Auf dem Weg zur Europäischen Staatsanwaltschaft

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Delivered by Publishing Technology University of Bern 130.92.9.55 Thu, 04 Sep 2014 23:06:31 Copyright Mohr Siebeck Herausgeber Professor Dr. Dr. Eric Hilgendorf, Würzburg Professor Dr. Matthias Jestaedt, Freiburg i.Br. Professor Dr. Herbert Roth, Regensburg Professor Dr. Astrid Stadler, Konstanz Redaktion Martin Idler, Tübingen Mohr Siebeck 15/16 69. Jahrgang 8. August 2014 Seiten 749800 Juristen Zeitung Professor Dr. Edward Schramm, Jena* Auf dem Weg zur Europäischen Staatsanwaltschaft Auf mehrere hundert Millionen Euro schätzt die Europäische Union den Umfang der finanziellen Schäden, die ihr jährlich durch Betrügereien, Korruption, manipulierte Ausschreibungs- verfahren oder Untreuehandlungen entstehen. In Ermangelung einer eigenen Strafverfolgungskompetenz ist die EU für den strafrechtlichen Schutz ihrer finanziellen Interessen auf die Strafrechtspflege der Mitgliedsstaaten angewiesen. Bezüglich der Wahrnehmung von staatsanwaltschaftlichen Aufgaben könnte sich dies ändern, wenn sich der Rat der EU dazu entschließen sollte, eine Europäische Staatsanwaltschaft zu schaffen. Die Realisierung dieses Projekts wird derzeit von der Europäischen Kommission mit Nachdruck und unter Vorlage eines Verordnungsentwurfs vorangetrieben. I. Die fehlende Strafverfolgungskompetenz der bisherigen EU-Institutionen Europol, Eurojust und OLAF Der Haushalt der EU wies im Jahre 2013 ein Volumen von rund 283 Milliarden EUR aus. 1 Finanziert wird dieser Haus- halt nur zu einem geringen Bruchteil aus Eigenmitteln wie Zöllen und Zuckerabgaben (14,1 %) sowie sonstigen Ein- nahmen (1,2 %), zum überwiegenden Teil dagegen aus den Finanzmitteln der 28 Mitgliedsstaaten in Gestalt der Abfüh- rung von Anteilen der nationalen Mehrwertsteuereinnahmen (11,3 %) und vorrangig aus einem bestimmten Prozentsatz vom BNE (= Bruttonationaleinkommen, 73,4 %). 2 Innerhalb des Ausgabenbudgets von 150,9 Milliarden EUR flossen (nur) 6 % in die EU-Verwaltung, während etwa in den Be- reichen der Wirtschaftsförderung (Nachhaltiges Wachs- tum) sowie Agrar- und Umweltpolitik (Nachhaltige Be- wirtschaftung und Schutz der natürlichen Ressourcen) 130,7 Milliarden EUR ausgekehrt wurden. 3 Der Großteil dieser Mittel geht in Gestalt von Subventionen in der Ter- minologie der EU als Beihilfen (vgl. etwa Art. 107 ff. AEUV) an Begünstigte in die Mitgliedsstaaten zurück. 4 Diese Bei- hilfen werden freilich vielfach nicht direkt von der EU an die Adressaten ausgekehrt, sondern im Rahmen der geteilten Mittelverwaltung durch die Mitgliedsstaaten selbst verwal- tet 5 und können zudem vielfach nur dann ausgezahlt werden, wenn der jeweilige National- oder Regionalstaat selbst noch einen zusätzlichen Geldbetrag beisteuert. Viele Subventionen beruhen somit auf einer Mischfinanzierung, wobei der jewei- lige nationale oder regionale Anteil an den Leistungen als Kofinanzierung bezeichnet wird; dieser mitgliedstaatlich zu leistende Beitrag kann etwa im Bereich der sogenannten Strukturfonds bei bis zu 75 % liegen. 6 Bei der Förderung der Wirtschaftsfähigkeit ist hingegen die EU-Kommission in der Regel selbst für die Verwaltung der Mittel zuständig; sie vergibt sie in Form von Subventionen oder Aufträgen. 7 Dass bei einem Finanzvolumen von dreistelligen Milliar- denbeträgen das Risiko von Straftaten zum Nachteil der fi- nanziellen Interessen der EU (sowohl auf der Einnahmen- wie auf der Ausgabenseite 8 ) groß ist, etwa in Gestalt von Subventionsbetrug oder Korruption, versteht sich von selbst. 9 Seit der PIF-Konvention von 1995, dem Überein- kommen zum Schutz der finanziellen Interessen der Europä- ischen Union, 10 werden diese Straftaten gemeinhin als PIF- Delikte bezeichnet (PIF= protection des intérêts financiers des Communautés européennes). Der Katalog der PIF-De- likte war damals aber noch sehr eng und beschränkte sich auf Aufsätze * Der Autor ist Universitäts-Professor an der Friedrich-Schiller-Univer- sität Jena und Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht, Wirtschaftsstrafrecht, Europäisches und Internationales Strafrecht. Bei dem Beitrag handelt es sich um seine Jenaer Antrittsvorlesung vom 6. 6. 2014. Der für den EU-Ausschuss der Regionen (AdR) für die Europäische Staatsanwaltschaft europaweit zuständige Berichterstatter, der thüringische Justizminister Dr. Holger Poppenhäger, wurde bei der Stel- lungnahme des AdR vom Autor in Brüssel wissenschaftlich beraten. 1 http://ec.europa.eu/budget/figures/2013/2013_de.cfm. 2 EU-Haushalt 2013, Luxemburg 2013, S. 10. 3 EU-Haushalt (Fn. 2), S. 12; OLAF-Report 2013, S. 9. 4 Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, 5. Aufl. 2011, § 21 Rn. 2 ff. Dabei reicht der Beihilfebegriff des Unionsrechts wesentlich weiter als der Subventionsbegriff des deutschen Verwaltungsrechts; vgl. etwa Mau- rer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Aufl. 2011, § 17 Rn. 35. 5 Killmann/Schröder, in: Sieber u. a. (Hrsg.), Europäisches Strafrecht, 2011, § 12 Rn. 18. 6 Vgl. etwa VO (EG) Nr. 1083/2006 v. 11. 7. 2006. 7 Killmann/Schröder, in: Sieber (Fn. 5), § 12 Rn. 19. 8 Killmann/Schröder, in: Sieber (Fn. 5), § 12 Rn. 20. 9 Für das Jahr 2009 geht man sogar von einer Schadenshöhe von 1,223 Milliarden EUR aus; vgl. KOM(2010) 382; Schoo, in: Schwarze (Hrsg.), EU- Kommentar, 3. Aufl. 2012, Art. 325 Rn. 1. 10 ABl. C 316 v. 27.11.1995, S. 49 (PIF-Übereinkommen), ABl. C 313 v. 23. 10. 1996, S. 2 (1. Protokoll), ABl. C 221 v. 19. 7. 1997, S. 12 (2. Pro- tokoll). Dazu etwa Dannecker, in: Böse (Hrsg.), Enzyklopädie Europäisches Recht, Bd. 9 Europäisches Strafrecht, 2013, § 8 Rn. 33 ff.; Hecker, Europä- isches Strafrecht, 4. Aufl. 2012, § 14 Rn. 22. Juristenzeitung 69, 749758 DOI: 10.1628/002268814X14053301406723 ISSN 0022-6882 © Mohr Siebeck 2014

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HerausgeberProfessor Dr. Dr. Eric Hilgendorf, WürzburgProfessor Dr. Matthias Jestaedt, Freiburg i.Br.Professor Dr. Herbert Roth, RegensburgProfessor Dr. Astrid Stadler, Konstanz

RedaktionMartin Idler, Tübingen

Mohr Siebeck

15/16 69. Jahrgang8. August 2014Seiten 749–800

Juristen Zeitung

Professor Dr. Edward Schramm, Jena*

Auf dem Weg zur Europäischen Staatsanwaltschaft

Auf mehrere hundert Millionen Euro schätzt die EuropäischeUnion den Umfang der finanziellen Schäden, die ihr jährlichdurch Betrügereien, Korruption, manipulierte Ausschreibungs-verfahren oder Untreuehandlungen entstehen. In Ermangelungeiner eigenen Strafverfolgungskompetenz ist die EU für denstrafrechtlichen Schutz ihrer finanziellen Interessen auf dieStrafrechtspflege der Mitgliedsstaaten angewiesen. Bezüglichder Wahrnehmung von staatsanwaltschaftlichen Aufgabenkönnte sich dies ändern, wenn sich der Rat der EU dazuentschließen sollte, eine Europäische Staatsanwaltschaft zuschaffen. Die Realisierung dieses Projekts wird derzeit von derEuropäischen Kommission mit Nachdruck und unter Vorlageeines Verordnungsentwurfs vorangetrieben.

