undlehnten ab.

Erst der US-Händler Lau-rence Witten griff für läppische3500 Dollar zu und reichte das

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Wissenschaft

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VerdächtigeTinte

Forscher streiten um eine mittel-alterliche Weltkarte, auf der Teile

Amerikas eingezeichnet sind.Wusste Kolumbus, wohin er fährt?

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Vinlandkarte, Wikingerschiff*Vergessene Taten

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Mit frisch gewachsenen Rausche-bärten, gewandet in derbes Tuch,wartete die Empfangsdelegation

am Strand von L’Anse aux Meadows (Neu-fundland). Die Getränke standen bereit,auf den Festtischen blinkten die Trinkhör-ner. Nur die Gäste fehlten.

Nervös blickte die Gesellschaft hinausin die Dünung. War ein Unglück passiert?Endlich, vorletzten Freitag kurz vor 15 UhrOrtszeit, hörte man leises Töfftöff. Mitschlaffem Segel und laufendem Hilfsmo-tor kämpfte sich das Wikingerboot „Islen-dingur“ in die Zielbucht.

Dann betrat Kapitän Gunnar Eggertssondie Neue Welt. 16000 Zuschauer klatschtenBeifall. Politiker und der IndianerhäuptlingMisel Joe vom Stamm der kanadischenMicmac eilten dem Fremden entgegen.

2200 Seemeilen weit hatte sich die Crew,von Island kommend, durch den Nordat-lantik gequält. Das Boot geriet in Treibeis,es passierte Robbenkolonien und Walher-den. Nachts kauerten die Matrosen in einertristen Kajüte, die Notdurft plumpste überdie Planken. Wurde die Stimmung zu trist,kreiste die Schnapsflasche (siehe InterviewSeite 197).

Was tut man nicht alles, um die Vor-väter zu ehren. Mit seinem Törn hat Eg-gertsson („Ich bin ein Urenkel Eriks desRoten im 28. Glied“) eine nautischeGroßtat in Erinnerung gerufen: Nicht derAdmiral Christoph Kolumbus entdeckteAmerika – sondern 35 skandinavische Analphabeten.

1000 Jahre ist es her, dass Leif hinn hepp-ni („der Glückliche“) Eriksson, Sohn des

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Menschenjagd im Drachenboot

Mit Jubelfeiern und historischen Bootsregatten feiern die USA die Anlandung der Wikinger vor 1000

Jahren. Doch der Ruf der Jubilare ist zweifelhaft. Neue Grabungen beweisen: Die Nordmannen waren

Schutzgelderpresser, sie meuchelten auf vier Kontinenten und handelten mit Sklaven.

Häuptling Misel Joe, Abenteurer Eggertsson Ankunft mit leisem Töfftöff

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Titel

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Totschlägers Eriks des Roten, den Sprungüber den Ozean wagte. Ohne Kompass undSternenkarte navigierte er ins Land der In-dianer.

In zwei Sagas wird das phantastischeUnternehmen kolportiert. Erst pullte Leifüber haushohe Wellenberge, dann, so stehtes in der „Groenlendinga Saga“ und der„Eiríks saga rauda“, glitt er an „Wunder-stränden“ vorbei Richtung „Vinland“.„Süßer Tau“ lag auf den Wiesen, „und dieLachse waren größer, als sie sie je gesehenhatten“.

Von ihrem Brückenkopf unternahmendie Siedler Erkundungstouren RichtungSüden. Dann, so die Sagas, stellten sich ih-nen „Skrälingar“ („Schmächtige“) in denWeg – gemeint sind wahrscheinlich die Al-gonkin-Indianer. Es kam zu blutigen Zu-sammenstößen. Nach 20 Jahren räumtendie Konquistadoren entnervt das Feld.

Doch die alten Berichte haben offen-sichtlich Lücken. An insgesamt zehn Plät-zen in Kanada, keiner von ihnen aus denSagas bekannt, sind mittlerweile Relikteder Nordmannen aufgetaucht: Metall-scharniere, Pfeilspitzen undReste von Kettenpanzern.Eine Holzfigur, gefunden aufder Baffin-Insel, wird als„christlicher Missionar“ ge-deutet.

Volle vier Jahrhundertelang, so der neue For-schungsstand, gingen dieOdin-Anhänger – zumindestsporadisch – in der FrostweltNeufundlands auf Safari.Von Grönland aus pendeltensie zum anderen Ufer und trieben mit denEskimos Handel. Wahrscheinlich wurdenauch Narwale und Walrosse gejagt – Lie-feranten des begehrten Elfenbeins.

Angesichts solch verblüffender Neuein-sichten wächst das Interesse an Leif demGlücklichen. Kolumbus und die „Mayflo-wer“ rücken ins Abseits. Amerika basteltan einem neuen Gründermythos. 70 Mil-lennium-Festivals sind allein in diesemSommer in den Vereinigten Staaten ge-

Lange bezweifelten die Historiker denVorstoß ins Dorado jenseits des Ozeans.Doch im Jahr 1960 verstummten die Skeptiker: In der Bucht von L’Anse auxMeadows kamen acht Wikinger-Katen zutage. Lange vor dem Bau des KölnerDoms betraten die Wikinger die NeueWelt.

Mindestens „drei Schiffsbesatzungen“,sagt die Archäologin Patricia Sutherland,hätten die muffigen Grasbuden als Campgenutzt, „es waren auch Frauen dabei“.Eine von ihnen gebar das Baby „Snorri“.

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Grönland

Island

Nordatlantik

Baffinbai

NuukGodthåb

Thule

Reykjavík

L’Anse auxMeadows

Ellesmere-Insel

LabradorseeHudsonbai

Axel-Heiburg-Insel

Devon-Insel

Cornwallis-Insel

Bathurst-Insel

New Yorkgeplante Ankunftam 5. Oktober

Baffin-InselHelluland

NeufundlandVinland

LabradorMarkland

QassiarsukBrattahlid

Siedlungsgebieteder WikingerHandelswege derWikinger

Wikinger-Funde

Segelroute der„Islendingur“

Wikingerschiff „Islendingur“ (o.), Ankunft der Crew in NeufundlandBei schlechter Stimmung kreiste die Schnapsflasche

G.

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Der Rummel gilteinem Seefah-rervolk, das,vom Reisefiebergetrieben, vierKontinente erzittern ließ

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plant. Drachenboote und Lastkähne(„Knorren“) aus Europa wurden zur 1000-Jahr-Feier über den Ozean verfrachtet. DasNaturkundemuseum von Washington prä-sentiert die Wikinger in einer drei Millio-nen Dollar teuren Prachtschau. Abge-schlossen werden die Feierlichkeiten am 5.Oktober. Dann läuft die „Islendingur“ mitgroßem Trara in New York ein.

Selbst das Weiße Haus strickt an derWiedergeburt der Nation aus dem Geist

des Hörnerhelms. In einer FestanspracheAnfang April verneigte sich Präsidenten-gattin Hillary Clinton vor den „seefahren-den Pionieren“ aus dem Land der Fjorde:Amerika könne „stolz sein auf seine nor-dischen Wurzeln.“

Auch in Europa stehen die Erfinder desKnäckebrots (hergestellt aus Baumrinde)hoch im Kurs. Von York bis Malmö spielenEnthusiasten Thing und Sonnenwendfeier.Auf den Färöer-Inseln kokeln Hobby-

* Aus einer russischen Chronik; das Bild zeigt Wikin-ger, die ihr Boot an einer Stromschnelle über Land ziehen.

das am eigenen Leibe: Im Mai wurde demDeutschen die Lomonossow-Medaille, derhöchste russische Forschungspreis, verlie-hen – ein Dank für seine archäologischeArbeit in der Wikingersiedlung Gorodiscébei Nowgorod.

Dort, auf einer Anhöhe, haben die Aus-gräber eine kleine Sensation entdeckt. Siestießen auf die Holzfestung des legendärenRorik. Dieser Wikingerfürst war um 860mit Blut und Schwert bis in die Ukrainevorgerückt. Dort gründete er das König-reich Kiew, die Keimzelle des russischenStaates.

Leif-Fieber in den USA, Rorik-Re-naissance in Russland – zwei ehemalsverfeindete Supermächte rücken plötz-

Mystiker Großfeuer ab (siehe Kasten).Deutschland präsentiert sich auf der Expomit dem Plankengerüst eines Wikinger-schiffs.

Der Rummel gilt einem Seefahrervolk,das den Schlittschuh mit Knochenkufen er-fand und das zwischen 800 und 1100 nachChristus, vom Reisefieber getrieben, vierKontinente erzittern ließ.

Wikinger schaukelten auf Kamelen bisnach Bagdad. Sie meuchelten in Nakur(Nordafrika) und führten – um 930 nachChristus – Krieg in Aserbaidschan. Als dieMaurer in Speyer den Dom bauten, be-trieben die Skandinavier bereits ein Han-delsnetz, das von Grönland bis Taschkentreichte.

Besonders erstaunlich mutet der Vor-stoß der Wikinger in die Weiten Russlandsan. Zehntausende von schwedischen Aben-teurern waren im 9. Jahrhundert ins Sla-wenland eingedrungen. „Hochgewachsenwie Dattelbäume, blond und von rosigerGesichtsfarbe“, so werden die nach Ostenstrebenden Urschweden in einem alten Do-kument beschrieben. Die einheimische Be-völkerung taufte die Fremden auf den Na-men Rus, die Rothaarigen.

Von den Sowjets wurde das unbequemeErbe verdrängt. Nun, unter Wladimir Pu-tin, herrscht Grabungsfieber im Land. Überzehn Teams haben sich im Gelände an dieArbeit gemacht. Die Spurensuche reichtvom Ladogasee bis zum Kaspischen Meer.Tausende von Wikingergräbern liegen imBoden.

„Früher wurde die Bedeutung der Wi-kinger für die Geschichte Russlands aus-geblendet“, sagt der Kieler ArchäologeMichael Müller-Wille, nun finde eine „völ-lige Neubewertung“ statt. Erfahren hat er

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Fundstücke der Wikinger

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Wikinger-Darstellung*Staatsgründer des russischen Reiches?

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Russlands Präsident Putin, Ausgrabung einer Wikinger-Siedlung in Nowgorod: Unbequemes Erbe von den Sowjets konsequent geleugnet

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lich unter dem Banner Walhalls zusam-men.

Doch das plötzlich gefragte Erbe desMittelalters hat einen grausigen Leumund:Wie kein anderes Volk stehen die Wikingerim Ruch von Schlagetots. Erik Blutaxt, König von Norwegen, Ivar der Knochen-lose, der isländische Großfürst GeirmundrHöllenhaut: Diese Namen waren Pro-gramm.

Wie frühzeitliche Hooligans tauch-ten die Nordmannen im 8. Jahrhun-dert aus dem geschichtlichen Dunkelauf. In schlanken Drachenbooten(Spitzentempo: über 20 Stundenkilo-meter) fielen sie nach Schilderung ei-nes Chronisten als „reißende Wölfe“über das Abendland her.

heißt es dort, hätten die Nordmannen Landum Land erobert, um ihre Idee von „Ehreund Staat“ zu verwirklichen.

Menschen, die in Wahrheit weder Möbelnoch das Alphabet kannten, mutierten zuHightech-Geistern, die mit „heldischer Un-bekümmertheit“ die Welt eroberten. Wieaus dem Nichts hätten sie „in Kiew, in Pa-lermo, in der Bretagne und in England“glanzvolle Kulturzentren geschaffen – Indiz

für die Überlegenheit der ari-schen Rasse.

1933, mit der braunen Macht-übernahme, wurden solcheThesen offizieller Stoff an denSchulen. Heinrich Himmler, der„Reichsführer SS“, stieg zumGralshüter der neuen Lehre auf.

