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0 Arvo Pärt: Cantus in Memory of Benjamin Britten Donnerstag, 14. Dezember 2017, 19.30 Uhr Mannheim, Rosengarten Freitag, 15. Dezember 2017, 20 Uhr Freiburg, Konzerthaus Samstag, 16. Dezember 2017, 19 Uhr Karlsruhe, Badisches Staatstheater SWR Symphonieorchester Osmo Vänskä, Dirigent Martin Grubinger, Schlagzeug Empfohlen ab Klasse 8 Erstellt von Eva Hirtler

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Arvo Pärt: Cantus in Memory of Benjamin Britten

Donnerstag, 14. Dezember 2017, 19.30 Uhr

Mannheim, Rosengarten

Freitag, 15. Dezember 2017, 20 Uhr

Freiburg, Konzerthaus

Samstag, 16. Dezember 2017, 19 Uhr

Karlsruhe, Badisches Staatstheater

SWR Symphonieorchester

Osmo Vänskä, Dirigent

Martin Grubinger, Schlagzeug

Empfohlen ab Klasse 8

Erstellt von Eva Hirtler

Erstellt von Dr. Eva Hirtler

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Arvo Pärt – Cantus in Memory of Benjamin Britten

Arvo Pärt – kurzer biographischer Abriss S. 2

Informationen zur Geschichte Estlands S. 2

Zur Situation der Komponisten in der Sowjetunion S. 3

Äußerungen Pärts zu seinem Werdegang S. 4

„Cantus in Memory of Benjamin Britten“ und der Tintinnabuli-Stil S. 8

Der Tintinnabuli-Stil als „Flucht in die freiwillige Armut“ S. 8

Analytische Hinweise zu „Cantus in Memory of Benjamin Britten S. 9

Methodische Hinweise S. 12

Arbeitsblatt zu „Cantus in Memory of Benjamin Britten“ S. 13

Lösungen S. 14

W. A. Mozart Klaviersonate K.V. 545 Anfang S. 15

Klassenarrangements

L. Senfl „Das Geläut zu Speyer“ leichte Version S. 16

L. Senfl „Das Geläut zu Speyer“ S. 17

Sprechstück zur Verdeutlichung des Proportionskanons S. 18

„Morgens geh ich in die Schule“ (1) leichte Version S. 19

„Morgens geh ich in die Schule“ (2) S. 20

Materialinformation S. 21

2

Arvo Pärt: Kurzer biographischer Abriss

„Arvo Pärt wurde 1935 in Paide (Estland) geboren. 1956 kam er in die Musikschule von Tallinn

(…) und erhielt eine Klavier- und Musiktheorieausbildung (…). Ein Jahr später wechselte er zum

Konservatorium Tallinn über, wo er in der Klasse von Heino Eller Komposition studierte und

1963 sein Schlussexamen ablegte. In den Jahren 1958 bis 1967 wirkte Pärt als Tonmeister beim

Estnischen Rundfunk und fand hier Möglichkeiten, sich mit neuen Strömungen der Musik

bekannt zu machen. Danach war er bis 1978 als Dozent für Musiktheorie in Tallinn tätig. Seit

1981 lebt Arvo Pärt als freischaffender Komponist mit seiner Familie in West-Berlin.

<…> Während der Zeit seiner Tätigkeit für den Rundfunk eignete er sich Techniken und

Stilmittel der damaligen Avantgarde an und verwendete sie, ohne jedoch ihren radikalen

Tendenzen zu folgen. Nach einer längeren Schaffenspause (1972 – 1977), in der er sich intensiv

mit der Musik des Mittelalters befasste, gelangte er auf der Grundlage gewandelter

kompositorischer Verfahren zu einem Neubeginn. Ein wesentliches Merkmal seiner Methode

ist die Kombination von Skalen- und Dreiklangsformen nach wechselnden, aber stabilen

Mustern, die einen Zustand ‚angespannter Ruhe‘ gewährleisten. Da das so erzielte Klangbild

in seiner Struktur dem des Glockenklangs ähnelt, nennt Pärt diesen Stil Tintinnabuli-Stil (lat.