I. Die fehlende Strafverfolgungskompetenzder bisherigen EU-Institutionen Europol,Eurojust und OLAF

Der Haushalt der EU wies im Jahre 2013 ein Volumen vonrund 283 Milliarden EUR aus.1 Finanziert wird dieser Haus-halt nur zu einem geringen Bruchteil aus Eigenmitteln wieZöllen und Zuckerabgaben (14,1%) sowie sonstigen Ein-nahmen (1,2%), zum überwiegenden Teil dagegen aus denFinanzmitteln der 28 Mitgliedsstaaten in Gestalt der Abfüh-rung von Anteilen der nationalen Mehrwertsteuereinnahmen(11,3%) und vorrangig aus einem bestimmten Prozentsatzvom BNE (= Bruttonationaleinkommen, 73,4%).2 Innerhalbdes Ausgabenbudgets von 150,9 Milliarden EUR flossen(nur) 6% in die EU-Verwaltung, während etwa in den Be-reichen der Wirtschaftsförderung („Nachhaltiges Wachs-tum“) sowie Agrar- und Umweltpolitik („Nachhaltige Be-wirtschaftung und Schutz der natürlichen Ressourcen“)130,7 Milliarden EUR ausgekehrt wurden.3 Der Großteil

dieser Mittel geht in Gestalt von Subventionen – in der Ter-minologie der EU als Beihilfen (vgl. etwa Art. 107 ff. AEUV)– an Begünstigte in die Mitgliedsstaaten zurück.4 Diese Bei-hilfen werden freilich vielfach nicht direkt von der EU an dieAdressaten ausgekehrt, sondern im Rahmen der geteiltenMittelverwaltung durch die Mitgliedsstaaten selbst verwal-tet5 und können zudem vielfach nur dann ausgezahlt werden,wenn der jeweilige National- oder Regionalstaat selbst nocheinen zusätzlichen Geldbetrag beisteuert. Viele Subventionenberuhen somit auf einer Mischfinanzierung, wobei der jewei-lige nationale oder regionale Anteil an den Leistungen alsKofinanzierung bezeichnet wird; dieser mitgliedstaatlich zuleistende Beitrag kann etwa im Bereich der sogenanntenStrukturfonds bei bis zu 75% liegen.6 Bei der Förderungder Wirtschaftsfähigkeit ist hingegen die EU-Kommissionin der Regel selbst für die Verwaltung der Mittel zuständig;sie vergibt sie in Form von Subventionen oder Aufträgen.7

Dass bei einem Finanzvolumen von dreistelligen Milliar-denbeträgen das Risiko von Straftaten zum Nachteil der fi-nanziellen Interessen der EU (sowohl auf der Einnahmen-wie auf der Ausgabenseite8) groß ist, etwa in Gestalt vonSubventionsbetrug oder Korruption, versteht sich vonselbst.9 Seit der PIF-Konvention von 1995, dem Überein-kommen zum Schutz der finanziellen Interessen der Europä-ischen Union,10 werden diese Straftaten gemeinhin als PIF-Delikte bezeichnet (PIF= protection des intérêts financiersdes Communautés européennes). Der Katalog der PIF-De-likte war damals aber noch sehr eng und beschränkte sich auf

Aufsätze

* Der Autor ist Universitäts-Professor an der Friedrich-Schiller-Univer-sität Jena und Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht,Wirtschaftsstrafrecht, Europäisches und Internationales Strafrecht. Beidem Beitrag handelt es sich um seine Jenaer Antrittsvorlesung vom6. 6. 2014. – Der für den EU-Ausschuss der Regionen (AdR) für dieEuropäische Staatsanwaltschaft europaweit zuständige Berichterstatter, derthüringische Justizminister Dr. Holger Poppenhäger, wurde bei der Stel-lungnahme des AdR vom Autor in Brüssel wissenschaftlich beraten.1 http://ec.europa.eu/budget/figures/2013/2013_de.cfm.2 EU-Haushalt 2013, Luxemburg 2013, S. 10.3 EU-Haushalt (Fn. 2), S. 12; OLAF-Report 2013, S. 9.

4 Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, 5. Aufl. 2011, § 21Rn. 2 ff. Dabei reicht der Beihilfebegriff des Unionsrechts wesentlich weiterals der Subventionsbegriff des deutschen Verwaltungsrechts; vgl. etwa Mau-rer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Aufl. 2011, § 17 Rn. 35.5 Killmann/Schröder, in: Sieber u. a. (Hrsg.), Europäisches Strafrecht,2011, § 12 Rn. 18.6 Vgl. etwa VO (EG) Nr. 1083/2006 v. 11. 7. 2006.7 Killmann/Schröder, in: Sieber (Fn. 5), § 12 Rn. 19.8 Killmann/Schröder, in: Sieber (Fn. 5), § 12 Rn. 20.9 Für das Jahr 2009 geht man sogar von einer Schadenshöhe von 1,223Milliarden EUR aus; vgl. KOM(2010) 382; Schoo, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 3. Aufl. 2012, Art. 325 Rn. 1.10 ABl. C 316 v. 27. 11. 1995, S. 49 (PIF-Übereinkommen), ABl. C 313 v.23. 10. 1996, S. 2 (1. Protokoll), ABl. C 221 v. 19. 7. 1997, S. 12 (2. Pro-tokoll). Dazu etwa Dannecker, in: Böse (Hrsg.), Enzyklopädie EuropäischesRecht, Bd. 9 Europäisches Strafrecht, 2013, § 8 Rn. 33 ff.; Hecker, Europä-isches Strafrecht, 4. Aufl. 2012, § 14 Rn. 22.

Juristenzeitung 69, 749–758 DOI: 10.1628/002268814X14053301406723ISSN 0022-6882 © Mohr Siebeck 2014

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„Betrügereien“ und untreueähnliche Handlungen (vor allemden heutigen Subventionsbetrug in § 264 StGB), währendnunmehr, wie später noch zu zeigen sein wird (unter III. 1),von einem umfassenderen Verständnis der PIF-Delikte (ein-schließlich bestimmter Steuerdelikte) auszugehen ist. So wiejeder Nationalstaat seinem Fiskus strafrechtlichen Ver-mögensschutz gewährt,11 hat auch die EU das Ziel, ihre fi-nanziellen Interessen, vor allem die zweckgemäße Verwen-dung ihrer Mittel, nicht nur mittels des Verwaltungs- oderVertragsrechts sicherzustellen, sondern auch mit einem flan-kierenden kriminalstrafrechtlichen Schutz zu versehen.12 DieEuropäische Union hat zwar diesbezüglich zahlreiche Har-monisierungsmaßnahmen zur Angleichung von Straftat-beständen und Sanktionen in den Mitgliedsstaaten ergriffen,aber bis heute keine originäre Kompetenz zur repressivenVerfolgung von PIF-Delikten,13 mithin weder eine Europä-ische Polizei (im materiellen Sinne)14 noch eine EuropäischeStaatsanwaltschaft, weder ein Europäisches Strafgericht nochgar Europäische Gefängnisse, um Straftaten zum Nachteilder EU verfolgen und Strafen vollstrecken zu können.

