archithese 6.06 - Zeitgenössische Utopien / Utopies contemporaines

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archithese Kurze Geschichte der architektonischen Utopie Vermeintlich Neues – wiederkehrende Bilder Rem Koolhaas blickt auf die Utopie zurück Zerstörung als Leitbild unserer Zeit Didier Faustino und der wunde Punkt der Architektur Atelier van Lieshout: Slave City Utopie und Stadt an der Architekturbiennale Venedig UN Studio: Mediathek in New Orleans Escape Espace – die privatisierte Utopie Home sweet home, the inhabitable utopia Welcome to Babylon:don Morphosis: Micro Space – Global Time Georg Scheel Wetzel Blindeninstitut, Regensburg Liechti Graf Zumsteg Begegnungszentrum, Windisch Beat Rothen Grafisches Druckzentrum, Sulgen 6.2006 Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur Revue thématique d’architecture Zeitgenössische Utopien Utopies contemporaines

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architheseKurze Geschichte der architektonischen Utopie

Vermeintlich Neues – wiederkehrende Bilder

Rem Koolhaas blickt auf die Utopie zurück

Zerstörung als Leitbild unserer Zeit

Didier Faustino und der wunde Punkt der Architektur

Atelier van Lieshout: Slave City

Utopie und Stadt an der Architekturbiennale Venedig

UN Studio: Mediathek in New Orleans

Escape Espace – die privatisierte Utopie

Home sweet home, the inhabitable utopia

Welcome to Babylon:don

Morphosis: Micro Space – Global Time

Georg Scheel Wetzel Blindeninstitut, Regensburg

Liechti Graf Zumsteg Begegnungszentrum, Windisch

Beat Rothen Grafisches Druckzentrum, Sulgen

6.2006

Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur

Revue thématique d’architecture

Zeitgenössische UtopienUtopies contemporaines

archithese 6.2006

Novem

ber/Dezem

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Preis: 28 CHF/18 Euro

Zeitgenössische Utopien – Utopies contemporaines

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2 archithese 6.2006

E D I T O R I A L

Zeitgenössische Utopien

Das «Ende der Utopie» ist in den letzten Jahren immer wieder verkündet worden:

Im Zuge von Globalisierung und Deregulierung der Märkte sei der architektonische

Diskurs des sozialen Fortschritts zum Erliegen gekommen. Damit habe auch die

Utopie – die soziale und politische Missstände anprangert, indem sie alternative

Lebensformen aufzeigt – ihren Sinn verloren.

In der Tat zeichnen sich die meisten Projekte, die heute mit dem Attribut «uto-

pisch» versehen werden, durch eine bemerkenswerte Zahmheit aus. Viele sind

visionär allein in dem Sinn, dass ihre Verwirklichung zukünftige Technologien vo -

raussetzt: Damit sind sie zwar wie die Utopie ausserhalb der Realität anzusiedeln,

aber ihnen fehlt jene subversive Komponente, die utopische Entwürfe seit jeher

auszeichnet. Im Gegensatz zur frühen Moderne, die mit baulichen Mitteln für eine

bessere Welt kämpfte, oder zur Architektur der Sechziger- und frühen Sieb -

zigerjahre, die soziales Engagement mit bissiger Kritik an den herrschenden

Zuständen verband, scheint sich die heutige Architektur in formalen Spielen,

Trends und Moden zu erschöpfen.

Dieses Heft untersucht, inwiefern diese pessimistische Einschätzung wirklich

stimmt. In ihrem Rückblick auf die Geschichte der architektonischen Utopie zeigt

Annett Zinsmeister die inhaltlichen und formalen Vorbilder für manches vermeint-

lich neue Projekt. Rem Koolhaas betrachtet die Utopien des 20. Jahrhunderts und

betont, zwischen Faszination und Abscheu schwankend, deren Verquickung mit

totalitaristischen politischen Systemen. Gian Piero Frassinelli, ehemaliges Mitglied

von Superstudio, vergleicht die düsteren Utopien der Florentiner Gruppe mit der

heutigen Realität, die er als noch viel düsterer einschätzt – und kommt zu dem

Schluss, dass jene Utopien kläglich versagt hätten. Philip Ursprung stellt mit Didier

Faustino einen jungen Architekten vor, der – anstatt von einer utopischen Welt

ausserhalb der modernen Realität zu träumen – die heutige Architektur einer har-

ten Kritik unterzieht. Die Horrorvision Slave City von Joep van Lieshout führt das

Streben nach Effizienz und Gewinn ad absurdum.