Hitler blieb das nordischeGemurmel zwar stets verdäch-tig. Fixiert auf die Leistung desbritischen Empire und des anti-ken Rom, hatte er für die Inva-

sion der Mettrinker nur Spott übrig. Als„kalt, feucht und trübe“ stufte er ihre Hei-mat ein: „Die Germanen, die in Holsteingeblieben sind, waren nach 2000 Jahrennoch Lackel.“

„Wir sind Nationalsozialisten“, gab derReichsführer in einer Rede zu Proto-koll, „und haben überhaupt nichts zu tun mit wallenden Bärten und Haupt-haar. Wir haben alle die Haare kurz ge-schnitten.“

Gleichwohl führte Himmler bald ein ge-spenstisches Eigenleben. Er war es, der sei-ner Truppe die gezackten Runen verpasste.Er ließ Forschungsschiffe nach Helgolandauslaufen und schob, unterstützt von Ar-chäologen in seiner Abteilung „Ahnen-

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Am 8. Juni 793 eröffneten die norwegi-sche Piraten die Serie ihrer berüchtigtenÜberfälle. Mit mehreren Schiffen hattensie sich Richtung England aufgemacht.Heimlich gingen sie vor der KlosterinselLindisfarne an Land. Kurz danach standdie Abtei in Flammen, massakrierte Mön-che lagen im Staub. Die Banditen flohenmit goldenen Kruzifixen und edelsteinbe-setzten Evangelienbüchern im Gepäck.„Rohe, vollkommen gottlose,verwegene Gestalten“, klagteein irischer Kleriker, hätten denheiligen Ort zerstört.

Weitere Angriffe folgten. DieRaubtouren, meldet eine andereQuelle, waren begleitet von „un-geheuren Blitzen, und in denLüften sah man entsetzlicheDrachen“.

Solche Berichte bestimmendas Bild der Wikinger bis heute.Mit Matschauge und gezücktemSchwert sprang Kirk Douglas durch Hol-lywood-Kulissen. Ob Hägar der Schreckli-che oder Sigurd der Drachentöter – derWikinger, so will es der Mythos, haut drauf,bis es wehtut.

Vor allem unter den Nazis erlebten dieRecken aus dem Norden eine dämonischeWiedergeburt. Wie keine politische Bewe-gung der Neuzeit hat die NSDAP das Erbeder Wikinger zur Rechtfertigung eigenerUntaten missbraucht.

Es war der Parteiideologe Alfred Ro-senberg, der in seinem Buch „Der My-thus des 20. Jahrhunderts“ (erschienen

1930) die Steilvorlage lieferte. DasWerk verherrlicht in einem bei-spiellosen Akt von Geschichtsklit-terung die Wikinger als letzte Ver-treter eines „urgermanischenTraums“.

Mit „genialer Zwecklosigkeit“und „wildem jugendlichen Sturm“,

Präsidenten-gattin Hillary Clinton feiertedas Wikinger-Langschiff als„Internet desJahres 1000“

� GoldverzierteAxtklinge

� Eisenspange mitSilberauflage

� Schwert ausEisen und Gold

� Armring ausmassivem Silber

� Schwertaus Haithabu

▼ Goldamulett aus Schweden

Titel

� Hölzerner Tierkopfpfostenaus norwegischem Schiffsgrab

A.

ALS

LEBEN

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erbe“, die ersten Großgrabungen in Haithabu an.

Ob Runenforschung oder Welteis-lehre – in der SS war der Wikinger-Kultgreifbar und gegenwärtig. Der Wahn gipfelte schließlich in der Unternehmung„Lebensborn“. In Norwegen, so eine SS-Anweisung, soll-ten „deutsche Soldaten so viele Kinder wie möglich zeu-gen, ob ehelich oder unehe-lich“.

Als die Wehrmacht 1940 insLand der Fjorde einfiel, wurdeder Plan umgehend angepackt.Sieben Lebensborn-Heime wur-den eröffnet. Rund 10000 Kin-der kamen in den Zuchtstatio-nen zur Welt. Rosenbergs Ideevom „Rassestolz“ der Wikinger war wie-derbelebt.

Was für ein Irrsinn. Wie kein anderesVolk, das zeigen die neuen Untersuchun-gen, haben die Wikinger ihren Genpoolüber die nördliche Hemisphäre verstreut.Als Siedler assimilierten sie sich in Russ-land, sie vermischten sich mit – schwarz-haarigen – Keltenmädchen und zeugtenKinder mit Franken, Friesinnen und Ara-bern.

sieht es der Pariser Experte Régis Boyer.Mit breiten „kaupskips“ bugsierten sieWolle, Tran und Speckstein über die hoheSee.

Begierig griff die Presse das Weich-zeichner-Szenario auf. Die Wikinger „kul-tivierten die Küste von Irland und Eng-land“, meldete keck „Focus“. Die „Frank-furter Allgemeine“ erhob Haithabu zum„global village“. Eine ZDF-Dokumenta-tion sah in den Ur-Skandinaviern „Geniesaus der Kälte“.

Am weitesten ist die Verklärung in denUSA gediehen. „Time“ machte aus den Wi-kingern überzeugte „Demokraten“. Präsi-dentengattin Hillary Clinton erklärte dasLangschiff flugs zum „Internet des Jahres1000“.

Doch die Beweislage für solcherlei Lob-preisung ist lausig. Aller anders lautendenSchönfärberei zum Trotz lässt sich nichtleugnen, dass die Wikinger in der Hoch-phase ihrer Macht Hunderte von Siedlun-gen zerstörten.

Um 800, als sich Europa zaghaft vomnachantiken Verfall erholte, als die Schrift-kultur langsam aufzublühen und geordne-te Staatswesen sich zu bilden begannen,waren die Nordlichter ein oft verheerendwirkender Störfaktor.

Und auch die „geniale Zwecklosigkeit“,von der Rosenberg schwafelte, mutet ge-spenstisch an. Allein in England erpresstendie Wikinger im Jahr 1012 den überfalle-nen Angelsachsen 48000 Pfund Gold undSilber ab.

Solche Zahlungen gehörtenzu einer Politik, die E. A. Freeman ein „sinnloses undtödliches System“ der Erpres-sung nannte. Der Blick der Wikinger, so der Forscher, warweder heroisch noch stolz, sie „schielten schlicht nachGold“.

Doch ist das alles? Waren die Nordländler wirklich nurRabauken? In jüngster Zeit ha-ben einige Historiker zur „Eh-

renrettung“ aufgerufen. Demnach handeltes sich bei den Wikingern nicht um blon-de Bestien, sondern um clevere „kop-mans“, die eine urzeitliche Superhanseschufen. Randaliert, so Harm Paulsen vomHaithabu-Museum in Schleswig, habe nureine Minderheit – „allenfalls fünf Pro-zent“.

Wie Manager eines internationalen Kon-zerns hätten die Wikinger den frühmittel-alterlichen Handel auf Touren gebracht, so

Titel

In ihren Liedernverwandeln sich Männer inWerwölfe undbeißen ihrenOpfern die Kehlen durch

Spaceshuttle des MittelaltersDie Schiffbaukunst der Wikinger

Wikingerschiffe unter-scheiden sich von anderen

europäischen Bootstypen vor allemdadurch, dass sie von außen nach innen

gebaut wurden: Zuerst wählte der Schiffbauer ei-nen langen, leicht gebogenen Balken aus der

Mitte eines Baumes als Kiel und verband diesenmit Vorder- und Achtersteven. Dann spannte erdie Planken zwischen die Steven, so dass die

Außenschale entstand. Erst zuletzt verstärkte erdiese mit Spanten. Da die Steven so geschnitztwurden, dass sie die Anordnung der Planken vor-gaben, stand bei Kiellegung bereits die gesamte

Form des Schiffes fest. Ole Crumlin-Pedersen,weltweit führender Experte im Wikingerschiff-

bau, führt diese eigentümliche Bauweise daraufzurück, dass die Drachenboote ursprünglich aus

Einbäumen hervorgegangen seien, die danndurch das Ansetzen von Planken nach

oben hin vergrößert wur- den. DerKiel ist in seinen Augen mithin das

Überbleibsel des Ur-Einbaums.

Die schlanken Kriegsschiffe der Wikinger waren die Grund-lage ihrer Macht. Kein anderes Volk Europas war fähig, mehrals 20 Stundenkilometer schnelle Boote zu bauen, die zu-dem den Wogen des Atlantiks zu trotzen vermochten.

Auf Drachenbooten, den Kriegsschif-fen der Wikinger, waren in Abständenvon meist 85 Zentimetern Ruderbän-ke angebracht, die obersten Plankenenthielten Pforten für die Aufnahmeder Riemen. Die Krieger befestigtenihre Schilde außenbords. Frachterhatten einen geräumigen Laderaum.Für die großen Rahsegel mussten biszu 200 Schafe ihre Wolle lassen. Diekunstvoll gefertigten Segel wurdenmit Pferdefett wasserabweisend ge-macht. Gesteuert wurde mit einemRuder steuerbords, also an der rech-ten Außenwand. Wegen der langenKiellinie waren die Boote trotz ihresgeringen Tiefgangs recht kursstabil.

DAS SCHIFF

DAS PRINZIP

Länge: 17,5 mBreite: 2,5 mSegelfläche: ca. 90 m2

am Beispiel des Kriegsschiffes„Skuldelev 5“ aus Roskilde

Vordersteven

Achtersteven

Spanten

Planken

Kiel

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möglichte einem Volk, dass weder Tischnoch Stuhl kannte, solch eine Invasion?

Auf viele Fragen wissen die Expertenbis heute keine Antwort. Auf der FrühzeitEuropas, den dunklen Jahrhunderten, liegtdicker Nebel. Archäologische Artefaktezur Rekonstruktion der politischen Land-karte der Zeit liegen kaum vor. Und dieSchreckensberichte der christlichen Chro-nisten entstanden zumeist erst im 13. und14. Jahrhundert. Gleichwohl tun die Au-toren so, als seien sie als Augenzeugen beiden wikingischen Überfällen („Strand-högg“) dabei gewesen.

Auch die Selbstauskünfte der nordi-schen Griesgrame stammen aus viel spä-terer Zeit. Snorri Sturluson, der Schöpferder Prosa-Edda, brachte sein erstaunlichesDichtwerk erst um 1220 zu Papier. Da aberwaren die blonden Heiden längst von Mis-sionaren gezähmt und sangen Hosianna.

Mit sentimentalem Blick schaut Snorrisauf die alte Heldenzeit zurück. In seinerHeimskringla, dem Königsbuch, hat er 17 Herrscher porträtiert, darunter auchHarald den Harten (1015 bis 1066), der sei-ne Jugend in Byzanz verbrachte, dann eine„goldene Dame in Rußland“ freite undschließlich als Chef einer Invasionsflotte inEngland verstarb. Was ist da Mythos, washistorische Wahrheit?

Gleichwohl tauchen nun neue Indizienund Spuren auf. Geophysiker, Archäo-logen, Klimaforscher und Pollenanalyti-ker liefern mit ihren Methoden neue Details. Erst jüngst wurden in Roskildesieben Wikingerschiffe entdeckt. In Hai-thabu förderten die Wissenschaftler großeHafenstege zutage – aufgespürt mit Bo-denradar.

Auch die „Poseidon“ beteiligt sich ander Fahndung. Vorletztes Jahr lief das in

189

KielSpant

Planke

Von höchster Bedeutung war die Art des verwendeten Holzes:Für Kiel, Steven, Planken und Spanten wurden jeweils Bäumevon geeignetem Wuchs gesucht; in Norwegen wurden dabeiKiefern, in Dänemark Eichen verarbeitet. Da die Wikinger nochkeine großen Sägen kannten, schlugen sie Kiel, Planken undSpanten mit Keilen aus dem Baum wie Tortenstücke, bis zu 32Stück aus einem Stamm. Das Holz riss dabei an seinen ge-wachsenen Fasern, war somit besonders biegsam und konntehohem Wellendruck standhalten. Deshalb konnten die Wikin-ger extrem dünne Planken von nur zwei bis drei ZentimeterStärke verwenden, was die Schiffe schnell machte und zu-gleich so leicht, dass sie so-gar über Land geschlepptwerden konnten.

Wikingerschiffe wurden in Klinker-bauweise gearbeitet, benannt nachden Klinknägeln aus Raseneisenerz,die die Planken miteinander verban-den. Dabei überlappte die oberePlanke die jeweils untere. Mit Teergetränkte Wollschnüre oder Linden-bast sorgten für eine wasserdichteVerbindung. Im Unterwasserschiffwurden Spanten und Planken mit-einander verschnürt, um das Schiffflexibel zu machen. Ansonsten ver-banden Nägel aus abgelagertemWacholderholz Planken und Span-ten. Ein Anstrich aus Holzteer dich-tete den Rumpf zusätzlich ab.