Die Tätigkeit von Europol (Art. 88 AEUV) besteht inerster Linie in der Sammlung, Verarbeitung und Weitergabevon Informationen.15 Das Europol koordiniert zudem ope-rative Maßnahmen; aber an der Durchführung von Zwangs-eingriffen dürfen die Mitarbeiter nicht teilnehmen:16 „Euro-pol hat keine Pistolen“.17 Eurojust dagegen ist ein „Koope-rationsinstrument mitgliedschaftlicher Strafverfolgung“18und als Pendant zu Europol auf der Ebene der Justizbehör-den eine Agentur der EU, die für die Koordination undKooperation der nationalen Strafgerichte und Staatsanwalt-schaften bei der Ermittlung und Verfolgung grenzüber-schreitender schwerer Kriminalität zuständig ist (Art. 85AEUV). Sie kann zwar die Strafverfolgungsbehörden derMitgliedsstaaten ersuchen, Ermittlungsmaßnahmen anzu-ordnen, hat aber praktisch keine eigene Ermittlungs- undDurchführungskompetenz.19

Die von der Europäischen Union 1999 geschaffeneeuropäische Betrugsbekämpfungsbehörde OLAF (Organisa-tion Lutte Anti-Fraude) hat zwar durchaus Erfolge vor-zuweisen: So wurden im Gefolge der 3500 Untersuchungen,die das OLAF seit seiner Errichtung durchgeführt hat, gegen335 Täter Gefängnisstrafen verhängt und EU-Gelder in Hö-he von 1,1 Milliarden EUR eingezogen.20 Die EU-Betrugs-bekämpfungsbehörde weist aber auch strukturelle Defiziteauf. OLAF kann nur Vorermittlungen durchführen, die ver-

waltungsrechtlicher Natur sind; es ist nicht mit polizeilichenoder justiziellen Zwangsbefugnissen ausgestattet21 und des-halb zur Anordnung von strafprozessualen Ermittlungsmaß-nahmen nicht befugt. OLAF kann den nationalen Strafver-folgungsbehörden empfehlen, Ermittlungen gegen tatver-dächtige Personen und Unternehmen durchzuführen undAnklage zu erheben. Sperren sich die Mitgliedsstaaten abergegen eine Strafverfolgung, ist OLAF machtlos. Transparen-cy International beklagt zudem die enge organisatorischeVerflechtung von EU-Kommission und OLAF. Trotz seinerUnabhängigkeit nehme OLAF bei seinen Ermittlungen zusehr Rücksicht auf die Nichtverfolgungsinteressen mancherLänder und Institutionen.22

Die EU ist mithin zum Schutz ihrer finanziellen Interes-sen bis heute auf die Strafverfolgung durch die Mitglieds-staaten angewiesen.23 Trotz der Anpassung des nationalenStrafrechts an die Schutzinteressen der EU und der Loyali-tätsverpflichtungen der Mitgliedsstaaten gegenüber derEuropäischen Union sind in der Vergangenheit immer wie-der Defizite bei der Strafverfolgung zum Schutz der finan-ziellen Interessen der EU aufgetreten. Im Jahresbericht derKommission von 2014 sind Betrugsfälle in Höhe von 248Millionen EUR auf der Ausgabenseite und 61 Millionen aufder Einnahmenseite nachgewiesen.24 Geht man zudem (wasplausibel erscheint) von einer gehörigen Dunkelziffer in die-sem Bereich aus, dürfte die EU jährlich durch Subventions-betrügereien und durch Bestechungshandlungen in einemweit größeren Umfang als diese rd. 310 Millionen EUR be-troffen sein. Nur ein Bruchteil dieser Mittel kann wiedereingezogen werden. Im jüngsten Jahresbericht von OLAFwird zudem betont, dass es vielfach nur in einem Teil derFälle, in denen OLAF dem Mitgliedsstaat die Erhebung einerAnklage oder einer vergleichbaren staatlichen Reaktion emp-fiehlt, tatsächlich zu solchen nationalen Strafverfolgungs-maßnahmen kommt. So liegt etwa die Erfolgsquote derEmpfehlungen von OLAF in Spanien bei 39%, in Hollandund Rumänien bei 46%, in Belgien bei 48%, in Italien bei58% und in Deutschland bei 71%.25

II. Art. 86 AEUV als primärrechtlicheGrundlage für die Schaffung derEuropäischen Staatsanwaltschaft

Vor diesem europarechtlichen und kriminologischen Hinter-grund tritt der europäische Staatsanwalt als neuer Akteur aufdie Bühne des Strafprozesses. Die europarechtliche Grund-lage (Ermächtigung) für die Schaffung dieser EuropäischenStaatsanwaltschaft (EuStA), die schon im letztlich gescheiter-ten EU-Verfassungsvertrag von 2004 vorgesehen war,26 fin-det sich in Art. 86 AEUV als Bestandteil des (am 1. 12. 2009in Kraft getretenen) Vertrags von Lissabon. Art. 86 AEUVsieht vor, dass der Rat (i. S. des Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 1, 16Abs. 1, 2 EUV = Versammlung der Vertreter der Mitglieds-

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11 Statt aller Perron, in: Schönke/Schröder, StGB, 29. Aufl. 2014, § 263Rn. 78a.12 Killmann/Schröder, in: Sieber (Fn. 5), § 12 Rn. 20.13 Vgl. etwa Kugelmann, in: Böse (Fn. 10), § 17 Rn. 24 (keine umfassende„originäre Strafrechtssetzungskompetenz der EU“); und Böse, in: ders.(Fn. 10), § 27 Rn. 23 („Vollzugszuständigkeit der Mitgliedsstaaten“).14 Dazu, dass Art. 86 AEUV keine Kompetenz zur Einsetzung einereuropäischen Kriminalpolizei enthält, vgl. Vogel, in: Grabitz/Hilf/Nettes-heim, Das Recht der Europäischen Union, 52. Elfg. 2014, Art. 86 AEUVRn. 13.15 Dannecker, in: Streinz, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 88 AEUVRn. 13 ff.16 Kugelmann, in: Böse (Fn. 10), § 17 Rn. 88.17 Schramm, Internationales Strafrecht, 2011, § 4 Rn. 158.18 Herrnfeld, in: Sinn (Hrsg.), Jurisdiktionskonflikte bei grenzüber-schreitender Kriminalität, 2012, S. 145; vgl. auch Fawzy, Die Einrichtungvon Eurojust, 2005, S. 25 ff.19 Zur Kompetenz von Eurojust Grotz, in: Sieber (Fn. 5), § 45; Kempf StV2003, 128; Safferling, Internationales Strafrecht, § 12 Rn. 36; Zöller, in: Böse(Fn. 10), § 21 Rn. 2 ff.20 So http://ec.europa.eu/anti_fraud/investigations/fraud-in-figures/in-dex_de.htm.

21 Brüner/Spitzer, in: Sieber (Fn. 5), § 45 Rn. 2; Hecker (Fn. 10), § 4Rn. 19 ff.22 http://www.transparency.de/Europaeische-Union.1279.0.html.23 Schramm (Fn. 17), § 4 Rn. 64.24 Europäische Kommission MEMO 18/487 v. 17. 7. 2014. Zur CriminalCompliance in der EU zum Schutz der finanziellen Interessen der EU vgl.Schramm, in: Rotsch (Hrsg.), Handbuch Criminal Compliance, 2014, § 31A.25 OLAF Report 2013, S. 23.26 Killmann/Hofmann, in: Sieber (Fn. 5), § 48 Rn. 18.

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staaten auf Ministerebene)27 zur Bekämpfung von Straftatenzum Nachteil der finanziellen Interessen der Union durcheine Verordnung eine EuStA einsetzen kann. Nicht die Ver-waltungsbehörde OLAF, sondern die Justizbehörde Euro-just solle hierfür der Ausgangspunkt „in einem substantiellenSinne“28 – quasi deren „Keimzelle“29 – sein. Die EuStA seifür die strafrechtliche Untersuchung und Verfolgung sowiedie Anklageerhebung in Bezug auf Personen zuständig, dieals Täter oder Teilnehmer Straftaten zum Nachteil der finan-ziellen Interessen der Union begangen haben. Sie nehme beidiesen Straftaten vor den zuständigen Gerichten der Mit-gliedstaaten die Aufgaben der Staatsanwaltschaft wahr.