Und die Utopie? Vielleicht gibt es sie doch. Bei näherem Hinsehen zeichnen sich

zwei unterschiedliche Tendenzen ab. Zum einen ist die Utopie bescheidener ge-

worden: Anstatt Tabula rasa für die Errichtung einer neuen Welt machen zu wol-

len, nimmt sie die Realität als gegeben an und konzentriert sich auf kleine, gezielte

Eingriffe – und schafft es paradoxerweise gerade dank diesem Pragmatismus,

etwas zu verändern. Ilka und Andreas Ruby haben auf der diesjährigen Architek-

turbiennale in Venedig verschiedene solcher «Pragmatopien» vorgefunden. Ein

weiteres Beispiel stellt die Mediathek dar, die UN Studio für das vom Hurrikan

Katrina heimgesuchte New Orleans planen, oder auch die Studie von Nigel Coates,

der das heutige London als riesiges multikulturelles Experiment begreift.

Zum anderen kann eine «Privatisierung der Utopie» festgestellt werden. Tibor

Joanelly erklärt die Utopie der Achtundsechziger, die ein Leben in Freiheit und ein

Auskommen ohne Umweltzerstörung suchte, für gescheitert und setzt ihr den heu-

tigen Rückzug des Individuums in private Welten entgegen. Aaron Betsky erläutert

anhand aktueller Beispiele, wie sich die utopische Komponente des «home, sweet

home» in auf den ersten Blick unscheinbaren Einfamilienhäusern manifestieren

kann.

Redaktion

Hans Hollein:Projekt für einenWolkenkratzer inChicago, 1958

Archizoom: Utopiadella qualità, 1972

(beide Bilder aus:Dominique Rouillard,Superarchitecture:le futur de l'architec-ture, 1950–1970,Paris 2004, S. 348–349)

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Text: Annett Zinsmeister

Utopien sind ein tradierter Bestandteil unserer Kultur. Bereits

in der Antike wurden Gegenwelten ersonnen, die satirisch

(Aristophanes) oder philosophisch (Platon) Kritik an beste-

henden Verhältnissen formulierten und bessere Lebens -

modelle in Aussicht stellten. Utopien haben historisch be-

trachtet keinen Ort in der Realität, und der Versuch, Utopien

zu realisieren oder zu verorten, scheiterte mehrfach. Offenbar

lässt sich das Versprechen der besten aller Welten nur jen-

seits der Alltagswelt gefahrlos entfalten: in einer mythischen

Vergangenheit wie dem Goldenen Zeitalter, in einer fiktiven

Zukunft wie dem Tausendjährigen Reich, in Zeitreisen, an

den fantastischen fernen Destinationen von Reiseutopie und

Science Fiction oder in einer künstlichen Parallelwelt wie

dem Cyberspace. Die Dimensionen utopischer Entwürfe rei-

chen von der familiären Gemeinschaft bis hin zu globalen

«Lösungen».

Nach dem sogenannten «Ende der Utopie»1 stand, laut

dem Philosophen Slavoj Zizek, der utopische Denker unter Be-

rufsverbot. Heute erfreut sich der Begriff der Utopie neuer Be-

liebtheit: In der Architektur werden Projekte und Bauten un-

geniert als «reale Utopien» und «ideale Realitäten» ange-

priesen. Als Hinweis dafür, dass das Utopische – wie in

jüngerer Zeit behauptet wird – an Aktualität gewonnen hat,

können sie indes kaum verstanden werden. Ein Rückblick auf

die Geschichte der Utopie, die sich bis ins 20. Jahrhundert auf

ihre antiken Wurzeln berief, gibt Aufschluss über gesell-

schaftsrelevante Zusammenhänge sowie über die Entwick-

lung und Transformation historischer Vorbilder und Topoi –

und zeigt darüber hinaus, dass viele der heute als visionär

bezeichneten Projekte weniger visio när sind als ihre histori-

schen Vorläufer (vgl. «Wiederkehrende Bilder», S. 18–23).

Von Platon zu Thomas Morus

Die griechische Antike ist ein belegter Ausgangspunkt für die

Entwicklung utopischer Raumkonzepte. Grundlage für diese

Denkmodelle war die Kritik an der zeitgenössischen Gesell-

schaft, Politik, Philosophie und Religion. Platons Beschrei-

bungen der sagenhaften Stadt Atlantis im Timaios und im

Kritias sowie seine philosophische Konzeption des idealen

Staates Politeia um 375 vor Christus bilden historisch das

Fundament utopischen Gedankengutes. Auch Reisebe-

schreibungen, Weltraumflüge und technische Fiktionen als

wiederkehrende Themen utopischer Literatur und später der

Science Fiction sind bereits in der Antike zu finden.

In der Neuzeit wurden die Schriften Platons und andere li-

terarische Werke der Antike ins Lateinische übersetzt, dank

der neuen Drucktechnik vervielfältigt und verbreitet und so

den europäischen Gelehrten zugänglich gemacht, die sich zu

den ersten utopischen Erzählungen inspirieren liessen. An-

gesichts einer expansiven Seefahrt wurden zudem ferne Län-

der und Inseln zum kolonialen Raum und Heil versprechen-

den Topos für die Entdeckung und Errichtung vermeintlich

besserer Welten.

