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Achtung! Dies ist eine Internet-Sonderausgabe der Publikation “Ogam - eine frühe keltische Schrifterfindung” von Jost Gippert (1992). Sie sollte nicht zitiert werden. Zitate sind der Originalausgabe Prag 1992 [1993] (Lectiones eruditorum extraneorum in facultate philosophica Universitatis Carolinae Pragensis factae, 1) zu entnehmen. Attention! This is a special internet edition of the publication “Ogam - eine frühe keltische Schrifterfindung” by Jost Gippert (1992). It should not be quoted as such. For quotations, please refer to the original edition, Prague 1992 [1993] (Lectiones eruditorum extraneorum in facultate philosophica Universitatis Carolinae Pragensis factae, 1). Alle Rechte vorbehalten / All rights reserved: Jost Gippert, Frankfurt 2011

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Achtung!

Dies ist eine Internet-Sonderausgabe der Publikation

“Ogam - eine frühe keltische Schrifterfindung”

von Jost Gippert (1992).

Sie sollte nicht zitiert werden. Zitate sind der

Originalausgabe Prag 1992 [1993]

(Lectiones eruditorum extraneorum in facultate philosophica UniversitatisCarolinae Pragensis factae, 1)

zu entnehmen.

Attention!

This is a special internet edition of the publication

“Ogam - eine frühe keltische Schrifterfindung”

by Jost Gippert (1992).

It should not be quoted as such. For quotations, please refer to the

original edition, Prague 1992 [1993]

(Lectiones eruditorum extraneorum in facultate philosophica UniversitatisCarolinae Pragensis factae, 1).

Alle Rechte vorbehalten / All rights reserved:

Jost Gippert, Frankfurt 2011

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OGAMEine frühe keltische Schrifterfindung

Jost Gippert, Bamberg

Das Aufblühen der keltischen Sprachwissenschaft im vergangenen Jahrhundertist mit Bamberg und dem oberfränkischen Gebiet durch Johann Kaspar ZEUSS

und seine 1853 erschienene "Grammatica Celtica" aufs engste verbunden. Esist ZEUSS’ unabstreitbares Verdienst, die geschichtliche Erforschung derkeltischen Sprachen, v.a. des Irischen und Kymrischen, durch eine konsequen-te Sammlung und Auswertung der ältesten handschriftlichen Zeugnisse erst-mals auf eine solide Grundlage gestellt zu haben. Im Falle des Altirischenhandelt es sich bei diesen Zeugnissen hauptsächlich um Glossen, mit denenlateinische Handschriften z.B. aus Würzburg, St. Gallen und Mailand ver-sehen sind, die wir den im 8. und 9. Jh. in Mitteleuropa missionierendenirischen Mönchen zu verdanken haben.

Nur am Rande verwertet hat ZEUSS hingegen eine zweite Kategorie alterSprachdenkmäler, die die irische Sprachgeschichte sogar noch wesentlichweiter zurückzuverfolgen gestattet. Es handelt sich um eine nur auf denbritischen Inseln vorzufindende Abart von in Stein gehauenen Inschriften, diesog. Ogaminschriften, von denen heute ca. 450 bekannt sind, deren Kenntnisaber auch zu ZEUSS’ Zeiten, zumindest in Irland selbst, bereits verbreitet war.Benannt sind die Inschriften nach der Schrift, in der sie gehalten sind; Aus-prägung und Herkunft der sog. Ogam-Schrift sollen im folgenden näherbeleuchtet werden.

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2 Jost Gippert

Die Zeichen des Ogam-Alphabets, wie es uns auf den Inschriften entgegen-

Abb. 1

tritt, bestehen aus jeweils bis zu fünf einzelnen Strichen oder Punkten, dieüblicherweise quer zu einer oder mehreren Kanten des beschriebenen Steinsangebracht sind. Die folgende Aufstellung gibt die traditionelle Anordnungund Interpretation des Alphabets wieder:

, - . /- /. 0 1 2 31 32B L V S N H? D T C Q

4 5 6 57 67 ? ( ) *( *)M G A? Z? R A O U E I

Ein typisches, besonders gut erhalte-nes Beispiel ist ein jetzt im Parkeines Landsitzes in Adare in Mittel-irland aufgestellter, aus Rockfield inder südirischen Grafschaft Kerrystammender Stein (Abb. 1-2), denich während meiner ersten Irland-exkursion im Jahre 1978 aufnehmenkonnte. Die Inschrift beginnt auf derlinken Kante unten und steigt auf die-ser Kante aufwärts; der zweite Teilauf der rechten Kante ist ebenfallsvon unten nach oben zu lesen. Ins-gesamt ergibt sich die sichere Le-sung COILLABOTAS MAQICORBI | MAQI MOCOI QERAI.Vergleicht man die obige Aufstel-lung der einzelnen Zeichen unddenkt man sich die Kante des Steinsals durch die waagerechte Linie ver-treten, so ist das C durch vier Stri-che nach links, das O durch zweiPunkte auf der Kante, das L durch

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3Ogam - Eine frühe keltische Schrifterfindung

zwei Striche nach rechts dargestellt usw. (vgl.

Abb. 2

Abb. 31).

Den Inhalt der Inschrift bildet ein Personennameim Genetiv, COILLABOTAS, mit appositiv hin-zugefügten genealogischen Angaben. Setzt mandie einzelnen Bestandteile in die Form um, diesie in den mittelalterlichen irischen Handschrif-ten hätten, und bezieht man den Genetiv auf das- als elliptisch zu subsumierende - Monumentselbst, so ergibt sich die Interpretation "(Steindes) Coílub, Sohnes des Corb, Sohnes (oderAbkömmlings) des Stammes der Ciar(raige)".Dabei ist bemerkenswert, daß der in QERAIangedeutete Stammesname der "Ciar-raige" derName ist, den die Grafschaft Kerry, wo der Steingefunden wurde, noch heute trägt.

Dem hier vertretenen Schema, wonach das zentrale Element der Inschrift einim Genetiv stehender Personenname ist, gehorchen im Prinzip alle bishergefundenen lesbaren Ogaminschriften auf Stein. Unterschiede bestehen zu-nächst darin, daß die genealogische Affiliation in unterschiedlicher Weiseausgeführt sein kann. Die häufigste Ausprägung ist die - auch hier vorliegen-de - Verbindung mit dem Genetiv des Wortes macc (< *makukuos) "Sohn";die derart gebildeten Patronyme liegen nicht zuletzt den zahlreichen nochheute gebräuchlichen irisch- und schottisch-gälischen Familiennamen mitMac- zugrunde. Der nächst häufige Typ verwendet das Wort AVI, wie z.B.der Stein in Faunkill-and-the-Woods in der südirischen Grafschaft Cork(CIIC Nr. 66; Abb. 4), der vielleicht der größte erhaltene Ogamstein über-haupt ist. Die gesamte Inschrift, wiederum von unten nach oben zu lesen,lautet hier: MAQIDECCEDDAS AVI TURANIAS (vgl. Abb. 5-62); AVI istder Genetiv des Wortes úa, älter aue "Enkel", so daß sich eine Interpretation

1 Die Inschrift ist in der Ausgabe Corpus Inscriptionum Insularum Celticarum von R.A.S.MACALISTER, Vol. 1, Dublin 1945 (im folgenden CIIC), 240 unter Nr. 244 erfaßt; hieraus auch dieSkizze, die im Namen CORBI irrtümlich ein zweites B enthält.