Die Europäische Staatsanwaltschaft – auf englisch „theEuropean Public Prosecutor’s Office“, auf französisch „leParquet Européen“, auf italienisch „la Procura Europea“ –

würde nicht aus heiterem Himmel kommen, sondern hätteeine nunmehr über 22-jährige Vorgeschichte.30 Schon imJahre 2001 hat die EU-Kommission in ihrem Grünbuchzum strafrechtlichen Schutz der finanziellen Interessen derEU die Schaffung einer Europäischen Staatsanwaltschaft vor-geschlagen.31 Vorangegangen waren intensive, vom Europa-parlament und der Kommission initiierte strafrechtsverglei-chende Untersuchungen,32 die 1992 begannen und an denenaus Deutschland etwa Klaus Tiedemann und Joachim Vogelbeteiligt waren.33 Sie führten schließlich 1998 unter der Fe-derführung der französischen StrafrechtswissenschaftlerinMireille Delmas-Marty zum Vorschlag der Schaffung einesStrafgesetzbuchs und einer Strafprozessordnung zum Schutzder finanziellen Interessen der EU, dem sogenannten CorpusJuris von Florenz (CJF), der 2000 in einer überarbeitetenFassung veröffentlicht wurde.34 Das damals reichlich kühnanmutende, heute zum Greifen nahe Projekt einer EuStAwird dort in Art. 18 ff. CJF entwickelt. Art. 18 CJF bildetmit der Definition der Zuständigkeiten und der Skizzierungeiner dezentral-dualistischen Struktur die normative DNAdes heutigen Verordnungsentwurfs.35

Auf der Grundlage des genannten Art. 86 AEUV hat dieEU-Kommission im vergangenen Jahr, am 17. 7. 2013 einenVorschlag für eine Verordnung des Rates über die Errichtungeiner Europäischen Staatsanwaltschaft (VO-E) vorgelegt.36Über diesen Vorschlag, der derzeit intensiv bearbeitet wirdund dessen erste 19 Artikel nunmehr in einer überarbeitetenFassung37 vom Mai 2014 vorliegen (VO-E ü.F.), werdenschlussendlich der Rat der Europäischen Union (Art. 16Abs. 1 EUV) und das Europaparlament entscheiden (Art. 86Abs. 1 Satz 2 AEUV). Im Gesetzgebungsverfahren wurdendas Europaparlament und der Rat der EU gemäß Art. 13Abs. 4 EUV vom Wirtschafts- und Sozialausschuss sowie

vom Ausschuss der Regionen (AdR, Art. 300 Abs. 1 Alt. 2,305 AEUV) als beratende Institutionen mit Verfassungs-rang38 unterstützt. Der AdR hat den Standpunkt der lokalenund regionalen Gebietskörperschaften – wie etwa der deut-schen Bundesländer – zur geplanten EuStA in Form einerStellungnahme zu den Vorschlägen der Europäischen Kom-mission eingebracht.39

Ob es zur Geburt der Europäischen Staatsanwaltschafttatsächlich kommen wird, ist zwar im Moment noch unge-wiss. Gleichwohl dürfte es sich bei diesem Plan nicht um einejuristische Luftblase handeln, die bald zerplatzen wird, wieder Blick auf das – zugegebenermaßen komplizierte –

Rechtssetzungsverfahren zeigt: Denn es bedarf zur Schaf-fung dieser Europäischen Staatsanwaltschaft keiner Einstim-migkeit bei der Abstimmung des Rats der Europäischen Uni-on i. S. des Art. 86 Abs. 1 Satz 2 AEUV und damit des erfolg-reichen Abschlusses des sogenannten ordentlichen Gesetz-gebungsverfahrens. Es genügt vielmehr nach Art. 86 Abs. 1Unterabs. 1, 2 AEUV, wenn auf der höchsten politischenEbene, im Europäischen Rat (Art. 86 Abs. 1 Unterabs. 3AEUV i.V. mit Art. 15 EUV)40 im Wege der verstärktenZusammenarbeit (Art. 326 ff. AEUV; sogenanntes Europader zwei Geschwindigkeiten)41 mindestens 9 EU-Mitglieds-staaten zustimmen; diese Zahl scheint nach dem momenta-nen Stimmungsbild wohl deutlich übertroffen zu werden.Dann würde sich die Tätigkeit der EuStA auf diese teilneh-menden Staaten beschränkten (Art. 86 Abs. 1 Unterabs. 3AEUV).

Im Rahmen des präventiven Subsidiaritätskontrollver-fahrens (Art. 12 lit. a, b EUV i.V. mit dem dazu gehörigenSubsidiaritätsprotokoll42) haben freilich (innerhalb der vor-gegebenen kurzen Frist) vierzehn Kammern von elf Unions-mitgliedsstaaten eine Subsidiaritätsrüge – auch als „gelbeKarte“ bezeichnet – erhoben.43 In diesen Stellungnahmenwurde vor allem gerügt, dass die Vereinbarkeit mit dem na-tionalen Verfassungsrecht, die gerichtliche Überprüfung derZwangsmaßnahmen, die Kompatibilität mit einem auf Er-mittlungsrichter ausgerichteten Vorverfahren und vor allemeine angemessene Berücksichtigung aller Mitgliedsstaaten ineinem kollegialen zentralen Gremium gewährleistet seinmüsse. Die Kommission hat daraufhin in ihrer – aufgrunddes Erreichens des notwenigen Quorums von 25% zwin-gend vorgeschriebenen – Stellungnahme erklärt, dass sie ander Errichtung der EuStA festhalten wird.44

Aus deutscher Sicht haben der Bundesrat45 und jüngstauch der Rechtsausschuss des Bundestags bzw. der Bundes-tag46 zwar (zum Teil sehr umfangreiche und detaillierte) Ein-wände formuliert, die aber die konkrete Ausgestaltung inEinzelfragen betreffen, ohne das Projekt der EuStA als sol-ches in Frage zu stellen. Großbritannien, Irland und Däne-mark werden aller Voraussicht nach die EuStA ablehnen.Wenn alle übrigen Mitgliedsstaaten im Europäischen Rat zu-

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27 Dazu Hix, in: Schwarze (Fn. 9), Art. 16 EUV Rn. 10 ff.28 Böse, in: Schwarze (Fn. 9), Art. 86 AEUV Rn. 4.b29 Vogel, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Fn. 14), Art. 86 AEUV Rn. 14.30 Vgl. KOM (2001) 715 S. 8.31 KOM (2001) 715 endg. vom 11. 12. 2001; dazu Brüner/Spitzer NStZ2002, 393; Bubnoff ZEuS 2002, 185; Nürnberger ZJS 2005, 494; Radtke GA2004, 1; Satzger StV 2003, 137; Sommer StV 2003, 126.32 Zöller, in: Böse (Fn. 10), § 21 Rn. 70.33 Schramm, ZJS 2010, 616.34 Englische Fassung des CJF: http://ec.europa.eu/anti_fraud/documents/fwk-green-paper-corpus/corpus_juris_en.pdf.35 Vgl. Nelles, in: Huber (Hrsg.), Das Corpus Juris als Grundlage einesEuropäischen Strafrechts, 2000, S. 261 ff.36 KOM (2013) 735 = BR-Drs. 631/13.37 Siehe die überarbeiteten ersten 19 Artikel der Verordnung im Interins-titutionellen Dossier des Rats 9834/1/14 REV 1 vom 21. 5. 2014, abrufbarunter http://register.consilium.europa.eu. Soweit der VO-E und dessenüberarbeitete Fassung übereinstimmen, wird in diesem Beitrag nur dieBestimmung aus dem VO-E aufgeführt.