DAS MATERIAL

DAS HANDWERK

HolznagelLindenbast

Klinknägel

Was im Einzelnen geschah, ist längst nichtgeklärt. Vermutlich kaum mehr als 100000rothaarige Athleten hielten damals die hal-be Hemisphäre in Atem – und dies obwohldie Wikinger eigentlich primitiv und rück-ständig waren. Weder besaßen sie Sägen,noch konnten sie gute Waffen schmieden. Ineinem Grab bei Oseberg (Südnorwegen)fand sich ein prachtvoller Bollerwagen – al-lerdings ohne bewegliche Achse. Das Ge-fährt konnte nur geradeaus fahren.

Gleichwohl überbrückten die Invasorenin ihrer Blütezeit rund 10 000 KilometerWasser- und Landwege. Ganze Völker-schaften – Samen, Finnen, Kelten, Slawen– wurden in Knechtschaft geführt. Aus denentferntesten Weltregionen horteten dieWikinger Beutestücke – eines gar, gefun-den in Schweden, ist ein Buddha undstammt aus Indien.

Wie konnte diese furiose Erstürmungvon vier Kontinenten gelingen? Was er-

Wikinger-Festival auf den Shetland-Inseln: Ehrung für die gottlosen Vorfahren PA / DPA

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Titel

Was darf es denn sein? ThorsHammer auf dem Feuerzeug?Das „schnörkellose Wikinger-

Schwert“ für 599 Mark? Oder doch lieberder graue Kapuzenpullover „Odins VolkGermania“ für 58 Mark?

Dutzende Gimmicks aus der Welt derWikinger werden seit Jahren für den aufrechten Deutschen im rechtsextre-men Versandhandel feilgeboten: vom Plakat „Odin an der Lichtbrücke“ biszum „Maus-Kissen Wikingerbegräbnis“für den national gesinnten Computer-nutzer.

Die Nordmänner sind Kult für diebraune Szene. Sie dienen als Vorbild fürunerschrockenes Kämpfertum und geltenals kraftstrotzende Vertreter der arischenRasse.

Am Mythen-Arsenal der Hörnerhelmebedienten sich schon die Nazis. Gefürch-tet war während des Zweiten Weltkriegseine Eliteeinheit der Waffen-SS, die „Wiking-Division“. Heinrich Himmler,Reichsführer SS, glaubte, dass die Nor-weger direkte Nachfahren der Wikingerseien. Als Besatzungsmacht in dem skan-dinavischen Land, so die schriftliche An-ordnung, sollten deutsche Soldaten soviele Kinder wie möglich zeugen. So soll-

te zusammenwachsen, was zusammen-gehöre.

Schon früh haben sich Vordenker dernationalsozialistischen Rassentheorienvon der Mythenwelt der Wikinger undNordmänner inspirieren lassen. Die 1918in München gegründete antisemitischeThule-Gesellschaft – früher Unterstützerder NSDAP und militanter Freikorps –benannte sich nach der legendären InselThule, auf der in den Nebeln der Vorzeitangeblich Übermenschender nordischen Rasse leb-ten.

Wie Atlantis, so dieSage, ging auch Thule un-ter. Nur wenige der nor-dischen Musterknabenkonnten sich retten. Indem Kultbuch der rechts-extremen und neuheidni-schen Szene, der „Thule-Trilogie“, wird die krudeTheorie aufgestellt, dassdiese Versprengten diegermanische Rasse ge-gründet hätten.

Die Saga von Thuleund den Nordmännernist bis heute ein mytholo-

gischer Kern für die rechtsextreme undneonazistische Bewegung. Der radikalrechte DS-Verlag in Riesa vertreibt Thu-le-Uhren, im Internet versorgt das Thule-Netz die Szene mit indizierten Schriften:Hitlers „Mein Kampf“ oder die anti-semitische Hetzschrift „Protokolle derWeisen von Zion“ werden zum Down-load feilgeboten.

Auch die Runenzeichen der Nordmän-ner wurden von Hitler und den Natio-

Met und Party mit OdinWie schon das Hitler-Regime bedient sich auch die Neonazi-Szene am Mythenfundus

der Wikinger. Die Nordmänner sind Kult in der braunen Szene.

J. S

IEG

MAN

N (

re.)

Wikinger-Poster aus rechtsradikalem Versandkatalog: Alles

Wikinger-Fan Himmler (r., 1941), „Wiking Jugend“ (1994): „Mein Kampf“ zum Downloaden

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dies. Weder das Karolingerreich nochdie Könige Irlands und Englands be-saßen stehende Heere.

• Schließlich betonen die Forscher einenpsychologischen Faktor: Die Wikinger,gestählt durch das entbehrungsreicheLeben in der Heimat, verfügten überein enormes Durchhaltevermögen.

Zugleich zeichnet sich die Bedeutung eines weiteren Aspekts immer deutlicher ab:Die Nordmannen verdanktenihren Reichtum vor allem derSklavenjagd. Menschen, so Boyer, waren ihre „wichtigsteWare“.

Von Russland bis in die Bre-tagne waren die Häscher unter-wegs. Friesische Bauernbuben,Angelsachsen und irische Kel-ten gerieten bei den Raubzügen

ins Joch der Knechtschaft. Alten Quellenzufolge kostete ein kräftiger Mann 306Gramm Silber (Frauen: 204 Gramm). DerPreis für ein Kettenhemd, zum Vergleich,lag bei 820 Gramm.

In diesem Licht gilt es die Leistung der„Kopmans“ zu sehen. Ihr Imperium ba-sierte, wie das Netz der italienischen Cosa

Kiel stationierte Forschungsschiff nachGrönland aus und stieß auf Spuren einerKatastrophe.

Vor Brattahlid, nahe der Steinfarm Eriks des Roten, sind riesige Flächen Wei-deland im Meer versunken. Im Flachwas-ser wurden Mauerreste und Siedlungs-spuren entdeckt. Die Ursache für die Ab-senkung des Landes ist bislangnicht geklärt. All diese neuenarchäologischen Puzzlesteinefügen sich langsam zu einemGesamtbild. Zumindest dieGrundpfeiler des heidnischenAnsturms, der Europa 300 Jah-re lang in Atem hielt, tretendeutlicher hervor. Drei Haupt-befunde schälen sich heraus:• Die Raubzüge der Wikinger

wurden erst möglich, nach-dem sie ihre Schiffe mit Se-geln aufgerüstet hatten. Im 8. Jahrhun-dert hissten sie erstmals die berüchtig-ten Rah-Segel. Damit geriet Westeuro-pa in den Aktionsradius der Drachen-boote.

• Der Westen des europäischen Konti-nents präsentierte sich zu diesem Zeit-punkt als gänzlich ungeschütztes Para-

191

Der Piratentripins Ausland warfür die Jung-mannen eineFeuertaufe, diesie zu Männernmachte

nalsozialisten ebenso benutzt wie von derheutigen rechtsextremen Szene. So setz-te die SS ihr Kürzel aus den heute ver-botenen Sig-Runen zusammen.

Diese frühen germanischen Schriftzei-chen finden sich in einem zentralen, nichtverbotenen Symbol der Neonazis wieder:der „schwarzen Sonne“. Auf der We-welsburg nahe Paderborn, der ehemali-gen SS-Schulungsstätte, prangt auf demMarmorboden des SS-Obergruppenfüh-rersaals ein aus zwölf Sig-Runen zusam-mengesetztes Sonnenrad.

Das Symbol, so propagiert es die neo-nazistische Postille „Landser“, stehe fürdie germanischen Werte und gilt als Wi-derstandszeichen gegen die herrschende,angeblich volkszerstörende Kraft. Die„schwarze Sonne“ wird als Schmuck-stück, Koppelschloss oder als Stickereiauf Tischtüchern im einschlägigen Handelangeboten.

Die Wikinger-Verehrung ist ein festerBestandteil innerhalb der neonazistischenKameradschaften. Eine inzwischen ver-botene Nachwuchsorganisation trug denNamen „Wiking Jugend“. Im „Hambur-ger Sturm“, einer der wichtigeren Sze-neschriften, wurde jüngst ein detaillierterReisebericht zu den „Wikingerfesttagen“in Schleswig abgedruckt.

Selbst im Jenseits sind die nordischenGötter noch präsent. Stirbt einer derbraunen Kameraden, hoffen manche Hin-terbliebene, dass er seinen Platz in der„Halle der Gefallenen“ findet. Dort, inWalhall, sammelte zu WikingerzeitenKriegsgott Odin seine Kämpfer bei Metund rauschenden Partys.

Manche Neonazis glauben offenbar,dass der göttliche Schläger immer nochim Geschäft ist: Als der dreifache Mörderund Neonazi Thomas Lemke aus Glad-beck 1997 vor Gericht stand, kommen-tierte er das Urteil knapp: „KriegsgottOdin hat mir den Befehl gegeben.“

Germanisches Erntefest im Dritten Reich: Dämonische Wiedergeburt des nordischen Kults

ULLS

TEIN

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für den aufrechten Deutschen

Page 13: Archäologie - Der Siegeszug der Wikinger

Eroberer aus dem NordenRaubzüge und Siedlungsgebieteder Wikinger

N o r d a t l a n t i k

Neufundland

Labrador

Grönland

Nuuk

Baffin-Insel

Qassiarsuk

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Nostra, auf Schutzgeldzahlungen, Erpres-sung und Sklaverei. Erst im Laufe der Zeitentwickelte sich aus diesen Strukturen ein transkontinentales Tauschnetz. AlsBanditen fingen sie an, als Krämer hörtensie auf.

Die ursprüngliche Heimatder Emporkömmlinge, so vielist klar, war Skandinavien. Wieein heidnisches Bollwerk lagdieses Gebiet im 8. Jahrhundertan der Nordspitze Europas. DieRömer hatten die Fjorde nie er-reicht.

Kaum zwei Millionen Men-schen bewohnten damals diemageren Weiden Dänemarks,Schwedens und Norwegens.Man sprach altnordisch. Hun-derte von Kleinkönigen teilten sich dieMacht. Eine Zentralregierung war unbe-kannt.

Der freie Bauer besaß eine große Holz-hütte, in der etwa 30 Personen schliefen (imSchnitt 15 Familienangehörige plus 15 Skla-ven). Lampen mit ranzigem Walöl sorgtenim Winter für Dämmerlicht. Wurden Grau-pen gekocht, qualmte die Hütte. Kamin-abzüge hatten die Buden nicht. Nur jedesdritte Kind erreichte das 10. Lebensjahr.

* Links: Farbdruck nach Gemälde von Max Koch (um1905); rechts: Gemälde von P.N. Arbo (1869).

Allein das Vieh durch den Winter zubringen kostete enorme Anstrengungen.Bis spät in den Herbst waren die Knechtedamit beschäftigt, Heu einzufahren. Den-noch torkelten die Rinder im Frühlingmeist abgemagert auf die Weiden.

Trotz leerer Mägen blühteder Kriegerkult. PermanenteBlutfehden erschütterten dasLand. Der Nordmann, so be-singen ihn die Dichter, warstolz, unbeugsam und auf ge-spenstische Weise brutal. Im-mer wieder taucht in den Lie-dern das Werwolfmotiv auf. Be-sonnene Männer verwandelnsich plötzlich in Werwölfe undbeißen ihren Opfern die Kehledurch.

Die Gesellschaft folgte einem strengenDreiklassensystem, Chef im Stammesge-biet war ein reicher Großbauer (Jarl). Ihmzur Seite standen die freien Bauern (Karl).Den Bodensatz bildeten die Thrall, dieSklaven und Unfreien.

Während die Knechte Torf stachen undSaubohnen einfuhren, blühte unter denfreien Männern ein bizarrer Kriegerkult.Mut war eine Tugend, Raufereien an derTagesordnung.

Auch das Rechtssystem mutet archaischan. Mörder mussten die Angehörigen desOpfers mit „Mörk“ und „Penningr“ ent-

192

Titel

Gern griffen die Heiden an Feiertagen an,wenn sich dieWürdenträgerder Christenversammelten

Germanischer Kriegsgott Odin, Walküren*: Erschlagene Krieger durften in der Götterfestung Walhalla Met trinken

AKG

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Page 14: Archäologie - Der Siegeszug der Wikinger

Gnezdowo

BagdadJerusalem

Sevilla

Lissabon

London

Dublin

Lindisfarne

Haithabu

Birka

S c h w a r z e sM e e r

Wollin

Grobin

Mainz

Reykjavík

M i t t e l m e e r

Paris

ToursA r a l s e eItil

Kaupang

E u r o p ä i s c h e s N o r d m e e r

Heimat der Wikinger

Ka s p i -s c h e sM e e r

Córdoba

Eroberte Gebiete der Wikinger

Färöer

Balearen

Vorstösse der Wikinger

Kiew

Nowgorod

Staraja Ladoga

Byzantinisches Reich976 n. Ch.

