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Arthur Conan Doyle

Die Abenteuer des Sherlock Holmes

Arthur Conan Doyle

Die Abenteuer des Sherlock Holmes

– Vollständige & Illustrierte Fassung –

Original: Stuttgart, Verlag R. Lutz, [ca. 1903]

Übersetzung: Margarete Jacobi, Louis Ottmann

Illustrationen: Sidney Paget

Überarbeitung, Umschlaggestaltung: Null Papier Verlag

Published by Null Papier Verlag, Deutschland

Copyright © 2012, 2013 by Null Papier Verlag

3. Auflage, ISBN 978-3-95418-076-9

Umfang: 224 Normseiten bzw. 281 Buchseiten

www.null-papier.de/holmes

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Vorwort

Dieses Buch basiert auf der Erstübersetzung von Margarete Ja-cobi und Louis Ottmann aus dem Jahre 1903.

Ich habe bewusst darauf verzichtet, es in die neue DeutscheRechtschreibung (von 2006) zu übertragen. Ein »Telegraphen-amt« wird nicht zum »Telegrafenamt«, die »Phantasie« wirdnicht zur »Fantasie« und das »daß« nicht zum »dass«.

Der Text wurde nicht geändert, aber an mehreren Stellen be-hutsam angepasst. Ich habe versucht, bei wirklich nicht mehrgebräuchlichen Wörtern Ersatz zu finden. War das nicht mög-lich, musste eine erklärende Fußnote herhalten.

Nur so macht meiner Meinung nach die Veröffentlichung die-ser berühmten Geschichten Sinn. Alles andere wäre ein Sakri-leg. Ich verspreche ihnen, Sie werden trotzdem bestens unter-halten werden.

Jürgen Schulze, April 2012

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Die einzelnen Geschichten

Einführung

»Das gesprenkelte Band« (»The Speckled Band«), 1892

Eine aufgeregte Frau bittet Holmes um Hilfe. Helen Stoner be-richtet vom mysteriösen Tod ihrer Zwillingsschwester Julia.Nun fürchtet sie um ihr eigenes Leben. Wie wird sich Holmesdieses Geheimnisses annehmen?

»Der Daumen des Ingenieurs« (»The Engineer’s Thumb«), 1892

Der junge Ingenieur Victor Hatherley sucht Watsons Praxisauf, weil er während eines nächtlichen Vorfalls seinen Daumenverloren hat. Natürlich erregt er damit Holmes’ Aufmerksam-keit, der sich nur zu gerne der Sache annimmt.

»Der adlige Junggeselle« (»The Noble Batchelor«), 1892

Eine kurz nach der Trauung verschwundene Braut, ein Millio-nenvermögen und ein adliger Junggeselle sind die Zutaten indiesem Geheimnis, das darauf wartet, von Holmes und Watsongelöst zu werden. Sicherlich werden sie gemeinsam die Ant-worten finden, oder nicht?

»Die Beryll-Krone« (»The Beryl Coronet«), 1892

An einem Wintermorgen erhalten Holmes und Watson Besuchvon Alexander Holder, den Teilhaber einer großen Privatbank;dieser ist verzweifelt, weil ihm eine wertvolle Krone als Kre-ditpfand kurzfristig überlassen worden war. Sein stets in Geld-

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nöten befindlicher Sohn wird nun verdächtigt, Juwelen aus die-ser Krone herausgebrochen und gestohlen zu haben.

»Silberstrahl« (»Silver Blaze«), 1892

Der berühmte Stallmeister und Trainer John Straker wird er-mordet aufgefunden, gleichzeitig ist das in seiner Obhut be-findliche, schnellste Rennpferd Englands mit Namen Silber-strahl verschwunden. Besteht ein Zusammenhang? Schnell fälltder Verdacht auf einen Widersacher – zu schnell womöglich?

»Die Blutbuchen« (»The Copper Beeches«), 1892

Die junge Erzieherin Violet Hunter erhält ein verlockendesStellenangebot. Dieses Angebot ist aber so gut, dass ihr Miss-trauen geweckt wird, nicht zuletzt, weil man von ihr verlangt,sich die Haare kurz zu schneiden und während der Arbeit einspezielles Kleid zu tragen. Keine Frage, dass Holmes dieserGeschichte auf den Grund gehen muss.

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Arthur Conan Doyle & Sherlock Holmes

Womöglich wäre die Literatur heute um eine ihrer schillernds-ten Detektivgestalten ärmer, würde der am 22. Mai 1859 inEdinburgh geborene Arthur Ignatius Conan Doyle nicht ausge-rechnet an der medizinischen Fakultät der Universität seinerHeimatstadt studieren. Hier nämlich lehrt der später als Vorrei-ter der Forensik geltende Chirurg Joseph Bell. Die Methodikdes Dozenten, seine Züge und seine hagere Gestalt wird der an-gehende Autor für den dereinst berühmtesten Detektiv der Kri-minalliteratur übernehmen.