38 Oppermann/Classen/Nettesheim (Fn. 4), § 6 Rn. 1 ff.39 EU-ABl. C 126/37 v. 26. 4. 2014.40 Vogel, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Fn. 14), Art. 86 AEUV Rn. 27.41 Vogel, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Fn. 14), Art. 86 AEUV Rn. 9.42 Protokoll Nr. 2 über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiaritätund der Verhältnismäßigkeit; EU-ABl. C 306/150 v. 17. 12. 2007.43 Abstimmungsergebnisse und Stellungnahmen auf der Homepage desEuropean Parliament Legislative Observatory unter http://www.ipex.eu/IPEXL-WEB/dossier/document/COM20 130 534.do.44 Mitteilung der Kommission COM(2013) 851 vom 27. 11. 2013.45 BR-Dr. 631/13 v. 11. 10. 2013.46 Stellungnahme gemäß Art. 23 Abs. 3 GG, BT-Dr. 18/1658 v. 4. 6. 2014.

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stimmen, käme es gleichwohl zum Erlass der Verordnung imWege des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens.47 Es istdaher theoretisch nicht ausgeschlossen, dass bis auf die dreigenannten Staaten alle übrigen 25 Mitgliedsstaaten in abseh-barer Zeit im Europäischen Rat und Europäischen Parlamentfür die Schaffung einer EuStA stimmen werden, wenn sichdie Kommission auf die Vorstellungen der kritischen Mit-gliedsstaaten einlässt und es so doch zu einem europäischenKonsens kommen sollte. Der Rat der EU für Justiz undInneres hat in seiner Sitzung am 6. 6. 2014 einen von derKommission überarbeiteten Entwurf der EuStA-Verordnunggenerell begrüßt. Bis auf die genannten 3 Staaten hegt keinerder übrigen 25 Mitgliedsstaaten mehr grundsätzliche Beden-ken. Ganz offensichtlich wird die EuStA bald Wirklichkeitwerden.48 Noch nicht beantwortet ist übrigens die Frage, inwelcher Stadt die EuStA angesiedelt würde. Einerseits solldie EuStA aus der Den Haager Eurojust hervorgehen(Art. 86 Abs. 1 AEUV), was für Den Haag spräche; anderer-seits hatte der Europäische Rat im Dezember 2003 beschlos-sen, dass der Sitz der EuStA – quasi „neben“ dem EuGH – inLuxemburg sein solle.

III. Die sachliche Zuständigkeit der EuStA

Die Europäische Staatsanwaltschaft ist nach Art. 86 Abs. 1Satz 1 AEUV und dem insoweit gleichlautenden Art. 4Abs. 1 des überarbeiteten Verordnungsentwurfs für die Be-kämpfung der Straftaten zum Nachteil der finanziellen Inte-ressen der EU zuständig.

1. Der Katalog der Straftaten

Während der Wortlaut des Art. 86 Abs. 1 AEUV offenlässt,welche Straftatbestände darunter fallen sollen, verweisenArt. 2 lit. f und Art. 17 VO-E ü.F. zumindest auf diejenigenStraftatbestände, die in einer künftigen Richtlinie49 zumSchutz der finanziellen Interessen der EU enthalten seinwerden und die in das nationale Strafrecht umgesetzt werdenmüssten.50

Das besagt zunächst, dass die EuStA nur für einen klei-nen Ausschnitt der Kriminalität, nämlich für diejenige zumNachteil der EU (das heißt mit der EU als Geschädigter)tätig wird, und nochmals eingeschränkt auf finanzielle Schä-digungen der EU. Die EuStA wird somit nur für einen ganzkleinen Bruchteil der in den Mitgliedsstaaten begangenenStraftaten zuständig sein. Der Anteil der PIF-Verfahren ander Gesamtzahl strafrechtlicher Ermittlungsverfahren wirdsomit aller Voraussicht nach marginal sein, in der Additionder Fallzahlen in den partizipierenden Mitgliedsstaaten undnoch deutlicher hinsichtlich der insgesamt zu erwartendenSchadenshöhe im dreistelligen Millionen- bis einstelligen

Milliardenbereich dürften sie aber durchaus ein erheblichesVolumen erreichen.

Bei den PIF-Delikten unterscheidet der Richtlinienvor-schlag zwischen dem Betrug (Art. 3) und den betrugsähn-lichen Straftaten (Art. 4). Unter den Begriff des „Betrugszum Nachteil der finanziellen Interessen der Union“ inArt. 3 fallen vor allem Täuschungshandlungen sowie diezweckentfremdende, untreueähnliche Verwendung von Sub-ventionen, vergleichbar den Regelungen im deutschen § 264Abs. 1 StGB. Unter die betrugsähnlichen Straftaten nachArt. 4 werden so heterogene Deliktstypen gefasst wie Mani-pulationen im Vergabeverfahren, die an den Submissions-betrug bzw. wettbewerbsbeschränkende Absprachen in§ 298 StGB erinnern (Art. 4 Ziff. 1), die Geldwäsche (Art. 4Ziff. 2), die Bestechlichkeit und Bestechung von öffentlichenBediensteten (Art. 4 Ziff. 3a, b) oder die missbräuchliche Ver-wendung von EU-Geldern durch öffentliche Bedienstete(Art. 4 Ziff. 4). Aus der Begründung des VO-E ergibt sich,dass der Richtlinienvorschlag auch den sogenannten Mehr-wertsteuerbetrug einschließt und sich damit die Verfolgungs-kompetenz der EuStA auf diese Straftat erstrecken wird.Dies wird zum einen in Erwägungsgrund 4 des Richtlini-enentwurfs damit begründet, dass mit einer betrügerischenVerringerung der nationalen Mehrwertsteuereinnahmen zu-gleich der Unionshaushalt geschmälert wird. Zum anderengehören die Einnahmen, die in den relevanten EU-Haus-haltsplänen erfasst werden – und damit auch die an die EUabgeführten Mehrwertsteuereinnahmen –, gemäß Art. 2 zuden finanziellen Interessen der Union. Der statische Verweisauf die Richtlinie brächte zugleich eine Begrenzung auf diegenannten Straftaten mit sich. In der Richtlinie nicht er-wähnte Verhaltensweisen wie etwa der Geheimnisverrat, derMissbrauch amtlicher Befugnisse oder die Mitgliedschaft ineiner kriminellen Vereinigung, die durchaus im Einzelfalleinen finanzschädigenden Charakter aufweisen können,könnten folgerichtig nicht von der EuStA, sondern nur vonden nationalen Staatsanwaltschaften bzw. Ermittlungsrich-tern verfolgt werden.

2. Bestimmtheitsgrundsatz

Im Übrigen ist die Verweisungstechnik im Verordnungsent-wurf unbefriedigend. Es sollte in der Verordnung selbst oder– so die Regelungstechnik bei Europol51 und bei Eurojust52 –zumindest in einem Annex zur Verordnung deutlich werden,für welche Typen von Straftaten der Europäische Staats-anwalt zuständig sein sollte. Denn der Bestimmtheitsgrund-satz – den der Jenaer Strafrechtsprofessor Feuerbach im19. Jahrhundert mit seiner Formel nulla poena sine lege certaso präzise wie nachhaltig für das materielle Strafrecht gefor-dert hat53 – wird in der Verfassungsdogmatik und der Straf-prozesslehre sowie in der ständigen Rechtsprechung desBVerfG auch auf strafprozessuale Eingriffe erstreckt.54 Nullaprosecutio sine lege certa – die tatbestandlichen Vorausset-zungen von strafprozessualen Eingriffsmaßnahmen müssendem Gebot der Normenklarheit und Normenbestimmtheitgenügen.

