art drache

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elea orly spirit

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DRACHE

Ich bin irgendwo: in einem dichten, dunklen Wald, nur kleine Öff-nungen in den Baumkronen erhellen den Grund. Vor mir ein Haus aus schwarzem Holz ohne Fenster und Türen. Der Augeblick die-ser Betrachtung versetzt mich plötzlich in das Haus hinein: um mich ein gewaltiger Raum von undurchdringlicher Dunkelheit.

Ich erkenne etwas: es ist ein Depot für alte Güterzüge, zwei deutliche Umrisse der Wagons an der rechten Seite. Gro-ße Öffnungen im Fußboden ziehen meine Aufmerksamkeit auf sich. Sie sind etwa einen Meter im Durchmesser und haben ei-nen Schutzring aus dunkelschwarzen Steinen herum, in ih-rer Mitte befinden sich glühendheiße, brennende Kohlensteine.

Ich stehe ganz nah an einer der Öffnun-gen, die von den Steinen a u s g e h e n d e Hitze müsste meine Haut in Flammen set-zen. Doch ich spüre nichts. Ein Gefühl der Angst be-fällt mich. Da bemerke ich eine Tür in der Ecke, laufe hin und versuche sie zu öffnen – doch ver-geblich, sie ist verschlossen. Erst jetzt er-kenne ich, dass die linke Wand des Hauses aus Glas besteht, von einem Vor-hang verdeckt.

Eine Bewegung geht vom Vorhang aus, als verursachte ein Luft-zug ein kaum merkliches Wehen des Stoffs. Ein Teil des Fens-ters muss offen sein, ich gehe darauf zu, als plötzlich meine Angst immer stärker wird und ich die Dunkle Kraft wieder kom-men spüre. Sie kommt schnell, will mich verschlingen, in sich hinein ziehen, würgt mich, keine Luft, keine Gedanken mehr.

Plötzlich bin ich in einem Raum unter vielen jungen Menschen und fühle mich wie eine von ihnen: wir gehören zusammen.

Auf der rechten Seite erscheint ein kleiner Junge, er ist unser An-führer, unser Meister. Er ist ungefähr elf Jahre alt, hat schwarze, schulterlange Haare. In seiner linken Hand hält er eine Sonnen-brille. Erst jetzt bemerke ich, ebenfalls eine Sonnenbrille in der Hand zu halten, ebenso wie die übrigen Menschen um mich herum.

Er sagt zu mir, ich solle ihm direkt in die Augen sehen und kei-ne Angst haben. Als ich in seine Augen blicken will, spiegelt seine Sonnenbrille: Feuer und Blitze, Feuer und Blitze, Feu-er und Blitze! Er fragt mich, wer ich bin und dass ich ihm die Antwort aus der Tiefe meines Herzens geben soll. Ich erkenne mich, ich erkenne mich von innen und von außen. Ich bin tot...

Im Moment dieser Erkenntnis befinde ich mich im freien Kosmos. Alles um mich herum ist schwarz, das Gefühl der Unendlichkeit des mich umgebenden Weltraums. Der Boden unter meinen Fü-ßen ist nicht sichtbar, aber ich spüre auf fester Materie zu stehen. Der Meister steht neben mir, nimmt mich an der rechten Hand und führt zum Ende der unendlichen Dunkelheit. Ich kann nichts sehen, aber ich fühle, dass hier der feste Boden aufhört und sich ein tiefer Abgrund, ein noch dunkleres, endloses Nichts eröffnet: vor mir der kosmische Raum und das Gefühl der Freiheit ohne Grenzen, wie an der Spitze des Höchsten Berges dieser Welt in einer dunklen Nacht.

Ich versuche auf den Fußspitzen mein Gleichgewicht zu bewahren, um nicht in die endlose Tiefe zu stürzen, als plötzlich eine klei-ne weiße Wolke sich in weiter Ferne bildet. Je näher sie kommt, desto deutlicher werden ihre Umrisse, ich erkenne den Großen Weißen Drachen, er fliegt genau auf mich zu. Seine Erscheinung ist so mächtig und überwältigend, dass ich Angst bekomme, ihn direkt anzusehen, Angst, dass mein Geist die Energie seiner Er-scheinung nicht erfassen kann, also schließe ich meine Augen und breite meine Hände weit aus. Ich lasse mich von ihm umarmen, umschlingen und von seiner Kraft durchströmen - mit jeder Zelle meines Seins: das Gefühl des inneres Friedens und der Freiheit.

Der Meister steht noch immer hinter mir, er hat alles beobachtet. Ich drehe mich ihm zu und erkenne, eine wichtige Prüfung be-standen zu haben. Die Erinnerung erfüllt mein Herz. Der Meister streckt seine Hand aus und gibt mir die Sonnenbrille. Ihr Modell ist sonderbar, sie würde mein halbes Gesicht verdecken. Ich set-ze sie auf, erhebe mich und fliege hinaus in den freien Kosmos.

Unendlicher Raum, gefüllt mit größter Pracht der Farben sei-ner Sterne, das göttliche Kleid. Kein vom Menschen erdach-tes Wort könnte diesen Flug beschreiben. Einer der Ster-ne zieht meine Aufmerksamkeit auf sich, er leuchtet in allen Farben des Regebogens und zieht mich magisch an. Je nä-her ich auf ihn zufliege, desto realer wird seine Erscheinung.

Er gleicht einem riesigen Gehirn. Ich fühle mich glücklich, hier zu sein. Die Hirnmasse nimmt die Umrisse der Erde an.

Eine Stadt aus roten Ziegelsteinen auf grünbrauner Erde, in der Ar-chitektur des siebzehnten Jahrhunderts, von einer riesigen Mauer umringt und einem Fluss, der sie in der Mitte schneidet. Ein wun-derschöner Sommertag. Ich lande langsam auf der Wiese neben der Stadt und spüre wie alles auf mich eine magische Wirkung hat.

Ich nähere mich der Mauer, um sie aus der Nähe zu betrachten, und ich erkenne zu meinem großen Entsetzen: diese Mauer, diese Häu-ser, diese Stadt, alles, was mir vorhin so lebendig erschien, ist im Detail erstarrt: diese Welt, ein Konstrukt, aus Bausteinen gemacht!

Ich erschrecke und will fliehen, setze meine Brille auf und möchte fliegen – doch ohne Erfolg.

In dem Moment verändert sich das Bild der Spielzeugwelt, ich sehe mich in die reale Umgebung einer Stadt versetzt, wo kei-ne Menschenseele lebt und nur der sanfte Wind der Einsamkeit alte Zeitungsblätter durch die Straßen treibt. Ich bemerke um mich her tausende Sonnenbrillen, Sonnenbrillen, Sonnenbrillen. Gleich wohin mein Blick sich wendet: überall sind Sonnenbril-len, vergessen und verlassen.. Bei diesem Anblick zieht sich mein Herz zusammen und eine Erkenntnis durchströmt mich: für im-mer hier bleiben zu müssen, so wie die anderen, die, verführt von der falschen Pracht der Spielzeugwelt, vergaßen, wie man fliegt

.

Ich nicht! Ich werde nicht hier bleiben! Ich sammle die Sonnen-brillen, eine nach der anderen setze ich auf, versuche zu fliegen. Erste, zweite, dritte, ... zehnte ... Oh Herr, funktioniert denn keine einzige?! Wieder halte ich eine Brille in der Hand – die hunderste, die tausendste? – setzte sie auf und erhebe mich in den Himmel.

XXIII.II.MDCCCCLXXXXIX