2 Skizze aus: Proceedings of the Royal Irish Academy 15 = N.S. 1, 1874, 196 (R.R. BRASH).

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4 Jost Gippert

"(Stein des) Mac-Deche, Enkels der Tor-

Abb. 3

nae" ergibt. Auch die AVI-Verbindungenhaben noch ihren Niederschlag in derheutigen gälischen Onomastik; auf ihnenberuhen die Familiennamen mit O’. Diehier vorliegende Sippe der "Enkel TUR-ANIAS" ist möglicherweise in den vonM.A. O’BRIEN herausgegebenen irischengenealogischen Traktaten erhalten, undzwar in der Form Hui Thornae3.

Abb. 4

Eine nennenswerte Gruppe bilden darüberhinaus noch die zahlreichen Inschriften,die keinerlei Affiliationsangabe enthalten,also lediglich aus einem einzelnen Perso-nennamen bestehen wie z.B. die auf einemStein aus Greenhill, ebenfalls in der Graf-schaft Cork (CIIC, Nr. 58; Abb. 7); derhier zu lesende Name CATTUBUTTAS,Genetiv zu einem Nominativ Cathub, istauch in handschriflicher Form als Cathbadrel. häufig belegt.

3 M.A. O’BRIEN, Corpus Genealogiarum Hiberniae, vol. 1, Dublin 21976, 208: Ms. Rawl. B 502,149b 51.

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5Ogam - Eine frühe keltische Schrifterfindung

Eine andere Kategorialisierung der Inschriften

Abb. 5

Abb. 6

läßt sich danach vornehmen, welchen sprachli-chen Zustand des Irischen sie im Sinne einerrelativen Chronologie widerspiegeln. Die bisherbesprochenen Fälle zeichnen sich, wenn man diejeweiligen handschriftlich bezeugten Formendaneben hält, durch eine Lautgestalt aus, die imHinblick auf die für das "normale" Altirischevorauszusetzenden sprachlichen Veränderungen,vom Urkeltischen her, ohne weiteres als ar-chaisch gelten kann.

Vor allem sind End- und Auslauts-silben erhalten, die die "literari-schen" Formen aufgrund der allge-mein als Apokope und Synkope be-zeichneten, für das frühe Irische be-sonders einschneidenden Lautwandeleingebüßt haben. Beide Lautwandelhaben aber auch in Ogaminschriftenschon Spuren hinterlassen. So ist

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6 Jost Gippert

z.B. der Name COILLABOTAS, der auf

Abb. 7

dem oben behandelten Stein von Rock-

Abb. 8

field zu notieren war, in einer zweiten In-schrift vom selben Ort (CIIC Nr. 243.) inder kürzeren Form COLABOT notiert;die gesamte Inschrift, ebenfalls auf zweiKanten des Steins angebracht, lautet:MAQIRITTE MAQI COLABOT | MAQIMOCO QERAI (Abb. 8), d.h. "(Steindes) Mac-Rithe, Sohnes des Coílub,Sohnes (Abkömmlings) des Stammes derCiarraige".

Die Form COLABOT steht durch die voll-zogene Apokope der Endung -AS demhandschriftlichen Genetiv Coílbad bereitswesentlich näher als das COILLABOTASder erstgenannten Inschrift, wobei zusätzlichdie defektive Wiedergabe des DiphthongsOI durch einfaches O festzuhalten ist. Be-sonders bemerkenswert ist die Differenzzwischen beiden Inschriften unter demAspekt, daß hier möglicherweise derselbeCoílub gemeint ist, einmal als Sohn, undeinmal als Vater; denn das würde impli-

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7Ogam - Eine frühe keltische Schrifterfindung

zieren, daß sich die Apokope von COILLABO-

Abb. 9

Abb. 10

TAS zu CO(I)LABOT gleichsam innerhalb éinerGeneration vollzogen hätte.

Erschwert wird die Annahme aber dadurch, daßvon demselben Namen in der Form COLLABO-TA noch eine Zwischenstufe belegt ist, bei derlediglich das auslautende -S der Genetivendunggeschwunden ist. Diese Form erscheint, wieder-um in der graphischen Variante mit doppeltemLL, zunächst auf einem Stein, der neben vierweiteren Ogamsteinen auf dem Friedhof vonColbinstown in der Grafschaft Kildare gefundenwurde; dieser Stein (CIIC Nr. 21.) konnte beieiner Besichtigung des Friedhofs, die ich imJahre 1988 gemeinsam

mit Kim MCCONE vom Maynooth College durch-geführt habe, in dem völlig überwachsenen Gelän-de allerdings nicht ausfindig gemacht werden. Diegleiche Form COLLABOTA erscheint darüberhinaus aber möglicherweise auch auf einem Steinin Dromore in der Grafschaft Waterford (CIIC Nr.266.), bei dem die Lesung allerdings durch dieErosion wesentlich beeinträchtigt ist (Abb. 9). Beidiesem Stein läuft die Inschrift, wie auch sonsthäufig, von der linken Kante aus aufwärts, dannquer über die Oberkante (vgl. Abb. 10) und aufder rechten Kante wieder abwärts. Sie wird in derbis heute als maßgeblich geltenden Ausgabe derOgaminschriften, dem Corpus Inscriptionum Insu-larum Celticarum von R.A.S. MACALISTER (s.o.Anm. 1), in der Form COLLABOT MUCOI LU-GA MAQI LOBACCONA wiedergegeben. Beieiner Autopsie, die ich während einer Exkursion imJahre 1981 vornehmen konnte, ergab sich je-doch eine größere Wahrscheinlichkeit für eine

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8 Jost Gippert

Lesung des ersten Wortes als COLLABOTA, also mit auslautendem -A, wiees MACALISTER selbst, in einer früheren Ausgabe der Ogaminschriften4,noch erwogen hatte. An derartigen Fällen läßt sich übrigens die Notwendig-keit einer neuen Ausgabe der Ogaminschriften, wie ich sie auch andernortsbegründet habe5, unmittelbar erweisen.

Beim Genetiv konsonantischer Stämme ist nun eine Zwischenstufe -A aufdem Wege von der ursprünglichen Endung -AS bis zur vollständigen Apo-kope auch sonst häufig belegbar - sie liegt nicht zuletzt in der soeben behan-delten Inschrift in dem Vatersnamen LOBACCONA vor, der als Kompositumdas Wort für den "Hund" im Hinterglied enthält. Eine direkte chronologischeAufeinanderfolge der Formen COILLABOTAS und COLABOT auf denSteinen von Rockfield, Kerry, kann somit ausgeschlossen werden. Diesspricht jedoch nicht gegen eine Identifikation der betreffenden Person; dennwir müssen davon ausgehen, daß sich die lautlichen Veränderungen deririschen Sprache in den Ogaminschriften sozusagen mit Zeitverzug nieder-geschlagen haben. Wie kürzlich von Damian MACMANUS herausgestelltwurde6, haben wir prinzipiell mit ähnlich "traditionellen" Graphien zu rech-nen wie etwa im heutigen Französischen, wo die gleiche Lautung [ÿat] jenach der grammatischen Geltung durch (je) chante, (tu) chantes oder (ils)chantent wiedergegeben wird. Genauso kann die irische Genetivendung -ASbis in eine Zeit weitergeschrieben worden sein, wo sie lautlich bereits voll-ständig apokopiert war.