Kalifat von Bagdad976 n. Ch.

Karolingisches Reich814 n. Ch.

Emirat vonCórdoba814 n. Ch.

Galicien undAsturien814 n. Ch.

Rus9. bis 11.Jahrhundert

Bulgarien976 n. Ch.

Istanbul

d e r s p i e g e l 3 2 / 2 0 0 0

Schiffen stürmten sie Canterbury und verwüsteten das englische ThronreichMercia.

Auch das schwächelnde Karolinger-reich, das nach dem Tod des großen Karlsin Ost- und Westfranken zerfallen war, sah sich den Angriffen schutzlos aus-gesetzt. 881, nach einem Wikinger-Vor-

stoß in den Rhein, müssen Mainz,Worms und Speyer Tribute zahlen. Am 9. April 882 zündelten die Ma-rodeure in Trier. Die Pfalzkapelle von

Aachen, einst Herzkammer des Hei-ligen Römischen Reichs DeutscherNation, wurde als Pferdestall miss-

braucht.Städte, die die geforder-

ten Tribute verweigerten,wurden angezündet. Gerngriffen die Haudegen anchristlichen Feiertagen an,wo sie hohe Würdenträ-

ger „fertig versammelt vor-fanden“ (Keynes) und

nur gegen hohe Löse-gelder wieder frei-ließen.

884, nach der Be-lagerung von Paris,kaufte der westfrän-kische König Karl-

mann die Stadt mit der Rekordsumme von 12 000 Pfund Gold und Silber frei. 907 beugte sich der mächtige Kaiser von Konstantinopel, Herrscher des Ost-

ratentrip ins Ausland galt als Feuertaufe,die den Knaben zum Mann machte. Das Mindestalter für die Teilnahme lag beizwölf Jahren.

799 wagten die Gesellen erstmals eineAttacke gegen das riesige Karolingerreich.Unverfroren tauchten die Wikinger in der Loire-Mündung auf und brand-schatzten einige Siedlungen. Karl derGroße, der „Leuchtturm Europas“und Herr über 1,2 MillionenQuadratkilometer Land, hatte plötz-lich „wilde Hornissen“ (ein Chro-nist) am Hals.

Die Überfälle liefen alle nachdem gleichen Plan ab: heimlichlanden, Pferde abladen, Ket-tenhemd überziehen, mitSchwert und Axt die Abteierstürmen, Silber abgreifenund weg. „Die Wikinger“,sagt der Schleswiger Archäo-loge Paulsen, „haben denBlitzkrieg erfunden“.

Anfangs waren es nurNadelstiche. Doch nach830 begann eine „neueStufe der Eskalation“,wie der Cambridge-For-scher Simon Keynes er-klärt. Vor allem die Dä-nen schlossen sich nun zu Großheeren zu-sammen und griffen nach England aus. 851gelang es den Plünderern erstmals, einenKönig in die Flucht zu schlagen: Mit 350

193

Wikinger-Beutegut Buddha-StatueTauschgeschäfte bis in den Orient G

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ORTI

schädigen – blieben aber frei. Die Strafefür schwere Körperverletzung bemaß sichnach dem Gewicht der abgesplittertenKnochen.

Morgens Regen, mittags Graupensuppe,abends Streit – die Skandinavier seien „ei-ner prekären Subsistenzwirtschaft“ entflo-hen, glaubt der Bonner Forscher RudolfSimek. Er nennt den Aufbruch ins reicheAusland, der um 790 einsetzte, eine „spä-te Phase der Völkerwanderung“.

Das passende Transportgerät stand da-mals bereits zur Verfügung. Beim Bootsbaumachte den Wikingern kaum einer was vor. Bis zu 100 Mann konnten ihre schlan-ken Kriegsschiffe tragen. „Das Drachen-boot war der Spaceshuttle des Mittel-alters“, meint der Schleswiger Archäologe Claus von Carnap-Bornheim (siehe Grafik Seite 188).

Meist schlossen sich einige Wagemutigezusammen und teilten das Risiko. DieseBootsgemeinschaften waren durch feier-liche Eide zusammengeschweißt. Simekspricht von einer „sozial akzeptierten Formorganisierter Aggression“.

Bezeugt ist, dass sich in den skandinavi-schen Dörfern scharenweise Abenteurerversammelten, um Raub-Expeditionen zuplanen. Wer ein Schiff hatte, konnte aus-ziehen, um im goldenen Westen Beute zumachen.

Für die Jungmannen, vermutet Simek,dienten die Vikings (altnordisch für Raub-zug) zugleich als „Initiationsritus“. Der Pi-

Page 15: Archäologie - Der Siegeszug der Wikinger

Sigmundur hatte die bessere Presse,deswegen wurde Sigmundur derHeld. Noch immer wird dieser Wi-

kinger gefeiert, der sich vor 1000 Jahrenmit seinen Gegnern um die Macht aufden Färöern schlug. Aber eigentlich feiernsie den Falschen. Das findet zumindestMagnus Magnussen, Kettentänzer undEinwohner des färöischen Archipels: „AlsRepublikaner steht man ja auf der ande-ren Seite, oder nicht?“

Sie haben seltsame Angewohnheitenbeibehalten auf diesen stürmischen Inselnim Nordatlantik. Dazu gehört, dass Poli-tik zu Folklore werden kann und Folklo-re zu Politik. Dazu gehört der Kettentanz,den Magnussen und fast jeder Mensch aufden Färöern betreibt. Dazu gehört Stamp-fen und Sprechgesang, meist in Moll – aufFäröisch, was außer Färingern niemandversteht. Und oft gehört dazu, dass mandie Geschichte von Sigmundur und Tron-dur erzählt: Die spielt in der Wikingerzeitund ist immer noch nicht vorbei.

Sigmundur ist der Held der FäringerSaga. 999 brachte er das Christentum aufdie Inseln; er setzte sich durch gegen denrothaarigen Trondur, der von der Kirchenichts wissen wollte. Mit der Axt in derHand hat Sigmundur ihn umgestimmt:„Stirb oder werde getauft.“

* Mit der dänischen Königin Margrethe (M.)

Weil er der Christ war, kam er in dervermutlich von Mönchen überliefertenSaga gut weg. Dass Sigmundur das Chris-tentum brachte, nimmt man ihm nichtübel auf den Färöern, christlich ist man jabis heute. Wohl aber, dass er das im Na-men eines Monarchen tat: Immer schonhatte Sigmundur enge Beziehungen zumnorwegischen Herrscherhaus. Viel hat erdazu beigetragen, dass seine Heimat daswurde, was sie in den Augen vieler Ein-wohner immer noch ist: eine Kolonie.

Ein Held wie Sigmundur passt nichtmehr gut in diese Zeit, da ein großer Teilder rund 45000 Bürger nach der Unab-hängigkeit strebt von der dänischen Kro-ne, zu der die Inseln heute gehören, ohneMitglied der EU zu sein. Gerade Tradi-

tionalisten würden sich jetzt wohl eher ei-nen wie Trondur als Vorbild nehmen – ei-nen, der seine Sitten verteidigt gegen dieWelt, die von außen kommt. Denn natür-lich haben die Wikinger ihre Spurenhinterlassen auf diesen nassen, baumlo-sen Inseln, die für sie der erste Stopp warin Richtung Westen: nach Island, nachAmerika.

Vieles ist geblieben. Es gibt nicht nurdie Ruderboote, die sie so wikingerähn-lich wie möglich gebaut haben und in denen sie an ihrem Nationalfeiertag am29. Juli um die Wette fahren, oder die Sitte, dass man danach den Aquavit aus Schafshörnern trinkt. Weit mehr alsanderswo wird das Leben von Traditio-nen bestimmt: „Es stimmt“, sagt der Ar-chäologe Símun Arge, „wie die Wikin-ger leben wir von der Landschaft, vomMeer.“

Im 9. Jahrhundert setzten sich die nor-wegischen Auswanderer auf den Färöernfest. Sie hielten Tiere, machten Heu undbauten Getreide an. Was es zu essen gab, weiß man aus Knochenfunden:Schaf, Schwein, Wal, Fisch, Seevögel. All das steht heute noch auf dem färöi-schen Speiseplan, und auch ein paar Ge-wohnheiten haben sie beibehalten, dieEU-Kommissare das Gruseln lehren wür-den. Ihre Schafhaltung beispielsweise:Noch immer treiben sie die Tiere gernauf kleine Felseninseln, die von See-vögeln gedüngt werden, das gibt be-sonders würziges Fleisch. Geschlachtetwird unter freiem Himmel und nicht imdesinfizierten, gekachelten, EU-taugli-chen Raum.

Vermutlich konservierten die Wikin-ger schon auf dieselbe Weise ihren Fischund ihr Schafsfleisch, wie es jetzt ihreNachfahren tun: in Bretterschuppen mitZwischenräumen, durch die die salzigeLuft streichen und den Vorrat trocknenkann. Vieles muss noch ermittelt werdenüber das Leben und die Gebräuche derVorfahren; später als anderswo fandenauf den Färöern erste Ausgrabungen statt.„Wir sind ja“, sagt Símun Arge, der Ku-rator des färöischen historischen Mu-seums, „ein sehr kleines Volk.“

Jetzt aber, 1000 Jahre nach der Chris-tianisierung und den von der Saga be-schriebenen Kämpfen, bekommt die For-schung den rechten Schub. So steht nunSímun Arge an einem sehr windigen undausnahmsweise sonnigen Tag an der Süd-

Aquavit aus SchafshörnernAuf den Färöer-Inseln haben sich viele Wikinger-Sitten authentisch erhalten.

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Titel

Archäologe ArgeDen Vorfahren auf der Spur

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Kettentanz auf den Färöern*: Erinnerung an Wikinger-KämpfeJ.

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Page 16: Archäologie - Der Siegeszug der Wikinger

küste der Insel Sandoy und blickt auf einGräberfeld bei der Kirche von Sandur,wo sie zwischen den Toten der letztenJahrhunderte Wikinger-Gräber gefundenhaben und Bodenplatten von einem Wi-kinger-Langhaus. In der Kirche stießensie auf fünf ältere Kirchen, darunter einein norwegischer Stabbauweise, die ausdem 11. Jahrhundert stammt.

Sogar einen Schatz gibt es, den ein To-tengräber schon im Jahr 1863 entdeckte:Silberstücke aus Deutschland, England,Irland, Ungarn, auch das Fragment einerarabischen Münze war dabei.

Noch vermag niemand zu sagen, obdie toten Wikinger von Sandoy Christenwaren oder nicht. Verblüffend ist, dass inden Gräbern keine Waffen gefunden wur-den, sondern nur Schmuckstücke undSonstiges, was zur Kleidung gehört. Dasscheint gar nicht zur alten Zeit zu passen,die den Überlieferungen zufolge unge-heuer blutig war. Natürlich kennt Argedie Geschichten, die man sich so erzähltan langen Abenden bei Kettentänzen,aber er sagt: „Man darf sich nie auf dieSagen verlassen. Erst wenn es archäolo-gische Beweise gibt.“

Am Grabfeld Toftanes im Westen derInsel Eysturoy, auf der Sigmundurs Geg-ner Trondur gelebt haben soll, wollen dieArchäologen jetzt Schilder aufstellen undein bisschen mehr Wissenschaftlichkeitin die Welt bringen. Vielleicht, hofft Arge,wird die Wikingerzeit künftig ein paarFremde mehr interessieren als diejenigen,die aus Zufall hier landen, weil die Fährenach Island sie zu zwei Tagen Zwi-schenstopp zwingt.

Aber vielleicht sehen die Reisendendoch bloß, dass sie weiter kommen in denWesten. Das haben viele Wikinger ja auchgetan. Barbara Supp

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Odin-Anhänger mochten vom alten Glau-ben nicht lassen.