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Geburt und Tod des Holmes

Der erste Roman des seit 1883 in Southsea praktizierendenArztes teilt das Schicksal zahlloser Erstlinge – er bleibt unvoll-endet in der Schublade. Erst 1887 betritt Sherlock Holmes dieBühne, als »Eine Studie in Scharlachrot« erscheint. NachdemConan Doyle im Magazin The Strand seine Holmes-Episodenveröffentlichen darf, ist er als erfolgreicher Autor zu bezeich-nen. The Strand eröffnet die Reihe mit »Ein Skandal in Böh-men«. Im Jahr 1890 zieht der Schriftsteller nach London, wo erein Jahr darauf, dank seines literarischen Schaffens, bereits sei-ne Familie ernähren kann; seit 1885 ist er mit Louise Hawkinsverheiratet, die ihm einen Sohn und eine Tochter schenkt.

Ginge es ausschließlich nach den Lesern, wäre dem kühlen De-tektiv und seinem schnauzbärtigen Mitbewohner ewiges Lebenbeschieden. Die Abenteuer der beiden Freunde nehmen frei-lich, wie ihr Schöpfer meint, zu viel Zeit in Anspruch; der Au-tor möchte historische Romane verfassen. Deshalb stürzt er1893 in »Das letzte Problem« sowohl den Detektiv als auchdessen Widersacher Moriarty in die Reichenbachfälle. Die Pro-teste der enttäuschten Leserschaft fruchten nicht – Holmes isttot.

Die Wiederauferstehung des Holmes

Obwohl sich der Schriftsteller mittlerweile der Vergangenheitund dem Mystizismus widmet, bleibt sein Interesse an Politikund realen Herausforderungen doch ungebrochen. Den ZweitenBurenkrieg erlebt Conan Doyle seit 1896 an der Front in Süd-afrika. Aus seinen Eindrücken und politischen Ansichten resul-tieren zwei nach 1900 publizierte propagandistische Werke,wofür ihn Queen Victoria zum Ritter schlägt.

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Eben zu jener Zeit weilt Sir Arthur zur Erholung in Norfolk,was Holmes zu neuen Ehren verhelfen wird. Der Literat hörtdort von einem Geisterhund, der in Dartmoor eine Familie ver-folgen soll. Um das Mysterium aufzuklären, reanimiert ConanDoyle seinen exzentrischen Analytiker: 1903 erscheint »DerHund der Baskervilles«. Zeitlich noch vor dem Tod des Detek-tivs in der Schweiz angesiedelt, erfährt das Buch enormen Zu-spruch, weshalb der Autor das Genie 1905 in »Das leere Haus«endgültig wiederbelebt.

Das unwiderrufliche Ende des Holmes

Nach dem Tod seiner ersten Frau im Jahr 1906 und der Heiratmit der, wie Conan Doyle glaubt, medial begabten Jean Leckiebefasst sich der Privatmann mit Spiritismus. Sein literarischesSchaffen konzentriert sich zunehmend auf Zukunftsromane,deren bekanntester Protagonist der Exzentriker Professor Chal-lenger ist. Als populärster Challenger-Roman gilt die 1912 ver-öffentlichte und bereits 1925 verfilmte Geschichte »Die ver-gessene Welt«, die Conan Doyle zu einem Witz verhilft: Derdurchaus schlitzohrige Schriftsteller zeigt im kleinen Kreis ei-ner Spiritistensitzung Filmaufnahmen vermeintlich lebenderSaurier, ohne zu erwähnen, dass es sich um Material der erstenRomanverfilmung handelt.

Die späte Freundschaft des Literaten mit Houdini zerbricht amSpiritismus-Streit, denn der uncharmante Zauberkünstler ent-larvt zahlreiche Betrüger, während der Schriftsteller von derExistenz des Übernatürlichen überzeugt ist. Conan DoylesGeisterglaube erhält Auftrieb, als sein ältester Sohn Kingsleywährend des Ersten Weltkriegs an der Front fällt.

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Noch bis 1927 bedient der Autor das Publikum mit Kurzge-schichten um Holmes und Watson; zuletzt erscheint »Das Buchder Fälle«. Als Sir Arthur Conan Doyle am 7. Juli 1930 stirbt,trauern Familie und Leserschaft gleichermaßen, denn diesmalist Holmes wirklich tot.