Dennoch läßt sich aufgrund der durch die Inschriften reflektierten Lautständeder zeitliche Rahmen, in dem die Ogamschrift für monumentale Zwecke beiden Iren in Gebrauch war, recht genau umreißen. Unabhängig davon, obeinzelne Inschriften mit erhaltenen Endungssilben alt sein müssen, hat dieZeit vor der eintretenden Apokope als die Zeit der Fixierung der schriftli-chen Tradition und somit als terminus ante quem zu gelten; eine Zeit, dielange vor dem Gebrauch der lateinischen Schrift in Handschriften, also etwa

4 Studies in Irish Epigraphy, Part I-III, London 1897-1907; hier Pt. III, S. 182.5 "Präliminarien zu einer Neuausgabe der Ogaminschriften"; in: Britain 400-600: Language and

History, edd. Alfred BAMMESBERGER and Alfred WOLLMANN, Heidelberg 1990, 291-304.6 "Ogam, Archaizing, Orthography and the Authenticity of the Manuscript Key to the Alphabet";

in: Ériu 37, 1986, 1-31; hier S. 6.

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9Ogam - Eine frühe keltische Schrifterfindung

dem ausgehenden 8. Jh., liegen muß, da hier kei-

Abb. 11

nerlei Formen ohne Apokope bewahrt sind.

Das beginnende Ende der Ogam-Ära wird dem-gegenüber durch solche Schreibungen dokumen-tiert, die sowohl Apokope als auch Synkope durch-geführt zeigen. Als Beispiel möchte ich einen Steinaus Carhoovauler, wiederum in der GrafschaftCork, anführen (CIIC Nr. 73.). Dieser Stein warnur schwer zu besichtigen, da er sich bis heuteunter der Erde befindet, wo er, wie viele andereauch, bei der Errichtung eines sog. Ringforts ver-wendet wurde. Die Inschrift, soweit sie einsehbarist (vgl. Abb. 11), bietet den Namen DOMN-GENN, der sich als Endpunkt einer langen Ent-wicklung von einem urkeltischen Genetiv *dumno-genı über *dumnagenı, *domnagenı und apoko-piertes *domnagen’ auffassen läßt. Die FormDOMNGENN leitet unmittelbar zu einem hand-schriftlich bezeugten Domungein7 über, das sichihr gegenüber lediglich durch die Anaptyxe einesneuen Mittelsilbenvokals unterscheidet.

Als noch später können die vereinzelten Ogaminschriften gelten, die in derArt der altirischen lateinschriftlichen Graphie sogar Färbungen und Lenisie-rungen von Konsonanten anzeigen. Ein solcher Fall ist möglicherweise dieInschrift von Maumanorig in Kerry (CIIC Nr. 193.; Abb. 12), die nachMACALISTER als ANM COLMAN AILITHIR zu deuten ist, was etwa durch"(Inschrift im) Namen Colmáns, (des) Pilgers" wiederzugeben wäre. Hierliegt nicht nur mit COLMAN eine genaue Entsprechung des in Handschriftenüberaus häufigen irischen Namens Colmán, älter Columbán vor (dieserName, der soviel wie "Täubchen" bedeutet, bildet nicht zuletzt auch dieGrundlage der zahlreichen bairischen Ortsnamen des Typs St. Kolomann). Inder Inschrift von Maumanorig haben wir vielmehr auch das sonst nur in Hss.

7 Corpus Genealogiarum Hibernicarum, 311: Hs. Rawl. B 502 160b 55.

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10 Jost Gippert

bezeugte Appellati-

Abb. 12

vum ailithir "Pilger"vor uns, dessenSchreibung, wennsie MACALISTER

richtig interpretiert(vgl. Abb. 138),offensichtlich unter

Abb. 13

dem Einfluß derlateinischen Graphiemit epenthetischem-i- als Kennzeichender Palatalität des -l-sowie mit -th- fürdas aus [t] lenierte[V] steht.

Es ist also davon auszugehen, daß sich die Verwendung der Ogamschrift inSteininschriften am Ende ihrer Ära und die der Lateinschrift bei den Irendurchaus noch überschnittenhaben; eine Tatsache, die inder irischen Archäologielange Zeit bestritten wurde,da man die Ogaminschriftenals eindeutig heidnischgeprägt sehen wollte, wasaber allein schon durch dieVerwendung des Wortesailither "Pilger" in der In-schrift von Maumanorig wi-derraten wird.

Eindrücklich bestätigt wirddas Fortleben der Ogam-schrift in christlicher Zeit

8 Des Autors eigene Skizze (aus: Proceedings of the Royal Irish Academy 44 C 9/10, 1938, S.241) zeigt, wie problematisch die Deutung ist.

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11Ogam - Eine frühe keltische Schrifterfindung

weiter durch einen Stein, der bei der

Abb. 14

Kathedrale von Killaloe in der Graf-schaft Clare in Westirland gefundenwurde, und der offenbar das Frag-ment eines Hochkreuzes darstellt(CIIC Nr. 54.; Abb. 14). DieserStein trägt auf seiner Vorderseiteeine Runeninschrift (vgl. Abb. 159),die ohne weiteres als TURGRIMRISTI KRUS TINA herzustellen ist,d.h. "Torgrim ritzte dieses Kreuz".Zusätzlich enthält die Unterseite eineOgaminschrift (vgl. Abb. 1610), die

Abb. 15 Abb. 16

sich mit den Worten BEANDACHT[AR] TOROQR[IM], wörtlich "Se-gen über Torgrim", auf den in derRuneninschrift genannten Norman-nen bezieht. Diese Inschrift erweistsich nicht nur durch die Verwendungvon beandacht "Segen" als christli-ch, sondern spiegelt auch

9 Skizze aus: Proceedings of the Royal Irish Academy 38 C 8/9, 1929, 237 (MACALISTER).10 Skizze aus: CIIC 1, S. 58.

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mit der eindeutigen Schreibung des "le-

Abb. 17

nierten" [x] durch die Zeichen C+Hexakt die lateinschriftlichen Verhältnissewieder. Dasselbe gilt ferner für die Ver-wendung eines X-förmigen Sonder-zeichens, das hier offenbar den Diphthong-ea- vertritt, der aus altirischem -e- vorfolgendem nicht-palatalen Konsonantenerst in mittelirischer Zeit entstanden ist.

Außerdem ist bei den beiden zuletzt be-handelten Ogaminschriften zu bemerken,daß die Zeichen hier nicht auf der Kantedes Steins angebracht sind, sondern aufder Oberfläche, wobei sie durch eine

Stammlinie verbunden sind. Dieselbe Gestaltung findet sich darüber hinausregelmäßig auch bei den meist für "piktisch" gehaltenen und bis heute kaumdeutbaren Ogaminschriften Schottlands11. Illustrieren mag dies der Stein aus

Abb. 18

Brandsbutt in Aberdeenshire (ILP Nr. 5; Abb. 17); zu lesen wäre hier IRA-TADDOARENS (vgl. Abb. 1812).

Die Schreibung entlang einer Stammlinie stelltdiese Inschriften in einen engeren Zusammen-hang mit der Ausprägung, die die Ogamschriftin handschriftlicher Bezeugung annimmt. Einesolche Bezeugung liegt z.B. in einer in derBodleian Library in Oxford aufbewahrten Hs.vor, die die Annalen des Klosters von Innis-fallen in Südirland enthält13. Mitten unter denEinträgen für das Jahr 1193 sind hier dreiZeilen in Ogam notiert, die den lateinischen

11 Cf. die Ausgabe von R.A.S. MACALISTER, "The Inscriptions and Language of the Picts", in:Féilsgríbinní Eóin McNéill, Edinburgh 1940, 184-226 (im folgenden ILP).