Tintinnabuli = Glöckchen). Die Prinzipien, die seine stark religiös verwurzelte Musik

kennzeichnen, sind Formstrenge, Einfachheit und harmonische Balance.“1

Informationen zur Geschichte Estlands

Estland war seit dem 18. Jahrhundert Teil des russischen Zarenreiches. Große Teile der

Oberschicht sprachen jedoch deutsch, da Estland davor lange zum Gebiet des Deutschen

Ordens gehört hatte. 1918 erlangte es mit dem Zerfall des Zarenreiches im Verlauf der

Oktoberrevolution seine Unabhängigkeit. 1940 wurde Estland von der Sowjetunion

annektiert. Nach dem Überfall deutscher Truppen auf die Sowjetunion war Estland bis 1944

von deutschen Truppen besetzt. 1944 wurde das Land erneut von der russischen Armee

besetzt und wieder in die Sowjetunion eingegliedert. Mit dem Zerfall der Sowjetunion ab 1990

1 H. Danuser, H. Gerlach, J. Köchel (Hg.): Sowjetische Musik im Licht der Perestroika. Laaber 1990, S. 385

3

löste sich Estland aus der Sowjetunion und erklärte 1991 seine Unabhängigkeit. Seit 2004 ist

Estland Mitglied in der Europäischen Union.

Zur Situation der Komponisten in der Sowjetunion

In den ersten Jahren nach der Oktoberrevolution von 1917 war die politische Führung der

Sowjetunion aufgeschlossen gegenüber modernen Strömungen in der Kunst. Dies änderte sich

jedoch in den 1920er Jahren; die Haltung der sowjetischen Kulturpolitik gegenüber der

westeuropäischen Moderne wurde von da an in zunehmendem Maße ablehnend: „Die Musik,

wie auch die Malerei, die Poesie, die Skulptur, wird betont missgestalt, in schreiender Weise

verblüffend. Die klassischen Traditionen werden gröblich niedergetreten. Der emotionalen,

schönen, melodisch klaren Musik wird der Krieg erklärt: man ersetzt sie durch den Kult der

Bewegung, des Rhythmus, der Energie als Selbstzweck, durch die Jagd nach ungewöhnlichen

harmonischen Effekten. Die urbanistische Entartung, die sich in der konstruktivistischen

Geometrik der neueren bildenden Kunst, im wilden Unsinn der futuristischen Poesie ausge-

drückt hatte, ergreift auch die neue Musik.“2

Es herrschte Zensur, und missliebige Kunstschaffende wurden verfolgt. Nach dem Tod Stalins

wurde die Zensur gelockert, doch waren Komponisten und Komponistinnen im Herrschafts-

bereich der Sowjetunion auch in den 1970er Jahren vielfältiger Schikane ausgesetzt: „Es gab

die stille, alltägliche Unterdrückung, von der Sofia Gubaidulina zu berichten weiß: wenn

bereits ausgedruckte und geprobte Werke schließlich zur Aufführung verboten wurden, oder

auch ihre spektakuläre Variante: zum Warschauer Herbst 1972 musste das Leningrader

Prokofjew-Quartett anstelle angesetzter Werke <…> auf komponistenverbandliche Weisung

andere Stücke spielen <…>.“3

„Anders als in den 30er Jahren, als ein missliebiger Komponist wie Aleksandr Mosolow einfach

im Arbeitslager verschwinden konnte, richteten sich in den 70er und 80er Jahren besagte

Unterdrückungsmaßnahmen nicht gegen entrechtete Unpersonen –Gubaidulina, Denissow,

Karetnikow, Schnitte oder Arvo Pärt konnte man wohl versuchen auszuhungern, indem man

ihnen Arbeit und Kompositionsaufträge verweigerte – immerhin waren und blieben sie

ordentliche Mitglieder des Komponistenverbandes, die weiterhin in seinen Erholungsheimen

2 Schawerdjan 1948, zit. nach Gowony, Detlef: Arvo Pärt im sowjetischen Umfeld in Arvo Pärt, Rezeption und Wirkung seiner Musik, Hg. Kautny, Oliver, Osnabrück 2001, S. 15f. 3 A.a.O. S. 25