Von der Bedeutung eines Geschöpfes

Oder vielmehr ist Holmes ein ewiger Wiedergänger, der imGedächtnis des Publikums fortlebt. Nicht wenige Leser hieltenund halten den Detektiv für eine existente Person, was nichtzuletzt Conan Doyles erzählerischem Geschick und dem Reali-tätsbezug der Geschichten zu verdanken sein dürfte. Tatsäch-lich kam man im 20. Jahrhundert dem Bedürfnis nach etwasHandfestem nach, indem ein Haus in der Londoner BakerStreet die Nummer 221 b erhielt. Dort befindet sich das Sher-lock-Holmes-Museum.

Conan Doyles zeitgenössischer Schriftstellerkollege GilbertKeith Chesterton, geistiger Vater des kriminalistischen PaterBrown, brachte das literarische Verdienst seines Landsmannsauf den Punkt: Sinngemäß sagte er, dass es nie bessere Detek-tivgeschichten gegeben habe und dass Holmes möglicherweisedie einzige volkstümliche Legende der Moderne sei, deren Ur-heber man gleichwohl nie genug gedankt habe.

Dass der Detektiv sein sonstiges Schaffen dermaßen überlagernkonnte, war Conan Doyle selbst niemals recht. Er hielt seinehistorischen, politischen und später seine mystizistisch-spiritis-tischen Arbeiten für wertvoller, während die Kurzgeschichtendem bloßen Broterwerb dienten. Vermutlich übersah er bei derSelbsteinschätzung seiner vermeintlichen Trivialliteratur deren

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enorme Wirkung, die weit über ihren hohen Unterhaltungswerthinausging.

So wie Joseph Bell, Conan Doyles Dozent an der Universität,durch präzise Beobachtung auf die Erkrankungen seiner Pati-enten schließen konnte, sollte Sherlock Holmes an Kriminalfäl-le herangehen, die sowohl seinen Klienten als auch der Polizeiunerklärlich schienen. Bells streng wissenschaftliches Vorge-hen stand Pate für Deduktion und forensische Methodik in denvier Romanen und 56 Kurzgeschichten um den hageren Gentle-man-Detektiv. Professor Bell beriet die Polizei bei der Verbre-chensaufklärung, ohne in den offiziellen Berichten oder in denZeitungen erwähnt werden zu wollen. Die Ähnlichkeit zu Hol-mes ist augenfällig. Wirklich war in den Geschichten die Fikti-on der Realität voraus, denn wissenschaftliche Arbeitsweise,genaue Tatortuntersuchung und analytisch-rationales Vorgehenwaren der Kriminalistik jener Tage neu. Man urteilte nach Au-genschein und entwarf Theorien, wobei die Beweisführungnicht ergebnisoffen geführt wurde, sondern lediglich jeneTheorien belegen sollte. Zweifellos hat die Popularität der Er-lebnisse von Holmes und Watson den Aufstieg der realen Fo-rensik in der Verbrechensaufklärung unterstützt.

Ein weiterer interessanter Aspekt der Erzählungen betrifft Co-nan Doyles Neigung, seine eigenen Ansichten einzuarbeiten.Zwar bevorzugte er zu diesem Zweck andere Schaffenszweige,aber es finden sich gesellschaftliche und moralische Meinun-gen, wenn Holmes etwa Verbrecher entkommen lässt, weil ermeint, dass eine Tat gerecht gewesen oder jemand bereitsdurch sein Schicksal genug gestraft sei. Gelegentlich ist dabeifestzustellen, dass er Angehörige niedriger Stände gleichgülti-ger behandelt als die Vertreter der »guten Gesellschaft«.

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Fiktive Biografien des Detektivs, Bühnenstücke, Verfilmungenund zahllose Nachahmungen, darunter nicht selten Satiren, vondenen Conan Doyle mit »Wie Watson den Trick lernte« 1923selbst eine verfasste, künden von der ungebrochenen Beliebt-heit des kriminalistischen Duos, ohne das die Weltliteratur we-niger spannend wäre.

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Einführung

ie Haushälterin hatte eben den Nachmittagstee her-eingebracht. Nun zog sie die Vorhänge vor denFenstern zu und zündete die Stehlampe an, die ein

warmes Licht über den gedeckten Tisch warf. Das Feuer imKamin verbreitete eine angenehme Wärme. Doktor Watson saßin einem bequemen Sessel und las, als sich die Türe öffneteund Sherlock Holmes eintrat. »Das ist heute mal wieder einNebel!« sagte er und rieb sich die Hände vor dem Feuer warm.»Ein scheußliches Wetter draußen! Keinen Hund möchte manda hinausjagen!« Dann wandte er sich dem Hausgenossen zu:»Was liest du denn da so interessiert, Doktor?«

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Watson legte rasch, fast in leichter Verlegenheit, die Blätterbeiseite. Es waren eine Anzahl fortlaufender Nummern des›Telegraph‹.

