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ARISTOTELES ÜBER DIKrrATUl{, UND (Politik Buch III). Das IH. Buch der aristotelischen Politik enthält elmge der tiefsten und scharfsinnigsten Betrachtungen, die in der ganzen antiken und modernen Staatslehre zu finden sind. Aber gerade IH. Buch hatte bei der modernen Aristo- teles-Forschung nicht viel GlÜck. Es ist in unmögliche Zu- sammenhänge hineingezogen worden, und so wurde ein ein- wandfreies Verständnis des IH. Buches verhindert. Nach seinem Ausscheiden aus der platonischen AluLdemie hat Aristoteles in den Jahren 347-343 zuerst eine selbständige Lehrtätigkeit in Assos und in Mytilene ausgeÜbt. Zu den Vorlesungen, die er da plante, gehörte auch ein ganz breit angelegtes Kolleg über den Idealstaat. Das Ziel, das Aristo- teles sich in diesen Jahren steckte, war eine Heform des Platonismus, aber durchaus noch nach den platonischen Prin- zipien. Gegen die Einzelheiten platonischen Staates hatte Aristoteles die schwersten Bedenken. Aber mit der Akademie hielt er daran dass alle bestehenden Staaten verderbt und unbrauchbar wären, und dass der weise Mann den un- zulänglichen Staaten der Gegenwart den Idealstaat der Zukunft entgegenstellen müsse. Dieser Idealstaat soll der Ausdruck des göttlichen Geistes und der höchsten Sittlichkeit sein. Der sittlich vollendete :Mann und der ideale Staatsbürger sind ein und dasselbe, d. h. vollkommene Arete des Mannes und die Arete des Bürgers im Idealstaat ist identisch. Diese sittliche Höhe des einzelnen, die der Idealstaat zu seiner Existenz braucht, ist aber nur durch eine richtige Erziehung zu erreichen. Deshalb muss der Philosoph, der den Idealstaat aufbauen will, sich zunächst mit der ideellen Erziehung beschäftigen. In diesem Sinn begann Aristoteles die Ausarbeitung seines Kollegs. schrieb zunächst eine kurze Einleitung Über den Begriff und die iiusseren Voraussetzungen des Ideal- 22*

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ARISTOTELESÜBER DIKrrATUl{, UND DE.MOKRATll~

(Politik Buch III).

Das IH. Buch der aristotelischen Politik enthält elmgeder tiefsten und scharfsinnigsten Betrachtungen, die in derganzen antiken und modernen Staatslehre zu finden sind.Aber gerade IH. Buch hatte bei der modernen Aristo­teles-Forschung nicht viel GlÜck. Es ist in unmögliche Zu­sammenhänge hineingezogen worden, und so wurde ein ein­wandfreies Verständnis des IH. Buches verhindert.

Nach seinem Ausscheiden aus der platonischen AluLdemiehat Aristoteles in den Jahren 347-343 zuerst eine selbständigeLehrtätigkeit in Assos und in Mytilene ausgeÜbt. Zu denVorlesungen, die er da plante, gehörte auch ein ganz breitangelegtes Kolleg über den Idealstaat. Das Ziel, das Aristo­teles sich in diesen Jahren steckte, war eine Heform desPlatonismus, aber durchaus noch nach den platonischen Prin­zipien. Gegen die Einzelheiten platonischen Staates hatteAristoteles die schwersten Bedenken. Aber mit der Akademiehielt er daran dass alle bestehenden Staaten verderbtund unbrauchbar wären, und dass der weise Mann den un­zulänglichen Staaten der Gegenwart den Idealstaat der Zukunftentgegenstellen müsse.

Dieser Idealstaat soll der Ausdruck des göttlichen Geistesund der höchsten Sittlichkeit sein. Der sittlich vollendete:Mann und der ideale Staatsbürger sind ein und dasselbe,d. h. vollkommene Arete des Mannes und die Arete desBürgers im Idealstaat ist identisch. Diese sittliche Höhedes einzelnen, die der Idealstaat zu seiner Existenz braucht,ist aber nur durch eine richtige Erziehung zu erreichen.Deshalb muss der Philosoph, der den Idealstaat aufbauenwill, sich zunächst mit der ideellen Erziehung beschäftigen.

In diesem Sinn begann Aristoteles die Ausarbeitungseines Kollegs. schrieb zunächst eine kurze EinleitungÜber den Begriff und die iiusseren Voraussetzungen des Ideal­

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staats, nnd dann wandte er sich sehr eingehend der Erzie­hung zu, wie sie im Idealstaat sein müsse. Dieses Kollegder Urpolitik war von Aristoteles ganz breit angelegt. Wärees fertiggestellt worden, dann hätte es mindestens den Um­fang der ganzen uns erhaltenen aristotelischen Politik mitihren acht Büchern gehabt. Aber Aristoteles brach dieAusarbeitung des Kollegs schon mitten im ersten Teil, in derDarstellung der ideellen Erziehung, ab. Offenbar kamen ihmbei seinel' Arbeit immer stärkere Bedenken, ob sein Ziel, dieKonstruktion des religiös-sittlichen Idealstaates, überhanpt eineAufgabe der Wissenschaft sei. Schliesslich wurden seine innerenHemmungen so schwer, dass Aristoteles mit der Niederschriftdieses Kolleghefts aufhörte.

Er nahm dieses Fragment später nach Athen mit, als erdort im Jahre 335 seine freie Universität gründete, und es istunter den andern Papieren des Aristoteles auf uns gekommen.Es handelt sich um die Bücher VII und VIII der Politik inder überlieferten Buchzählung. Ferner gehörte zu der Urpolitiknoch ein kritisches Vorwort. Darin setzte sich Aristoteles mitden älteren EntwÜrfen des Idealstaats, vor allem mit demplatonischen Staat, auseinander. Sodann kritisierte er solcheexistierenden Staaten, die von anderen Theoretikern als Muster­staaten bezeichnet worden waren, wie z.B. Sparta. Dieses Vor­wort der Urpolitik bildete die Grundlage für das uns erhalteneBuch II.

In seiner Meisterzeit in Athen (335-323) hat dann Aristo­teles ein ganz neues Kolleg iiber die Staatslehre begonnen unddiesmal vollendet. Es sind dies die BÜcher I, Ill-VI unserererhaltenen Politik. Das Vorwort der Urpolitik, das ja anchfür sein neues Kolleg passte, hat Aristoteles überarbeitet undin den neuen Rahmen eingefügt. Jetzt enthält Buch I die Grund­begriffe der'\!oll{swirtschaft als Basis einer jeden wissenschaft­lichen Staatslehre, Buch II die Kritik an den verschiedenenMusterstaaten, Buch III-VI die Staatslehre im engeren Sinn.Das Fragment Über den Idealstaat-unser Buch VII und VIII­hat mit dem neuen Kolleg nichts zu tun. Erst die viel späterenRedaktoren, von denen die aristotelischen Kolleghefte als BÜcherherausgegeben wurden, haben die beiden Niederschriften ÜberPolitik zu einer mechanischen Einheit zusammengefügt.

Werner Jaeger hat in seiner Analyse der Entwicklungdes Aristoteles die beiden Schichten der Politik treffend er-

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kanntl). Aber er rechnet zur Urpolitik die Bücher II, IU, VIIund VIII und zu dem jüngeren Kolleg nur I und IV~VI.Hans von Arnimbat in seiner Polemik gegen .faeger mitRecht betont, dass Buch III mit VII und VUl nichts zn tunhat. Aber er kam zu einer ganz wunderlichen Auffassungvon der Gesamtentwicklnng der aristotelischen Staatslehre.Danach soll Buch UI, und überhaupt der mittlere Teil der aristo­telischen Politik, einer früheren platonisierenden Periodeangehören, in der dem Aristoteles eine reine Aristokratie alsIdealstaat vorschwebte. Erst im Alter habe Aristoteles eineandere Form des Idealstaats erdacht, die nicht mehr eine reineAristokratie, sondern eine Mischung von Aristokratie lind De­mokratie sein sollte. Dieser letzte staatsphilosophiscbe Versuchdes Aristoteles liege in dem Fragment Buch VII und Vin vor.Jaeger hat die grosse Entwicklung des Aristoteles richtigerfasst, aber Buch III falsch eingeordnet. Arnim h«t in wich­tigen Einzelfragen gegen Jaf'ger recht, aber er stellt diepolitische Entwicklung des Aristoteles auf den Kopf.