4

komponieren oder ihre Manuskripte vervielfältigen lassen konnten, <…>. Auf diese Weise

hatte auch für das WDR-Festival Begegnungen mit der Sowjetunion kein einziges Notenmate-

rial einen rechtlich irgendwie zweifelhaften Weg nach Köln genommen <…>. Dies hinderte

nicht, dass auf dem Plenum des Komponistenverbandes im Herbst 1979 Tichon Chrennikow

gegen dieses Festival wetterte und die dort aufgeführten Komponisten namentlich angriff (…),

die dies, obwohl sie nichts dafür konnten, dass ihre Werke ausgewählt worden waren, bald in

einer Verschlimmerung ihrer beruflichen Situation zu spüren bekamen. In dieser Situation

entschloss sich neben Viktor Suslin auch Arvo Pärt 1980 zur Emigration.“4

Äußerungen Arvo Pärts zu seinem Werdegang

In einem Interview, das Pärt 2003 dem italienischen Musikwissenschaftler Enzo Restagno gab,

erzählt er von seiner Jugend und den Bedingungen der Komponisten im Bereich der

Sowjetunion.

Zu seiner Jugend:

„Paide befindet sich mitten in Estland. <…> Es gab ein kleines Theater, in dem gelegentlich,

soweit ich mich erinnern kann, meine Eltern aufgetreten sind. <…> Wie Sie <gemeint ist der

Interviewer Enzo Restagno > vorher schon andeuteten, zog meine Mutter mit mir sehr früh in

eine etwas größere Stadt, nach Rakvere. <…> Ich erinnere mich noch, dass es in der Wohnung,

in die wir einzogen, einen Flügel der Marke ‚S. Petersburg‘ gab. Es war kein gutes Instrument,

doch ich spielte darauf meine ersten Noten und benutzte es, bis ich ungefähr siebzehn Jahre

alt war. <…> Meine Eltern trennten sich vor dem Umzug aus Paide. Der Sohn unseres neuen

Vermieters wurde mein Stiefvater. Die Familie, in die ich somit eintrat, war ausgesprochen

interessant: Es waren drei Brüder, der erste war mein Stiefvater, der zweite war ein

bemerkenswert begabter Musiker, der gut Klavier spielte und auch eine gut ausgestattete

Musikbibliothek besaß, der dritte war ein sehr begabter Zeichner. <…> Wenn ich mich nicht

irre, wurde in Rakvere, gleich nach dem Ende des Krieges, eine Musikschule gegründet, die

erste der Stadt. Da wir schon ein Klavier zu Hause hatten, entschied meine Mutter, mich

dorthin zu schicken: So fing alles an.“5

4 A.a.O. S. 25f. 5 E. Restagno u.a. (Hg.): Arvo Pärt im Gespräch, Wien 2010, S. 8f.

5

„Estland war damals <in Pärts Kindheit> ein freies Gebiet. Die meistgesprochene Sprache war

das Estnische. Ich erinnere mich jedoch, dass die Eltern meines Stiefvaters zu Hause oft

deutsch oder auch russisch sprachen. Ihre Söhne sprachen viel öfter deutsch und nur ganz

selten russisch. Die russischen Einflüsse waren schwächer geworden. Die Großeltern waren

während der Zaren-Periode viel gereist, sodass ihnen die russische Sprache und Kultur

vertraut waren. Es ist sehr wahrscheinlich, dass das Klavier, von dem ich vorhin sprach, durch

irgendwelche Kontakte zur russisch-zaristischen Welt in die Familie gekommen war. Ich

erinnere mich auch, dass, als ich fünf war, die Deutschen kamen. <…> Ja, genau, 1941, und

Estland kam unter ihre Hoheit. Als der Krieg ausbrach, kamen auch die Soldaten, die sich in

der ganzen Stadt ausbreiteten und in den Wohnungen jeden freien Platz besetzten.“6

„Um mich herum gab es <…> ein Riesendurcheinander und nicht nur sprachlicher Natur: So

musste ein Familienmitglied, das von einem russischen Heer rekrutiert worden war, die

Erfahrung eines deutschen Konzentrationslagers machen, während andere Familienangehö-

rige, die im deutschen Heer dienen mussten, dasselbe auf der anderen Seite durchmachten.