«Utopia» ist eine Wortschöpfung des englischen Juristen

Thomas Morus. In seiner 1516 erschienenen gleichnamigen

CONSTRUCTINGUTOPIAKurze Geschichte der architektonischen Utopie Spätestens seit

Platon wird die reale Welt regelmässig mit utopischen Konzepten

konfrontiert. Ob beissende Kritik, affirmativer Zukunftsglaube

oder überbordende Fantasie – die Beweggründe der Utopisten sind

ebenso vielfältig wie die daraus resultierenden Projekte. Es lassen

sich aber auch wiederkehrende Motive erkennen: Ein geschichtlicher

Rückblick zeigt, dass mancher vermeintlich neue Entwurf schon

einmal in ähnlicher Form erdacht worden ist.

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Erzählung entwarf er den Staat Utopia (griech. ou-topos) als

literarisches Szenario einer rational geplanten Stadtland-

schaft auf einer künstlichen Insel. Die quadratische Hauptstadt

Amaurotum (Nebelstadt) ist der Prototyp für weitere 53 Raster -

städte. Dieser streng orthogonale Raumentwurf verkörperte

das Gegenmodell zur mittelalterlichen Stadt mit labyrinthi-

schen Gassen und katastrophalen hygienischen Verhältnis-

sen; Morus kritisierte damit die sozialen, kultu rellen und re-

ligiösen Verhältnisse Englands zu Beginn des 16. Jahrhun-

derts. Mithilfe eines autoritären, rigorosen Kontrollsystems

erzwang Utopia die emanzipatorische Intention einer ge-

rechten Gesellschaft. Dieses vermeintlich ideale Konzept, das

allen Utopien der Neuzeit zugrunde lag, basiert auf Platons

gesellschaftlichem Programm, das im Lauf der Geschichte in

immer neuen Varianten zum Vorschein kam. In Morus’ Er-

zählung erhält der Ort – beziehungsweise der Raum – eine be -

sondere Bedeutung: Im Gegensatz zu Platons ortlosem Denk-

modell erscheint Utopia als szenisch-räumlicher Entwurf.

Die bauliche Gestalt einer idealen Stadt beschäftigte zu

dieser Zeit auch Künstler und Architekten. Viele dieser Ideal-

stadtentwürfe waren allerdings, im Vergleich zu den literari-

schen Konzepten, weniger idealistisch als vielmehr pragma-

tisch konzipiert: Sie basierten meist auf abwehrtechnischen

und hygienischen Raumüberlegungen und waren ästheti-

sche Modelle innovativer Stadt- und Überlebenstechnik

(etwa bei Leonardo da Vinci).

Einige Architekten reflektierten aber auch die gesell-

schaftlichen Dimen sionen eines Idealstadtentwurfes und

trafen Überlegungen hinsichtlich eines sorgenfreien und

friedvollen Zusammen lebens der Menschen, so etwa Leon

Battista Alberti oder auch Filarete, dessen Überlegungen in

Form von Architekturen für die Tugend, das Laster etc. er-

zieherisch Gestalt annahmen. Der französische Architekt

Etienne-Louis Boullée entwickelte im 18. Jahrhundert theo-

retische Architekturprojekte, die – wie schon Filaretes

Entwürfe für die Idealstadt Sforzinda – als mora lische Kon-

struktionen verstanden werden wollten. Diese architecture

parlante – das heisst: mit Botschaften unterlegte Bilder von

Monumentalbauten – sollte das Versprechen einer besseren

Welt verkörpern. Der Kenotaph für Isaac Newton von 1784

war ein fiktives Monument für die Wissenschaft, im Glauben

entworfen, dass eine bessere Welt in der Technik und Wis-

senschaft begründet liege.

Fantastische Satiren und die Sozialutopien

der Industrialisierung

Die Verbindung von Kunst und wissenschaftlichen Errun-

genschaften (beziehungsweise Spekulationen) wurde auf

unterschiedlichste Weise in utopischen und visionären Kon-

zepten wirksam. Im 17. Jahrhundert erfuhr der imaginäre

Start in neue räumliche Dimensionen eine Art Renaissance in

der Literatur. Cyrano de Bergerac entwarf in seinen fantasti-

schen Satiren nach dem Vorbild Aristophanes’ auch Welt-

raumreisen. In Mondstaaten (ca. 1642) inszenierte Bergerac

die Mondlandschaft als einen Park technischer Fiktionen und

setzte schon Jahrhunderte vor der englischen Architekten-

gruppe Archigram ganze Städte in Bewegung. Auch Francis

Bacon entwarf in seiner Erzählung Neu-Atlantis (1626) eine

erstaunliche Fülle zukunftsweisender Konstruktionen wie

Hochhäuser (Turmbauten), Flugzeuge sowie künstliche Tiere

und Menschen.