In Wirklichkeit unterscheidet sich der Aristoteles in Athenvon dem früheren Aristoteles in Assos und Mytilene dadurch,dass er jetzt die Konstruktion des Idealstaates gar nicht mehrals Aufgabe der Staatswissenschaft ansieht. Sondern er be­schränkt sich auf die kritische Erklärung des real existierendenStaats. Die Bewertung der einzelnen, von den Menschen ge­schaffenen, Staatsformen richtet sich nicht mehr nach dergöttlichen Idealität, sondern nach der menschlichen Zweck­mässigkeit. liegt ein tiefer Sinn darin, dass die Staats­lehre des jÜngeren platonisierenden Aristoteles mit der Theorievon der Erziehung beginnt, und die Staatslehre des n,ltenAristoteles mit Theorie vom Geld.

Aristoteles beschäftigt sich am Anfttng des IU.Buches mitdem Begriff des Staatsbürgers, der in den einzelnen Sta,ats­formen ein ganz verschiedener Anschliessend imKapitel 4, wirft er die Frage auf, ob die Arete des voll­kommenen Mannes und die Arete des vollkommenen BÜrgersdieselbe sei oder nicht. Dieses 4. Kapitel des IH. Buches

') \'Vel'ller Jaeger, Aristoteles. Grundleglmg einer Geschichteseiner Entwicklung'. Berlin 1923. Ober die Urpolitik: S. 271 ff.H. v. Arnim, Zur Entstehuugsgeschichte der arfstotelischen Politik, in:Sitzungsberichte der Akademie der Wissonschaften in Wien. Phil.-hist.Klasse, Hd.200. 1924.

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ist von entscheidender Bedeutung.· Denn Aristoteles ver­neint hier, in einer ebenso mühsamen wie glänzenden Ge­dankenfolge, die Identität der beiden Tugenden, und damitwirft er in bewusster Polemik die theoretische Basis seinereigenen Urpolitik, also der erhaltenen Bücher VII undVIII, um.

Um die Frage zu beantworten, untersucht Aristoteleszunächst, was die Arete des Bürgers istl). Er vergleicht dieBürger eines Staats mit der Besatzung eines Schiffs, das zueinem bestimmten Ziel fährt. Jedermann auf dem Schiff hatseine besondere Aufgabe, als Ruderer, Steuermann oder der­gleichen. Er muss also zunächst die spezielle Arete haben,die sich auf seine Einzelarbeit bezieht, d. h. die Fähigkeitdes guten Steuermanns, des guten Ruderers usw. Aber nebenseiner Einzelaufgabe hat jeder Mann auf dem Schiff nochAnteil an der gemeinsamen allgemeinen Aufgabe, nämlichdafür zu sorgen, dass das Schiff richtig und im guten Zustanddas Ziel erreicht.

Das ist die gemeinsame höhere Arete, die für die SchiJ:l:'­fahrt notwendig ist. Ein Steuermann könnte ein ausgezeich­neter Fachmann sein, also seine spezielle Berufs-Arete voll­kommen besitzen. Abel' zugleich könnte er durch Eigensinnund Quertreiberei die Schiffahrt gefährden. Dann würde ihmdie zweite, die höhere Arete fehlen, die alle Seeleute an Bordhaben müssen, damit das Schiff richtig ankommt.

Ebenso hat der einzelne Staatsbürger zunächst seinespezielle Arete, also im Privatberuf die Fähigkeit als Landwirtoder Kaufmann, oder in öffentlicher Tätigkeit als Soldat oderFinanzbeamter. Dann braucht aber der Staatsbürger nochdie zweite höhere, allen gemeinsame Arete, das ist die BÜrger­tugend. Ihr Zweck ist, dass der betreffende Staat seinenKurs behält und nicht untergeht.

Der Kurs eines jeden Staates ist aber verschieden, gemässseiner Verfassung. Der oligarchische Kurs ist ebenso ver­schieden von dem demokratischen Kurs, wie der Kurs einesSchiffes von Athen nach Samos ein anderer ist als der Kursvon Athen nach Rhodos. Es gibt demnach ebenso viele ver­schiedene Kurse des Staats, wie es Verfassungen gibt, undzu jeder Verfassung gehört eine andere Bürgertugend.

I) 1276 b, 16 ff.

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C Da es mehrere Verfassungstypen gibt, kann otfenkundigeine einzelne vollkommene Arete des tÜchtigen Bürgers nichtexistieren. Dagegen ist man sich darüber einig, dass der'gute Mann' nur nach einer einzigen vollkommenen Aretebewertet wird' 1). Es gibt also viele Sorten von BÜrgertugend,aber nur eine einzige Sorte der allgemein menschlichen Tugend.Also sind die Arete des Bürgers und die des Menschen schlecht­weg nicht identisch. Daraus folgt dann weiter, was Aristoteleshier nicht sagt, was aber seine Hörer sich sagen mussten,sofern sie den Entwicklungsgang des Meisters kannten: Selbstgesetzt den Fall, es gäbe die richtige Erziehung zum voll­kommenen Menschen, so nÜtzt sie fÜr den Staat und denStaatsbürger gar nichts. Also waren die ganzen BemÜhungenzwecklos, die Aristoteles seinerzeit anstellte, als er das Kollegseiner Urpolitik auf der Erziehungstheorie aufbaute.

Der Aristoteles, der das 4. Kapitel des III. Buches nieder­schrieb, kennt keinen Idealstaat mehr, sondern er beobachtetempirisch die einzelnen Verfassungstypen, von denen jederin seiner Art seine Berechtigung hat. Die staatsbürgerlicheErziehung hat jetzt, fÜr den alten Aristoteles, einen ganzanderen Sinn. Er sagt, dass keine Verfassungsform bestehenkann, wenn nicht die Jugend in ihrem Geiste erzogen wird:Die Demokratie muss untergehen, wenn sie :mIÜ.sst, dass dieJugend nicht im demokratischen Geist erzogen wird, lindebenso entsprechend die Oligarchie 2). Hier ist also die eineabsolut richtige Erziehung zur sittlichen und damit staats­bürgerlichen Vollkommenheit, aufgelöst in die verschiedenenstaatsbiirgerlichen Erziehungsformen, wie sie den einzelnenreal existierenden Staatsformen entsprechen.

Sachlich ist die Feststellung des Aristoteles unbedingtrichtig, dass zu einer anderen Staatsform auch eine andereBiirgertugend gehört. Es war in Sparta ein Teil der ßiirger­tugend, die handarbeitende Bevölkerung durch militärischeGewalWitigkeit einzuschüchtern. Wer das in Athen versuchthätte, der hätte den Giftbecher bekommen. Oder ein Beispielaus unserer Zeit: ein demokratischer Individualist wäre einguter Schweizer BÜrger, aber ein sehr schlechter Sowjet,bÜrger.

1) 1276 b, 31: <'[ne/! ov., {f(}n n2dlv lToiltu[aq erÖtl, ÖI]i!O" (vq

olH'. ivOixemt rov (J/lovÖa[ov ll:oi!lwu ,1I[al' &.l!erJjl' ell'at r.Jl'l' ui!dal"rov 0' &.ya&ov dvo(!a rpa,/tEv !lad, ,ula" tCl!uilv elVal Ti]v ui!ela,'.

') V ~l, 1310a, 13 H.