Ich war viel zu klein, und deshalb blieb mir Derartiges erspart. Darüber hinaus beschützte mich

meine Mutter sehr gut. Ich sah jene widerspruchsreiche Situation mit den Augen eines Kindes.

Dennoch kann ich mich gut daran erinnern, dass die Häuser brannten und die Männer rannten

und sie zu löschen versuchten. Wir hatten Glück: Unser Haus und das Klavier blieben während

des ganzen Krieges unversehrt.“7

Zu den Bedingungen der Komponisten in der Sowjetunion:

„Als Tontechniker <am estnischen Rundfunk> hatte ich eine sehr flexible Arbeitszeit. Wir

machten Aufnahmen – drei bis vier Stunden pro Tag – oder wir strahlten Live-Konzerte aus.

<…> Ich hatte dadurch Zugang zu Aufnahmen aller möglichen Musikgenres, aber vor allem

konnte ich eine große Zahl an Partituren der Gegenwartsmusik sichten und hören. <…> Eine

der wertvollsten Seiten unserer Arbeit bestand im musikalischen Austausch mit anderen

Ländern; <…>. Das Resultat des Tausches kam bei den Zuhörern des estnischen Rundfunks

nicht immer gut an, doch wir hatten trotzdem die Möglichkeit, zu jener ‚verbotenen‘ Musik zu

gelangen, die sonst im Archiv verschlossen blieb.“8

6 A.a.O. S. 9f. 7 A.a.O. S. 10f. 8 A.a.O. S. 27

6

„Während im Westen eigene Filmmusik-Komponisten für den Film tätig waren, schrieben in

der Sowjetunion die Komponisten wie Prokofjew und Schostakowitsch Musik für Filme. In

Russland hatte das damals zum größten Teil mit der politischen Lage zu tun. In Filmen war es

schwieriger, die Musik zu zensurieren, und in der Tat gab es für die Filmmusik gar keine

Kontrollen. Dialoge und Bilder wurden in den Filmen von der Zensur regelmäßig weggeschnit-

ten, doch der musikalische Hintergrund schien niemanden zu interessieren. Viel von der Musik

Schnittkes, die sonst in Konzertsälen verboten war, konnte problemlos beim Film verwendet

werden. Bei uns in Estland war die Situation sehr ähnlich, genauer gesagt aber besser als in

Moskau, denn alles, was wir so schrieben, konnte auch irgendwie aufgeführt werden. <…> Ich

hatte Stücke komponiert, die man als eine Art dodekaphonischen Jazz beschreiben könnte,

mit Saxophon, Vibraphon und Trompete. Hätte ich sie im Rahmen eines Kammermusik-

Konzerts vorgestellt, hätte ich sicher viele Schwierigkeiten bekommen. Doch im Kino merkte

es niemand.“ 9

Zur Uraufführung seines „Credo“ 1968 in Tallin:

„Bei uns war es üblich, dass ein Komponist jede neue Arbeit einer Kommission vorstellte, sei

es in Form einer Probe zur Aufführung oder als Aufnahme. Die Kommission entschied danach

darüber, ob es angebracht sei, das Stück öffentlich aufzuführen oder nicht. <…> Denen, die

mein ‚Credo‘ hörten, erklärte ich, dass ich Material verwendet hätte, das ich aus dem ersten

Präludium des ‚Wohltemperierten Klaviers‘ von Bach genommen hätte. Sie hatten dabei ein

gutes Gefühl und dachten, der Text wäre vollkommen harmlos, vermutlich weil er auf

lateinisch war. Tatsache ist, dass das Stück angenommen wurde, und es kam zu einer

Aufführung. An dem Abend war das Publikum am Schluss so begeistert, dass der Dirigent das

‚Credo‘ von Anfang bis Ende nochmal spielen ließ. Doch die überschwängliche Reaktion des

Publikums ließ auch die ersten Zweifel innerhalb der Kommission erwachen, und sie schöpfte

den Verdacht, das Stück würde subversive Elemente beinhalten. Ich kann mich erinnern, dass

wir wenige Tage nach der Uraufführung des ‚Credo‘ zu einem Kongress nach Moskau reisten.