752 Edward Schramm Auf dem Weg zur Europäischen Staatsanwaltschaft JZ 15/16/2014

47 Vgl. Art. 1 Abs. 1 Satz 2, Art. 2, Art. 3 Abs. 2 des Protokolls Nr. 21(„Über die Position des Vereinigen Königreichs und Irlands hinsichtlichdes Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“) zum Vertrag vonLissabon sowie Art. 1 Abs. 1 Satz 2 des Protokolls Nr. 22 („Über die Posi-tion Dänemarks“) zum Vertrag von Lissabon; dazu WissenschaftlicheDienste Deutscher Bundestag Nr. 09/13.48 Vgl. das EBD De-Briefing Justiz und Inneres vom 11. 6. 2014 (http://www.netzwerk-ebd.de/news/ebd-de-briefing-justiz-und-inneres-von-schlafend-zu-dynamisch-die-verhandlungen-zur-europaeisch/).49 Zum Richtlinienvorschlag von 2012 vgl. COM(2012) 363 final.50 „Article 2 Definitions: For the purposes of this Regulation (. . .) b)‚criminal offences affecting the financial interests of the Union‘ means theoffences provided for by Directive 2014/xx/EU, as implemented by nationallaw.“

51 Vgl. den Anhang 1 zum Ratsbeschluss Europol, EU-ABl. L 212/65.52 Herrnfeld, in: Sinn (Fn. 18), S. 143 f.53 Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland geltenden Peinli-chen Rechts, 1801, § 20; dazu Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. 1.,4. Aufl. 2006, § 3 Rn. 22 und § 5 Rn. 22 m. umfass. Nachw.54 Vgl. etwa BVerfGE 110, 33, 53 und BVerfGE 115, 320; Ermächtigun-gen zu Grundrechtseingriffen bedürfen einer gesetzlichen Grundlage, diedem rechtsstaatlichen Gebot der Normenbestimmtheit und Normenklarheitentspricht.

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Doch dürfte es für die Verfolgungsbehörden schwierig zuerkennen sein, ob der delegierte europäische Staatsanwaltzuständig ist, wenn die Straftatbestände in der Verordnunggar nicht erwähnt werden, sondern nur in einer Richtlinieaußerhalb der Verordnung. Zudem ist die Richtlinie alsRechtsakt – wie seine Gattungsbezeichnung bereits zumAusdruck bringt – nur eine Richtschnur für die Mitglied-staaten, entsprechende Straftatbestände zu schaffen. Mithinergibt sich seine Zuständigkeit letztlich nur aus dem Konnexmit den entsprechenden Straftatbeständen des jeweiligen na-tionalen Rechts. Kann so ein Tatverdächtiger erkennen, obdie gegen ihn gerichtete Strafverfolgung überhaupt vom zu-ständigen Staatsanwalt auf der Grundlage der richtigen straf-prozessualen Regelungen durchgeführt wird? Daher hat sichbeispielsweise der Ausschuss der Regionen in der EU inseiner Stellungnahme zur EuStA dafür ausgesprochen, diein den Zuständigkeitsbereich der Europäischen Staatsanwalt-schaft fallenden Straftatbestände im Interesse der erforderli-chen Normen- und Verfahrensklarheit in einem Anhang zurVerordnung präzise und unmissverständlich zu benennen.55

Dabei ist überdies zu bedenken, dass die Verfolgung derStraftaten zum Nachteil der EU-Finanzinteressen auf derGrundlage des nationalen Strafrechts geschieht und wederunmittelbar auf der Grundlage der EuStA-VO – Art. 86AEUV gewährt ohnehin nur eine prozessuale, aber keinemateriellrechtliche Rechtsetzungskompetenz56 – noch aufder Basis der EU-Richtlinie. Es wird mit der EuropäischenStaatsanwaltschaft nicht zugleich ein eigenes europäischesStrafrecht in der Rechtsform einer Verordnung geschaffen.Zwar hätten die besseren Gründe dafür gesprochen, im Sinneeiner einheitlichen Strafrechtsanwendung in Europa eine Arteuropäisches Strafgesetzbuch zum Schutz der EU-Finanz-interessen zu erlassen, und zwar in Form einer Verordnung.Ein supranationales PIF-Strafrecht wäre nach dem Primär-recht – nach freilich bestrittener Ansicht57 – durchaus auf derGrundlage des Art. 325 AEUV möglich, wie etwa JoachimVogel zu Recht betont hat.58 Die EU-Kommission hat sichaber dazu entschlossen, keine unmittelbar europaweit gelten-den Straftatbestände zu schaffen, sondern ihre (subsidia-ritätsfreundlichere) Harmonisierungspolitik fortzusetzenund (lediglich) in Gestalt von Richtlinien gewisse inhaltlicheVorgaben an den nationalen Strafgesetzgeber zu stellen.59

3. Konkurrierende Zuständigkeit mit Evokationsrecht

Europapolitisch umstritten ist bis heute, ob die EU, wie inArt. 11 Abs. 4 des ursprünglichen Entwurfs vorgesehen, die„ausschließliche“ Zuständigkeit für die Verfolgung dieserStraftaten besitzen soll. Dagegen könnte es Verfahrenskon-stellationen geben, in denen die nationalen Verfolgungs-behörden entweder weiterhin die alleinige Zuständigkeit be-sitzen sollten oder diese zunächst ermitteln dürfen oder soll-ten, die EuStA aber gegebenenfalls das Verfahren an sichziehen kann. Ein solches Recht der zentralen EU-Staats-anwaltschaft, das man auch als Evokationsrecht bezeichnet,würde vor allem in denjenigen Phasen des Ermittlungsver-

fahrens einen Sinn machen, in denen die EuStA zwar sachlichzuständig wäre, aber noch nicht aktiv werden konnte; dannwären zumindest die nationalen Verfolgungsbehörden im-stande, zügig und wirksam Maßnahmen einzuleiten. Auchdürften nationale Strafverfolgungsbehörden im Fall vonkomplexen Taten möglicherweise erst nach einiger Zeit fest-stellen, dass zu dem Ermittlungsgegenstand auch Taten mitPIF-Charakter gehören oder dass eine einheitliche Tat imSchwerpunkt ein PIF-Delikt ist. In solchen Fällen des bishe-rigen Art. 13 VO-E sollte die EUStA den Fall an sich ziehenkönnen. Eine solche Evokation wäre zudem sinnvoll, wennsich der Verdacht gegen Bedienstete der EU richtet, der an-gerichtete Schaden sehr groß ist oder es sich um grenzüber-schreitende Sachverhalte handelt.

Es verdient daher Beifall, wenn die Kommission in derÜberarbeitung ihres Entwurfs vom Mai 2014 die ursprüng-liche Vorstellung von einer ausschließlichen Zuständigkeitder EuStA für PIF-Fälle verworfen und ein differenziertes,konkurrierendes Zuständigkeitsregime geschaffen hat. Ins-besondere das Evokationsrecht in Art. 19 Abs. 3 mit Fn. 68VO-E ü.F. läuft auf eine konkurrierende Zuständigkeit vonnationaler Staatsanwaltschaft und europäischer Staatsanwalt-schaft hinaus: Der zentralen EuStA soll das Recht einge-räumt werden, das Verfahren an sich zu ziehen, wenn dienationale Verfolgungsbehörde eine Ermittlung führt, bei dersich herausstellt, dass es sich um eine Straftat zum Nachteilder EU-Finanzinteressen handelt. Denn es kann sinnvollsein, die Strafverfolgung in den Händen der nationalenStaatsanwälte zu belassen, etwa wenn es sich um Bagatellfällehandelt oder man auf die Rechtshilfe von Drittstaaten außer-halb der EU angewiesen ist, denn anders als die EU selbsthaben ihre Mitgliedsstaaten vielfach solche Rechtshilfe-abkommen mit EU-externen Staaten geschlossen.

In den schon eingangs erwähnten Mischfällen, in denendurch die PIF-Straftaten zugleich die nationalen Haushaltegeschädigt werden, sieht der VO-Entwurf auch in seinerüberarbeiteten Fassung in Art. 18 VO-E ü.F. vor, dass dieEuStA dann zuständig ist, wenn der Schwerpunkt auf derSchädigung der EU liegt. Der Schwerpunkt soll sich primärnach der Schadensverteilung bemessen (Art. 18 Abs. 3 VO-Eü.F.). Der Ausschuss der Regionen hat in seiner Stellung-nahme eine Empfehlung vorgebracht, dass bei solchenMischfällen die Geldbußen bzw. Geldstrafen oder vergleich-bare Auflagen entsprechend der jeweiligen Schadenshöheanteilig an den betroffenen Mitgliedsstaat bzw. das betroffe-ne Bundesland ausgezahlt werden mögen und diese Geldernicht zur Gänze nach Brüssel fließen können.60 Sodann re-gelt der Verordnungsentwurf auch die Einstellung des Ver-fahrens bei Geringfügigkeit und nennt dies – für deutscheOhren eher ungewohnt und unverblümt – in Art. 29 VO-Eeinen „Vergleich“ zwischen StA und Beschuldigten.