12 Skizze aus: ILP, S. 196.13 Cf. die Ausgabe von Seán MCAIRT, Annals of Inisfallen (Ms. Rawlinson B 503), Dublin 1951

/ 1971.

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13Ogam - Eine frühe keltische Schrifterfindung

Spruch NUMUS HONORATUR, SINE NUMO NULLUS AMATUR wieder-geben (vgl. Abb. 1914).

Abb. 19

Die Übereinstimmung mit den "christlichen" und den "piktischen" Ogamin-schriften betrifft dabei nicht nur die Stammlinie, sondern auch die Form derVokalzeichen, die hier wie dort nicht als Punkte, sondern als senkrechteStriche über die Linie hinweg notiert sind. Die handschriftliche Bezeugunggibt uns somit einen deutlichen Hinweis auf die - späte - chronologischeFixierung dieser Ogamabart.

Besonderes Gewicht gewinnt die handschriftliche Bezeugung aber noch inanderem Zusammenhang. In verschiedenen Handschriften des irischen Mittel-alters sind nämlich Abhandlungen erhalten, die der Ogamschrift selbst, ihrerHerkunft und ihren Ausprägungen gewidmet sind. Diese Traktate bildeten zu-nächst die Grundlage dafür, daß die Ogaminschriften Ende des 18. Jahr-hunderts überhaupt zur Kenntnis genommen und entzifferbar wurden. Daßdie in ihnen enthaltenen Angaben zur Ogamschrift ein weitgehend getreuesAbbild der in den Inschriften verwendeten Zeichen abgeben, wird nicht nurdurch die heutigen sprachwissenschaftlichen Erkenntnisse bestätigt, die sichan die Lesungen knüpfen, sondern auch durch die in Südwales gefundenen"bilinguen" Steine, die parallele Inschriften in Latein- und Ogamschriftenthalten. Ein typisches Beispiel ist ein in der Kirche von Nevern in derGrafschaft Pembroke aufbewahrter Stein (CIIC Nr. 446.), der einen MaélchúSohn des Clutar memoriert (Abb. 20-21):

14 Skizze aus: Annals of Innisfallen, S. 318 (fol. 40c der Hs.).

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14 Jost Gippert

Dabei stehen sich die lateinische Inschrift MAGLOCVNI FILI CLVTORI und

Abb. 20 Abb. 21

die Ogaminschrift MAGLICUNAS MAQI CLUTAR gegenüber (vgl. Abb.2215).

Abb. 22

Diese "bilingualen" Inschriften sind eindeutig irischen Kolonisatoren zuzu-weisen, die sich im 4. bis 6. Jh. in Südwales niederließen, und gehören somitzum älteren Bestand, wie sich wiederum an der erhaltenen Genetiv-Endung-AS zeigt.

Von Bedeutung sind die handschriftlichen Ogamtraktate nun aber vor allemfür die Frage nach der Herkunft der Ogamschrift. In den verschiedenenTeiltexten, die 1917 von George CALDER gesammelt herausgegeben wurden,sind tatsächlich zwei Ursprungstheorien verzeichnet. Die eine leitet das im"Book of Ballymote", einem Codex des 14.-15. Jhs., enthaltene Ogamtraktatein und erklärt das Alphabet als eine autochthone irische Schöpfung; der Textkann wie folgt übersetzt werden16:

15 Skizze aus: CIIC 1, S. 424.16 Auraicept na n-éces, ed. George CALDER, Edinburgh 1917, 272 ff.: BB 308, 5465ff.

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15Ogam - Eine frühe keltische Schrifterfindung

Caide loc 7 aimser 7 persu 7

fath airic in ogaim? Ni ansa.Loc do Hibernia insola quamnos Scoti habitamus. I n-aim-sir Brese mic Elathan rigErenn dofrith. Persu do Og-ma mac Elathan mic Del-bæith derbrathair do Bres, arBres 7 Ogma 7 Delbæth trimic Elathan mic Delbæithandsen. Ogma didiu, ferroeolach a mberla 7 a fili-decht, is e rainic int ogam.Cuis airic derbad a intlechta 7

co mbeth in bescna-sa iclucht in eolais fo leth, sechlucht na tirdachta 7 na buic-neachta. Can as fuair ainmiar sund 7 ret int ogam, 7

caide mathair 7 athair inogaim, 7 cia cetainm roscri-bad tri ogam, 7 cia fid inroscribad, 7 cuis ar roscribad,

7 cia dia roscribad, 7 cid araremtet bethi ria cach (hicuoluuntur omnia).

"Was ist der Ort und die Zeit und die Personund der Grund der Erfindung des Ogams?Nicht schwer. Der Ort dafür (war) Hiberniainsola quam nos Scoti habitamus. In der Zeitvon Bres, Sohn von Elathan, König von Irlandwurde es erfunden. Die Person dafür (war)Ogma, Sohn Elathans, des Sohnes von Del-baeth, leiblicher Bruder von Bres, denn Bresund Ogma und Delbaeth (waren) die dreiSöhne Elathans, des Sohnes von Delbaeth,dort. Ogma nun, ein Mann, sehr gelehrt inSprache und Dichtung, ist es, der das Ogamerfand. Der Grund der Erfindung (war), seineIntelligenz zu beweisen und, daß diese Spra-che den gelehrten Leuten allein (verfügbar)sein sollte, und nicht Leuten vom Land undvon Einfalt. Woher das Ogam danach seinenNamen bekam und (seine) Ausprägung, undwas Mutter und Vater des Ogams (waren),und was die erste Inschrift (wtl. ‘Name’)(war), die mit Ogam geschrieben wurde, undmit welchem Buchstaben sie geschrieben wur-de, und der Grund, warum sie geschriebenwurde, und durch wen sie geschrieben wurde,und warum bethi allen (Buchstaben) vorangeht, hic uoluuntur omnia.

Ogam o Ogma suo inuentoreprimo ria sunn quidem; iarret, immorro, ogum og-uaim.i. og-uaim, doberait na filidforsin filideacht trid, ar is frifedaib toimsither Gædelgicna filedaib: athair ogaimOgma, mathair ogaim lám noscian Ogma.

Ogam (heißt) nach Ogma, suo inuentore pri-mo, nach dem Laut; nach seiner Ausprägungjedoch ist Ogam og-uaim, i.e. perfekte Allite-ration, wie sie die Dichter durch es (dasOgam) für die Dichtkunst anwandten, dennnach den Buchstaben wird das Gälische vonden Dichtern bemessen. Der Vater des Ogamist Ogma, die Mutter des Ogam die Hand oderdas Messer Ogmas.

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16 Jost Gippert

Is e so immorro in cetna niroscribad tri Ogam,⟩,,,,,,, .i. in beithi ros-cribad, 7 do breith robaid doLug mac Etlenn roscribad imdala a mna na ru[c]tha uadahi i sidaib .i. secht mbethi inænfhlesc do bethi: Bertharfo secht do ben uait i sid noa ferand ali manis-cometabethi. Is aire immorro remitetbethi, ar is a mbethi ro-cets-cribad ogam.