Ich war Teil einer zigköpfigen Delegation. Auch der Präsident der Kulturkommission war anwe-

send und niemand sprach auch nur ein einziges Wort mit mir, weil die Erinnerung an den

Skandal noch zu wach war. Doch dann wurde ich im Zug auf dem Gang vom angetrunkenen

Chef der Delegation angehalten, der mich geheimnisvoll anlächelte und aus seiner Jackett-

9 A.a.O. S. 30

7

Tasche flüchtig ein Blatt Papier aufblitzen ließ, auf dem mein Blick gerade noch den lateini-

schen Text des Messe-Credo erhaschen konnte. Dies sollte eine eindeutige Anspielung darauf

sein, dass sie mir sozusagen auf die Schliche gekommen seien. Tatsächlich hatte mein Credo

mit dem Mess-Credo außer dem ersten Wort nichts gemeinsam. Doch ich begriff, dass die

Lage ernst war und Untersuchungen auf höchster Ebene bereits liefen. Nach diesem Vorfall

wurde ich mehrmals verhört, und die Ermittler wiederholten oft dieselbe Frage: ‚Welche

politischen Zwecke verfolgen Sie mit dieser Arbeit?‘“ <Ergänzung von Nora Pärt, der Ehefrau

Arvo Pärts>: „Und sie fügten noch hinzu: ‚Und denken Sie daran, dass dieses Werk nie wieder

aufgeführt werden darf und dass auch Sie selbst es niemandem anbieten dürfen.‘ Es folgten

Einschüchterungen und Provokationen, aber im Nachhinein habe ich den Eindruck, dass wir

uns damals des Ernstes unserer Lage gar nicht bewusst waren.“10

10 A.a.O. S. 32-33

8

Arvo Pärt: Cantus in Memory of Benjamin Britten

Das Stück “Cantus in Memory of Benjamin Britten” entstand 1976. Über seinen Entschluss, es

dem Andenken des britischen Komponisten Benjamin Britten (1913 – 1976) zu widmen,

erzählte Pärt in einem Interview: „Die Entwürfe für dieses Stück waren bereits fertig, als ich

zufällig im Radio vom Tode Brittens hörte. In diesem Zusammenhang wurden im Radio einige

seiner Musikstücke übertragen, die meine Frau und mich wegen ihrer Zartheit und einer

Transparenz tief berührten, <…>. Zu diesem Zeitpunkt verfestigte sich bei mir der Wunsch,

dieses Werk zu vollenden und es Britten zu widmen.“11 Es ist eines der ersten Stücke, die im

von Pärt so genannten Tintinnabuli-Stil komponiert wurden (von lateinisch tintinnabulum =

Glöckchen). Arvo Pärt erklärt den Gebrauch dieses Begriffs so: „Das natürliche Gefühl für

Wohlklang wie für Gleichheit, Harmonie und Reinheit wird mit dem Titel Glöckchen

(Tintinnabuli) unterstrichen. Die Schönheit des Naturklanges der Glöckchen ist im Verständnis

des Komponisten assoziiert mit Wohlklang, konkreter: dem Dreiklang.“12

Der Tintinnabuli-Stil als „Flucht in die freiwillige Armut“

„Tintinnabuli-Stil, das ist ein Gebiet, auf dem ich manchmal wandle, wenn ich eine Lösung

suche, für mein Leben, meine Musik, meine Arbeit. In schweren Zeiten spüre ich ganz genau,

dass alles, was eine Sache umgibt, keine Bedeutung hat. Vieles und Vielseitiges verwirrt mich

nur, und ich muss nach dem Einen suchen. Was ist das, dieses Eine, und wie finde ich den

Zugang zu ihm? Es gibt viele Erscheinungen von Vollkommenheit: alles Unwichtige fällt weg.