»Ach, nichts weiter«, sagte er in offensichtlichem Bemü-hen, der Sache keine weitere Bedeutung zuzuschreiben.»Komm, setz dich lieber her und trinke gleich einen heißenTee, wenn du so ausgefroren bist.«

Damit füllte er ihm eine Tasse, rückte einen Sessel zurechtund bot ihm einen Teller mit belegten Broten an. Kaum hatteHolmes sich gesetzt, so klingelte es. Sie stellten beide zugleich,wie auf Verabredung, ihre Tassen nieder und lauschten.

War es ein Besuch oder ein Ruf? Und wem von ihnen bei-den mochte er gelten?

Dr. Watson hatte zwar seit seiner Rückkehr aus dem afgha-nischen Feldzug, an dem er als Militärarzt teilnahm, offiziell

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noch keine Praxis aufgenommen. Aber es kam doch vor, daß ergelegentlich, etwa bei Unglücksfällen, zur dringenden Hilfe-leistung geholt wurde und sie dann selbstverständlich nicht ver-weigerte.

Die Haushälterin kam herein. »Ein Kind ist überfahren wor-den, Herr Doktor –«

»Ich komme«, unterbrach Watson ihren Bericht und standsofort auf. Ein Mensch in Gefahr – da wurde jede Frage nachZeit und Wetter gleichgültig für ihn. Er eilte hinaus, und Hol-mes hörte noch, wie er draußen mit einem Mädchen verhandel-te, sich Name und Wohnung sagen ließ, während er alles Nöti-ge zur Hilfeleistung einpackte. Gleich darauf fiel die Haustüreins Schloß. Frau Hudson kam mit ihrem schweren Schritt dieTreppe herauf und verschwand in der Küche.

Es war wieder still geworden im Hause. Nichts war mehr zuhören, als das Aufflackern des Feuers im Kamin. Der Lärm derStraße und der vorbeifahrenden Wagen drang nur gedämpftherauf, wie etwas Fernes, das die Abgeschlossenheit diesesRaumes nicht stören konnte.

Sherlock Holmes hatte seinen Tee getrunken. Nun saß er inbehaglicher Entspannung zurückgelehnt in seinem Sessel undblickte gedankenverloren den blauen Wolken seiner Pfeifenach. Da fiel sein Blick auf die Zeitungen, die Watson achtlosliegengelassen hatte und er griff danach. Zuerst blieb sein Blickauf einem Artikel haften, in dem jemand sich weit und breitüber die Notwendigkeit frühzeitiger Zahnpflege beim Klein-kind ausließ, dann folgte ein Bericht über den Stand der über-tragbaren Krankheiten. Fachsimpelei, die nur Watson angeht,dachte Holmes und war schon im Begriff, den ›Telegraph‹ wie-

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der wegzulegen, als er plötzlich seinen eigenen Namen darinentdeckte. »Aha, Watson scheint mal wieder unter die Schrift-steller gegangen zu sein!« murmelte Holmes vor sich hin. Erüberflog einige Spalten, lächelte, legte die Pfeife aus der Hand,setzte sich bequem zurecht, suchte den Anfang und las:

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Das gesprenkelte Band1

enn ich meine Aufzeichnungen von den vielen ab-sonderlichen Fällen überblicke, an denen ich wäh-rend der letzten Jahre das Verfahren meines Freun-

des Sherlock Holmes studiert habe, so finde ich darunter man-che von tragischer, einige auch von komischer Art; viele lassensich einfach nur als merkwürdig bezeichnen, aber keiner alsalltäglich; denn da Holmes sich bei seiner Tätigkeit weit mehrvon der Liebe zu seinem Beruf als von materiellem Gewinn be-stimmen ließ, so lehnte er seine Mitwirkung stets ab, wenn dieNachforschungen sich nicht auf einen ungewöhnlichen odergeradezu rätselhaften Vorgang richteten. Unter all diesen ver-schiedenartigen Fällen weiß ich mich jedoch keines zu entsin-nen, der eine gleiche Fülle merkwürdiger Züge dargeboten hät-te, wie der, welcher in der bekannten Familie der Roylotts vonStoke Moran in Surrey spielte. Dieses Ereignis fiel in die ersteZeit unseres gemeinsamen Junggesellenlebens in der BakerStreet. Ich würde es vielleicht früher schon veröffentlicht ha-ben, wäre mir nicht Stillschweigen darüber auferlegt gewesen –eine Pflicht, von der mich erst jetzt der Tod der Dame entbun-den hat, in deren Interesse jenes Versprechen gegeben wordenwar. Vielleicht ist es ganz gut, daß der wahre Sachverhalt jetztans Licht kommt, denn wie ich hörte, haben sich über den Toddes Dr. Grimesby Roylott in weiten Kreisen Gerüchte verbrei-tet, die jene Ereignisse noch gräßlicher ausmalten, als sie inWirklichkeit waren.