Und der mutet düster an. Boss der Götterfestung Walhall war der einäugi-ge Kriegsgott Odin. Sohn Thor, ein BenHur des Nordens, fuhr mit seinem Wa-gen, gezogen von Geißböcken, übers Firmament. Die Kufen schlugen Blitze. Indie sprühenden Funken warf er seinenDonnerhammer Mjöllnir – Namen wie ausdem Ikea-Katalog.

Dabei war der grimme Thornoch einer der Guten. Er be-wachte den Kosmos, der überBifröst, die Regenbogenbrücke,mit der Menschenwelt verbun-den war. Permanent musste erRiesen und Monsterschlangenabwehren, die in den entfern-ten Winkeln des Universumshausten.

Dies düstere Pantheon ent-spricht dem Kriegerethos derSkandinavier. Jeder Mann,

der auf dem Schlachtfeld fiel, so der Glaube, wurde von den Walküren auf feurigen Rössern nach Walhall getragen.Dort durften die besten Kämpfer her-umhuren und bis zum Überdruss Met trinken.

Entsprechend beherzt gingen die Ra-bauken in der Realität zu Werke. Zornig,stets auf den eigenen Vorteil bedacht undzugleich „enorm leidensfähig“ (Paulsen)– das ist die psychologische Mixtur, die es den Nordmannen erlaubte, sich dieMachtstellung im Frühmittelalter zu er-kämpfen.

Auch die tollkühnen Entdeckungsreisenforderten den Männern Entbehrungen ab. Tagelang saßen die Trupps, gekauertauf Holzbänken, in ihren Knorren. Sietrotzten haushohen Atlantikwellen. BeiRegen wurden sie patschnass. Zahllose

römischen Reiches, den Seeräubern undzahlte Tribut, das berüchtigte „Dane-geld“.

Die Beute – auch das eine Eigenheit dernordischen Räuber – wurde sodann häufigverbuddelt. Habgier und ein nahezu my-thischer Geiz beseelte die Piraten aus Skan-dinavien. „Fesjukr“ (altnordisch für geld-krank) hat Boyer die Wikinger genannt.Kaum zurück in der Heimat, griffen sie zumSpaten. Über 2000 vergrabene Silberschät-ze wurden allein in Gotland entdeckt.

Mit ehrlichem Handel hattendie Erpresser anfangs nichts amHut. Die Wikinger gründetenzwar Handelsstützpunkte wieBirka (Schweden), Kaupang(Norwegen) und Haithabu (beiSchleswig). Sie legten dieGrundsteine für Städte wieDublin und Reykjavík. Dochkeiner dieser Orte hatte mehrals 1000 Einwohner.

Im Prinzip dienten die frühen Wikin-ger-Siedlungen als Knotenpunkte, an de-nen die Unterjochten ihre Tribute abliefernmussten. In Irland musste die keltische Ur-bevölkerung Wolle und Schafe abgeben.Den Samen und Finnen wurden Rentier-felle abgepresst.

Die Gier der heidnischen Mafiosi zu brechen wollte den frühen Staats-gebilden Westeuropas lange nicht gelin-gen. Während sich auf dem Kontinentlangsam das Christentum ausbreitete,thronten im Norden zwielichtige Pira-tenkönige, die sich aller Kontrolle ent-zogen.

Frühe Missionsversuche scheitertenkläglich. Im Jahr 829 rückte zwar derMönch Ansgar in Schweden ein und pre-digte in Birka die Leiden Jesu Christi. Dochder Mönch stieß auf taube Ohren. Die

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Wikinger-Langhaus auf Island: Dämmerlicht durch Walöllampen R. HAFINFJORD

„Weder schämensie sich beimStuhlgang undHarnen, noch waschen sie ihre Hände nach dem Essen“

Page 17: Archäologie - Der Siegeszug der Wikinger

793 Angriff auf dasKloster Lindisfarnein England

800 Karl der Großelässt Seesperrengegen die Wikingererrichten

810 Ausbau Haitha-bus zur „größtenStadt des Nordens“

830 bis 860 NorwegischeFlottenverbände greifenIrland an

841 Gründung der Wikinger-Siedlung Dublin

865 Ivar der Knochenlose fälltim Osten Englands ein

870 Wikinger besiedeln Island

um 870 Roriks Marsch auf Kiew

884 Karlmann, König der West-franken, zahlt 12 000 PfundGold und Silber – die höchstebis dahin gezahlte Tributsummean die Wikinger

885 Errichtung des 25 000 km2

großen „Danelag“, eines Wi-kinger-Gebiets in England

907 Eine Flotte der Wikingergreift Konstantinopel an

911 Fürst Rollo erhält dieNormandie als Lehen

940 bis 960 Höhepunkt desSklavenhandels mit dem Kalifat

von Bagdad

um 965 Taufedes Dänen-KönigsHarald Blauzahn

982 Erik der Rote er-reicht Grönland

1000 bis 1005Drei Wikinger-Expeditionennach Amerika

1066 Der Norman-ne Wilhelm derEroberer besteigtden englischenThron

um 1100 Islandverbietet denSklavenhandel

Siegeszugder BarbarenDer Aufstiegder Wikinger

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Karl der Große(747 bis 814)

Wikinger – Invasionsflotte auf dem Weg nach England

„Bischof von Baffin“,Holzfigur aus Nord Kanada

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ten – von Island aus – 25 Expeditions-schiffe, nur 14 kamen an. Steifgefroren und erschöpft fuhren die Pioniere die fel-sige Küste ab und schlugen an der Süd-spitze der Eisfestung ihre provisorischenZelte auf.

Doch solche langfristigen Besiedlungs-aktionen blieben die Ausnahme. In Eng-land trafen, im Schlepptau der Drachen-boote, zwar auch Zehntausende von skandinavischen Bauern ein. Doch die äx-teschwingenden Krieger, die der Bewegungihre Explosivkraft verliehen, hatten anLandbau wenig Interesse.

Die Soldaten zielten auf Gold, SilberEdelsteine – vor allem aber auf Sklaven.Haithabu und der immer wieder in denQuellen erwähnte Handelsplatz „KonungaHella“ dienten als Drehscheiben eines großangelegten Menschenhandels. In Haithabuwurden eiserne Handschellen aus demSchlick gezogen.

Einen Teil der Versklavten ließen dieWikinger in ihren nordischen Homelandsfür sich schuften. Dort schleppten die Unfreien Feuerholz, sie stachen Torf und verteilten Dung auf den Feldern. Der Dichter Snorri berichtet über den norwegischen Dorfboss Erling, auf des-sen Gehöft 30 Sklaven lebten: „Durch diese Knechte ließ er alles Tagwerk ver-richten.“

Auch die Pionierarbeit auf den Inselnwäre ohne die Entrechteten nicht möglichgewesen. Für die Besiedlung Islands wur-den etwa 10000 – in Irland gefangene –Kelten eingespannt.

Ein Sagatext, der von dem Farmer Hjor-leif erzählt, deutet an, dass es bei derSchinderei zu enormen Spannungen kam.Weil er keine Pferde hatte, spannte Hjor-leif seine Lakaien vor den Pflug. Dafür töteten sie ihn. Schlug sich in der aus-führlichen Schilderung die Erinnerung aneine Art Spartacus-Aufstand im Eismeernieder?

Nicht nur für den Eigenbedarf wurdeNachschub gebraucht. Vor allem das arabische Reich dürstete nach Arbeits-kräften aus dem Norden. Westeuropa hatte sich längst aus dem Geschäft zu-rückgezogen. Die kirchlichen Konzile der Merowingerzeit (um700) erörterten mehr-fach den Verkauf christ-licher Sklaven an die Araber. Unter Karl dem Großen hörte derheikle Menschenhandelganz auf.

In die verwaiste Markt-nische sprangen die Wi-kinger: Vor allem ihrDrang nach Osten warvermutlich vom Hungernach Sklaven gespeist. Im großen Stil, daszeigen die neuen Funde, gingen die Rus-Wikinger in der Tundra auf Men-schenjagd.

Langschiffe müssen gekentert in der Ost-see liegen.

Das schreckte die Seeleute nicht. DieFaröer-, die Shetland- und die Orkney-Inseln – wie im Rausch brachen die Boo-te zu immer gewagteren Hochsee-Aben-teuern auf. Navigiert wurde nach den Sternen und den Meeresströmungen. Mitgeführte Raben wiesen den Weg zu nahen Küsten.

870 segelten einige Verwegene querdurch die atlantische Wasserwüste bis nach Island. Vulkane überragten dort das karge Land, Geysire spuckten brüh-heißes Wasser, schwarze Aschefelderdehnten sich aus bis zum Horizont. Aber auch Zwergbirken und Brust-wurzsträucher wuchsen damals auf

der Insel, wie neue Pollenanalysen be-weisen.

Auf den satten Grünflächen trieben die Neuankömmlinge vor allem Schaf-zucht. Komplettiert wurde der Speise-plan durch Walrossfleisch und feiste Tord-alken, die dicht an dicht auf den Klippenhockten.

Schnell blühte das Gemeinwesen. Zwi-schen 870 und 930 wechselten rund 20000Siedler nach Island. Regiert wurde die In-sel von 39 Häuptlingspriestern, die einmalpro Jahr zur großen Versammlung (althing)riefen.

982 schließlich erreichte Erik der Rote,ein „notorischer Totschläger“ (Simek), diegrönländische Küste. Kurz danach starte-

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Titel

„Die Wikingergeben sich Ausschweifun-gen hin, lebenin Gemeinschaftmit mehrerenFrauen“

Page 18: Archäologie - Der Siegeszug der Wikinger

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Bereits um 750, lange bevor im Westendas erste Christenkloster loderte, existier-te am Ladogasee, dem „Tor nach Russ-land“, eine Station von Pelzhändlern. Um860 hatte sich Rorik mit großem Gefolge inNowgorod festgesetzt.

Immer tiefer drangen die Urschweden in die Steppe ein. Mit kleinen Flussboo-ten ruderten sie den Dnjepr hinab unddrangen in eine kaum bewohnte Sumpf-welt vor. Von dort ging die Reise weiter bis zu den märchenhaften Zinnen von Byzanz.

Der in der Prunkstadt herrschende Kai-ser Konstantin Porphyrogennetos be-schreibt, wie die Fernhändler nach derSchneeschmelze im Juni, mit Bernsteinund Pelzen bepackt, den Dnjepr herunter-fuhren. Alle Stromschnellen des Flussestragen altnordische Namen: Essupi (derVerschlinger), Gelandri (der Gellende)oder Strukun (der Rennende).

Doch es gab noch einen anderen, weiteröstlich verlaufenden Weg. Er führte durchs

Forscher Thomas Noonan, „reichteschließlich von der polnischen Grenze biszur oberen Wolga“.

Mit dem Verkauf von Frauen machtendie Rus offensichtlich ein Vermögen. InWikingersiedlungen wurden insgesamt228 000 arabische Münzen (geprägt inTaschkent, Samarkand und Bagdad) ge-funden. Bis nach Island und Irland lässt sich das Geld der Muselmanen ver-folgen.

Ebenfalls aus arabischen Quellen stammtdie wohl anschaulichste Beschreibung derPiraten aus dem Osten. 922 reiste Ibn Fad-lan, ein Diplomat des Kalifen von Bagdad,

Kaspische Meer – nach Bagdad (siehe Kar-te Seite 192). Dort thronten Kalifen, dieüber schier unerschöpfliche Silberminenverfügten.

Die reichen Orientalen verlangten nachMenschenware aus dem Norden und Wes-ten; blonde Diener standen im Kalifat hochim Kurs.