Die Industrialisierung gab Anlass für eine Vielzahl zu-

nächst euphorischer, dann kritisch-utopischer Konzepte: Au-

tarke Landkommunen, Künstlerkolonien und Einsiedlerhorte

wurden als Gegenwelten zu unwürdigen Lebensbedingun-

gen in rasant wachsenden Städten propagiert. Das Zu-

sammenspiel von Leben und Arbeiten innerhalb einer Ge-

meinschaft galt als lebenswürdige Alternative zur urbanen

«Megamaschine» (Lewis Mumford), die den Menschen im

Produktionsprozess verschlingt und die Verheissung eines

allgemeinen Wohlstands dank Maschinen Lügen straft.

Charles Fourier und Robert Owen waren zu Beginn des

19. Jahrhunderts die bekanntesten Sozialutopisten. Mit dem

Entwurf des Phalanstère verlieh Fourier seinem Konzept

eines idealen, landwirtschaftlich autonomen Gemeinwesens

für 1620 Personen eine kompakte bauliche Gestalt: Der Ent-

wurf eines «Sozialpalastes der Humanität» zitiert formal die

Schlossanlage von Versailles. Fourier suchte Zeit seines Le-

bens einen Financier für die Realisierung dieses Prototypen.

Karl Marx, Friedrich Engels und viele Schriftsteller waren be-

eindruckt von Fouriers und Owens Reformplänen und liessen

sich von diesen Ansätzen auch zu utopischen Erzählungen

inspirieren. So verwoben sich utopische und sozialreforme -

rische Gesellschaftsentwürfe.

Für Marx war der französische Rechtsanwalt Etienne Ca-

bet der Vater des utopischen Kommunismus. Sein utopischer

Roman Reise nach Ikarien (1840) war auch ein Versuch, 500

Freiwillige für die Verwirklichung einer sozialistischen Kom-

mune in Texas zu gewinnen. Sein literarisches Konzept hatte

indes grössere Dimensionen: Cabet verabschiedete sich von

der Idee des idealen Dorfes und entwarf eine gerasterte Ide-

1 Illustration ausThomas Morus’1516 erschienenemBuch Libellus vereaureus nec minussalutaris quamfestivus de optimorepublicae statu,deque nova insulaUtopia(aus: Ruth Eaton,Ideal Cities. Utopia-nism and the(Un)built Environ-ment, London 2002,S. 13)

2 Für eine bessereWelt dank Technikund Wissenschaft:Etienne-LouisBoullées Kenotaphfür Isaac Newton,Querschnitt bei Tagund Nacht, 1784(BibliothèqueNationale de France,Cabinet des Estam-pes, Paris)

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ARBEITENDE KÖRPER

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Didier Faustino und der wunde Punkt der

Architektur Mit seinen Artefakten übt der Fran-

zose Didier Faustino eine radikale Kritik an der

Architektur des Spätkapitalismus. Dabei operiert

er nicht mit utopischen Gegenentwürfen zur

Wirklichkeit, sondern nimmt diese gleichsam beim

Wort: Als Mittel der Kritik seien Utopien untaug-

lich geworden, und gerade jene Architekten,

die einer utopischen oder reaktionären Ideologie

nachhingen, hätten am wenigsten Zugriff auf

die heutige Realität.