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1 Auch: Das getupfte Band

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An einem Aprilmorgen erblickte ich beim Erwachen Holmesvollständig angekleidet an meinem Bett. Er stand sonst ge-wöhnlich spät auf, und da die Uhr auf dem Kaminsims erst einViertel nach sieben zeigte, so blinzelte ich ihn einigermaßenüberrascht, vielleicht sogar etwas ärgerlich an, denn ich ließmich selbst nicht gerne in meinen Gewohnheiten stören.

»Es tut mir sehr leid, daß ich dich wecken muß, Watson«,sagte er, »aber es geht heute morgen keinem im Hause besser.Frau Hudson ist zuerst herausgeklopft worden, sie hat michaufgeweckt, und jetzt kommt die Reihe an dich.«

»Was gibt es denn? Brennt es?«

»Nein, eine Klientin ist da. Eine junge Dame von auswärts,die mich durchaus sprechen will. Sie soll in großer Aufregungsein. Sie wartet unten im Empfangszimmer. Wenn sich abereine junge Dame in solcher Morgenfrühe nach London auf-macht und die Leute aus den Federn treibt, so wird sie wohleinen triftigen Grund dafür haben. Einen wirklich interessantenFall würdest du doch gewiß gern von Anfang an verfolgen. Ichwollte dich deshalb unter allen Umständen wecken, um dichdieser Gelegenheit nicht zu berauben.«

»Das war sehr nett von dir, mein lieber Junge, natürlichmöchte ich sie um keinen Preis verpassen.«

Ich kannte keinen größeren Genuß, als Holmes bei den Un-tersuchungen, die sein Beruf mit sich brachte, Schritt fürSchritt zu begleiten und seine kühnen Schlußfolgerungen zubewundern, die blitzschnell, als entstammten sie höherer Ein-gebung, und doch stets auf streng logischer Grundlage aufge-baut, Licht in das Dunkel der ihm vorgelegten rätselhaften Fäl-

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le brachten. Ich warf mich also rasch in die Kleider und warnach wenigen Minuten so weit, um meinem Freund nach demEmpfangszimmer folgen zu können.

Eine schwarzgekleidete, verschleierte Dame saß am Fensterund erhob sich bei unserem Eintritt.

Holmes stellte sich vor, begrüßte sie freundlich und erklärteihr, indem er auf mich deutete: »Hier ist mein vertrauterFreund und Kollege Dr. Watson, vor dem Sie Ihre Sache ohneScheu vorbringen können. – Frau Hudson hat ja Feuer ange-macht, wie ich sehe, das war vernünftig von ihr. Bitte, setzenSie sich nur an den Kamin; ich lasse Ihnen gleich eine Tasseheißen Kaffee bringen, Sie zittern ja ordentlich.«

»Aber nicht vor Kälte«, antwortete die Dame mit leiserStimme, indem sie der Aufforderung Folge leistete.

»Weshalb denn sonst?«

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»Vor Angst, Herr Holmes, vor Schrecken.« Bei diesenWorten schlug sie den Schleier zurück, und wir sahen nun, daßsie sich tatsächlich in einem Zustand starker Erregung befand;ihr Gesicht war ganz verzerrt und aschfahl, und sie blickteangstvoll um sich wie ein gehetztes Wild. Ihren Zügen und ih-rer Figur nach mußte man sie für dreißigjährig halten, allein ihrHaar zeigte bereits Spuren von Grau, und es lag etwas Müdesund Abgezehrtes in ihrer ganzen Erscheinung.

Holmes musterte sie mit seinem alles durchdringendenBlick. »Sie müssen keine Angst haben«, sagte er in beruhigen-dem Tone, indem er sich über sie beugte. »Wir werden gewißbald alles in Ordnung bringen. Sie sind heute früh mit der Bahnangekommen, wie ich sehe.«

»Kennen Sie mich denn?«

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»Nein, ich bemerke nur die eine Hälfte der Rückfahrkarte,die Sie in Ihrem linken Handschuh stecken haben. Sie müssenfrüh aufgebrochen sein und hatten dann bis zur Bahn eine tüch-tige Fahrt in einem Jagdwagen auf schlechten Wegen zu ma-chen.«

Mit dem Ausdruck höchsten Erstaunens starrte die Fremdemeinen Freund an.