Die rothaarigen Ost-Wikinger sahen ihreChance darin, dieses Verlangen zu be-friedigen. Mit Blut und Schwert, so neh-men es die Forscher an, drangen sie in dierussischen Weiten vor und klauten Kin-der und vor allem Frauen. „Das tribut-pflichtige Gebiet“, sagt der amerikanische

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SPIEGEL: Kapitän Eggertsson, warum ha-ben Sie ausgerechnet auf einem Wikin-gerschiff den Atlantik überquert?Eggertsson: Es wäre doch dumm vonmir, das 1000-jährige Jubiläum dieserLeistung nicht gebührend zu würdigen –zumal es meine Vorfahren waren, diediese Tat vollbracht haben. SPIEGEL: Sie sind ein Nachkomme vonLeif Eriksson, dem Entdecker Ameri-kas? Können Sie das beweisen?Eggertsson: Ja, ich kann meine Ahnen-reihe bis zu seinem Großvater zurück-verfolgen, weil in Island alles schriftlichfestgehalten wurde.SPIEGEL: Haben Sie Ihr Wikingerschiff„Islendingur“ mit Hilfe der Gestirnedurch den Atlantik navigiert oder mitmoderner Technik?Eggertsson: Wir orientierten uns an denSternen. Aber wir hatten auch ein Sa-telliten-Navigationssystem an Bord, dasist Vorschrift.SPIEGEL: Bestand nicht die Gefahr, dassIhre Nussschale von einem modernenFrachter unter Wasser gedrückt wird?Eggertsson: Nein, die sind ja mit Ra-darsystemen ausgerüstet. Wir hattenmehr Angst vor herrenlosen Contai-nern, die bisweilen von Bord rutschenund nur knapp über der Wasserober-fläche treiben.SPIEGEL: Was geschah bei Flaute?

Eggertsson: Im Nordatlantik sind wir ei-gentlich ständig unter Wind gefahren.Falls der mal nicht wehte, trieb uns einkleiner Motor an, statt wie früher dieMuskelkraft von 64 Wikingern.SPIEGEL: Bei einer Geschwindigkeit vonsieben Seemeilen pro Stunde hatte Ihreneunköpfige Crew viel Zeit. Eggertsson: Wir arbeiteten in Sechs-Stunden-Schichten mit jeweils vier Leu-ten. Sonst ruhten wir uns aus.SPIEGEL: Weil das Leben an Bord so an-strengend war?Eggertsson: Ja. Als wir um Südgrönlandsegelten, waren wir auf einmal im Pack-eis gefangen. Es war stockfinstere Nachtund eine starke Strömung machte uns zuschaffen. Nur mit Glück sind wir nachzehn Stunden herausgekommen.

SPIEGEL: Was halten Sie als Schiffsbauervon der Bootskonstruktion? Eggertsson: Es ist schon phantastisch,wie seetüchtig die Schiffe waren.SPIEGEL: Aber ohne ein modernes Be-gleitboot wollten Sie die Atlantiküber-querung doch nicht wagen?Eggertsson: Ich wäre auch allein gese-gelt, aber dafür bekam ich keine Ge-nehmigung.SPIEGEL: Konnten Sie die „Islendingur“,in die Sie 20 Monate Arbeit gesteckt ha-ben, bei Lloyds in London versichern?Eggertsson: Ohne Probleme. Die Versi-cherungssumme beträgt 70 Millionen is-ländische Kronen (1,9 Millionen Mark).SPIEGEL: Was bereitete Ihr Smutje zu?Eggertsson: Vor allem Fisch – geräu-chert, gepökelt, getrocknet. SPIEGEL: Und dazu nach alter TraditionUnmengen von Bier?Eggertsson: Leider mangelte es an Platz.SPIEGEL: Stattdessen tranken Sie isländi-schen Schnaps?Eggertsson: Das kann man wohl sagen.

Interview: Reinhard Krumm

„Im Packeis gefangen“Kapitän Gunnar Marel Eggertsson über seine geglückte Atlantik-

überquerung und das Leben an Bord eines Wikingerschiffs

Kapitän Eggertsson (r.), Besatzung auf der „Islendingur“: „Ich wäre auch allein gesegelt“

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an die Wolga und sah den Wikingern beider Arbeit zu.

„Ihre Schwerter sind platt und mit Blut-rinnen versehen“, erzählt der Araber, jederBewohner sei „vom Fingernagel bis zumHals mit Tätowierungen dunkelgrün ge-färbt“.

Zugleich liefert Ibn Fadlan eine detail-lierte Beschreibung der Affektstruktur derRus, die er die „schmutzigsten GeschöpfeGottes“ nennt: „Weder schämen sie sichbeim Stuhlgang und Harnen, noch waschensie sich nach der Befleckung durch Sa-menerguss, noch waschen sie ihre Händenach dem Essen.“

Auch einen Einblick in die Sexualmanie-ren des nordischen Volkes erlauben seineSchilderungen:

„Jeder von ihnen hat eine Ruhebank,worauf er sitzt, und bei ihnen sind die fürdie Handelsleute bestimmten schönenjungen Sklavenmädchen anwesend, under wohnt seinem Sklavenmädchen bei,während sein Genosse zuschaut. (Es ge-schieht) auch, dass ein Kaufmann, umein Mädchen bei einem von ihnen zu kau-fen, zu ihm in sein Haus eintritt, findet,dass er sich gerade mit ihr begattet, undnicht eher von ihr ablässt, bis er seineAbsicht erfüllt hat.“

Ähnliche Berichte liegen von Klerikernaus dem Westen vor. „Schamlosen und ge-setzlosen Verkehr“ betrieben die Wikin-ger mit ihren Frauen, heißt es in einer 1020verfassten Chronik, „diese Menschen ge-ben sich unverschämt den Ausschweifun-gen hin, leben in Gemeinschaft mit meh-reren Frauen.“

* Nachbau eines Wikinger-Langschiffs aus Haithabu imdeutschen Pavillon.

Den Isländern, die um1000 zum Christentumwechselten, versüßte mandie Konversion mit Sonder-gesetzen. So wurde ihnenweiterhin das Recht zuge-standen, ungewollte Kinderauszusetzen. Taufen fandenim warmen Wasser vonGeysiren statt.

Langsam kehrte im zer-zausten Europa Ruhe ein.Bereits 911 war Fürst Rollomit einem Lehen in derNormandie gezähmt wor-den. Die Gauner mutiertennun zu Gewerbetreiben-den. Die Dänen holten Salzaus dem Frankenreich. DieNorweger dealten mit eng-lischem Zinn oder Walross-zähnen aus Lappland.

Die Schiffstypen ändertensich. Dickbauchige „Kaup-skips“ und Kutter („skuta“)verkehrten zwischen denKontoren Nowgorod, Dub-lin, Reykjavík und London.

Der größte bislang aufgefundene Wikinger-Frachter konnte 38 Tonnen Ladung fassen.

Auch in Grönland, Rohstoffquelle fürLebertran, Walöl und Elfenbein, brummtedas Geschäft. Rund 4000 Menschen lebtenin Brattahlid. Erst vor wenigen Monatenhat ein dänisches Team in der Siedlungneue Gehöfte entdeckt. Zwischen denMauerstümpfen lagen noch die Holztüren.

Dieser Ort diente schließlich als Start-rampe in die Neue Welt. Wie weit die Kon-quistadoren dort in den Süden vorstießen,ist bis heute unbekannt. In den Chronikenheißt es: „Es kam kein Winterfrost, unddas Gras welkte nur wenig.“

Auch ein mysteriöser Flecken namens„Hop“ wird erwähnt. Páll Bergthorsson,ein isländischer Meteorologe, ist überzeugt,es handele sich bei diesem Ort um „denHafen von New York“.

Fieberhaft suchen die Amerikaner nunnach weiteren Spuren der Wikinger. Derbislang südlichste Fund, eine um 1070 ge-prägte Silbermünze, kam im US-Bundes-staat Maine zum Vorschein – 600 Kilome-ter nördlich von New York.

Dort, im vermeintlichen Hop, wird am 5. Oktober, unter dem strengen Blick derFreiheitsstatue, der rotbärtige KapitänEggertsson mit seiner klobigen Schiffs-Replik einlaufen.

Hillary Clinton hat den wackeren Islän-der bereits willkommen geheißen. DieSkandinavier seien „große Entdecker“ ge-wesen, meint sie. „Wie die USA“ hättendie Wikinger „neue Ideen“ in die Welt ge-tragen; ihre Schiffe hätten „Menschen undOrte verbunden“.

Ein gewagter Vergleich.Manfred Ertel, Johannes Saltzwedel,

Matthias Schulz

Auch die Archäologie kann inzwischenzumindest Indizien beisteuern: Im engli-schen Repton – dort überwinterte im Jah-re 873 ein dänisches Heerlager – wurdenKnochen entdeckt. Die Untersuchung derSkelette ergab, dass in der Militärbasis 20Prozent Frauen lebten. Mit hoher Wahr-scheinlichkeit handelt es sich um Angel-sächsinnen, die zum Liebesdienst gezwun-gen wurden.

Diesen Sündenpfuhl trocken zu legen gelang nur langsam. 965 ließ sich der Dä-nenkönig Harald Blauzahn taufen. Dochnoch 100 Jahre später dröhnte ein Missionar,immer noch spritze das Blut auf den Göt-zenbildern der Freyja. In den heidnischenTempeln erklängen „obszöne Lieder“.

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US-Präsidentengattin Hillary Clinton„Stolz auf die nordischen Wurzeln“

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Wikingerschiff auf der Expo*: Der größte Frachter konnte 38 Tonnen Ladung fassen

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die Rede und einem Weinrebenland („Vin-land“) jenseits des Ozeans, dessen Wie-sentau von unermeßlicher Süße sei.

Derlei Legenden spiegeln historischeTatsachen wider. Archäologen gehen da-von aus, daß die Wikinger mit den ameri-kanischen Ureinwohnern ausgedehntenHandel trieben. Der Kontakt zwischen denKontinenten, sagt der kanadische Archäo-loge Robert McGhee, sei sogar „noch en-ger gewesen, als in den historischen Quel-len angegeben“.

Die raumgreifende Expansion startetevon Grönland aus. Um 985 nach Christushatten Nordmänner die Frostinsel entdecktund zügig besiedelt. Rund 3000 Menschenlebten in zwei Zentralsiedlungen. In sei-ner Hochphase besaß Grönland zwei Klö-ster und 17 Kirchen. Häuptlingssitz warBrattahlid.

In dieser Enklave der Christenheit wuchsLeif Eriksson, Sohn eines Totschlägers, auf,wie die um 1200 verfaßte Grönländersagaberichtet. Wohl im Jahr 999 nach Christuswagte der junge Recke mit 35 Mann dieFahrt zum anderen Ufer.

Wer in die Annalen eingehen will,muß bisweilen aufs Klo verzich-ten: 87 Tage lang segelte der US-

Abenteurer Hodding Carter, 35, an Borddes nachgebauten Wikingerschiffs „Snorri“durch die Labradorsee. „Wir wollen die le-gendäre Reise von Leif Eriksson wieder-holen“, hatte der Schwarmgeist schon imletzten Jahr getönt. Doch auf halberStrecke brach das Ruder.

Carter, von Beruf Schriftsteller, bliebhartnäckig. In diesem Sommer ging dieMannschaft in Nuuk (Grönland) erneut anden Start. Vorbei an Robbenschwärmenund Eisbären glitt die „Snorri“ durch dieFluten. Bei Windstille wurde gerudert,abends kaute man Dörrfleisch.

Vorletzten Dienstag, nach 1800 Seemei-len Askese, lief die Crew endlich in derSiedlung L’Anse aux Meadows ein (sieheGrafik), dort, wo etwa im Jahr 1000 nachChristus Wikinger einst eine Ansammlungvon acht Häusern errichtet hatten. 700Schulkinder jubelten den an Land waten-den Hasardeuren zu und reichten ihnenBeeren und Fladenbrot.

Ein dunkles Kapitel derWeltgeschichte haben die„Snorri“-Pioniere da auf-geschlagen. Seit Jahrenspekulieren die Archäolo-gen über die Expansion derWikinger Richtung NeueWelt. Noch 1992 äußerteder französische ForscherRégis Boyer prinzipielleZweifel: L’Anse aux Mea-dows könne auch von Eski-mos errichtet worden sein.

Mittlerweile sind dieSkeptiker auf dem Rück-zug. Grabungen in Grön-land und Kanada lassenkaum Zweifel daran, daßdie Wikinger am Beginndes Millenniums in eineeisige Terra incognita vor-drangen und sich 500 Jah-re vor Christoph Kolum-bus anschickten, Indianerübers Ohr zu hauen.

Sagenhaftes wird inChroniken über die frü-hen Kolonisten vermeldet.„Einfüßler“ sollen sie ge-sichtet haben. Von einemtosenden „Wurmsee“ ist

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Wissenschaft

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Wiesentau voller SüßeNeues von den Nordmannen: Die Wikinger navigierten mit

Hilfe von Sonnenkompassen und stießen vor 1000 Jahren bis in die Gegend von New York vor.