So etwas Ähnliches ist der Tintinnabuli-Stil. Da bin ich alleine mit Schweigen. Ich habe

entdeckt, dass es genügt, wenn ein einziger Ton schön gespielt wird. Dieser eine Ton, die Stille

oder das Schweigen beruhigen mich. Ich arbeite mit wenig Material, mit einer Stimme, mit

zwei Stimmen. Ich baue aus primitivstem Stoff, aus einem Dreiklang, einer bestimmten

Tonalität. Die drei Klänge eines Dreiklanges wirken glockenähnlich. So habe ich es Tintinnabuli

genannt.“13

11 E. Restagno, L. Brauneiss, S. Kareda, A. Pärt: Arvo Pärt im Gespräch, Wien 2010, S. 45 12Zitiert nach B. Sonntag in O. Kautny (Hg.): Arvo Pärt – Rezeption und Wirkung seiner Musik. Osnabrück 2001, S. 27 13 A.a.O., S. 38

9

Komponieren, insbesondere der Tintinnabuli-Stil, hat für Pärt auch eine spirituelle, religiöse

Seite. Dies wird in den folgenden Zitaten deutlich:

„Mit der Existenz von Tintinnabuli möchte ich gewissermaßen unterstreichen, dass die Wahr-

heit des Herrn währet ewiglich, ich möchte sagen, dass diese Wahrheit einfach ist! Man

möchte direkt zu ihr hingehen.“

„Tintinnabuli – das ist ein erstaunlicher Vorgang – die Flucht in die freiwillige Armut: die

heiligen Männer ließen all ihren Reichtum zurück und gingen in die Einöde. So möchte auch

der Komponist das ganze moderne Arsenal zurücklassen und sich durch die nackte

Einstimmigkeit retten, bei sich nur das Notwendigste habend – einzig und allein den Dreiklang.

„Tintinnabuli ist wie Gehorsam. Entsagung vom eigenen Willen.“

„Ohne Gottesfurcht gibt es keine Musik – und auch kein wirkliches schöpferisches Tätigsein.

Die Notwendigkeit, Neues zu erfinden. Die Suche nach dem Neuen durch die Leere. Werde ein

‚Nichts‘ (vor allem anderen)! Doch jene Seite des Nichts ist Etwas. Zu diesem ‚Etwas‘ gilt es die

Verbindung herzustellen. Vorher aber muss man sich läutern.“14

Analytische Hinweise zu „Cantus in Memory of Benjamin Britten“

Das Stück ist für Streichorchester (Violine I, Violine II, Viola, Violoncello und Kontrabass) sowie

eine auf den Ton a‘ gestimmte Glocke komponiert. Das melodische Material des Stückes

besteht aus einer abwärts gerichteten a-Moll Skala, die von allen Streichern ausgeführt wird.

Nach drei von Pausen unterbrochenen Glockentönen auf a‘ entfaltet sich die Komposition in

einem additiven Verfahren vom Ton a‘‘‘ aus abwärts, indem zunächst in Violine I, dann

nacheinander in den anderen Stimmen zunächst der Ton a, dann die Töne a-g, dann a-g-f usw.

gespielt werden, d.h. bei jeder Wiederholung wird ein weiterer Ton hinzugefügt (siehe auch

Arbeitsblatt S. 13). Der Rhythmus folgt in allen Stimmen dem Schema 2:1 in einem

Augmentationsverfahren (Violine I Halbe –Viertel…, Violine II Ganze-Halbe … siehe

Arbeitsblatt S. 13). Da bei jeder Wiederholung der Melodie ein Ton hinzugefügt wird, ist das

melodische Schema nicht mit dem rhythmischen kongruent: die gleichen Töne erscheinen

14 Arvo Pärt: Tintinnabuli – Flucht in die freiwillige Armut, in: H.Danuser u.a.(Hg.) Sowjetische Musik im Licht der Perestroika, Laaber 1990, S. 269

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teils mit dem längeren, teils mit dem kürzeren Notenwert. Dazu kommt in allen

Streicherstimmen mit Ausnahme der Viola die begleitende Tintinnabuli-Stimme: Zu den Tönen

der abwärts gerichteten a-Moll Skala wird so lange der am nächsten darunterliegende Ton des

a-Moll Dreiklangs gespielt, bis die Melodie selbst diesen Ton erreicht; dann springt die

Begleitstimme zum nächsttieferen Dreiklangston (siehe Arbeitsblatt S. 13). Die Stimmen

folgen einander kanonisch jeweils nach der ersten 2:1-Einheit der vorigen Stimme, sie bilden

damit einen Proportionskanon, wie er bei Komponisten des Spätmittelalters und der Renais-

sance häufig zu finden ist. Das Stück beginnt im ppp in der Violine I bei a‘‘‘ und erschließt

allmählich den tieferen Tonraum bei gleichzeitiger Steigerung der Lautstärke bis zum fff. Es

endet auf einem langgehaltenen a-Moll Dreiklang des Streichorchesters mit einem letzten

Glockenton a zum Schluss.