»Sie brauchen sich nicht zu verwundern«, fuhr Holmes lä-chelnd fort. »Ich treibe keine Hellseherei. Aber der linke ÄrmelIhrer Jacke ist an nicht weniger als sieben Stellen mit nochganz nassem Schmutz bespritzt. Kein anderes Fuhrwerk wirftaber so viel Schmutz auf wie ein Jagdwagen, und am aller-schlimmsten ist es vollends, wenn man vorne links neben demKutscher sitzt.«

»Das mag sein, wie es will, jedenfalls treffen Sie mit IhrenSchlüssen das Richtige«, versetzte sie. »Ich fuhr vor 6 Uhr da-heim fort, brauchte 20 Minuten bis nach Leatherhead und trafmit dem ersten Zuge hier an der Waterloo-Station ein. – Eskann nicht länger so fortgehen, ich halte es nicht mehr aus, ichwerde wahnsinnig! Ich habe gar niemand, an den ich michwenden könnte – niemand; nur ein einziger Mensch nimmt An-teil an mir, aber helfen kann er mir auch nicht. Man hat mirvon Ihnen erzählt, Herr Holmes. Eine meiner Bekannten, FrauFarintosh, der Sie einmal in ihrer schrecklichen BedrängnisBeistand leisteten, hat mir Ihre Adresse gegeben. Ach, meinenSie nicht, Sie könnten mir vielleicht ebenfalls helfen und diefurchtbare Finsternis, die mich umgibt, wenigstens durch einenschwachen Schimmer erhellen? Ich habe freilich jetzt keinGeld, aber in sechs Wochen oder einem Monat, wenn ich ver-

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heiratet und im Besitz meines Vermögens bin, sollen Sie michnicht undankbar finden.«

Holmes entnahm seinem Schreibtisch ein kleines Buch mitAufzeichnungen über frühere Fälle und schlug darin nach.

»Farintosh«, murmelte er, »ach ja, jetzt erinnere ich michdes Falles. Es handelte sich um einen Opalkopfschmuck. – Daswar noch vor deiner Zeit, Watson. – Ich kann Ihnen die Versi-cherung geben, daß ich mich Ihres Falles mit demselben Inter-esse annehmen werde, wie damals der Angelegenheit von FrauFarintosh. Über die Geldfrage möchte ich Sie beruhigen, meineBelohnung finde ich einzig in meiner Tätigkeit selbst; dochsteht es Ihnen frei, mir meine etwaigen Auslagen bei gelegenerZeit zu ersetzen. Und nun bitte ich Sie, uns alles mitzuteilen,was für die Beurteilung des Falles irgend von Wert sein kann.«

»Ach«, begann die Fremde, »das Schreckliche an meinerLage ist gerade, daß meine Befürchtungen so unbestimmterNatur sind und mein Verdacht sich nur auf geringfügige Um-stände stützt, die jedem andern bedeutungslos erscheinen.Selbst mein Verlobter betrachtet alle meine Vermutungen nurals Eingebungen meiner überreizten Nerven. Er sagt es nichtgerade heraus, allein ich merke es an seinen beschwichtigendenAntworten und ausweichenden Blicken. Aber Sie, Herr Hol-mes, sollen ja imstande sein wie nur wenige, das menschlicheHerz zu durchschauen. Ihr Rat wird mir gewiß einen Wegdurch all die Gefahren zeigen, von denen ich jetzt umgebenbin.« Fragend hob sie den Blick zu Holmes.

»Bitte, fahren Sie ruhig fort«, ermunterte er sie.

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»Ich heiße Helen Stoner und wohne zusammen mit meinemStiefvater an der Westgrenze von Surrey. Er ist der letzte derRoylotts von Stoke Moran, die eine der ältesten Familien Eng-lands waren.«

Sherlock Holmes nickte. »Der Name ist mir bekannt«, sagteer.

»Die Familie gehörte einst zu den reichsten in ganz Eng-land und ihre Besitzungen erstreckten sich bis über die Gren-zen der benachbarten Grafschaften hinaus. Im vorigen Jahrhun-dert jedoch kam der Besitz viermal hintereinander in leichtsin-nige Hände, und als dann noch einer der Erben sich dem Spielergab, war der Ruin der Familie besiegelt. Ein paar Hufen2

Landes und der zweihundert Jahre alte Familiensitz, auf demaber hohe Hypotheken lasteten, war alles, was übrig blieb. Dervorige Gutsherr harrte noch bis zu seinem Tode dort aus, in-dem er das schwere Los eines verarmten Edelmannes trug; seineinziger Sohn dagegen, mein jetziger Stiefvater, sah ein, daß ersich den neuen Verhältnissen anpassen mußte; er verschafftesich ein Darlehen von einem Verwandten, das ihm das Studiumder Medizin ermöglichte. Dann ließ er sich in Kalkutta nieder,wo er sich mit großer Willenskraft und durch seine tüchtigenKenntnisse eine ausgebreitete Praxis erwarb.