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Nachdem Aristoteles im 4. Kapitel des IlI.Buches bewiesenhatte, dass die Arete des vollkommenen Mannes und des voll­kommenen Bürgers nicht identisch sein kann, folgt ein neuerGedanke 1): vielleicht findet sich die Arete 'guten Mannes'doch im Staatsleben wieder, zwar nicht bei der Masse derStaatsbürger, bei den regierenden Männern. Dievollendete menschliche Arete ist hier für Aristoteies ungefährdas, was wir einen grossen Charakter nennen. Dieser grosseCharakter ist eine notwendige Voraussetzung, zwar nicht fürden durchschnittlichen republihnischen Magistrat oder fürden durchschnittlichen erblichen König, aber doch für dengrossen Diktator, der durch die Kraft seines GeistesStaat lenkt.

Was für Männer Aristoteles hier im Auge hat, zeigt et'durch ein Beispiel. Et· nennt Iasan, den berühmten DiktatorThessaliens in der nächst älteren Generation, der die Herr­schaft über ganz Griechenland anstrebte. Aristoteles unter­stellt es zunächst als richtig, dass der grosse Regent auchein Mann', d. h. ein grosser Charakter sein müsse.Dann habe man einen neuen Beweis dafür, dass die voll­kommene Ärete des Menschen und des Slaatsbürgers nichtidentisch Denn zum vollendeten Staatsbiirger gehört vorallem die sich einfügen und einordnen zu können.Er muss den Gesetzen gehorchen und ehrenhaft seinen Privat­beruf ausüben. Aber die grossen Diktatoren sindsolche Mänl1er, die sich nicht einordnen wollen, die sich diegleichmässige Gesetzlichkeit nicht gefallen lassen, und die füreinen ehrlichen Privatberuf nicht zu brauchen sind. Aristoteleszitiert ein Wort des lason, er müsste betteln gehen, wenner nicht Diktator wäre, denn er könnte nicht Privatmannsein 2). Wenn man den 'guten Mann' und seine Arete soauffasst, wie Aristoleles es tut, dann ist freilich die Kluftzwischen dem 'guten Mann' und dem 'guten Biirger' llicht zuüberbrücken.

Da macht sich Aristoteles eine neue Einwendung: Mansage doch allgemein, dass der 'gute Mann' - der Mann mitder sittlichen Arete - es eben so gut verstehen muss zubefehlen wie zu gehorchen. Nur der könne ein richtiger Vor-

') 1277 a, 13 H.2) 1277 a, 2;): '!UflW1' iJgJ11 ;rr;liw~v {he .wl, w(?c!1lvoi, (~S oilx bn­

fl~d',ue'vo<; lotWt11S erve!.<.

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gesetzter sein, der auch vorher als Untergebener seine Pflichtgetan habe. Diese Fähigkeit, zugleich richtig gehorchen undbefehlen zu können, sei aber auch das Wesen desBürgers'. Also wäre doch der Mann' und der 'guteBürgel] identiscIl, und die ganze Basis, VOll derim 4. Kapitel des 3. Buches ausging, witre wieder zusammen­gebrochen.

Aber Aristoteles weiss die Einwendung sehr bequem znerledigen: Es werden hier zwei Arten von Arete durcheinandergeworfen, die man scharf unterscheiden muss. Der 'gutedes täglichen Sprachgebrauchs ist Gentleman.Er fällt vielfach zusammen mit dem 'guten Bürger', H.llsserin der radikalen Demohatie. Denn da ist auch der hand­arbeitende Mensch gleichberechtigt, und der richtige Gentlemansoll keine Handarbeit leisten. Was aber Aristoteles hier mitder vollkommenen Arete meint, ist nicht die Charaktereigen­schaft des Gentleman, sondern es ist et,'WltS viel Höheres, nämlichder Charakter des grossen regierenden Staatsmannes. Dergewöhnliche Gentleman braucht nur die ordentliche, durch­schnittliche Intelligenz, aber der grosse Staatsnmnn brauchtdie praktische Genialität I},

Es ist bemerkenswert, gegen wen sich die Polemik desAristoteles in der zweiten Hälfte des 4. Kapitels im In. Buchrichtet. Er kämpft ge.gen sich selbst, gegen sein eigenes .Kollegder Urpolitik, gegen sein Buch VII JIach der .iet~igen Zählung.Im 14. Kapitel des VILBuches, bevor Aristoteles die Erziehungim Idealstaat schildern will, stellt er die ob alleim Idealstaat gleichmässig zu den Staatsämtern zugelassenwerden sollen, oder ob man die regierenden Stellen einem be­stimmten Kreis von Bürgern reservieren solL Müsste die"erUnterschied gemacht werden, so mÜsste es auch eine doppelte·Erziehung geben, eine Erziehung fÜr den kÜnftigen Staats­beamten, und eine andere fÜr den gewöhnlidlen Biirger. Abereine solche Zweiteilung lehnt Aristoteles unbedingt ab, DieBürger im Idealstaat sollen schon an sich so gestellt sein, dasssie den gewöhnlichen Broterwerb nicht nÖtig hahen. So isthier von vornherein eine aristokratische l3asis gegeben, AbeL'darüber hinaus noch die Voll bürger in zwei Gruppen zu zel'-

1) 1277b, 26 ff: "/ ae ep(!o'/!1]Uts' aexo11ro:; l'öio:; a(!srlll/li1'<11 .•.p.evov ol! rE 0 on IUH1' &.eE"" p(!6v,,]Ut$, d..tAi< oosa Zurschichte des vgl. lt. a. O. S,83.

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in den Beamtenstand und in den gewöhnlichen Stand,wäre ganz verfehlt.

Ja, meint Aristoteles, wenn es von Natur aus Menschengeben würde, die ihre Mitmenschen so überragen, wie man sichdie Götter im Verhältnis zu deu Sterblichen denkt, dann müssteman die Zweiklassenscheidnng einführen. Dann wären dieeinen von Natur 1lUB die Regenten und die andern die ge­wöhnlichen Blirger. Aber einen solchen Unterschied zwischenden Königen und dem einfachen Volk berichtet Zwar einphantasiebegabter Schriftsteller aus Indien. In der übrigenWelt kann man nichts davon merken 1). Also sollen auch imIdealstaat alle gleich berechtigt sein und gleich­mässig den Zutritt zu den Staatsstellungen haben. Höchstensbun man dem höheren Lebensalter bei der Besetzung derStB.atElämlter den geben. Jeder soll gleichmässig befehlenund gehorchen können. Darin zeigt sich die Arete des voll­kommenen Mannes, die identisch ist mit der Arete des voll·kommenen Bürgers. Also ist auch nur eine einzige Art vonErziehunp; für alle künftigen Bürger des Idealstaats möglich,nämlich die Erziehung zur sittlicheu Vollkommenheit, und dieseErziehung will Aristoteles jetzt schildern.

Die Bücher III und VII del' Politik unterscheiden sichdurch die ganz verschiedene Wertung politischen Geniesund der vollkommenen Arete. Beides hängt miteinander zu­sammen. Eine religiöse Sittenlehre ist nur unter der Voraus­setzung denkbar, dass, - wenn nicht alle Menschen, so dochwenigstens ein erheblicher Teil von ihnen dem sittlichen Idealnahe kommen kann. Man kann nicht von den Menschen densittlichen Lebenswandel verlangen und ihnen zugleich sagen,dass nur alle hundert Jahre einmal ein sittlicher Mensch auf­treten wird. Solange Aristoteles den 'Gottesstaat' konstruierenwollte, musste er eine erhebliche breite Schicht von Menschen

die wenigstens durch ihr Bestreben würdig sind,Bürger 'Gottesstaates' zu sein.

Die Wirksamkeit der grossen praktischen Politiker hatan sich mit religiöser Sittlichkeit nichts zu tun, und nichtshätte den religiösen Aristoteles veranlassen können,gerade ihnen im Idealstaat eine Sonderstellung zn gewähren.Aber in der Zeit, die zwischen den Entwürfen von Buch III

') VII 14, 1332 b, 17 ff.