4. Zuständigkeit kraft Sachzusammenhangs

Besteht ein untrennbarer Zusammenhang zwischen einerPIF-Tat und einer weiteren Straftat (z.B. Urkundenfäl-schung, Nötigung oder Erpressung eines EU-Bediensteten,Ausspähen von Daten, Verletzung von Dienstgeheimnissen),so bemisst sich die Zuständigkeit des EuStA ebenfalls nachdem Schwerpunkt der Tat (Art. 18 VO-E ü.F.). Diese Zu-

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55 Vgl. Ziff. 21 der AdR-Stellungnahme EU-ABl. 126/40.56 Böse, in: Schwarze (Fn. 9), Art. 86 Rn. 6; Vogel, in: Grabitz/Hilf/Net-tesheim (Fn. 14), Art. 86 AEUV Rn. 48.57 Vgl. etwa Hecker (Fn. 10), § 4 Rn. 67; Mansdörfer HRRS 2010, 11;Zöller, in: Böse (Fn. 10), § 21 Rn. 96.58 Vogel, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Fn. 14), Art. 86 AEUV Rn. 47;ebenso Schramm (Fn. 17), § 4 Rn. 15 ff.59 COM(2012) 363 final Ziff. 3. 3 (S. 9).

60 EU-ABl. C 126/40 v. 26. 4. 2014. Dieser Vorschlag wird in der Stel-lungnahme des Bundestags, BT-Dr. 18/1658, S. 4 nicht thematisiert, obwohldieser im finanziellen Interesse des Bundes und der Länder sein dürfte.

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ständigkeitsfrage sollte gerichtlich überprüft werden kön-nen.61 Auch muss in der Praxis dem Doppelbestrafungsver-bot Rechnung getragen werden:62 Wenn über die im mate-riellen Sinne einheitliche Tat schon abschließend entschiedenwurde (zum Beispiel hinsichtlich des Subventionsbetrugszum Nachteil des Einzelstaates), ohne dass dabei die PIF-Dimension bekannt war und berücksichtigt werden konnte(zum Beispiel die Herkunft des Geldes auch aus EU-Haus-haltsmitteln und damit die EU als Geschädigte übersehenwurde), wird richtigerweise wegen Strafklageverbrauchs diePIF-Tat nicht mehr verfolgt werden können. Das gleiche gilt– im Rahmen des Art. 50 EuGrCh bzw. Art. 54 SDÜ – fürentsprechende grenzüberschreitende Fallkonstellationen. Dadas ne bis in idem-Prinzip fest in der Verfassungskultur derMitgliedsstaaten (zum Beispiel Art. 103 Abs. 3 GG) sowie imeuropäischen Primär- und Sekundärrecht verankert ist(Art. 50 EuGrCh), mag man explizite Regelungen dazu ineiner EUStA-VO aus Klarstellungsgründen für vielleichthilfreich,63 in der Sache freilich aufgrund der eindeutigennormenhierarchischen Vorgabe nicht für zwingend erforder-lich halten.

IV. Die Tätigkeit der EuStA

Aufgabe der EuStA ist gemäß Art. 86 AEUV die Bekämp-fung von Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessender Union. Mit dem Begriff der Bekämpfung soll zum Aus-druck gebracht werden, dass – ebenso wie bei Eurojust(Art. 85 Abs. 1 Satz 1 AEUV), aber anders als bei Europol(Art. 88 Abs. 1 AEUV) – nicht (auch) die Prävention, son-dern (nur) die Untersuchung und Verfolgung64 von Strafta-ten sowie (über Eurojust weit hinausgehend) auch die Ankla-geerhebung (Art. 86 Abs. 2 Satz 1 AEUV) in den Zuständig-keitsbereich der EuStA fällt.65 Damit erstreckt sich die Zu-ständigkeit auf das Stadium der Vorermittlungen und dasErmittlungsverfahren sowie auf die Überleitung des Ermitt-lungsverfahrens in das Zwischen- und Hauptverfahren (An-klageerhebung) einschließlich aller Aufgaben, die ein Staats-anwalt im Hauptverfahren übernehmen kann. Einbezogensind auch sogenannte Strukturermittlungen im Vorfeld eineskonkreten Tatverdachts in kriminellen Strukturen.66 DasVollstreckungsverfahren bleibt freilich ganz in der Handder nationalen Strafvollstreckungsorgane, in Deutschlandmithin der nationalen Staatsanwaltschaft.

Die Bindung der EuStA an Gesetz und Recht dürfte sichvon selbst verstehen67 und bedarf keiner expliziten Erwäh-nung in der Verordnung. Dagegen muss, worauf der deut-sche Bundestag zu Recht hinweist, das Verhältnismäßigkeits-prinzip präziser formuliert werden: Die Regelungen inArt. 11 Abs. 2 VO-E, wonach sich die Ermittlungstätigkeitan dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz „orientieren“ soll(besser wäre: an ihn „gebunden“ sein soll), sowie in Art. 26

Abs. 3, wonach keine Anordnung in Betracht kommt, wenn„kein vernünftiger“ Grund vorliegt (gemeint ist damit wohldie Geeignetheit und das relativ mildeste Mittel) oder dasZiel auch mit weniger eingreifenden Mitteln erreicht werdenkann, dürfen eine strikte Verhältnismäßigkeitsprüfung auchim engeren Sinne nicht ausschließen.68

V. Der Aufbau der EuropäischenStaatsanwaltschaft

Die EuStA ist eine unabhängige EU-Behörde mit eigenerRechtspersönlichkeit (Art. 3 Abs. 1, 2 EUV). Man rechnetmomentan mit etwa 250 Mitarbeitern.69 Allerdings handeltes sich bei der Europäischen Staatsanwaltschaft zwar um eineStrafverfolgungsinstitution der EU, die (auch) aus einer neuzu schaffenden zentralen Behörde besteht (Art. 7 Abs. 1 VO-E). Aber die eigentlichen Ermittlungen und Strafverfol-gungsmaßnahmen werden über das Institut der europäischendelegierten Staatsanwälte in die Mitgliedstaaten funktionalausgelagert (Art. 6 Abs. 4 Satz 1 VO-E bzw. Art. 12 Abs. 1VO-E ü.F.). Der Verordnungsentwurf betont den dezentra-len Charakter der EuStA (Art. 3 VO-E). Noch treffenderwäre freilich die Bezeichnung der EuStA als eine hierar-chische und insofern zentral ausgerichtete, organisatorischaber auch (oder eher) dezentrale Einrichtung mit (je nachAnzahl der beitretenden Mitgliedsstaaten maximal 25) natio-nalen „Dependancen“.

1. Die dezentrale Ebene: Das Doppelhut-Modell

Im Mittelpunkt der praktischen Ermittlungs- und Strafver-folgungstätigkeit steht der delegierte europäische Staats-anwalt „vor Ort“, der an seiner dortigen Dienststelle bleibtund neben seiner Tätigkeit für seine nationale Behörde auchFälle der EuStA betreut.70 Die europäischen delegiertenStaatsanwälte können mithin auch ihre Aufgaben als einzel-staatliche Staatsanwälte wahrnehmen, soweit sie dadurchnicht daran gehindert sind, ihren Pflichten nach der Verord-nung nachzukommen (Art. 12 Abs. 5 Satz 1 VO-E ü.F.).Diese institutionelle Doppelnatur wird mit dem Sinnbilddes Doppelhuts anschaulich gemacht.71 Der europäische de-legierte Staatsanwalt sitzt zwar weiterhin in seinem Büro undgeht dort seiner „normalen“ Tätigkeit als nationalstaatlicherStaatsanwalt nach. Er wendet sich aber, wenn er zum EuStAernannt wurde, dem PIF-Verfahren zu. Er setzt dann, bild-lich gesprochen, seinen nationalen (schwarz-rot-goldenen)„Hut“ ab und seinen europäischen (blauen, mit 12 Sternenversehenen) „Hut“ auf. Auf dem Schreibtisch des delegierteneuropäischen Staatsanwalts liegen somit – in einem übertra-genen Sinne – zwei Hüte, von denen er, je nach Gegenstanddes Verfahrens, einen aufsetzt.