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Text: Philip Ursprung

In ihrem Buch Der neue Geist des Kapitalismus untersuchen

Luc Boltanski und Eve Chiapello die Entwicklung der Glo -

balisierung und die Art, wie sich die Kritik dazu verhält. Ver-

glichen mit der Sachlage, wie sie sich gegen Ende der Sechzi-

ger- und zu Beginn der Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts

dargestellt habe, so die Autoren, sei die Situation für uns

heute in ihr Gegenteil verkehrt. Während damals der Kapita-

lismus unter dem Rückgang von Wachstum und Rentabilität

als Folge stetig steigender Löhne litt und die Kritik in ihrem

Zenit stand, stehe der Kapitalismus seit zwanzig Jahren

«in voller Blüte» – dank niedriger Löhne, geringerer Unter-

nehmenssteuern, Deregulierung der Finanzmärkte, Flexibi -

lisierung der Arbeit, Automatisierung, erleichterter multi -

nationaler Expansion. Die Autoren wollen mit ihrem Buch

untersuchen, «weshalb die Kritik auf diese Situation nicht

reagiert hat, wieso sie unfähig war, die laufende Entwicklung

zu begreifen, weshalb sie gegen Ende der Siebzigerjahre

plötzlich von der Bildfläche verschwand und einem Kapi -

talismus, der sich neu formierte, fast zwei Jahrzehnte lang

das Feld überlassen [ . . . ] habe.» Sie wollen wissen, «wie es

kommen konnte, dass sich viele ‹Achtundsechziger› in der

neu entstandenen Gesellschaft in einer Art und Weise wohl

fühlten, dass sie diese sogar verteidigen und diesen Umbau

förderten».1

Unter einer leicht abgewandelten Perspektive können wir

diese kritische Frage auch an die Architektur und ihre Theo-

rie stellen. Denn auch in der Architektur können wir beob-

achten, dass sich die Lage seit 1970 in ihr Gegenteil verkehrt

hat. Einer in den Sechziger- und Siebzigerjahren vergleichs-

weise stagnierenden architektonischen Baupraxis stand eine

blühende Theorie gegenüber – mit Exponenten wie Colin

Rowe, Aldo Rossi, Manfredo Tafuri, Robert Venturi, Peter

Eisenman und Henri Lefevbre. Zwanzig Jahre später ist die

Situation radikal anders: Der Flutwelle eines globalen Bau-

booms, auf deren Schaumkrone eine Handvoll Stararchitekten

für exklusive Kunden baut, steht ein theoretisch-kritisches

Vakuum gegenüber. Wenn die Theorie überhaupt in Erschei-

nung tritt, dann hochgradig personifiziert – in Figuren wie

Peter Eisenman oder Rem Koolhaas. Sie fungiert nicht mehr

als analytisches Instrument der kritischen Spekulation, der

Reflexion und der Konfrontation, sondern als rhetorisches

Instrument der Kontrolle über die jeweils beanspruchten Ter-

ritorien. Und wenn die Kritik sich aus ihren akademischen

Schlupflöchern hervorwagt und sich flüsternd zu Wort mel-

det, dann meistens als «konstruktive Kritik», welche den

Gegenstand ihrer Untersuchung stärken möchte. Die Prota-

gonisten haben Geschichte und Theorie der Architektur ver-

einnahmt. Sie dient ihnen dazu, die eigene Position zu legiti-

mieren, sei es durch die Beschwörung der Götter der Ge-

schichte (Le Corbusier, Ludwig Mies van der Rohe, Giuseppe

Terragni, Andrea Palladio) oder des Diskurses (Jean-Paul

Sartre, Michel Foucault, Jacques Derrida, Gilles Deleuze).

Ebenso wie die von Boltanski und Chiapello gerügten

Kritiker nehmen die Protagonisten der Architektur die ver -

änderte politische und gesellschaftliche Lage entweder

schockiert und fasziniert, resigniert oder blasiert, aber stets

ästhetisch distanziert zur Kenntnis. Sie verwandeln die all-

gemeine Geschichte in subjektive Geschichten des schöpfe-

rischen Ringens mit der Realität (Rem Koolhaas in Lagos,

Daniel Libeskind am Ground Zero, Peter Eisenman in Berlin

etc.). Allerdings will auch eine zunehmend breitere Öffent-

lichkeit diese Geschichten hören und sehen. Mehr Menschen

als je zuvor erwarten von der Architektur Antworten, Identi-

tätsstiftungen und Visualisierungen in einer Welt, die sie als

undurchsichtig und unbeeinflussbar erfahren. Selten in der

Geschichte der Architektur war der Bedarf an architektoni-

scher Präsenz so gross wie jetzt. Zugleich ist der Spielraum

der Architekten eng geworden. Denn als Objekte der Projek-

tion – und letztlich als Dienstleister für ihre Kunden – dürfen

sie wie die Politiker nur das sagen, was ihre Zuhörer gerne

hören möchten.

Realität statt Utopie

Obwohl diese Blüte der Architektur auch der jüngeren Archi-

tektengeneration in den industrialisierten Ländern gute Aus-

sichten verspricht, ihre Ideen zu verwirklichen und sich

Gehör zu verschaffen, ist in den letzten Jahren bei manchen

Architekten ein Gefühl der Stagnation sowie Ärger über den

Opportunismus ihrer Vorbilder entstanden. Unter denjenigen

Architekten, die diesen Ärger nicht nur hinter vorgehaltener

Hand äussern, sondern ihn zum Thema und Inhalt ihrer Pra-

xis machen, nimmt meiner Ansicht nach der französische,

aus Portugal stammende Architekt Didier Faustino eine be-

sondere Stellung ein. Bekannt wurde er in der Schweiz spä-

testens mit seiner Arteplage Mobile du Jura auf der Expo.02,

die es als Piratenschiff spielend mit ikonischen Projekten wie

Jean Nouvels Würfel in Murten und Diller + Scofidios Blur

Building in Yverdon aufnehmen konnte.

International bekannt wurde Faustino mit seinem Projekt

Body in Transit (2000), einer radikalen Kritik der Bedeu-

tungsökonomie der heutigen Architektur. Das Projekt ent-

stand aus Anlass der 7. Architekturbiennale Venedig, die

unter dem Motto The City: Less Aesthetics, More Ethics

stand. Faustinos Beitrag änderte die Spielregeln der Archi-

tekturausstellung. Er produzierte ein Bild von aussergewöhn -

licher Schönheit und Zerbrechlichkeit, welches das gesamte

1 Didier Faustino:Body in Transit,2000Sarg oder Transport-kiste? Der Containererinnert an dieFlüchtlinge, die alsblinde Passagiere in ein industrialisier-tes Land zu gelan-gen versuchen undin Fahrwerkschäch-ten erfrieren, undführt die Verwund-barkeit des mensch-lichen Körpers ineiner globalisiertenWelt vor Augen. Das Projekt entstandfür die 7. Architek-turbiennale Venedig,die unter dem MottoThe City: LessAesthetics, MoreEthics stand