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und Buch VII liegt, hat Arist.oteles Auffassung von dersogenannten Ethik völlig verändert. Aus der Moralt,heologiewurde eine, auf empirischer Beobachttmg beruhende, psycho­logische Cbarakterlehre. Die volleIldete Arete ist jetzt nichtmehr die sittliche Vollkommenheit, sondern der grosseCharakter. Zu einem solchen gehört aber nach Aristotelesunbedingt auch die grosse praktische Intelligenz.

Die sogenannte nikomachische Ethik des Arist.oteles gehÖrtungefähr in diesseibe Entwicklungsperiode des Philosophen,wie die empirischen Büclwr der Politik. In der nikomacbischellEthik unterscheidet Aristoteles zwei Stufen der meIlschlichenIntelligenz: Zunächst die angeborene Klugheit und dann diepraktische Genialität, wie sie sich in der Politik und im Geld­erwerb zeigt. Als ihren Repräsentanten llennt Aristoteles denPerikles. Ebenso gibt es zwei Stufen des wertvollen Clmrakters;die angeborene Ehrenhaftigkeit., also ungefähr die Eigenschaftdes Gentleman, und dann der vollendete gro~se Chara.kter.Zum grossen Charakter gehört unbedingt ~tuch die praktischeGenialität I).

Diese Wertungen der nikomachischen Ethik kehren imwesentlichen im 4. Kapitel des IU. Buches der Politik wieder.Aristoteles interessiert sich jetzt nicht mehr für den Idealstaat,und der <gute Mann' ist für ihn nicht mehr der sittlich voll­kommene Mensch im religiösen Sinn, sondern es ist die grossepraktisch schaffende Persönlichkeit. Es besteht jetzt für Aristo­teIes kein Hindernis mehr, das politische Genie in der St.aats­lehre anzuerkennen. Freilich entsteht jetzt das neue Problemüber das Verhältnis der Masse zu der grOBsen Persönlichkeit.Darüber spricht Aristoteles im 13. Kapitel des III. Duelles.

Nach der allgemeinen Untersuchung über den Bürger­begriff, die in den Kapiteln 1-5 des IH. Buches angestelltwird, geht Aristoteles von I{apitel 6 an zu der Kritik dereinzelnen Verfassungstypen Über. Um Überhaupt ein Prinzipder Einteilung zu haben, legt Aristoteles die sechs traditio­nellen, aus der platonischen Akademie stammenden Verfassnngs­formen zugrunde, die drei sogenannten richtigen VerfassulJgen :Monarchie. Aristokratie und Politie, und die drei fehlerhaften:Tyrannis, Oligarchie und Demokratie. Aber diese sechs Typensind für Aristoteles kein starres Schema, auf das er besonderen

') Jaeger 8.237 rr. Nikomach. Ethik VI5, 1140b,8. VlS, VI 13.

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Wert legt, sondern sie sollen nur die Diskussionsgrundlagenliefern.

Aristoteles hat sich besonders in seinen späteren Jahrenin jeden Begriff geradezu hineingebohrt.. Er hat aHe Wider­sprüche aufgedeckt, die in einem Begriff verborgen sind. Sokam er zu einer dialektischen Kritik der Begriffe, die manch­mal an Hegel erinnert. Aristoteles, ein durchaus undogma­tischer und unscholastischer ~lensch, hat sich nie gescheut,sich zu widersprechen, wenn er genötigt war, die verschie­denen Seiten eines Begriffs verschieden anzupacken. Wennsich die Begriffe dann unter seinen Händen auflösten, warer durchaus bereit, vorläufig bei einem skeptischen Zweifelstehen zu bleiben.

Mit solcher Methode behandelt Aristoteles im UI. Buchund in den folgenden Büchern die politischen Begriffe, zu­nächst die Verfassungsformen. Aristoteles unterscheidet dieStaaten, in denen das einseitige Klasseninteresse regiert, vonden andern, in denen das allgemeine Interesse massgebendist. Der Klassenstaat der Reichen ist die Oligarchie, und derl(htss'emital~t der Armen ist die Demohatie. Der Staat, indem das allgemeine Interesse vorherrscht, ist die Politie.Aber Aristoteles weiss sehr gut, dass eine Politie nur dortdenkbar ist, wo ein starker Mittelstand besteht und derliegerll'alz zwischen arm und reich noch unentwickelt ist.

Der Tyrann ist ein Alleinherrscher, der unter Ausnutzungund im eigenen Interesse regiert.

Der Monarch ist eine grosse Persönlichkeit, die im Interesseder Allgemeinheit den Staat lenkt, und die Aristokratie be­steht dann, wenn mehrere solche Persönlichkeiten gemeinsamden Staat regieren. Es ist klar, dass diese echte Aristokratienur eine Fiktion ist. Denn schon ein einzelner grosseI' poli­tischcn' Charakter ist selten genug, und dass eine ganzoGruppe solcher politischer Genies sich zusammenfände, umgemeinsam einträchtig zu regieren, ist ohne Beispiel in derGeschichte.

In der empirischen Politik Aristoteles hat daher dieAristokratie nur dem traditionellen Schema zuliebe einenPlatz, aber nicht weil sie eine ltealität besitzt. So erklärtes sich, dass Aristoteles in den Büchern IH-IV nur ganz kurzund die Aristokratie erwähnt 1). Damit hat Aristoteles

1) z,B.llI 7, 1279ll,,34, UI13, 1284a,4.

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die Leser seiner Politik, die mit einer vorgefassten l\[einungherankamen, in eine böse Schwierigkeit versetzt. Mlln redetesich ein, dass auch der alte Aristotelcs die Aristokratie vorallen anderen Verfassungen geliebt habe. Mun erkannte nicht,dass Aristoteles in den Büchern IH-IV unter dem vollendeten'guten Mann' einen Typus wie In,son von Thessa,lien oderNapoleon L versteht. So zog man seit zweitausend Jahrenaus, um die, in der aristotelischen Verfassungslehre fehlende,Aristokratie zu suchim. Man fand sie entweder in den BlichernVII und VIII, oder man konstruierte eine grosse LUcke im Text.In Wirklichkeit kommt in den Büchern IlI-VI die Staatsform,die Aristoteles hier wirklich unter Aristokratie meint" genauso häufig oder selten vor, wie es sachlich nÖtig ist. Von einer

ist keine Spur vorhanden.

Die bestehenden Staaten, die als reine Aristokratien aus­gegeben wurden, hat Aristoteles sämtlich als verkappte Olig­archien, also als Klussenstaaten der Reichen, entlarvt. Gewissearistokratische Züge sind freilich nach Aristoteles Überall dortin den Staaten vorhanden, wo sich ein Bürger nicht nur durchKlassen- und Geldinteressen, sondern auch durch seine I;'ähig­keiten und seinen Gemeinsinn durchsetzen kann.

In den Kapiteln 6-12 des III. Buchs behandelt Aristotelesdie allgemeinen Prinzipien der Oligarchie uud der Demokratiegemeinsam. KapitellS bis zum Schluss des Buches sind derMonarchie gewidmet, wobei in kurzen Bemerkungen auchNotwendige über die Aristokratie gesagt wird. In Buch IVbeschäftigt sich Aristoteles mit den einzelnen Unterabteilungender Oligarchie und Demokratie, und dann wendet er sich denbeiden Typen von den sechs zu, die noch iibrig sind, nämlichder Politie und der Tyrannis. Schon dieser einfache Blick aufdie Disposition zeigt, dass die Bücher III und IV untrennbarzusammengehören, lind dass man es nie hittte versuchensollen, sie auseinanderzureissen.

Die Behandlung der Monarchie durch Aristoteles ist 8el11'merkwürdig. Er verfährt durchaus empirisch. Er stellt zu­nächst vier landläufige Typen einer Monarchie fest I). Wirwürden heute sagen: die absolute Monarchie (Typus l'er8er­reich), die verfassungsmässige Monarchie (Typus Spltl'ta), dasFÜrstentum der primitiven VÖlker und der Urzeit (sogenanntes

') In 14, 1285a, 1 ff.