Im Jähzorn über einen Diebstahl in seinem Hause erschluger jedoch einen eingeborenen Diener und entging nur mit Müheeinem Todesurteil. Er erhielt eine lange Freiheitsstrafe, nachderen Verbüßung er verbittert und enttäuscht nach England zu-

2 Die Hufe ist ein Ertrags- und Flächenmaß, das ein Gehöft und das für eine Familie ausreichende Maß an Acker- und Weideflächen umfasst. Je nach Land und Region galt 1 Huf = ca. 16-18 ha.

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rückkehrte. Während seines Aufenthalts in Indien heiratete Dr.Roylott meine Mutter, die junge Witwe des Generalmajors Sto-ner von der bengalischen Artillerie. Meine ZwillingsschwesterJulia und ich waren damals erst zwei Jahre alt. Die Mutter be-saß ein Vermögen, das etwa tausend Pfund im Jahr einbrachteund das sie unserem Stiefvater vollständig überließ mit der Be-dingung, im Falle unserer Verheiratung jeder von uns beideneine gewisse Summe jährlich auszuzahlen. Bald nach unsererRückkehr nach England kam meine Mutter bei einem Eisen-bahnunfall ums Leben – es sind jetzt acht Jahre her. Nun gabDr. Roylott seine Versuche auf, sich in London eine ärztlichePraxis zu gründen, und zog mit uns in das alte Stammschloß inStoke Moran. Da die Hinterlassenschaft meiner Mutter unsereBedürfnisse reichlich deckte, so hätten wir ein zufriedenes undglückliches Leben führen können.

Allein mit unserem Stiefvater ging plötzlich eine schreckli-che Veränderung vor. Anstatt freundschaftlichen Verkehr mitunseren Nachbarn anzuknüpfen, die anfangs hoch erfreut dar-über waren, wieder einen Stoke Moran auf dem alten Familien-sitz einziehen zu sehen, schloß er sich in sein Haus ein, undwenn er es jemals verließ, bekam er mit jedem, der ihm in denWeg lief, den heftigsten Streit. Ein förmlich krankhafter Jäh-zorn war überhaupt ein Erbstück der Männer in der Familie,und bei meinem Stiefvater mochte durch seinen langen Aufent-halt in den Tropen diese Eigenschaft wohl noch verstärkt wor-den sein. Die Folge war, daß er in eine Reihe häßlicher Strei-tigkeiten verwickelt wurde, die ihn zweimal vor Gericht brach-ten, bis er zuletzt der Schrecken des ganzen Dorfes war und al-les bei seinem bloßen Anblick die Flucht ergriff, denn er be-sitzt eine riesige Stärke und kennt in seiner Wut keine Grenzen.

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Vorige Woche erst warf er den Dorfschmied über dasBrückengeländer ins Wasser, und ich mußte alles, was ich anGeld hatte, opfern, damit die Angelegenheit nicht vor Gerichtgebracht wurde. Mit keinem Menschen hielt er Freundschaft,außer mit den herumziehenden Zigeunern; sie durften auf denpaar Morgen Brachland, die von dem ganzen Besitztum nochgeblieben sind, ihr Lager aufschlagen. Oft kehrte er in ihrenZelten ein, ja er begleitete sie sogar wochenlang auf ihrenWanderzügen. Eine leidenschaftliche Vorliebe hat er für indi-sche Tiere, die er sich aus Kalkutta kommen läßt; gegenwärtigbesitzt er einen Leoparden und einen Pavian, die er in seinem

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Anwesen frei umherlaufen läßt und die den Dorfbewohnerndenselben Schrecken einjagen wie ihr Herr selbst.

Nach dieser Schilderung werden Sie mir sicher glauben,daß meine Schwester und ich kein leichtes Leben geführt ha-ben. Niemand wollte bei uns bleiben, und lange Zeit mußtenwir die ganze Hausarbeit allein verrichten. Obgleich Julia erstdreißig Jahre alt war, als sie starb, hatte sie doch bereits graueHaare wie ich auch.«

»Ihre Schwester ist also gestorben?«

»Ja; es ist gerade zwei Jahre her; und von ihrem Todemöchte ich Ihnen eben Genaueres mitteilen. Sie werden es ver-stehen, daß wir unter diesen Umständen wenig Gelegenheitzum Verkehr mit unseresgleichen hatten. Nur bei unserer TanteHonoria Westphail durften wir von Zeit zu Zeit einen kurzenBesuch machen. Sie ist eine unverheiratete Schwester meinerMutter und wohnt in der Nähe von Harrow. Vor zwei Jahrenlernte Julia bei einem solchen Besuch über Weihnachten einenauf Halbsold3 gesetzten Major der Marine kennen, mit dem siesich verlobte. Unser Stiefvater erhob gegen die Verbindungkeine Einwendung; allein vierzehn Tage vor der Hochzeit tratdas schreckliche Ereignis ein, das mich meiner einzigen Ge-fährtin beraubte.«

Holmes, der mit geschlossenen Augen in seinen Armstuhlzurückgelehnt, den Kopf im Kissen vergraben, zugehört hatte,

3 Halbsold bedeutet wortwörtlich, dass Soldaten nur der halbe Sold ge-zahlt wird, weil entweder kein Krieg ist oder sie trotz Krieg keine Verwen-dungen finden.