Wikingerschiff-Nachbau „Snorri“: Vergessene Heldentaten

R.

KAYE

Page 21: Archäologie - Der Siegeszug der Wikinger

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Jenseits des Ozeans, an der Küste vonBaffin Island, machte sich vorerst Enttäu-schung breit. „Helluland“, das Land derSteine, nannten die Entdecker das Ödge-biet. Von dort segelten sie an „Markland“(Labrador) vorbei bis nach „Vinland“ (Neu-fundland). Um 1001 erkundet Leifs BruderThorvald erneut das ferne Gestade und trifftauf Ureinwohner. Es kommt zu blutigenKämpfen.Thorvald trifft ein tödlicher Pfeil.

Nach der Rückkehr wagen 150 Frauenund Männer auf drei Schiffen, bepackt mitVieh und Hausrat, erneut die Überfahrt. ImJahr 1010 querte laut Quellen Leifs undThorvalds Schwester Freydis ein weiteresMal den Atlantik. Dann bricht die schrift-liche Überlieferung ab.

Grabungsfunde zeigen indes, daß dieNordmänner auch weiterhin im Land derRothäute Handel trieben. Zu den spekta-kulärsten Funden gehört eine Silbermünze,die im US-Bundesstaat Maine gefunden wur-de. Sie stammt aus der Zeit des norwegi-schen Königs Olaf des Stillen (1066 bis 1093).

Gleichzeitig erobern die Haudegen auchin Grönland neues Terrain. Stets auf dieschnelle Mark aus, kurven sie bis weit überden Polarkreis hinaus und tauschen denInuits Felle und Walroßzähne ab. Begehrtist das Horn des Narwals. Unter dem Na-men Einhornpulver wird das Zeug in Eu-ropa als Zaubermedikament verkauft.

Bei ihren Polartrips pendelten die Wi-kinger offenbar nach Belieben zwischenden Erdteilen hin und her.Auf Baffin Islandwurde eine kleine Schnitzfigur freigelegt,die eine Kette mit Kreuz um den Hals trägt.Der kanadische Archäologe Peter Schle-dermann stieß auf Ellesmere Island, dortwo Grönland bis fast auf Sichtweite an dieamerikanische Landmasse heranrückt, aufReste von wikingischen Kettenpanzern.

Ein soeben erschienenes Buch des däni-schen Kapitäns Søren Thirslund zeigt, wie

die Wikinger bei ihren Langstreckentörnsdie Orientierung behielten. Die Männerbesaßen Sonnenkompasse, kleine Peil-scheiben, mit denen sie den Horizont ein-teilten und zielsicher navigieren konnten.

Doch wie weit stießen die Barbaren inden Süden vor? Phantasten glauben, daßdie blonden Raffkes bis nach Südamerikamarschierten und die Mayas zum Pyrami-denbau animierten.

Immerhin: Bei Ausgrabungen in L’Anseaux Meadows kamen Speicher und Vor-ratskammern zutage. Die Stätte diente of-fenbar als eine Art Übersee-Terminal. ImEskimoland eingetauschte Ware wurde hiergelagert, ehe die Wikinger sie ins 2500 Ki-lometer entfernte Brattahlid schaukelten.

In den Speichern fanden sich auch dreiNüsse der Art Juglans cinerea. Die Grau-en Walnußbäume, von denen sie stammen,wuchsen etwa bis in Höhe des US-StaatsMaine. Einige astronomische Angaben ausder Grönländersaga deuten auf einen nochsüdlicher liegenden Endpunkt des Wikin-ger-Vormarsches. Demnach erreichte derlegendäre Leif Eriksson den 40. Breiten-grad, 100 Kilometer südlich von New York.

Geblieben ist von alledem nichts. Kläg-lich gerieten die Heldentaten der Skandi-navier in Vergessenheit. Kolumbus strichden Ruhm ein. Als er im Jahr 1492 in derKaribik einlief, ging es mit den Nordländ-lern gerade endgültig bergab. Eine Abküh-lung des Weltklimas hatte Grönland mitEisbergen verrammelt. Im 16. Jahrhundertkollabierte die Kolonie.

Die „Snorri“-Crew um Hodding Carterhat dieses vergessene Kapitel der Ge-schichte nun wiedererweckt und ausRuhmsucht jene Strapazen durchlitten, diesich Nordmannen einst aus Geldgier anta-ten.Von New York bis nach Bagdad kreuz-ten ihre Knorren, gefahren stets mit offe-nem Deck, ohne Klo und Kombüse. ™

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Nördlicher Polarkreis

80º

80º 40º 0º

40º

Grönland

Island

Norwegen

Neufundland(Vinland)

Baffin Island(Helluland)

Nordatlantik

Baffinbai

Labrador(Markland)

60º

Nuuk

Thule

Reykjavik

Brattahlid

Westliche Siedlungs-gebiete der Wikinger

Ostsiedlung

Westsiedlung

EuropäischesNordmeer

Maine

L’Anse aux Meadows

Handelswege derWikinger

EllesmereIsland

Labrador-

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Segelroute der „Snorri”

Page 22: Archäologie - Der Siegeszug der Wikinger

Mit Computerhilfe rekonstruierte Wikingerköpfe*: Hohe Kindersterblichkeit, Tuberkulose, Graupensuppe und viel Regen

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208 DER SPIEGEL 41/1994

A r c h ä o l o g i e

BLITZKRIEG IM KUTTERWaren die Wikinger nichts als primitive mordsengende Piraten? Der Mythos bröckelt. Neue Untersuchungenbeschreiben die nordischen Seefahrer als geldgierige Kaufleute in einem weltumspannendenHandelsnetz. Wikinger gründeten das russische Reich und transportierten Bernstein bis nach Bagdad.

ine altisländische Saga berichtetvon einem Händler, der beim Kas-E sensturz von seinem Feind über-

rascht wird.„Sieben, acht, neun“, zählt der Raff-

ke die Münzen, da saust das Schwertdes Widersachers nieder. Der Kopf desKaufmanns kollert zu Boden – undquäkt „zehn“.

Regis Boyer, Professor für altnordi-sche Sprachen an der Pariser Sorbonne,hält die Szene für symptomatisch. Geld-gierige Krämer, Schacherer und Fern-händler seien die Wikinger gewesen.

* Fünf Jahre alter Junge, 50 Jahre alte Frau, 50Jahre alter Mann; aus dem Jorvik Viking Centre inYorkshire.

„Fesjukr“ (altnordisch für geldkrank) –dieses Attribut beschreibe das legendä-re Seefahrervolk am besten.

Vom Klischee des metsaufendenHaudegens bleibt in Boyers Untersu-chung wenig übrig. Nie trugen die Wi-kinger gehörnte Helme, nie fuhren siemit ihren schlanken (aber nicht hoch-seetauglichen) Drachenbooten über die

Gnesdowo

Bagdad

IstanbulMiklagard

Jerusalem

SevillaLissabon

Njörva-sund

Hauptsiedlungsgebiete

SERKLAND

HastingsDublin

LindisfarneHaithabu

Birka

Schwarzes Meer

Kaspisches Meer

Wollin

Riga

Grobin

Mainz

Reykjavik

Brattahlid

Mittelmeer

AtlantikParis

Tours

Alt LadogaAldeigjuborg

NowgorodHolmgard

NeufundlandVinland

LabradorMarkland

BaffininselHelluland

Grönland

LandroutenFlußrouten

KiewKoenugard

AralseeItil

Seerouten

Kaupang

Nordisches Eismeer

Chwaresm

Kaufleute aufvier Kontinenten

Siedlungen undHandelswege der

Wikinger

13101230

126100 bis 137

204306

410300 bis 478

820

10 Hühner1 kg Getreide/Messer

ZaumzeugMantel

SchweinSchwert

KuhSklavinSklave

HelmPferd

Kettenhemd

Preise von Warenin Europa in der

Wikingerzeit

Angaben in Gramm Silber

Page 23: Archäologie - Der Siegeszug der Wikinger

bestimmten den Alltag der verwegenen Genossen

Wikinger auf Kriegsfahrt*Manchmal bezogen die Rauhbeine Prügel

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209DER SPIEGEL 41/1994

Ozeane. Höchstens fünf Prozent betätig-ten sich als Piraten**.

Auch Harm Paulsen vom HaithabuMuseum in Schleswig hält eine Revisionder Wikinger-Legenden für überfällig:„Eine randalierende Minderheit“, sagter, „prägte unser Bild von den Wikin-gern.“

Schuld an der Geschichtsklitterungsind christliche Chronisten. 793 nachChristus tauchten die Nordmannen jähaus dem geschichtlichen Dunkel auf.Vom norwegischen Bergen aus war einTrupp in zwei Tagen nach England gese-gelt und hatte die Abtei Lindisfarne abge-fackelt. Weitere Angriffe, vornehmlichauf englische Klöster, folgten.

„Rohe, vollkommen gottlose, verwe-gene Gestalten“, lamentierte ein irischerSchreiber, hätten den heiligen Ort tyran-nisiert. Die Angriffe, meldete der AngloSaxon Chronicle, ein zeitgenössischesGeschichtsbuch, „waren von ungeheurenBlitzen begleitet, und in den Lüften sahman entsetzliche Drachen“.

Solche Negativ-Schlagzeilen prägtensich tief ins kollektive Gedächtnis der Eu-ropäer ein. Daß die „blonden Heiden“und Siriusanbeter auch dickbäuchigeHandelsschiffe („Knorren“) hervor-brachten und im 9. und 10. Jahrhunderteine Art Super-Hanse aufbauten, die vonGrönland bis Taschkent reichte – solcheLeistungen wurden verdrängt.

Nun liefern Forscher immer mehr Ma-terial zur Ehrenrettung. Letzten Monatdiskutierten Experten in Kiel über dieMissionierung Rußlands durch nordischeSiedler. Britische Archäologen schreibenden Skandinaviern in einer neuen Veröf-fentlichung die „Gründung von Städtenund Manufakturzentren“ zu***.

Wie Manager eines internationalenKonzerns organisierten die Wikinger ihreRohstoff- und Warenströme. Durch fei-erliche Eide in Bootsgemeinschaften(„felag“) und Gilden („gildi“) zusam-mengeschweißt, holten sie Silberbarren

aus Byzanz und dirigierten ihre Schiffe bisins Chwaresm-Reich am Aralsee.

Tausende von Kuttern („skuta“) undmassiven Handelsschiffen („kaupskip“)verkehrten zwischen den wikingischenKontoren in Kiew, Nowgorod, Dublin,London, Reykjavik oder Ralswiek aufRügen (siehe Grafik Seite 208). DieClaims der Wikinger-Stämme auf denSeerouten waren exakt abgesteckt:� Die Schweden ruderten durch die

russischen Flüsse und trieben Luxus-handel mit dem Abassiden-Kalifatund Byzanz.

� Die Norweger dealten imnordeuropäischen Raum.Sie holten Walroßzähne undElchgeweihe aus Lappland,Speckstein von den Shet-land-Inseln oder Zinn ausEngland.

� Die Dänen kontrolliertendie Handelsgeschäfte mitdem Karolingerreich: Salzaus Frankreich, rheinischeSchwerter oder Quecksilberaus dem maurischen Spa-nien.Wie umsichtig die Waren-

ströme gesteuert wurden,zeigt der „ContainerterminalHaithabu“ (Paulsen). VonOsten kommende Schiffe segel-ten in die 40 Kilometer landein-wärts ragende Schlei hinein. Anderen Ende, in Haithabu, wur-den die Waren auf Pferdewagenumgeladen und 16 Kilometerüber Land zur Treene transpor-tiert. Dieser schiffbare Fluß

*** James Graham-Campbell (Hrsg.):„Weltatlas der alten Kulturen – DieWikinger“. Christian Verlag, München;240 Seiten; 92 Mark.

** Regis Boyer: „Die Wikinger“. Ver-lag Klett-Cotta, Stuttgart; 410 Seiten;78 Mark.

* Darstellung aus dem 11. Jahrhun-dert.

mündet über die Eider in die Nordsee.Der mühselige Seeweg um Jütland (Rei-sezeit: drei Wochen) entfiel.

Der Warenumschlag in der1500-Mann-Siedlung muß gigantisch ge-wesen sein. Gewaltige Hafenanlagenwurden ausgegraben. Hauptware warenSklaven, irische Nonnen etwa oder friesi-sche Bauernbuben, die von Kopfjägernund Piratenbanden bei ihren Überfällen(„strandhögg“) eingefangen und in ferneLänder, bis ins Kalifat, verkauft wurden.