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heroisches Königtum) und schliesslich eine PräsidentschaftRepublik auf Zeit und mit besonders starken Funk-

tionen (Aisymnetie).Aber Aristoteles meint, dass alle diese vier Typen des

sogenannten Königtums eigentlich keine richtigen Monarchiensind. Denn ein echter Monarch, der wahre 'Alleinherrscher',ist nur der Regent, der ganz unbeschränkt nach seinem freienWillen das Volle führt. Ein solcher echter Monarch ist wederder konstitutionelle König, noch der Stammesfürst der primi­tiven Menschen, noch gar irgendein Präsident der Republik.Aber nach einer überaus scharfsinnigen Beobachtung desAristoteles gehört auch der gewöhnliche absolute Herrschernicht hierher. Ein solcher König des orientalischen Typs hatzwar eine gewaltige äusserliche Stellung: alles wirft sich zuBoden, wenn er auftritt. Aber er ist dennoch völlig an dieTradition und Sitte seines Volks gebunden, und es kostet ibn

Thron, wenn er mit der Überlieferung brutal brechenwollte. Weder Perserkönig, noch der Kaiser von China,noch der russische Zar ist ein wirklicher 'Selbstherrscher'gewesen.

Aristoteles beantwortet die Frage nicht, wohin denneigentlich diese unechten Monarchien gehören. Man könntesagen, dass es sich hier vielfach um verkappte Oligarchien

wie beim Perserreich und Sparta oder beim Russ·land des Zaren oder bei der Monarchie des Mitte]·alters. Die Gemeinwesen der primitiven Völker könnte mantrotz ihren Fürsten zur Politie rechnen.

Es bleibt also bei Aristoteles als echte Monarchie nurdie Staatsform , die man heute Diktatur nennt: dieAlleinherrschaft einer grossen Persönlichkeit über den Staat.Mit dieser Staatsform beschäftigt sich Aristoteles im 13.Kapiteldes II!. Buches. Wieder polemisiert er ganz bewusst gegensein VII. Buch. Dort hatte er die Idee als abenteuerlich ab­gewiesen, es Menschen die unter ihren Mitmenschenso hervorragen wie Götter und Heroen, und denen deshalbvon selbst die Macht im Staate zukomme.

Aber jetzt redet Aristoteles selbst von den Männern, diewie ein 'Gott unter den Menschen' stehen. Eine solche Per­sönlichkeit müsse den Rahmen der Gesetze und der Verfassungensprengen, denn ist klar, dass die Gesetzgebung nur fürMenschen gelten kann, die an Art und Kraft ungefähr gleich

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sind. Aber für solche Männer (die grossen diktatorischenCharaktere) gibt es kein Gesetz. Sie selbst sind Gesetz 1r.

Als Aristoteles diese Sätze niederschrieb, hatte er vonGesetz und Recht eine durchaus relative Auffassung. Das Rechtist nicht der Ausdruck einer absoluten unveränderlichen Sitt­lichkeit, sondern das Resultat eines Gleichgewichtszustandes.Die Gesetze gelten, solange dieses Gleichgewicht besteht. Siezerbrechen, sobald das Gleichgewicht gestört ist. Das ist einGedanke des Aristoteles, der an sophistische Lehren erinnert.Aristoteles zitiert eine Fabel des Alltisthenes von der Volks­versammlung der Tiere, in der die Hasen das gleiche Hechtfür alle beantragen, und dann von dem Löwen die Antwortbekommen, die lllan sieh denken kann.

Was soll nun ein Staat anfangen, in dessen Mitte sichein solches gewaltiges politisches Genie erhebt? Aristotelesholt ein Beispiel aus der Runst: Wenn in einem Gesangschorein Mann mit einer so mächtigen Stimme ist, dass er denganzen Chor übertönt, dann wird man ihn aus dem Chor ent­fernen 2). Ebenso, wenn ein Maler ein Porträt mttlt, und ergibt seiner Figur einen wundervollen Fuss, der aber zn grossist und alle Proportionen sprengt, dann taugt das Bild nichts.Oder vielmehr, ein verständiger Maler wird ein solches Ex­periment nicht machen. Aristoteles will damit sagen, dass einjedes lebensfähige Gebilde, das der Mensch schafft, und wohlauch in der Natur, ein gewisses Gleichgewicht in sich tragenmuss. Was das Gll3ichgewicht muss man vernichten, auchwenn das störende Element an sich seine Werte baben mag.

Daraus folgt für Aristoteles, dass die Staatsbiirger eUl'en-r,­lieh richtig handeln, wenn sie ein grosses Genie gar nichtaufkommen lassen, und wenn es sich doch durchsetzen will,es rücksichtslos entfel'l1en. So findet Aristoteles, dass eineDemokratie von ihrem Standpunkt aus ganz recht hat, wenn

durch den Ostrakismos die überragenden politischen Per­sönlichkeiten unschädlich macht, und so die Gefahr der Dik­tatur abwehrt. Ebenso berechtigt sind entsprechende Abwehr­massregeln einer Oligarchie und eines regierenden Tyrmmen

grosse Konkurrenten.

') III 13, 1284lt, 12: (J{}liV (hilo'v au- nqi_ 1IO/IO,'}'liUlal' ch.-a;'naio~' el1'",cot>:; fuov:; "ai H/J "ai ~!7 (1 V1'U,ll ''', :!L(mx IJe7C(»'I) TOWVTuW oön HUrt 1'O,llO:;. auTO!, ye<e e[rH "0/10:;-

2) 1284 b, 7 H.

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Aber dann schreckt Aristoteles doch davor zurück, alsRezept der Staatswissenschaft einfach anzugeben, dass manzum Schutz der Verfassung das grosse politische Genie tot­schlagen oder verbannen müsse. Er schreibt: 'Es ist klar,dass diese Methode (mit den grossen Männern zu verfahren)für die fehlerhaften Verfassungen (Demokratie, Oligarchie,Tyrannis) zweclnnässig und berechtigt ist. Aber dass dieMethode nicht unter allen Umständen berechtigt ist, dasist ebenso klar. Auch unter der besten Verfassung ist esfreilich ein schweres Problem, wie man mit solchen Geniesverfahren solll).'

Hier ist ganz deutlich, was Aristoteles im III. Buch unterder 'besten Verfassung' versteht. Es ist kein Idealstaat, sonderneinfach der Gegensatz zu den drei sogenannten fehlerhaftenYerfassungen, also ein Sammelbegriff für die drei richtigenVerfassungen: Aristokratie, Monarchie, Politie. Da aber, wiewir oben gesehen haben, die Aristokratie im realen politischenLeben überhaupt nicht existiert, und die Berechtigung einerMonarchie erst bewiesen werden soll, versteht Aristoteles andieser Stelle unter der 'besten Verfassung' einfach die Politie,oie Herrschaft des soliden Mittelstandes, wo die Staatsbürgeroie öffentlichen Angelegenheiten nicht im Klasseninteresse,sondern im Interesse des Ganzen verwalten.

In einem solchen Staat könne man eine Persönlichkeit, diean Arete, also an Charakterstärke und politischer Genialitäthervorragt, nicht einfach austreiben oder umbringen, sondernman müsse ihr die volle Regierungsgewalt Üherlassen.

.Man kann nicht sagen, dass diese Lösung des Problemsdurch Aristoteles sehr befriedigend wirkt. In einer zivilisierten,wirtschaftlich fortgeschrittenen Zeit, wie es die antike Weltim IV. Jahrhundert v. Chr. war oder unsere Gegenwart ist,werden die meisten bestehenden Staaten von Geld- und Klassen­interessen bestimmt. Diese Staaten mit einem oligarchischenoder demokratischen Grundcharakter sollen berechtigt sein,mit allen .Mitteln die Diktatur abzuwehren, und gerade dieverhältnismässig wenigen Staaten mit einem sozialen Gleich­gewicht sollen sich die Diktatur gefallen lassen. In der Zeitdes Aristoteles waren Politien z.ll. die Bauernkantol1e in Achaiaund Arkadien. Heute könnte man manche Züge der Politie

') 1284 b, 23 H.