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oder Elektrizität. Der Energiebedarf wird durch Biogas, Son-

nenenergie, Windenergie und Bio-Diesel gedeckt. Alles, so-

gar die Teilnehmer, wird rezykliert. Es wird nichts Überflüs-

siges produziert. Slave City ist eine grüne Stadt, welche die

Ressourcen der Erde nicht verschwendet. Abgesehen von

den vielen notwendigen Infrastruktur- und Dienstleistungs-

gebäuden gibt es auch ein prachtvolles Head Office, Safe and

Cosy Village für die höheren Angestellten, Bauten für Bil-

dung, Gesundheit und Kunst sowie ein Bordell.

Slave University

Female Slave University steht beispielhaft für das elegant

und effizient gestaltete Ausbildungszentrum in Slave City,

dem zeitgenössischen Arbeitslager. Es besteht aus zwölf auf-

einandergestapelten und von Rampen umgebenen Audito-

rien. Es gibt zwei Universitäten, eine für männliche und eine

für weibliche Sklaven. Auf dem Dach von Slave University

gibt es einen Versammlungsraum für die Professoren – die

einzigen in diesem Gebäude, die für ihre Arbeit bezahlt wer-

den. Die anderen Räume sind den Sklaven vorbehalten, die im

Hinblick auf ein gutes und effizientes Funktionieren gemäss

Text: Atelier van Lieshout

In Slave City werden sämtliche Werte – Ethik, Ästhetik, Mo-

ral, Ernährung, Energie, Ökonomie, Organisation, Manage-

ment und Markt – auf den Kopf gestellt, vermischt, neu for-

muliert und zu einer Stadt mit 200000 Einwohnerinnen und

Einwohnern geformt.

Slave City ist ein Konzentrationslager neuesten Standards,

ausgerüstet mit der modernsten Technologie und gemäss

den Erkenntnissen des Managements. Die Einwohnerinnen

und Einwohner – genannt «Teilnehmer» – arbeiten sieben

Stunden pro Tag in Tele-Dienstleistungen wie Kundenbe-

treuung, Informations- und Kommunikationstechnologien,

Telemarketing, Programmierung etc. Damit in Slave City im-

mer gearbeitet wird und die Teilnehmer stets beschäftigt

sind, arbeiten sie anschliessend sieben weitere Stunden auf

den Feldern und in den Werkstätten. Die Effizienz der Teil-

nehmer untersteht einem genauen Monitoring, und wenn sie

unter ein bestimmtes Niveau sinkt, werden entsprechende

Massnahmen ergriffen.

Slave City ist weltweit die erste Null-Energie-Stadt dieser

Grössenordnung und funktioniert ohne importiertes Erdöl

ALBTRAUM DER EFFIZIENZAtelier van Lieshout: Slave City, 2006 Slave City ist eine düstere

Utopie: sehr rational, sehr effizient – und mit einem Jahresgewinn in

Milliardenhöhe auch sehr rentabel.

1

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2

3 1 Call Center

2 Schlaf- undArbeitseinheit

3 Kraftwerk

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UTOPIE UND STADT(Keine) Visionen an der Architekturbiennale Venedig Mit dem Ziel, den Bau einer gerechteren und umweltverträgliche-

ren Welt zu fördern, beweist die diesjährige Architekturbiennale viel Idealismus. Utopien im klassischen Sinn sind in der

Ausstellung, die sich den Metropolen des 21. Jahrhunderts widmet, dennoch keine zu finden: Während die Grossprojekte

autoritärer Regimes nicht gesellschaftliche, sondern ökonomische Visionen darstellen, geben sich viele sozial engagierte

Projekte betont realitätsbezogen – Pragmatopien, die zwischen Utopie und Pragmatismus ungeahnte Handlungsmöglich -

keiten eröffnen.

rung in Städten leben werden, bildet für ihn nicht mehr die

Frage, ob unsere Häuser rund oder eckig aussehen sollen,

sondern die Stadt im Allgemeinen und im Besonderen die

Realität, mit der wir uns heute auseinandersetzen müssen.

Dabei scheint er an die vorausweisende Frage anzuknüpfen,

die Rem Koolhaas in seinem Text «Whatever happened to

Urbanism» aus dem Jahre 1995 treffsicher so formulierte:

«How to explain the paradox that urbanism, as a profession,

has disappeared at the moment when urbanisation every

where – after decades of constant acceleration – is on its way

to establishing a definitive, global ‹triumph› of the urban

scale?»1

Metropolen des 21. Jahrhunderts

Weil das grösste urbane Wachstum in Ländern der dritten

Welt vorhergesagt wird, deren Städte bisher durch mangel-

hafte urbane Infrastrukturen geprägt sind, definiert Burdett

in seinem eigenen Katalogbeitrag eine Reihe von urbanisti-

schen Grundsätzen, die diese Städte erfüllen müssen, um den

zu erwartenden Massstabssprung bewältigen zu können:

Dichte statt Sprawl, Integration unterschiedlicher Bevölke-

rungsgruppen statt Ghettoisierung, Öffentlicher Nahverkehr

statt individuelle Fortbewegung, effiziente Energienutzung

etc. Burdett versteht seine Biennale als einen «call to action

for architects and city builders to participate in the construc-

tion of a more equitable and sustainable world»2. Methodisch

beruft er sich auf die Globalsierungsforscherin Saskia Sassen,

die auch den wichtigsten Katalogbeitrag beigesteuert hat.