Alles hatte in dieser multinationa-len Wirtschaftsgemeinschaft seinen be-

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Wikinger auf Expeditionsfahrt: Handel von Grönland bis Taschkent

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Silberschatz aus der WikingerzeitWar das tollkühne Seefahrervolk geldkrank?

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stimmbaren Preis. Alsinternational kompati-ble Währung diente dasSilber (siehe GrafikSeite 208). Entschei-dend war das Gewicht.Bei Wechselgeldpro-blemen wurde dasEdelmetall, ob Münzeoder Armreif, in pas-sende Stücke zerteilt(„Hacksilber“).

Haithabu wuchsschnell zur Boomtownheran. „Die reichsteStadt des Nordens“,staunte der maurischeGesandte At-Tartu-schi, als er die Siedlungim Jahr 965 besuchte.Und er fügte hinzu:„Nie habe ich Menschen so fürchterlichsingen hören wie an diesem Ort.“

Lebenskünstler waren die Wikingernicht. Knäckebrot aus Baumrinde zähltezu ihrer Leibspeise. Die Bauern schliefenin langgestrecken Holzhäusern auf har-ten Holzbänken. Schränke und Bettenwaren unbekannt.

Noch primitiver waren die „Gruben-häuser“, winzige Buden, etwa einen Me-ter tief in die Erde eingelassen. Der Kie-ler Archäologe Dietrich Meier hat Dut-zende solcher Souterrain-Katen bei Ek-kernförde freigelegt. Waren es Werkstät-ten oder Hütten der armen Leute?

Zumindest die Physiognomie der Son-nenanbeter (Symbol: das Hakenkreuz)ist inzwischen bekannt. Im Jorvik VikingCentre in Yorkshire wurden letzten Mo-nat sieben mit Hilfe forensischer Compu-tertechniken nachgebildete Wikinger-Schädel vorgestellt. Die Köpfe habenderbe Gesichter und schlechte Zähne.

Die finsteren Mienen passen ins Bild.Düster und mitleidlos ist die Welt der Ed-

da, noch düsterer klangen die Liederder altnordischen Sänger, der Skalden.Nie wurde die Schönheit einer Blumebesungen, nie die Poesie der Liebe.

Hohe Kindersterblichkeit, Tuberku-lose, Graupensuppe und viel Regenbestimmten den Alltag der Wikinger.Selbst Thor und Odin, so der Glaube,würden dermaleinst in der Götterdäm-merung „Ragnarrök“ untergehen.

Einzig das Silber versprach ewigenWert. Fetischartig wurde es verehrt.Im Geizen waren die SkandinavierWeltmeister. Angehäufte Reichtümerwurden nicht selten verscharrt. Auchin der Juristerei regierten „Marki“ und„Pennigr“. Strafen für schwere Körper-

verletzung wurden nach dem Gewicht derangesplitterten Knochen der Opfer be-messen. Wer klaute, zahlte mit dem Le-ben, er wurde gesteinigt und in einSchlammloch versenkt.

Kein Wunder, daß die ausgeprägte„Gier nach Silber“ (Boyer) die Nordman-nen auch zu Raubzügen anspornte. Nachdem Tod Karls des Großen, anno 814,herrschte Chaos im Frankenreich.„Schutzlos wie ein Selbstbedienungsla-den lag Europa da“, sagt Paulsen. DieWikinger schlugen zu.

Die Überfälle liefen alle nach dem glei-chen Plan ab: heimliche Landung, Pferdeabladen, Kettenhemd überziehen, mitSchwert und Handaxt in dieStadt reiten, Silber undSchmuck abgreifen, zurückzum Boot und weg. „Die Wi-kinger“, sagt Paulsen, „habenden Blitzkrieg erfunden.“

Im Jahre 843 brannteNantes nieder, 844 ging Sevil-la in Flammen auf. Der Frei-beuter Ragnarr Lodenhoseplünderte 845 Paris und Ham-burg. 860 wurde Konstantino-pel angegriffen, 881, bei ei-nem Beutezug den Rhein ent-lang, überfielen die Wikinger-Banden Köln, Mainz, Aachenund Worms.

Offene Feldschlachten ver-mieden die Freibeuter. Selbstgroße Flotten brachten kaum1000 Soldaten an Land. Wosich Widerstand regte, etwain Toledo, bezogen die Rauh-beine schnell Prügel. Der sa-genumwobene Pirat Björn Ei-senseite wurde nach einemBeutezug nach Pisa von mau-rischen Schiffen mit „griechi-schem Feuer“ beschossen, ei-ner Art frühzeitlichem Na-palm.

Auch das Karolingerreichrüstete zur Gegenwehr. 870

holten die Franken zueinem Präventivschlaggegen Haithabu aus.Normannenfürst Rollowurde 911 mit einemLehen in der Norman-die gezähmt.

Um 900 nach Chri-stus gehen die Raubzü-ge stark zurück. Nunschwärmten die Wikin-ger als Kolonialistenaus. In Südengland ent-stand das wikingischeKönigreich Danelag.Im Jahr 874 entdecktendie rastlosen SeefahrerIsland, 986 Grönland;dort gründeten sierasch blühende Han-delsplätze.

Die Knorren schafften Robbentranund Walroß-Elfenbein aufs Festland.Besonders begehrt waren Eisbärfelleund Jagdfalken, die nach Arabien ver-kauft wurden.

Den Törn Reykjavik–Kaupang (Süd-schweden) bewältigten die Matrosen inzwölf Tagen. Nur Suppe, Fisch undSalzbutter („Smjör“) essend, manö-vrierten die Kauffahrer ihre bauchigenLastschiffe über die haushohen Ozean-wellen.

Zur Legende wurde die Fahrt vonLeif Eriksson. Im Jahr 999 stach derGrönländer in See und ruderte mit sei-ner Mannschaft durch eisige Fluten

Heimliche Landung,Schmuck abgreifen – und

nichts wie weg

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Ex-Gesundheitsminister Geißler, Süssmuth: „Pflichtwidriges Hoheitshandeln“

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westwärts. Nach rund 400 Kilometernkam Land in Sicht – die Baffin-Insel inKanada.

Isländische Quellen berichten übermehrere Wikingerexpeditionen nach„Helluland“ (Baffin-Insel), „Mark-land“ (Labrador) und „Vinland“(Neufundland). Dort trafen die nordi-schen Silbergangster, dem Schrifttumzufolge, auf „Skrälingar“ (Schmächti-ge, gemeint sind Indianer) und merk-würdige „weiße Männer“, womit wahr-scheinlich die in Schneeziegenfelle ge-kleideten Naskaupi-Indianer bezeich-net waren.

Klares Indiz für die Wikinger-Prä-senz auf amerikanischem Festland istdie Siedlung L’Anse aux Meadows aufNeufundland. Womöglich drangen dieNordmänner noch weiter vor. Einemalten Expeditionsbericht zufolge brach-ten Rudersklaven nach einem Erkun-dungsgang Weinreben an Bord. DieseFrucht wuchs seinerzeit an den Ufer-hängen des Sankt-Lorenz-Stroms.

Soviel nautische Tollkühnheit stehteinmalig in der Geschichte da. DerKompaß war den Wikingern unbe-kannt, die Sternennavigation (wegendes meist bedeckten Himmels) kaummöglich. Bei Windstille wurde auf denÜberfahrten 16 Stunden gerudert, beiSturm blähten sich die Rechtecksegel.

„Enorm leidensfähig“ nennt Paulsendie Nordmänner. Doch was trieb dieverwegenen Matrosen? Schiere Giernach Gold und Silber? SkandinavischeRunensteine legen den Verdacht nahe.Unzählige dieser Gedenktafeln kündenvon den „Reichtümern“, die ein Ormi-ga in Serkland oder ein Horsa in Grie-chenland abstaubte.

Auch der arabische Diplomat IbnFadlan mokierte sich über die unersätt-liche Habgier der Nordmänner. „So-bald ein Mann 10 000 Silbermünzenangehäuft hat“, so sein Bericht,„macht er seiner Frau einen Halsring;hat er 20 000, macht er zwei; und sogeht es weiter.“

Die Schweden konnten solche Prot-zereien besonders weit treiben. IhreHandelsrouten durch Nordrußland –damals eine kaum bevölkerte, unweg-same Sumpfwelt – gewährten ihnenZugriff auf die schier unerschöpflichenSilberminen des Orients.

Doch die Touren in das Edelmetall-Dorado waren eine mühselige Placke-rei. Der byzantinische Kaiser Konstan-tin Porphyrogennetos beschreibt, wiedie Fernhändler nach der Schnee-schmelze im Juni mit Bernstein, Pelzenund Sklaven den Dnjepr herunterfuh-ren und an Wasserhindernissen ihreBoote auf dem Rücken trugen. AlleStromschnellen des Russen-Flusses tra-gen altnordische Namen: Essupi (derVerschlinger), Gelandri (der Gellende)oder Strukun (der Rennende).

Die gefahrvollen Reisen wurden im-mer besser organisiert. Wikinger, diesich in Nowgorod, Smolensk und Kiewansiedelten, übernahmen wahrschein-lich den Landtransport der Schiffe. Dieansässigen Slawen nannten die nordi-schen Fernhändler „Rus“ – „die Rot-haarigen“.

„Hochgewachsen wie Dattelbäume,blond und von rosiger Gesichtsfarbe“,so werden die Ur-Russen in einem ara-bischen Dokument beschrieben. We-gen ihrer hünenhaften Gestalt holtendie oströmischen Kaiser sie als Leib-garden nach Byzanz.

Die Ost-Wikinger lebten vor allemvom Menschenfang. Planmäßig gingensie in den russischen Weiten auf Skla-venjagd und reichten die Beute anFernhändler weiter.

922 besuchte der Araber Ibn Fadlaneinen Wikinger-Clan an der Wolga.„Sie sind die schmutzigsten Geschöp-fe Gottes“, berichtete angeekelt dernoble Orientale, „sie schämen sich

nicht beim Stuhlgang und beim Har-nen.“

Als besonders empörend empfandder Araber den Wikinger-Brauch, „diefür die Handelsleute bestimmten jun-gen Sklavenmädchen“ vor dem Ver-kauf selber zu benutzen. Diese Frauenwürden ständig „begattet“.

Skandinavier als Staatsgründer Ruß-lands? Unter den kommunistischenMachthabern war das Thema tabu.Neue Grabungsbefunde lassen jedochkaum Zweifel an der These: An mitt-lerweile über 50 Orten in Zentralruß-land stießen die Archäologen aufÜberreste wikingischer Handelskon-tore. Die Dynastie der Kiew-Herr-scher läßt sich lückenlos ins 9. Jahr-hundert auf den Wikinger Rorik zu-rückführen. �

B l u t e r s k a n d a l

Wundervon BonnDer Untersuchungsausschuß zumAids-Bluter-Skandal sprichtPolitiker schuldig: FrühzeitigeWarnungen wurden überhört.

er Seuchenreferent im Ministeriumsei krank gewesen und habe ihmD deshalb nicht Bescheid gesagt.

Mit solch lausiger Ausrede entschul-digte sich Heiner Geißler, damals amtie-render Gesundheitsminister, im Jahre1985 bei Nobelpreisträger Manfred Ei-gen und dem Leiter des Göttinger Pri-

matenzentrums, Gerhard Hunsmann.Über einen Zeitraum von vier Monatenhatten die Wissenschaftler dem CDU-Minister mehrmals angeboten, bis aufweiteres flächendeckend in DeutschlandBlut auf Aids zu testen. Die Offerte bliebunbeachtet.

Knapp ein Jahrzehnt später, vor denMitgliedern des Bundestagsausschusseszum Aids-Bluter-Skandal, erklärte derEx-Minister, er sei „zu jeder Zeit voll in-formiert“ gewesen – der Jurist will sichkeine Verletzung seiner „aufsichtsrecht-lichen Nachprüfungspflichten“ als Mini-ster nachsagen lassen.

Die Abgeordneten im Ausschuß glau-ben das nicht mehr. In einem mehrerehundert Seiten langen Bericht, der in die-sen Tagen fertiggestellt wird, sprechensie von „pflichtwidrigem Hoheitshan-

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