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in der Schweiz und in Norwegen wiederfinden. Also grade dieGemeinwesen, die den grossen Diktator am wenigsten brauchen,sollen scheinbar nach Aristoteles der beste Nährboden für dieDiktatur sein. Erst wenn man die weiter denkt, Überden vorliegenden Aristoteles·Text hinaus, kommt man zn einerbesseren Würdigung des aristotelischen Gedankens.

Die Schweiz hatte ohne Zweifel in den letzten hundert.Jahren eine ganze Reihe von hervorragenden, charakterstarkenund patriotischen Staatsmännern, und dasselbe mag von dengriechischen Politien in der Zeit des Aristoteles gelten. Wennsolche Männer in einem geordneten stabilen Staat auftreten,kommen sie ohne Mühe legal tm die Spitze der negierung,und die Bürgerschaft vertraut sich gern ihrer Ii'iihnmg an.Hier ist deshalb ein realer Konflikt zwischen der Biirgerschaftund dem 'gut.en Mann' gar nicht vorhanden, und der 08tra­kismos wäre überflüssig.

Dagegen in den Staaten, die vom Klassenkampf erfiilltsind, vollzieht sich die Auseinandersetzung zwischen Genie undMasse in dramatischen Konflikten. Gegenüber diesen Kon­flikten ist Aristoteles eigentlich neutraL Die Demokraten unddie Oligarchen haben Recht1 wenn sie die drohende Diktaturunschädlich machen, und der grosse Mann hat Recht, wenner sich von den bestehenden Gesetzesparagraphen nicht im­ponieren lässt. Oder Recht hat, wer sich durchsetzt, und werimstande ist, das alte gestörte Gleichgewicht durch ein neueszu et'setzen,

Schon die Betrachtungen, die bisher gemacht wurden,zeigen, dass dem alten Aristoteles jedes VOl'nrtei I gegen dieDemokratie fehlt. Sie ist keineswegs sein politisches Ideal1

und von ihren parteimässigen Schlagworten lässt er sich nicht.beeinflussen. Aber die griechische Demokratie als reale Staats­form wird von Aristoteles objektiv gewÜrdigt In der niko­machischen Ethik nennt er als Beispiel des genialen I)olitikersgerade den Demokraten Perikles, und in dem eben besprochenenAbschnitt der Politik: erkennt Aristoteles das demokratischeNotwehrrecht des Ostrakismos durcbaus an.

Die Begritl'sbestimmung der Demokratie durch Aristotelesim 8. Kapitel des III. Buches ist wieder sehr meL'lnviirdig.Aristoteles geht davon aus1 dass in der Demokratie die Armenregieren und in der Oligarchie die Reichen. Aber der ge­wöhnliche Sprachgebrauch denkt bei Demokratie an die Herr-

Rbein. Mu". f. Pbllol. N. F. LXXXII. 23

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schaft einer :Mehrheit und bei Oligarchie an die Herrschafteiner :Minderheit. Denn die Reichen wie die Armen neigendazu, den Klassencharakter ihrer Regierung zu verschleiern.Die Reichen behaupten, dass sie in der Oligarchie nicht ihresGeldes wegen, sondern auf Grund ihrer moralischen Qualitätenregieren. Die Armen behaupten, dass in der Demokratie alleMenschen gleichberechtigt sind, und dass die Mehrheit ent­scheidet.

Aristoteles betont, dass das eigentliche Problem gewöhnlichdadurch verschleiert wird, dass es mehr Arme als Reiche gibt.Also ist die Demokratie anscheinend zugleich die Regierungder Mehrheit und der Ärmeren, und die Oligarchie ist dieRegierung der Minderheit und der Reicheren. Aber es wäretheoretisch noch eine ganz andere Rombination möglich: Wiesoll man einen Staat benennen, in dem eine Minderheit vonArmen herrscht, oder ein Gemeinwesen, in dem eine Mehr­heit der Reichen die Macht hat?

Aristoteles kommt zu dem genialen Resultat, dass beider Definition der Demokratie und ebenso der Oligarchie, dasstatistische Moment nichts bedeutet. Jedel' Staat ist eineDemokratie, in dem die Armen regieren, und jeder Staat isteine Oligarchie, in dem die Reichen regieren. Wenn mandas Wesen solcher Staaten richtig erfassen will, ist das Zahlen­verhältnis gleichgültig. Die beiden ungewöhnlichen Fälle, dieAristoteles konstruiert, eine :Minderheit der Armen und eineMehrheit der Reichen im Staat, sind durchaus denkbar. :Manbraucht nur den besitzenden Mittelstand politisch zu denReichen zu rechnen und hat sofort solche Resultate.

In einem Agrarstaat könnten die besitzenden Laudwirtezahlenmässig den Landarbeitern und armen Handwerkernüberlegen sein. Die Landwirte, die in der Mehrheit sind,regieren und schalten den Einfluss der Besitzlosen aus. Einsolcher Staat wäre nach Aristoteles eine Oligarchie, ob­wohl eine Mehrheit der Bürger alles in ihrem Sinne entscheidet.Andererseits könnte in einem solchen Staat die Minderheitder armen Städter durch einen Handstreich die Macht ansich reissen. Dann regiert die Minderheit über die Mehr­heit. Dennoch wäre eine solche Ordnung des Staates fürAristoteles eine Demokratie.

Aristoteles lehnt die formalen statistischen Definitionender Demokratie ab. Er glaubt nicht, dass in einem Staate,

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wo arm und reich sich gegenUberstehen, eine vom Klassen­gegensatz abstrahierende MehrheitsbildlUJg möglich ist. Ent­scheidend ist, wer die 'Herren' im Staat sind, die Heiehenoder die Armen. Nur danach bestimmt sich (lie Demokratieund die Oligarchie 1).

Die Anwendung der aristotelischen Definitionen ~l,uf dieGegenwart würde sehr eigenartige, auer zllgleieh sehr rea­listische, Resultate bringen: Sowjetrussland wäre HI17 und1918 eine Demokratie gewesen. Die Französische Republikvon heute wäre eine Oligarchie. Beides wäre weder Lobnoch Tadel, sondern die l\onstatienmg eines Zustandes. Aberdie Türkische Republik witre wegen der Wirksamkeit vonMustapha Kemal eine echte ],Monarchie".

Aristoteles vergleicht im III. Buch die einzelnen Verfas­sungen miteinander, und er kommt dabei der Demokratieziemlich weit entgegen. gibt der Demokratie nicht nm'ihre Berechtigung gegenÜber den andern <fehlerhaften' Ver­fassungen wie Oligarchie und Tyrannis. Er stellt sogar eineBetrachtung an, bei der sich die Demokratie gegenüber den'richtigen' Verfassungen behaupten kann: Es sei ZWH,r richtig,dass in der Demokratie die Masse der Armen, der Leute mitgeringer Arete, alles zu bestimmen hat. Der einzelneaus dem Volke ist, verglichen mit einer groBsen charaktervollenPersönlichkeit, nicht viel wert Aber das ändert sich, subaldman die einzelnen kleinen Leute summiert und als Kollektivauffasst. Die Arete, die Intelligenz, Urteilskraft usw. deseinzelnen aus dem Volke ist Aber weHn die vielenkleinen Fähigkeiten zusammenkommen, entsteht etwasund diese kollektive Arete der Masse kann der Aret,e einergenialen Einzelpersönlichkeit weitem Überlegen sein 2).