Mit der Technik des Proportionskanons und der Verwendung einer a-Moll Skala und eines

Dreiklangs wendet sich Pärt der Tradition zu und setzt sich damit von den Komponisten der

Moderne ab, die seit Beginn des 20. Jahrhunderts um eine Erweiterung des kompositorischen

Materials über die Tonalität hinaus bestrebt waren. Sein additives Verfahren der Komposition

weist jedoch Bezüge zu den seriellen Kompositionsverfahren seit den 1950er Jahren auf und

führt dazu, dass es auch von tonalen Kompositionen, die mit dem gleichen Material arbeiten,

deutlich unterschieden ist. Dies lässt sich im Vergleich mit zwei Kompositionen zeigen: In dem

Vokalstück von Ludwig Senfl (ca. 1490 – 1543), „Das Geläut zu Speyer“ werden Glocken durch

die Verwendung von Dreiklängen nachgeahmt und am Beginn von W.A. Mozarts Klaviersonate

K.V. 545 werden gebrochene Dreiklänge in der Begleitung und Skalenabschnitte in der

Melodie verwendet (vergl. Notenblatt S. 15) Bei Senfl und Mozart sind Melodie und Begleitung

jedoch gemäß den Regeln der Dur-Moll-Tonalität so aufeinander abgestimmt, dass den Tönen

der Melodiestimme jeweils passende Töne der begleitenden Kadenzdreiklänge zugeordnet

sind (bei Senfl C / F im Wechsel, bei Mozart C, F, G7). Bei Pärt ergeben sich Zusammenklänge

gemäß den vorgeordneten Schemata, nicht aus der Beziehung der einzelnen Töne aufeinander

gemäß der Kadenzharmonik. Aus der eigentümlichen Verbindung der a-Moll-Skala und des a-

Moll-Dreiklangs entsteht ein neuartiges Klanggewebe, in dem die Unterscheidung von

Vertikale (Akkorde) und Horizontale (Melodie) aufgehoben sind: „Die in diesem Kontext

auftretenden Zusammenklänge entfalten trotz ihres Wechsels von Konsonanz und Dissonanz

kein harmonisches Spannungsfeld, sondern konfigurieren als Klangphänomene, als Varianten

11

eines Zustands. Zeit erhält dadurch ihre Gestalt nicht durch Veränderungen von Spannung und

Entspannung; vielmehr erwirkt Pärt sie durch Veränderung von Proportionen.“15

Pärt selbst äußerte sich dazu wie folgt: „Meine Musik ist tonal nur in einem eingeschränkten

Sinne und fügt sich nicht einfach in das klassische Konzept der tonalen Musik. Eine

zutreffendere Bezeichnung wäre, von einer umfassenderen Anwendung des Dur-Moll-

Dreiklangs zu sprechen. Am Dreiklang besticht mich die natürliche Reinheit, der Lakonismus

und der Wohlklang. Wenn man von der Tendenz spricht, zur Tonalität zurückzukehren, dann

sollte man hinzufügen, dass sich Stile nicht zufällig verändern. Es ist wie das Atmen: Man kann

nicht immer einatmen, man muss auch ausatmen.“16

15 P.W. Schatt in: Kautny (Hg.) a.a.O. S. 53 16 Zit. nach: Conen, Hermann (Hg.), Arvo Pärt. Die Musik des Tintinnabuli-Stils; darin dto. Annäherung an den Kern der Musik, Köln 2006, S. 91

12

Methodische Hinweise

Zur Biographie Arvo Pärts:

Zusätzlich zur Kurzbiographie können je nach Altersstufe einige der Texte oder Abschnitte

daraus zur Situation der Komponisten in der Sowjetunion sowie die Äußerungen Pärts über

seinen kompositorischen Werdegang in der Klasse behandelt werden, auch auf Gruppen

verteilt.