Das folgende aber ist das erste, was mit Ogamgeschrieben wurde, (nämlich) ⟩,,,,,,,, i.e.die Birke wurde geschrieben, und um eineWarnung auszugeben an Lug, Sohn Ethlenns,wurde es geschrieben wegen seiner Frau,damit sie nicht von ihm weggebracht würde indas Feenreich, i.e. sieben bethi auf einenBirkenzweig: Siebenmal wird deine Frauweggebracht von dir ins Feenreich oder in einanderes Reich, wenn sie die Birke nichtschützt. Daher aber auch (rührt) die Vorreiter-schaft des bethi, denn auf Birke wurde Ogamzuerst geschrieben."

Diese Erklärung rekurriert also einerseits auf die Namensparallele zu einemmythischen Ogma mac Elathan, andererseits auf die Identität der Namen desersten Buchstabens im Ogamalphabet, beithe, mit dem Namen der "Birke".

Die zweite Erklärung findet sich in dem umfänglichen Traktat Auraicept nan-éces, wtl. etwa "Unterweisungsbuch des Gelehrten", der u.a. ebenfalls im"Book of Ballymote" erhalten ist und der der Ausgabe von CALDER denNamen gab. Hiernach ist die Erfindung des Ogams untrennbar mit der Ent-stehung der gälischen Sprache verbunden, und beide werden in biblischeZeiten verlegt17:

Cia arranic a mberla-sa 7 ciaairm i n-arneacht 7 cissi aimser in-arnecht? Ni ansa. ArranicFenius Farrsaidh oc tur Nem-rua[i]d i cind dech mbliadan iarscailiudh on tur for cach leath ..Ocus is and roan Fenius fodhe-sin ocon tur 7 is and roaitreabh,conid andsin conaitchetar chuicein scol berla tobaidi do theipu

"Wer erfand diese Sprache, und an wel-chem Ort wurde sie erfunden, und zu wel-cher Zeit wurde sie erfunden? Nichtschwer. Fenius Farsaidh hat sie erfundenbeim Turm Nimrods, zehn Jahre nach derZerstreuung (der Völker) in alle Richtun-gen von dem Turm aus .. Und Feniusselbst blieb bei dem Turm und wohntedort, so daß die Schule ihn bat, für sieeine gesonderte Sprache auszusondern aus

17 Auraicept na n-éces 78 f.: BB 323, 1034 ff.

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17Ogam - Eine frühe keltische Schrifterfindung

doib asna hilberlaibh tucsat leodi muich conna beith oc nach[a]iliu a mberla sain acht occaib-seomh a n-ænur, no ic neoch no-foglaindfedh leithiu dorisi. Isandsain doreoedh a mbelra asnahilberlaibh, 7 rotaiselbadh doænfir dib, conid a ainm-sen fortaa mbelrasa. Ba he in fer hisin .i.Goedel mac Angein .. Is andiaramh doriaghladh in mberla-sa.I mba fearr iarum do cach berla

7 a nba leithiu 7 a mba cæmu, ised darepedh isinn Goedilc; 7

cach son do na airnecht cairech-taire isna aipgitribh ailibh olchena arrichta carechtaire leo-sumh doibh isin beithi-luis-nin inogaim .. Rolatha iarumh a fedhafor leith 7 a tæbomna dno forleith, co fil cach æ dibh fo leth o’rlaile. ..

den vielen Sprachen, die sie mit sich ge-bracht hatten, so daß diese Sprache nie-mand anderem gehören solle als ihnenselbst allein oder jemandem, der sie wie-derum von ihnen lernen würde. Da wurdeihre Sprache aus den vielen Sprachen aus-gesondert, und sie wurde einem von ihnenzugeordnet, so daß sie seinen Namen er-hielt. Dieser Mann war Goedel, Sohn desAngein .. Dort wurde diese Sprache dann(auch) regularisiert. Was in jeder Sprachewiederum am besten war und was am wei-testen war und was am feinsten war, daswurde für das Gälische ausgewählt; und je-der Laut, für den keine Buchstaben in denanderen Alphabeten gefunden wurden, fürdie wurden von ihnen Buchstaben in demBeithe-Luis-Nin des Ogam(alphabets) ge-funden.. Deshalb wurden seine Vokale aufdie Seite gesondert und seine Konsonantenauf die (andere) Seite, so daß jeder vonihnen von dem anderen getrennt steht .."

Die hier vollzogene Verknüpfung mit der biblischen Geschichte war offenbardie Grundlage dafür, daß die Quelle der Ogamschrift bei irischen Gelehrtenbis in die Mitte des letzten Jahrhunderts in der Keilschrift Babylons undPersiens gesucht wurde; man vergleiche z.B. das Zitat des Archäologen JohnWINDELE aus Cork18:

"The Ogham writing has been generally considered as Druidical,as the original literary character of pagan Ireland, whose descenthas been traced back to Babylonia and Persepolis - the ancient ofdays."

18 Apud George PETRIE, The Ecclesiastic Architecture of Ireland, anterior to the Anglo-SaxonInvasion, comprising an essay on the Origin and Uses of the Round Towers of Ireland. Dublin 1845(Transactions of the Royal Irish Academy, 20), 80.

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18 Jost Gippert

Eine ernstzunehmende wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Ogam-schrift begann hingegen erst um 1848 mit den Studien von Charles GRAVES,Bischof von Limerick19. Von seinen Studien ausgehend sind es v.a. zweimögliche Verbindungen, die bis heute diskutiert werden: die mit der Latein-schrift, und die mit den germanischen Runen.

GRAVES sonderte zunächst die sog. Forfeda, die auf den Inschriften gar nichtoder nur spärlich erscheinen, als spätere sekundäre Erweiterungen aus:

Das deckt sich mit der Beobachtung, die wir am Kreuzfragment von Killaloe

8 9 : D EEA/K OI/P UI IA AE

gemacht haben.

Für die verbleibenden zwanzig Normalzeichen nahm er die inhärente Anord-nung in vier Gruppen zu je fünf Buchstaben als Basis für einen Vergleich mitdem lateinischen Alphabet, wobei er von einer entsprechenden Anordnungdesselben in vier Gruppen ausging; nach der Reduktion um die Buchstaben,die für das Irische nicht gebraucht wurden, und der Auffüllung der entstehen-den Lücken ergab sich für ihn ein Zwischenschema, dessen Übereinstimmun-gen mit dem Ogamalphabet bereits beträchtlich waren:

Lateinalphabet:

A B C DE F G HI K L MN O P QR S T VX Y Z

Zwischenschema:

A B Z DE F G HI K L MN O Ng QR S T V

Ogamanordnung:

A B M HO L G DU F Ng TE S Z CI N R Q

19 Charles (GRAVES, Bishop of) Limerick, "The Ogham Alphabet"; in: Hermathena 2, 1876, 460f.

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19Ogam - Eine frühe keltische Schrifterfindung

Diese erste Theorie Bischof GRAVES’ erfuhr durch James CARNEY vor weni-gen Jahren eine Überarbeitung, die für das Lateinalphabet lediglich von denBuchstaben ausging, die für das Irische in Betracht kamen, und auf einegrößere Stimmigkeit innerhalb der vier Zeichengruppen abzielte20:

GRAVES’ zweite Beobachtung betraf die Form der Ogamzeichen, die er

Ausgangsanordnungdes Lateinalphabets:

A B C DE F G HI L M NO Q R ST U Z Ng

Anordnung desOgamalphabets:

A B M HO L G DU F Ng TE S Z CI N R Q

natürlich in keiner Weise aus der Lateinschrift ableiten konnte. Das eigen-artige Prinzip, wonach jeder Ogambuchstabe aus einer bestimmten Anzahlvon Strichen und der Lage dieser Striche in Bezug auf eine Stammliniegekennzeichnet ist, verglich er hingegen mit verschiedenen Abarten vonRunen, über die in einer Alcuinhandschrift des 9. Jhs. berichtet wird21.Diese Abarten gehen von der Einteilung der 24 Runen in drei Gruppen zu jeacht Buchstaben aus, die jedem Buchstaben eine Definition nach der Grup-pennummer und der Position innerhalb der Gruppe gestatten:

F U T A R K G WH N I J E P Z S

T B E M L A D O

Diese Einteilung wiederum konnte in verschiedener Weise zur Verschlüs-selung der einzelnen Runen verwendet werden; ich übersetze sinngemäß:

20 James CARNEY, "The Invention of the Ogom Cipher"; in: Ériu 26, 1975, 58.21 Codex St.Gall. 270, 9.Jh.; zit.n. Helmut ARNTZ, "Das Ogom"; in: Beiträge zur Geschichte der

deutschen Sprache und Literatur 59, 1935, 377.