Mit deutlicher Anspielung ~tuf Athen meint Aristoteles,dass die Masse ja auch am besten befähigt ,tibel' dieWerke der Musiker und Dichter zu urteilen. Wenn mandasselbe Prinzip auf die Politik überträgt] ist, freilidl eingewisses Kulturniveau der Masse nötig. Wo das fehlt, istein brauchbares kollektives Urteil nicht vorhanden.

') Vgl. z. B. 1279 b, 17: (/fern) oÄtJ'IlI.,'Xia 1)' thall iutn V;Vl!Wi

nOA.iudaS ol .as ovaias lXOVUis, Die 'X <'l!w I n]q :rwAlu:tas SilldAristoteles derselbe Begriff, lien die modeme die "im St.aatherrschende Klasse" nennt.

2) 1281 b, 1 ff.

23*

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Indessen respektiert Aristoteles nur die Leistung derMasse im ganzen. Er hält es aber für falsch, und darin unter­scheidet er sich durchaus von der athenischen Demokratie.wenn einfache ungeschulte Leute aus dem Volke die Staats­stellungen iibernehmen. Die Masse soll indessen die Wahlder regierenden Männer haben und iiber sie die richterlicheKontrolle ausüben. Eine solche gemässigte Demokratie wärein den Augen des Aristoteles mit der Politie verwandt.

Mit dieser Betrachtung im 11. Kapitel des UI. Buchs hatAristoteles die moralisierende Staatstheorie vollkommen ver­lassen. Denn wenn es mö~lich ist, dass der wertvolle Einzel­mensch weniger leistet als das Kollektiv an sich geringwertigerMassenmenschen, dann ist die sittliche Höhe des Individuumsfür den Staat gar nicht mehr wichtig. Dann kann weder dieMonarchie noch die Aristokratie, noch irgendeine künstlichemporgezüchtete Minderheit für sich einen Vorsprung bean­spruchen. Entscheidend wird dann eigentlich das allgemeineKulturniveau der Masse, die Fähigkeit eines Volkes, sichaus einer tierisch barbarischen Niederung ungefähr zu derHöhe der Athener zu erheben.

In diesem Kapitel hat Aristoteies mit sämtlichen sokra­tischen und platonischen Traditionen der Staatsphilosophiegebrochen. So ist es begreiflich, dass er nun auch zum Frontal­angriff gegen das leitende Dogma der sokratischen Staatslehrevorgeht. Er tut es in seiner gewohnten ruhigen Art ohnepolemischen Lärm. Die Sokratik pflegte so zu argumentieren:wenn man krank ist, geht man zum Arzt. Wenn man überSee fahren will, vertraut man sich dem Kapitän an. Nur in8taatsangelegenheiten läuft man zu Gevatter Schneider undHanclschuhmacher. So wurde dann die Unentbehrlichkeit desFachmanns und die Fehlerhaftigkeit der Demokratie bewiesen.Der regierende Fachmann könne ferner auch nur vom Fach­mann richtig beurteilt werden. Also wäre es falsch, wie Aristo­teies es im Kapitel 11 vorschlägt, der unkundigen Masse dieWabl und die richterliche Kontrolle der leitenden Staats­beamten zu übergeben.

In dem Argument der Sokratik steckt irgendein Trug­schluss. Aber welcher ist es? Aristoteles geht auf das Beispielaus dem Alltag ein: wie ein Haus zu bauen ist, versteht nurein Architekt. Dennoch l,ann nicht der Architekt entscheiden,oh ein bestimmtes Haus brauehbar gebaut ist, sondern nur der

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Aristoteles tiber Diktatur und Demokratie ,i57

Auftraggeber, der darin wohnen soll. Oder der Laie verstehtnichts vom Kochen. Dennoch hat nicht der Koch die Ent­scheidung, ob eine Speise schmeckt, sondern der Mensch, dersie essen soll1).

Der Trugschluss der Sokratik liegt also darin, dass sieunter der Hand das Fachprinzip mit dem Machtprinzip ver­tauscht. Es ist richtig: nur der Arzt versteht die Kranken­behandlung und nur der Architekt das Bauen. Daraus folgt,dass auch nur der geschulte Offhier die Strategie versteht lindnur der Finanzfachmann die Technik der Steuererhebllng. Aberdaraus folgt nicht, dass der Arzt dem Kranken befehlen kannsich aufzuhängen, oder dass ein Architekt eine griechischeStadt zwingen kann, sich einen ä.gyptischen Tempel bauen znlassen. Ebenso hat der Stratege nicht darÜber zn bestimmen,ob ein Volk Krieg führen soll, und der Finanzspezialist, hatnicht zu entscheiden, ob man die Armen oder die lleichenbesteuert.

Der sokratische Schluss vom Arzt usw. beweist nur, dassein zivilisierter Staat für seine verschiedenen Funktionen Fach­leute nicht entbehren kann. Aber es folgt nie da,nms, dass derFachmann auch die politische IVlacht haben muss, oder dassdie Demokratie deshalb verfehlt sei, weil die Masse der Biirgernicht aus Verwaltnngsfachleuten besteht. Aristoteles hat geradedas Problem der Macht im Staats- und Gesellsclmftslebenganz genau durchdacht. Er hat darauf hingewiesen, dass dieGewalt des Herren Über den Sklaven oder des ArbeitgebersÜber den Arbeitnehmer eine ganz andere ist als z. B. dieAutorität, die der Arzt gegenÜber den Kranken oder derSportlehrer gegenÜber seinen SchÜlern besitzt 2). So konnteAristoteles ohne viele MÜhe den politischen Trugschluss derSokratik durchschauen.

Die Partei des Demosthenes hat den alten Aristoteles alsmalcedonischen Agenten gebasst. In Wirklichkeit ist in denVorlesungen des alten Staatsphilosophen von makecloniscberAgentengesinllung nichts zn merken. und bei aller sachlichenDistanz hat Aristoteles in dieser Periode seines Lebens keineFeindschaft gegen das demokratische Prinzip, und am wenigstengegen die zivilisierte athenische Demokratie, gekannt.

1) 1282a,20 H.

2) 1279a, 1.

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Zusammenfassend lässt sich über Buch III feststellen, da~s

es mit dem Idealstaats-Fragment der Bücher VII und VIIInichts zu tun bat. Sondern Buch III, das mehrfach offenkundiggegen VII polemisiert, gehört einer späteren Entwicklungsstufedes Aristoteles an. Buch III ist ein Werk des alten empiriscll­kritischen Aristoteles. Es ist also weder die Theorie Jaegersaufrecht zu erhalten, der meinte, dass III zusammen mitVII und VIII gehört, noch die Theorie Arnims, der zwar III

von VII und VIII trennt, aber erklärt, dass III einerfrüheren, platonisierenden Entwicklungsstufe des Aristoteleszuzuweisen wäre,

Nun glaubt freilich Jaeger, dass der Zusammenhang zwi­schen III und VII durch starke ällssere Argumente gesichertsei 1). Am Schluss von III findet sich in den Handschriftender Anfangssatz von VII in wenig verändertem Wortlautwieder. Die aristotelischen Schriften kennen mehrere Beispielesolcher technischer Merkzeichen, die den äusseren Zusammen­hang zwischen den Buchrollen herstellen. Es sei also ausdrück­lich überliefert, dass VII urspriinglich an III anschloss. Nach,1aeger bestand die Urpolitik aus der zusammenhängenden ReiheII, IH, VII, VIII. Dann habe Aristoteles im Alter die empi­rischen Biicher IV-VI geschrieben und sie in die Urpolitikzwischen III nnd VII eingeschoben. Dass Aristoteles einederartige Kombination des alten Idealstaats mit der neuenLehre vom realen Staat vorgenommen habe, sage er selbst am

.Ende der nikomachischen Ethik.Betrachten wir zunächst den Schluss des IH. Buches. Die

Schilderung der Monarchie schliesst mit dem 17. Kapitel ab.Dann lwmmen in dem kurzen 18. Kapitel die folgenden selt­samen Betrachtungen: Es ist oben bewiesen worden, dassnotwendigerweise die Arete des Mannes und die des Bürgersim besten Staat dieselbe ist. Folglich ist auch die Erziehungdieselbe, die den tüchtigen Mann und den tüchtigen Staats­bürgel' hervorbringt. Nachdem dies festgestellt ist, soll nundie beste Verfassung geschildert werden. Wer über die besteVerfassung eine richtige Untersuchung anstellen will, dermuss ...