Seien im 19. und frühen 20. Jahrhundert noch die National-

staaten die treibenden Motoren der gesellschaftlichen Ent-

wicklung gewesen, so würden ihnen, Sassen zufolge, heute

immer mehr Städte diesen Rang ablaufen, in denen global

operierende Wirtschaftsunternehmen ihre Schaltstellen ein-

gerichtet haben. Die hundert reichsten Firmen seien heute

reicher als die meisten Staaten – die zwanzig reichsten Na-

Text: Ilka und Andreas Ruby

Als im Sommer 2005 die Architekturbiennale 2006 unter der

Leitung von Richard Burdett angekündigt wurde, sorgte ihr

Titel zunächst für ein gewisses Raunen in der Architekturde-

batte: Meta-City – das weckte Erinnerungen an Utopien wie

Yona Friedmans über der alten Stadt schwebenden Neu-

städte. Man war gespannt, was in der heutigen Situation der

Stadt visionär sein könnte, und entsprechend etwas ent-

täuscht, als nur wenige Monate später der kühne Titel zum

Allerweltslabel Cities. Architecture and Society entzaubert

wurde. Als hätten sie Angst bekommen, sich die Ambition

der Avantgarde zu eigen zu machen und eine Vorstellung un-

serer Zukunft zu formulieren, verlegten sich die Ausstel-

lungsmacher um Richard Burdett auf das Beobachten, Wahr-

nehmen und Protokollieren des Status quo der zeitgenössi-

schen Stadt.

In gewisser Weise reiht sich die Ausstellung in die Konti-

nuität der letzten Biennalen ein, die alle keine grossen Visio-

nen mehr zu verkünden hatten und die grosse Leere nach

dem «Ende der grossen Erzählungen» (François Lyotard)

durch unterschiedliche Ersatzpostulate zu kompensieren

suchten. So gab Deyan Sudjic mit Next 2002 schlicht eine Vor-

schau auf das Bauschaffen der nächsten fünf Jahre, wobei die

Materialorgie von 1:1-Modellen und Prototypen von Gebäu-

deelementen zuweilen wie die flagship store-Version einer

Baumesse wirkte. 2004 sang Kurt Forster mit Metamorph das

Hohelied auf die «befreite» Form des Blobs als «neues» Pa-

radigma der Architektur – wenn auch gewissermassen after

the fact, als Abgesang auf eine Bewegung, nicht als ihre

prophetische Vorwegnahme – und liess computergefräste,

tief gezogene und lasergeschnittene architecture modelswie

bei einer Modenschau auf dem Laufsteg defilieren.

Verglichen damit könnte die Kehrtwende, die Burdett mit

seiner Biennale vollzieht, nicht grösser sein. Angesichts der

Schätzung, dass im Jahr 2050 75 Prozent der Weltbevölke-

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Kairo – attraktiveLuftaufnahmeversus Armut

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MICRO SPACE /GLOBAL TIME

Text: Thom Mayne

This is a full-size city. . . a consequence of interactions, inter-

ferences, resistances, aggregates [local and global]. There is

a possibility to live and work, both digital and real [practically

equal]. You don’t need to go anywhere, it’s an ordinary spot,

yet nothing is familiar. You’ll find all the necessities . . .

relaxation, socializing, pleasure in all possible combinations

at top speed [Don’t be afraid]. No two things look alike, things

with things [not the easiest solution]. An upside down pyra-

mid [single site]. A churchy zone [to be repaired, outsides

have settled in their place], a 24 hour chat room [nobody

knows if its straight or curved, a slightly crooked space]. An

official district [reality-raucous, gaudy, hooting]. Unchartered

territory. A bar at the corner [a locked room]. A place for you.

A dream which was later forgotten, a wasteland [absolute

visual neutrality] or is it [the qualities of] unknowability?

Author: Thom Mayne founded Morphosis in 1972with Michael Rotondi to develop an architecturethat would eschew the normal bounds of tradition -al forms. Since then, Morphosis has grown intoone of the most prominent design practices in theUnited States, with completed projects world-wide. Michael Rotondi left Morphosis in 1991 toform RoTo Architects. Thom Mayne was awardedthe Pritzker Prize in 2005.