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schlug nun die Lider ein wenig auf und warf einen Blick aufdie Erzählerin.

»Bitte, vergessen Sie auch nicht den kleinsten Umstand«,sagte er.

»Das wird mir nicht schwer fallen, denn alle Vorgänge die-ser entsetzlichen Zeit stehen mir unauslöschlich im Gedächtnis.– Das Wohnhaus ist, wie gesagt, sehr alt, auch wird zur Zeitnur der eine Flügel bewohnt. Die Schlafzimmer befinden sichim Erdgeschoß, während die Wohnzimmer im mittleren Stock-werk liegen. Von den Schlafzimmern hatte das erste unserStiefvater, das zweite meine Schwester und das dritte ichselbst. Eine Verbindung zwischen ihnen besteht nicht, dagegenführen alle drei Türen auf denselben Gang. – Ich spreche dochverständlich?«

»Vollkommen.«

»Die Fenster der drei Zimmer gehen auf den Rasenplatz vordem Hause. An jenem schrecklichen Abend also zog sich unserStiefvater zeitig in sein Schlafzimmer zurück; trotzdem wußtenwir wohl, daß er sich noch nicht zur Ruhe begeben hatte, dennmeine Schwester wurde durch den Geruch der starken indi-schen Zigarre belästigt, die er zu rauchen pflegte. Sie kam des-halb in mein Zimmer herüber, um noch eine Zeitlang mit mirüber ihre bevorstehende Hochzeit zu plaudern. Es war elf Uhr,als sie mich wieder verließ; an der Tür blieb sie jedoch stehenund schaute noch einmal zurück.

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›Sag’ mir, Helen‹, fragte sie, ›hast du jemals ein Pfeifenvernommen, wenn nachts alles totenstill ist?‹

›Nein, niemals.‹

›Ich habe auch schon gedacht, vielleicht seist du es, dienachts im Schlafe pfeift. Aber du glaubst doch auch nicht, daßdas sein kann?‹

›Gewiß nicht, warum denn?‹

›In den letzten Nächten ertönte etwa um drei Uhr morgensein leiser heller Pfiff. Ich habe einen leichten Schlaf und bindaran aufgewacht. Woher der Laut kam, kann ich nicht sagen,– vielleicht aus dem Nebenzimmer, vielleicht auch vom Vor-platz herauf. Ich dachte, ich wollte dich doch fragen, ob du esauch gehört hast.‹

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›Nein, ich habe nichts gehört. Das muß von dem Zigeuner-gesindel unten im Park herkommen.‹

›Höchst wahrscheinlich; aber es wundert mich doch, daß dues nicht auch gehört hast, wenn es wirklich von unten kam.‹

›Ich schlafe eben fester als du.‹

›Nun, es ist ja jedenfalls nichts von Bedeutung‹, versetztesie lächelnd; damit schloß sie die Tür, und wenige Augenblickedarauf hörte ich, wie sie ihre Türe abschloß.«

»Schlossen Sie sich denn nachts regelmäßig ein?« fragteHolmes.

»Stets.«

»Und warum taten Sie das?«

»Ich glaube, ich habe bereits erwähnt, daß unser Stiefvatereine Tigerkatze und einen Pavian hielt; wir fühlten uns deshalbnicht sicher, wenn unsere Türen nicht verschlossen waren.«

»Ja freilich. Bitte, fahren Sie nur fort.«

»Ich konnte in jener Nacht keinen Schlaf finden. Ein unbe-stimmtes Vorgefühl drohenden Unheils bedrückte mich. Sie er-innern sich, daß ich und meine Schwester Zwillinge waren, undSie wissen sicher auch, wie eng man da miteinander verbundenist. Es war eine unheimliche Nacht. Draußen heulte der Wind,und der Regen schlug klatschend gegen die Läden. Plötzlich er-tönte mitten durch das Tosen des Sturmes ein wilder Angst-schrei. Ich erkannte die Stimme meiner Schwester. Raschsprang ich aus dem Bett und stürzte auf den Gang hinaus. Wäh-

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