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20 Jost Gippert

"Iisruna dicuntur quae I litteraper totum scribuntur. Ita utquotus versus sit, primum bre-vioribus I, quae haec littera sitin versu, longioribus I scriba-tur. Ita ut nomen corvi scriba-tur his litteris ita:

"I-Rune wird die Abart genannt, bei der derBuchstabe I für alles geschrieben wird, undzwar in der Weise, daß zunächst die Num-mer der Gruppe durch ein kürzeres I, danndie Nummer des Zeichens in der Gruppedurch längere Is wiedergegeben wird. Sowürde das Wort corvi so geschrieben:

I. IIIIII. III. IIIIIIII. I. IIIII. I. II. II. III.

Lagoruna dicuntur quae itascribuntur per L litteram, utnomen corvi:

L-Rune wird die genannt, die ebenso, abermithilfe des Buchstabens L geschrieben wirdwie beim Wort corvi:

G. GGGGGG. GGG. GGGGGGGG. G. GGGGG. G. GG. GG. GGG.

Hahelruna dicuntur quæ in si-nistrâ parte quotus versusostendunt et in dextera quotalittera ipsius versus sit:

H-Rune wird die genannt, bei der auf derlinken Seite die Nummer der Gruppe ange-zeigt wird und auf der rechten die Nummerdes Zeichens in der Gruppe:

Stofruna dicuntur quae supra inpunctis quotus sit versus sub-tiliter ostendunt:

Stof-Rune wird die genannt, bei der dasZeichen durch Punkte und die Gruppe durchdarübergesetzte Punkte bezeichnet wird:

Sed aliquando mixtim illasfaciunt ut supra sint puncti quilitteram signant et subtus ordoversus .."

Aber manchmal macht man es auch in um-gekehrter Anordnung, sodaß die Punkte, diedas Zeichen bezeichnen, oben und die Punk-te für die Gruppe unten stehen .."

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21Ogam - Eine frühe keltische Schrifterfindung

Wie Charles GRAVES festhielt, kam dabei die sog. "Zweigrune", bei Alcuinnach dem Namen der H-Rune hahelruna genannt, dem Ogam-Alphabet oderBeith-Luis-Nin in der Gestalt am nächsten22:

"The most important feature to be noticed is the division of theBethluisnin into groups, and the designation of each letter by me-ans of a character which denotes in the first instance the number ofthe group, and next, the place that the letter holds in that group. Itis precisely upon this principle that the Class-Runes are formed;and the very signs used to represent one species of them, viz., theTree- or Twig-Runes, are not only similar to, but even identicalwith, some of the ciphers figured in the Book of Oghams."

GRAVES hatte dabei offenbar die Aufstellung von Abarten der Ogamschrift imAuge, die dem Ogamtraktat im Book of Ballymote als Anhang zugeordnet ist(vgl. Abb. 2823); tatsächlich sind hier mehrere Gestaltungen zu notieren, dieder "Zweigrune" überaus ähnlich sind, wie z.B. die folgenden:

Im Vergleich dazu die Zweigrune24:

22 "The Ogham Alphabet", 462 f. (ähnlich zuvor bereits in Proceedings of the Royal IrishAcademy, 4, 1850, 361).

23 Book of Ballymote, fol. 313 nach der Wiedergabe bei CALDER, Auraicept na n-éces, 307.24 Skizze aus GRAVES, o.c., 463.

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22 Jost Gippert

Abb. 28

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23Ogam - Eine frühe keltische Schrifterfindung

Die von GRAVES vorgeschlagene Verbindung zwischen Ogam und Runenerfuhr v.a. in den 20er und 30er Jahren unseres Jahrhunderts mannigfaltigeWeiterungen. So wurden zunächst von Holger PEDERSEN25 die folgendenÜbereinstimmungen als stützende Argumente ins Feld geführt: Beide, dasRunenalphabet und das Ogamalphabet, seien gegenüber dem Lateinalphabetdurch eine völlig andersartige Reihenfolge der Buchstaben gekennzeichnet;beide hätten ein eigenes Zeichen für ein konsonantisches v sowie für denVelarnasal o; in beiden Alphabeten bestünden die Buchstabennamen, andersals im Lateinalphabet, aus ganzen Wörtern; dabei herrsche zumindest inéinem Fall, nämlich bei dem Buchstabennamen für b, eine semantischeÜbereinstimmung, insofern sowohl der Runenname bjerkan als auch das iri-sche beithe der Name der "Birke" ist - wir erinnern uns an den Birkenmythosim Ogamtraktat, der die Bedeutung gerade des Birkennamens im Zusammen-hang mit dem Ogam unterstreicht.

Über PEDERSEN hinausgehend argumentierte Carl MARSTRANDER26, daß derName des Ogambuchstabens Q, quert, möglicherweise sogar lautlich mit demangelsächsischen Runennamen cweors identisch sei, der wiederum mit demNamen der P-Rune, peors und weiter mit dem Namen der gallischen GöttinPerta zusammenhängen könne. MARSTRANDER wies weiter darauf hin, daßdie Buchstabennamen des Ogamalphabets, dem Auraicept na n-éces zufolge,sämtlich Baumnamen darstellten:

beithe luis fern sail ninhuath daur tinne coll quertmuin gort ngetal c/ raif ruisailm onn ur edad idaebad, éubhadh oir uillenn pin / ifin emancholl

"Birke (Eberesche) Erle Weide (Esche)(Weißdorn) Eiche (Stechpalme?) Haselnuß (Apfelbaum)(Weinstock) (Efeu) (Ginster, Farn) Schlehdorn (Holunder)(Pinie) (Stechginster?) (Heidekraut) (Espe) (Eibe)Espe (Spindel?) (Geißblatt) (Stachelbeere?) ["Doppel-coll"]

25 "Runernes oprindelse"; in: Aarbøger for nordisk oldkyndighed og historie, 1923, 8.26 "Om runene og runenavnenes oprindelse"; in: Norsk Tidsskrift for Sprogvidenskap 1,1928,139.

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24 Jost Gippert

Außerdem erwähne der Traktat im selben Zusammenhang auch eine Eintei-lung der Bäume in drei Gruppen zu je acht Arten, was für MARSTRANDER

die deutlichste Übereinstimmung mit der Runeneinteilung war; die betr. Stellelautet in Übersetzung27:

Cis lir aicme ogaim? Niansa. A iii .i. viii n-airighfedha, 7 viii n-aithigh, 7 viiifidlosa. Ocht n-airigh cetus:- fernn, dur, coll, muin,gort, straif, onn, or. Ochtn-athaig .i. bethi, luis, sail,nin, huath, tinne, quert. Archuit a feda is athaig fedafidlosa olchena.