Zum Tintinnabuli-Stil allgemein und zu „Cantus in Memory of Benjamin Britten“:

Es bietet sich an, den Tintinnabuli-Stil über Videoaufnahmen zum Glockenläuten auf YouTube

einzuführen (siehe Materialinformation). In den Aufnahmen aus dem Dom in Münster wird ab

1:21 gezeigt, wie nach und nach sämtliche Glocken beginnen zu läuten. Die Aufnahmen zu den

Bell Ringers der Westminster Abbey in London zeigen ab 0:58 die in England häufig ausgeübte

Technik, Glocken einer Kirche von Hand in der Gruppe nach bestimmten Regeln zum Klingen

zu bringen. Dem dabei entstehenden Klanggewebe aus vielen Einzeltönen kommt das Prinzip

des Tintinnabuli-Stils in „Cantus …“ recht nahe. Um die Übertragung des Glockenläutens in

ein Musikstück zu zeigen, bietet sich „Das Geläut zu Speyer“ von Ludwig Senfl an. Eine

ansprechende Aufnahme ist vor allem die von „I Fagiolini“ auf YouTube (siehe

Materialinformation). Außerdem kann der Anfang in vereinfachten Versionen je nach den

instrumentalen oder vokalen Möglichkeiten im Klassenverband musiziert werden (siehe

Arbeitsblätter S. 16 und 17).

Das kompositorische Verfahren des Proportionskanons, der Addition und Reihung, wie Pärt es

dem „Cantus …“ zugrunde legt, lässt sich musikpraktisch mit den Klassenarrangements auf

den Seiten 16 - 20 erarbeiten.

In einer fortgeschrittenen Klasse kann auch der Unterschied zwischen der Behandlung des

tonalen Materials in der europäischen Tradition (am Beispiel Senfl und Mozart) und bei Pärt

thematisiert werden (siehe Arbeitsblätter S. 15 und 17).

Auf YouTube existieren mehrere Konzertmitschnitte des Stückes, die das Orchester zeigen,

sowie eine Aufnahme, bei der die Partitur zum Mitlesen gezeigt wird. Vor oder nach dem

Anhören des Stückes bietet sich auch an, Pärts Äußerungen zu seinem Verständnis von Musik

allgemein und dem Tintinnabuli-Stil insbesondere (siehe S. 8 - 9) zu besprechen.

13

14

15

16

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18

19

20

21

Materialinformation:

Die Quellen der Zitate wurden auf der jeweiligen Seite unten angegeben.

Zu „Cantus in Memory of Benjamin Britten“ gibt es mehrere Konzertmitschnitte auf YouTube,

darunter einen, der die Partiturseiten zeigt. Er ist mit einer Suchmaschine mit den Stichworten

„Arvo Pärt Cantus in Memory of Benjamin Britten Sheet YouTube“ zu finden.

Zu Ludwig Senfls „Geläut zu Speyer“ gibt es eine besonders geeignete Aufnahme, die unter

„I Fagiolini Geläut zu Speyer“ abrufbar ist. Zum Läuten von Glocken gibt es eine besonders

geeignete Aufnahme, die unter „Münster Dom Glocken der katholischen Kirche“ zu finden ist.

Sie zeigt ab 1:20 nach und nach das Läuten aller Glocken.

Interessant kann auch eine Aufnahme sein, die das in England weit verbreitete bells ringing

zeigt, bei dem eine Gruppe von Personen nach einem bestimmten Muster von Hand die

Glocken einer Kirche läuten. Eine Aufnahme aus der Westminster Abbey in London, die unter

„The Bells of Westminster Abbey“ zu finden ist, zeigt dies ab 0:56.

Jedoch ist zu empfehlen, Aufnahmen nur im Streaming anzuhören, da ein Download ohne

Bezahlung gegen Urheber- und Leistungsrechte verstoßen kann. Außerdem muss darauf

geachtet werden, dass es sich nicht um illegal eingestellte Aufnahmen handelt.