Dieser letzte, am Schluss von III unvollkommene Batr.ist mit geringel' Veränderung der Anfang von VII. Es ist alsoklar, dass IrI 18 und VII 1 tatsächlich aneinander anschlossen.

') Jaeger a, a. O. S.280 f.

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Aristoteles iiber Diktatur lind Demokratie :nm

Aber ist das 18.Kapitel des III.Bucbes Üherbaupt von Aristo­teles'!

Aristoteles hat im BI. Buch in einer iiberaus mÜhsamenUntersucbung gezeigt, dass die Arete des 'guten Mannes' unddes <guten Biirgers' nicht identisch ist. Das ist der leitendeGedanke des ganzen Buches. Aber im 18. Kapitel steht dasGegenteil, und es wird kÜhn behauptet, dass Aristoteles selbstvorher das Entgegengesetzte bewiesen habe. Der Verfasser deskurzen Kapitels 18 bat also das IU. Buch entweder gar llichtgelesen, oder nur so oberfiächlich durchgesehen, dass er dellwesentlichen Sinn des Buches völlig umdrehte. Folglich istdas Kapitel nicht von Aristoteles, sondern von einem sp2~tel'en

Redaktor.Es ist leicht zu erkennen, warum der Redaktor das

18. Kapitel eingefügt hat. Es sollte ein Übergang geschaffenwerden, um die BÜcher VII und VIII unterzubringen. DerRedaktor bereitete eine Bnchausgabe der aristotelischen Papiereüber die Politik vor. Er merkte, dass das Fragment desIdealstaats - unsere Bücher Vll und VIII ohne Zu­sammenhang neben den Übrigen Texten stand. Er redetesich ein, dass das KernstÜck der aristotelischen Staatslehredie Schilderung einer idealen Aristokratie sein müsse. Dierichtige Stelle für die Beschreibung der Aristokratie sei hinterIII 17, im Anschluss an die Schilderung der Monarchie. Alsoseien die Papiere, die vor ihm lagen, offenbar in Unordnung,und VII und VIU gehörten in Wirklichkeit hinter III 17. Umdas Ganze einzurenken, schrieb er das kurze BindegliedIII 18, und danach sollte VII kommen.

Aber nicht dieser brave Mann, sondern erst ein zweiterRedaktor hat die Buclmusgabe veröffentlicht, von der dieerhaltenen Handschriften der Politik abhängen. Er verwarfdie Neugruppierung der Biicher, die sein Vorgänger versuchthatte, und liess VII und VIII am }1:nde stehen. Er vergassdann aber das Schlussstück von Buch UI herauszustreichen,das sein Vorgänger verfasst 11atte.

So ist uns beides erhalten, die richtige Bucheinteilungund zugleich der Fremdkörper UI 18. 1st bemerkenswert"dass hier zwei Redaktoren hintereinander gearbeitet haben,die sich beide weder durch besondere.Intelligenz, noch durchwesentliches Verständnis für die Gedanken des Aristotelesauszeichneten.

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Der scheinbare Übergang von Buch III zu Buch VII istdem Aristoteles fremd. Was bedeutet nun der Schluss dernikomachischen Ethik? Die Sätze lauten, nach der eigenenÜbersetzung Werner Jaegers 1) (Aristoteles kündigt an, inwelcher Art er die Politik behandeln will): 'Zunächst wollenwir festzustellen sucllen, was im einzelnen unsere VorgängerRichtiges gesagt haben, dann auf der Grundlage unserer Po~

Jitiensammlung untersuchen, was zur Erhaltung der Staatenführt, und was sie ruiniert, sowohl im Idlgemeinen wie fürdie einzelnen Staatsformen im besonderen, sowie die Ursachendafür, dass die einen gut, die anderen schlecht regiert sind.Denn wenn wir dies behandelt haben, werden wir vielleichtauch eber erkennen können, wie der beste Staat beschaffensein muss, welcher Ordnung jeder Staat bedarf, }md welcheGesetze und Einrichtungen er gebraucht.'

Aristoteles kiindet hier an, dass er im Anschluss an dieVorlesung über Ethik ein empirisches Kolleg über Politikhalten will. Er will erst schildern, was seine Vorgänger zumThema gesagt haben. Da ist offenbar Buch Il unsrer Politikgemeint. Unter Leitung des Aristoteles hatten seine Schülerein ungeheures Material iiber die Verfassungen der einzelnenStaaten zusammengetI·agen. So entstand die Sammlung der] 58 Staatsverfassungen. Auf Grund dieses Materials willAristoteles die verschiedenen Verfassungstypen untersuchen.Das entspricht ungefähr den Büchern Ill-VI. Mit Hilfedieser empirischen Untersuchungen werde man eher erkennenkÖnnen, wie der 'beste Staat' beschaffen sein muss.

Das Programm einer Politik, das Aristoteles am Endeder Ethik entwirft, verlangt einen organischen Zusammen­hang zwischen den einzelnen realen Staatsformen und demsogenannten 'besten Staat'. Das eine soll sich aus dem andernergeben. Ein solcher Zusammenhang besteht tatsächlich in

Büchern III-VI, zwischen den empirischen politischenEinzelbeobachtungen und dem realistisch gedachten 'bestenStaat', nämlich der Politie.

Dagegen besteht gar kein Zusammenhang zwischen denempirischen BÜchern III-VI und dem Fragment des Ideal­staats VIl und VIII. Das muss J aeger selbst zugeben. Erschreibt von den empirischen Büchern 2): 'Wenn am Schlnss

1) a. a. O. S.277.') a. a. O. S.281.

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Aristoteles über Diktatur und Demolull,lie 361

der nikomachischen Ethik gesagt, wird, sie sollten die Grund­lage des Idealstaats bilden, so ist dieser Aufbau über dieblosse Absicht nicht hinausgelangt, denn die BÜcher IV-VItragen zur Vorbereitung und Fundierung des Idealstaats inWirklichkeit nichts oder nur indirekt bei:

Damit ist bewiesen: Das empirische Kolleg iiber Politik,das Aristoteles am Ende der Ethik ankündigt, entsprichtunsern Büchern lI-VI. Mit grosseI' Wahrscheinlichkeitnimmt Jaeger an, dass Buch I, das System dm' Volkswirt­schaft, das späteste Buch der Politik ist. Das war vielleichtnoch nicht fertig, a.ls Aristoteles die Ankündigung am Schlussder Ethik machte. Aber an VII uml VUI, oder gar a.n eineReihenfolge der Bücher: III, VII, VIII, I V HS\\', hat Aristotelesbei seiner Ankündigung nicht im entferntesten gedacht.

Aristoteles h~ttte nicht die Absicht, seine Kollegheftedem Publikum zu übergeben. Wenn er an seinen Heftenredigierte, konnte er nur den Zweck verfolgen, seine Vor­lesung zu fördern. Was hätte Aristoteles damit beabsichtigenkönnen, wenn er das, in sich ganz unfertige, Idealstaats­Fragment mitten in das empirische Kolleg hineingesetzt undso dort alle Zusammenhänge zerrissen hätte? Die BiicherI - VI oder anch II VI geben ein vernünftiges Kolleg.Ebenso sind VII und VIII wenigstens der Anfang einesrichtigen Kollegs. Aber VII und VIII, zwischen IU nnd IVeingeschoben, gehen ein wÜstes Chaos. D.ie Hypothese ,laegersüber eine Schlussredaktion der Politik durch Aristoteles selbst,kann daller nicht richtig sein.

Berlin-Zehlendorf Arthur Rosenberg