"Wie viele Gruppen des Ogam gibt es? Nichtschwer. Drei, nämlich (die) acht Herrenbäu-me, und (die) acht Bauernbäume, und (die)acht Sträucher. Zuerst die acht Herrenbäume:Erle, Eiche, Haselnuß, Weinstock, Efeu,Schlehe, Stechginster, Heidekraut. (Dann die)acht Bauernbäume, d.s. Birke, Eberesche,Weide, Esche, Weißdorn, Ginster, Apfelbaum.Was die Buchstaben betrifft, sind der RestBauernbäume (und) Sträucher."

Schließlich versuchte Helmut ARNTZ, die Anordnung des Ogamalphabetsdirekt aus der der Zweigrune zu erklären28; dabei ging er von einem rechtkomplizierten Verfahren aus, wonach die Nummer des Zeichens innerhalbder Gruppe gegen die Nummer der Gruppe teils additiv, teils subtraktiv ver-rechnet worden sei:

"Der Ire übernahm also grundsätzlich das princip (der hahalrune)und die zeichen, die er vereinfachte: 1. durch subtraction derstriche der eine seite von denen der anderen, falls das durch ver-schiedene strichzahl auf beiden seiten möglich war. 2. Durchaddition falls die zahl gleich war, sofern die summe nicht über fünfkam. 3. Durch beibehaltung einer seite, falls die addition mehr alsfünf striche ergeben hätte. Da auf diesen wegen zusammenfalleiniger zeichen hätte eintreten müssen, mußte der ogommeister inwenigen fällen anders vorgehen. Mehr als fünf seitenstriche wollteer nicht ziehen; sei es aus lediglich practischen gründen oder ausrücksicht auf die fünf normalvocale oder auf seine zähleinheit oderauf magische vorstellungen."

27 Book of Ballymote, fol. 309 a.28 "Das Ogom", S. 397.

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25Ogam - Eine frühe keltische Schrifterfindung

Geringfügig modifiziert wurde ARNTZ’ Hypothese dann noch einmal durchWolfgang KELLER29:

"Das ogom hat mit 15 consonantenzeichen drei reihen zu 5 stellen,kann also höhere zahlen als 5 nicht unterbringen. Bei kleinerenzahlen, wo die subtraction 0 oder weniger ergeben würde, hilft mansich mit addition. Hohe stellenzahlen, die wie bei s mehr als 5ergeben würden - die höchste reihenzahl, die subtrahiert werdenkann, ist ja 3 -, werden statt dessen um 5 gekürzt. So ergibt sichfolgendes resultat:"

KELLER brachte allerdings auch noch einen völlig neuen Aspekt in die Debat-

h = 1 g = 2 w = 3 r = 4 k = 5b = 1 t = 2 s = 3 n = 4 z = 5m = 1 l = 2 oo = 3 p = 4 > q

d = 4

te: Er schlug vor, daß der endgültigen Anlage des Ogamalphabets in Gruppen,deren eine ausschließlich von den fünf Vokalen a,o,u,e,i gebildet wird, dieEinteilung der Laute in vocales, semivocales und mutae zugrunde liegenkönne, wie sie bei den lateinischen Grammatikern seit Donatus im 4. Jh.gegolten habe. Weiter wahrscheinlich werde dies dadurch, daß zumindestéine weitere Ogamgruppe, h,d,t,c,q ganz in éiner Lautklasse aufgehe, näm-lich den mutae:

Einteilung der Laute bei Donatus:

mutae: bcdgh(k)(p)qtsemivocales: flmnrs(x) (+ griech. z)vocales: aeiou (+ griech. y)

vier Ogamgruppen:

hdtcqbl ˘u(f)sn / mgnzraouei

29 "Die Entstehung des Ogom"; in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur62, 1938, 127 ff.

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26 Jost Gippert

KELLERs Hinweis auf die lateinischen Grammatiker fand dann bei RudolfTHURNEYSEN30, Joseph VENDRYES31 und Jerzy KURYŁOWICZ32 bald will-kommene Aufnahme. Während KELLER den Einfluß der lateinischen Gram-matik auf die Gestalt des Ogamalphabets noch als sekundär angesehen hatte,sahen die genannten Gelehrten in der Lehre des Donatus sogar die primäreQuelle für die Entstehung der irischen Schrift, was eine Abkehr von derRunentheorie mit sich brachte; man vergleiche die von Jerzy KURYŁOWICZ

modifizierte Gegenüberstellung:

Tatsächlich bleiben trotz aller Übereinstimmungen zwischen dem Ogam- und

Einteilung der Laute bei Donatus:

semivocales: flmnrs(x)mutae: bcdgh(k)(p)qtliterae graecae: (y)zvocales: aeiou

vier Ogamgruppen:

bl ˘u(f)snhdtcqmgn(ng)zraouei

dem Runenalphabet einige beträchtliche Einwände bestehen: Die Entstehungder Ogamschrift muß, wie oben gezeigt wurde, aufgrund der in ihr bewahrtenaltertümlichen Sprachformen recht früh angesetzt werden; die communisopinio geht etwa von dem 4. nachchristlichen Jh. aus. Für diese Zeit ist einKontakt zwischen Irland und in Runen schreibenden germanischen Stämmennicht nachweisbar. Die Zweigrune (und die mit ihr verwandten Spielarten) isthingegen nicht vor dem 9. Jh. belegbar, also erst zu einer Zeit, als das Ogamin Irland bereits weitgehend außer Gebrauch geraten war. Letztlich entfälltsogar der Hinweis auf das in beiden Schriften enthaltene Zeichen für denVelarnasal o, wenn Damian MCMANUS mit seiner kürzlich vorgelegtenNeuinterpretation des Ogamalphabets auf der Grundlage des zu rekonstruie-renden uririschen Lautsystems recht hat, wonach an der Stelle des bisherangesetzten o ein labiovelares gw gestanden habe33:

30 "Zum Ogom"; in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 61, 1937, 203.31 "L’écriture ogamique"; in: Études Celtiques 4, 1940, 102.32 "Note sur l’Ogam"; in: Bulletin de la Sociéte Linguistique 56, 1961, 1 f.33 "Ogam: Archaizing ..", 28.

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27Ogam - Eine frühe keltische Schrifterfindung

, - . /- /. 0 1 2 31 32B L V S N J D T C Q

4 5 6 57 67 ? ( ) *( *)M G Gw ST/Sw? R A O U E I

Eine Schwierigkeit bleibt aber auch dann bestehen, wenn man akzeptiert, daßdie Ogamschrift eher eine lateinische Grundlage gehabt hat. Die Annahmeeiner Umordnung des lateinischen Alphabets, zum Beispiel im Anschluß anGrammatiker wie Donatus, kann zwar weitgehend die Anordnung des Ogam-alphabets erklären, nicht jedoch die Gestaltung der Buchstaben. Hierzu müßteman wiederum auf die Zweigrune verweisen, und zwar im Sinne einer ele-mentaren Parallele: Bei Alphabeten, die eine innere Ordnung aufweisen,scheint sich eine daraus abgeleitete Gestaltung der einzelnen Zeichen alsAlternative von selbst anzubieten. In diesem Zusammenhang ist auch einegenauere Untersuchung des bei PEDERSEN nach Arthur CHRISTENSEN ange-führten persischen Alphabets xa ˙t ˙t-i mıx angebracht, bei dem ganz ähnlich wiebei der Zweigrune durch die Anordnung bedingte Zeichenformen vorliegen;dieses Alphabet wird von CHRISTENSEN wie folgt beschrieben34:

"Die ‘Nagelschrift’ der Perser basiert auf der Einteilung des arabi-schen Alphabets in Buchstabengruppen, wie sie beim ABC-Unter-richt benutzt werden und auch in anderen Zusammenhängen eineRolle spielen; die Einteilung ist die folgende:

1 2 3 4 1 2 3 1 2 3 1 2 3 4

c

a-b-ga-d ha-wwa-z ˙hu- ˙t ˙t-i ka-la-ma-n1 2 3 4

1 2 3 4 1 2 3 4 1 2 3 1 2 3sa-c-f- ˙s ˙ka-ra-ša-t ¯ta-xxi- ¯d ˙da- ˙za-g

5 6 7 8

34 Apud PEDERSEN, "Runernes oprindelse", 80f. (Übersetzung J.G.)

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28 Jost Gippert

Die Anordnung ist nicht die übliche Reihenfolge der Buchstaben imarabischen Alphabet, sondern die altsemitische (in den Gruppen1-6), was das hohe Alter dieses Gruppensystems erweist. Diebeiden letzten Gruppen enthalten die Buchstabenzeichen, die dieAraber dem altsemitischen Alphabet hinzugefügt haben. Die jewei-ligen Buchstabengruppen repräsentieren natürlich keine echtenWörter, die im Arabischen oder Persischen vorkommen, und dieVokalisierung ist offenbar völlig willkürlich gewählt, aber sie stehtheute fest. Die Zeichen der "Nagelschrift" bestehen aus einemsenkrechten Strich mit Schrägstrichen zu beiden Seiten. Der senk-rechte Hauptstrich repräsentiert für sich die Gruppe 1; ein zusätzli-cher Schrägstrich auf der rechten Seite bezeichnet Gruppe 2, zweiSchrägstriche auf der rechten Seite Gruppe 3 usw. Die Schräg-striche auf der linken Seite bezeichnen den Buchstaben innerhalbder Gruppe:

Die Nagelzeichen werden nach dem üblichen Schriftprinzip vonrechts nach links angeordnet."

Für die Ogamschrift besteht nun andererseits aber auch die Möglichkeit, daßdas in ihr obwaltende Prinzip bereits vor der Kenntnisnahme des lateinischenAlphabets bestanden haben kann, nämlich als Zählsystem. Eine derartigeAnnahme hatte etwa Rudolf THURNEYSEN im Auge, als er seine sog. "Kerb-holzhypothese" begründete35:

"Als ihre (der ogomschrift) ‘idee’ .. scheint mir nach den altendenkmälern deutlich das kerbholz zugrunde zu liegen, ein stab oderholz, auf dessen kanten kerben eingeschnitten oder von dessenkanten aus querstriche nach rechts oder links geritzt werden. Sol-

35 "Zum Ogom", 197 f.

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29Ogam - Eine frühe keltische Schrifterfindung

che stäbe sind ja zum festhalten von gezählten dingen wol seitpaläolithischer zeit weit verbreitet und können auch - etwa alsbotenstäbe - einen gewissen ersatz oder vorläufer der lautschriftbilden. .. Auch wenn meine kerbholzhypothese das richtige trifft,ist damit nichts darüber ausgesagt, welches schriftmuster in diesessystem umgeschaltet wurde."

Tatsächlich ist es ja augenfällig, daß sich die 20er-Basis des Ogamalphabetsgenau mit der Basis des keltischen Zahlensystems deckt, was ausdrücklichdurch Lucien GERSCHEL herausgestellt wurde, der die Ogamschrift auf einursprüngliches Zahlennotationssystem zurückzuführen vorschlug36:

6 7 8 9 10 16 17 18 19 20 400

⟩,+-+.+/-+/. +0+1+2+31+32+ 4++5++6+75+76+ ?++(++)++*(+*)+ 8++9++D+++:+++E⟨

1 2 3 4 5 11 12 13 14 15 10 20 100 200

In diesem Zusammenhang ist nicht zuletzt auf die bereits im letzten Jahrhun-dert gemachte Beobachtung37 zu verweisen, wonach die fünf Zeichen derzweiten Gruppe, h,d,t,c,q, in auffälliger Weise an den Anlaut der irischenZahlen von eins bis fünf, a-haon, a-dó, a-trí, a-ceather, a-cúig erinnern.Dieser Zusammenhang kann aufgrund der heutigen sprachwissenschaftlichenErkenntnisse allerdings nurmehr teilweise akzeptiert werden.

Dennoch bleibt die Frage bestehen, ob das irische Ogamalphabet gleichsamals Kreuzung des lateinischen Alphabets mit einem vorhandenen Zahlen-notationssystem entstanden sein kann. Daß eine solche Annahme denkbar ist,glaube ich nun wiederum durch eine elementare Parallele begründen zu kön-nen, die m.W. bisher noch nicht gesehen worden ist. Die Kreuzung einesgegebenen Alphabets mit einem Zahlennotationssystem scheint nämlich auchder Schrift zugrunde zu liegen, die heute auf der Inselgruppe der Malediven

36 "L’Ogam et le nombre"; in: Etudes celtiques 10, 1962, 153.37 Zuerst offenbar bei G.M. ATKINSON, Kilkenny Archæological Journal, July 1874, 231 (non

vidi; cf. George CALDER, Auraicept na n-éces, Edinburgh 1917, li). Ähnlich John ABERCROMBY,"The Ogham alphabet"; in: Academy 18, 1880, 294.

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30 Jost Gippert

im Indischen Ozean in Gebrauch ist. Das heutige Alphabet, das nach demVorbild des arabischen von rechts nach links geschrieben wird, ist vor etwazweihundert Jahren an die Stelle des zuvor gebrauchten rechtsläufigen Divesakuru getreten, das seinerseits auf dem singhalesischen Alphabet fußt. Dabeisind die Buchstabenformen zum größten Teil aus denen des alten Alphabetserwachsen, wobei die Änderungen auf Vereinfachungen sowie auf die Umkeh-rung der Schreibrichtung (vom rechtsläufigen zum linksläufigen System)zurückgeführt werden können. Lediglich die ersten neun Buchstaben, h-w,sind durch völlige Neuerungen ersetzt, und zwar, wie auf einen Blick zuerkennen ist, durch die arabischen Ziffern von 1-9 (vgl. die Aufstellung aufder folgenden Seite)38.

Die Grundlage für die Ersetzung dürfte in der Ähnlichkeit der arabischenZiffer 9, 9, mit dem Buchstaben für w, z, bestehen, der im maledivischenAlphabet zufällig gerade an der 9. Stelle steht.

Auch ohne daß eine vergleichbare Begründung im Falle des irischen Ogam-alphabets auf der Hand liegt, ergibt sich aus dem Beispiel der maledivischenSchrift doch ein Fingerzeig darauf, in welcher Richtung man weiter suchensollte.

38 Cf. in diesem Sinne bereits A. GRAY, "The Maldive Islands", in: Journal of The Royal AsiaticSociety N.S. 10, 1878, 182f.

Page 32: Attention! - TITUS: INDEXtitus.fkidg1.uni-frankfurt.de/personal/jg/pdf/jg1992e.pdf · irland aufgestellter, aus Rockfield in der südirischen Grafschaft Kerry stammender Stein (Abb.

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