Drawing Project Credit: Thom Mayne, ChandlerAhrens, Eui-Sung Yi, Raffi Agaian, Geof Aiken,Nate Chiappa, Pakling Chiu, Brian Davis, Liang Feng, Alexios Fragkiadakis, David Garnett,Svyatoslav Gavrilov, Chaitanya Karnik, JacobKwan, Tyen Masten, Jennifer Landau, Karen Lee,Narineh Mirzaeian, Kevin Short, Masako Saito,Myungsoo Suh, Nina Yu

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A R C H I T E K T U R A K T U E L L

From Bauhaus to Our House

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LIECHTI GRAF ZUMSTEG ARCHITEKTEN:BEGEGNUNGSZENTRUM KLINIK KÖNIGS -FELDEN, WINDISCHMit ihrer zeichenhaften Kantonsbibliothek

Baselland in Liestal sind Liechti Graf Zumsteg

Architekten jüngst national ins Rampenlicht

gerückt. Der Neubau eines lange ersehnten

Begegnungszentrums für die psychiatrische

Klinik Königsfelden in Windisch gibt dem in

Brugg ansässigen Büro nun Gelegenheit, auf

heimischem Parkett nachzulegen. Das Ge-

bäude trägt zur städtebaulichen Klärung des

Klinikgeländes bei und bezieht sich spiele -

risch auf den Bilderschatz der Moderne.

Die psychiatrische Klinik Königsfelden des Kan-tons Aargau befindet sich in mehrfacher Hinsichtauf historisch bedeutsamem Terrain. Zum einenverbergen sich unter der Oberfläche nach wie vordie Überreste des römischen Legionslagers Vin-donissa, Zeugnis einer landesweit einmalig frühenstädtischen Ansiedlung; zum anderen grenzt dasGrundstück der Klinik unmittelbar an die ehemaligeDoppel-Klosteranlage Königsfelden mit den kunst-historisch bemerkenswerten, in die erste Hälftedes 14. Jahrhunderts zu datierenden Glasmale-reien im Chorbereich der Klosterkirche. Architek-tonisch von Interesse ist überdies das u-förmige,zwischen 1868 und 1872 im spätklassizistischenStil errichtete Klinik-Hauptgebäude des damaligenKantonsbaumeisters Ferdinand Karl Rothpletz,das auf einem Entwurf von keinem geringeren alsGottfried Semper basiert. Erwähnenswert sind ins-besondere die Einbettung des monumentalen Ge-bäudes in einen englischen Landschaftsgarten mitprächtigem Baumbestand sowie der geometri-sche, von französischen Beispielen inspirierteNutzgarten.

Nach ersten baulichen Massnahmen zu Be-ginn des 20. Jahrhunderts erfuhr die Klinik in denSechziger- und Siebzigerjahren eine beträchtli-che Erweiterung, als eine Reihe von frei zu einem

Campus gruppierten Pavillons errichtet wurde.Dem lange gehegten Wunsch nach einem Begeg-nungszentrum auf dem weitläufigen Areal wurde1997 mit der Ausschreibung eines Projektwettbe-werbs entsprochen, den die in Brugg beheimate-ten Liechti Graf Zumsteg Architekten für sich ent-scheiden konnten. Nach einigen Verzögerungenund einer knapp zweijährigen Bauzeit wurde dasGebäude im August seinen Nutzern übergeben.

Monumentalität und Mutanten

In städtebaulicher Hinsicht trägt der Neubau zu einer Klärung der vormals unübersichtlichen Situa -tion auf dem Gelände bei. Das Begegnungszent -rum fügt sich in die freie Fläche zwischen der historischen Gartenanlage und dem Hauptgebäu-de einerseits sowie der lockeren Bebauung derNachkriegszeit andererseits und übernimmt eineArt vermittelnde Scharnierfunktion. Die Zufahrtzum Areal wurde so verlegt, dass die automobili-sierten Besucher zu einem ebenfalls neu geschaf-

fenen zentralen Parkplatz gelenkt werden, dersich unmittelbar vor dem Begegnungszentrum be-findet. Bildet dieses für die Patienten und Be-schäftigten der Klinik einen Treffpunkt an zentralerLage, so stellt der Neubau für externe Besucherden ersten Referenzpunkt dar. Der Besucher wirdunter einem breiten, schützenden Vordach derLängsseite entlang zum Haupteingang und weiterzur Rezeption geführt. Weit mehr als nur die Ver-vollständigung eines Bauprogramms, bildet dasBegegnungszentrum damit das neue öffentlicheGesicht der Klinik, das die Institution repräsentiertund die Aussenwelt zu Begegnung und Austauscheinlädt.

Auch architektonisch setzt sich der Neubauvorteilhaft in Szene. Prägendes Element ist dasweit vorkragende Flachdach, das sich schützendüber fünf eingestellte Kuben mit den Nutzräumenausbreitet und so zu einer bildmächtigen Meta-pher für das architektonische Thema des Bergensund Schützens wird. Das Dach wird durch einen

1 Situation

2 Ansicht vom Park

3 Querschnitt1:500

4 Nachtansicht, Detail

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