Die Zuständigkeit des delegierten Europäischen Staats-anwalts von vorneherein nur auf die PIF-Delikte zu be-schränken (ihm sozusagen nur einen Hut zu geben),72 er-scheint nicht notwendig: Zum einen werden wahrscheinlichZahl und Umfang der PIF-Verfahren nicht so groß sein, alsdass damit die delegierten europäischen Staatsanwälte wirk-lich „ausgelastet“ sein werden. Zum anderen werden sich

754 Edward Schramm Auf dem Weg zur Europäischen Staatsanwaltschaft JZ 15/16/2014

61 Der neueste Entwurf (Art. 18 VO-E ü. F.) enthält nicht mehr den Aus-schluss der gerichtlichen Überprüfung, der im Ausgangstext (Art. 13 Abs. 4VO-E) noch enthalten war.62 BT-Dr. 18/1658, S. 5.63 Vgl. auch BT-Dr. 18/1658, S. 5.64 Diese Trennung von Untersuchung und Verfolgung existiert in vieleneuropäischen Staaten, nicht jedoch in Deutschland, wo beide Aufgaben vonder StA wahrgenommen werden; vgl. Vogel, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim(Fn. 14) Art. 86 AEUV Rn. 37.65 Dazu Böse, in: Schwarze (Fn. 9), Art. 86 Rn. 9 g.66 Vogel, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Fn. 14), Art. 86 AEUV Rn. 20.67 Für eine explizite Aufnahme in die Verordnung aber BT-Dr. 16/1658S. 4.

68 BT-Dr. 18/1658 S. 5.69 Lohse Recht + Politik 4/2014, 1.70 Lohse Recht + Politik 4/2014, 1.71 BT-Dr. 18/1658, S. 4; Lohse Recht + Politik 4/2014, 1.72 So Grünewald HRRS 2013, 508, 519.

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befürchtete Kollisionen zwischen nationaler und europä-ischer Weisung73 leicht vermeiden lassen, wenn die Zustän-digkeit für die zu ermittelnden Taten klar geregelt und ein-deutig entweder auf die europäische oder die nationale Ebeneverteilt ist.

Von den abgeordneten europäischen Staatsanwälten solles in jedem Mitgliedsstaat mindestens zwei (Art. 12 Abs. 4VO-E ü.F.) und in Deutschland wohl in jedem OLG-Bezirkeinen oder mehrere geben, wobei es sinnvoll wäre, diesen inder Schwerpunktstaatsanwaltschaft für Wirtschaftsstrafrechtdes jeweiligen Bundeslandes anzusiedeln (zum Beispiel imthüringischen Meiningen). Die abgeordneten europäischenStaatsanwälte unterliegen dabei ausschließlich den Weisun-gen der zentralen Europäischen Staatsanwaltschaft (Art. 6Abs. 1 VO-E ü.F.). Sie sind nicht an die Weisungen andererInstitutionen – weder der EU noch nationaler Institutionenwie etwa des jeweiligen Justizministeriums, Generalstaats-anwalts usw. – gebunden. Ernannt werden die europäischendelegierten Staatsanwälte, die aktive und erfahrene Staats-anwälte des Mitgliedsstaats sein müssen, vom zentralen Kol-legium der EuStA nach Vorschlag durch den jeweiligen Mit-gliedsstaat (Art. 15 Abs. 1, 2 VO-E ü.F.). Ob der delegierteeuropäische Staatsanwalt von seinem jeweiligen (Bundes-)Land oder von der EU seine Bezüge74 erhält – wer also dieEuStA finanziert – ist offenbar noch nicht geklärt.

2. Die zentrale Ebene

Die zentrale Ebene der Europäischen Staatsanwaltschaft sollaus einem Kollegium, einer ständigen Kammer und den Mit-gliedern dieser Kammer bestehen (Art. 7 Abs. 3 VO-E ü.F.).Die EuStA unterliegt dabei bestimmten Rechenschaftspflich-ten (Art. 70 VO-E). Dabei zeichnet sich momentan eine Zu-sammensetzung des Kollegiums ab, wie sie auch vom Aus-schuss der Regionen in seiner Stellungnahme empfohlenwurde:75 Die zentrale EuStA wird nicht, wie noch im ur-sprünglichen Verordnungsentwurf vorgesehen, von einemeuropäischen Staatsanwalt und seinen vier Stellvertretern ge-bildet (Art. 6 Abs. 2 VO-E). Vielmehr sendet jederMitglieds-staat einen Staatsanwalt in das zentrale Kollegium (Art. 8Abs. 1 VO-E ü.F.). An der Spitze dieses Kollegiums soll einEuropäischer Generalstaatsanwalt stehen (Art. 8 Abs. 1 VO-E ü.F.).

Für die große Kollegiumslösung mit (maximal 25) Stell-vertretern und gegen die schlanke Lösung mit einem ChiefProsecutor und vier Stellvertretern sprechen Gründe der Ak-zeptanz und der Steuerungskompetenz. Es ist sinnvoll, überdie Repräsentanz eines nationalen Vertreters auch für eineAkzeptanz der europastaatsanwaltschaftlichen Entscheidun-gen in den Mitgliedsstaaten zu sorgen. Die Steuerung durchdie Zentrale setzt nicht nur sehr gute Sprachkenntnisse, son-dern auch hervorragende Rechtskenntnisse hinsichtlich desStrafverfahrens in den jeweiligen Mitgliedsstaaten voraus.76Es ist daher sinnvoll, wenn im Kollegium bei den zentralenEntscheidungen ein Staatsanwalt desjenigen Mitgliedsstaatsmitwirkt, in dem die Verfolgungsmaßnahme stattfindet.

Die zentrale EuStA kann unter bestimmten Vorausset-zungen die Ermittlungen an sich ziehen und die Ermittlun-

gen selbst leiten (Art. 18 Abs. 5 VO-E). Diese zentrale Kom-petenz ist sinnvoll und notwendig, liegt doch in der unzurei-chenden Verfolgung von PIF-Straftaten in den Mitgliedsstaa-ten ein entscheidender Schwachpunkt der bisherigenStrafverfolgungspraxis. Zuweilen sind zudem die eigenen na-tionalstaatlichen Verwaltungen in PIF-Straftaten verstrickt.77Entgegen der Ansicht des deutschen Bundestags78 sollte da-her auf diese Möglichkeit der Devolution vom delegierteneuropäischen Staatsanwalt auf die EuStA-Zentrale nicht ver-zichtet werden.

VI. Der Mehrwert der EuropäischenStaatsanwaltschaft im Vergleich zumjetzigen Rechtszustand

Die Frage, welchen Mehrwert die EuStA im Vergleich zumFesthalten an der bisherigen rein nationalen Strafverfolgungbringen würde, muss schon wegen des Subsidiaritätsprin-zips, Art. 5 Abs. 1 EUV, gestellt werden: In den Bereichen,in denen die EU nicht die ausschließliche Regelungskom-petenz besitzt, darf sie nur dann tätig werden, wenn gemäßArt. 5 Abs. 3 EUV die angestrebten Ziele auf der Unions-ebene besser als auf der Ebene der Mitgliedsstaaten erreichtwerden können. Die EuStA fällt in den Anwendungsbereicheiner solchen Mehrwertprüfung. Für einen durch die EuStAzu erreichenden Mehrwert sprechen, wie auch die Kommis-sion in ihrer Stellungnahme auf die Subsidiaritätsrüge („gelbeKarte“, siehe o. II.) hervorgehoben hat,79 unter anderemfolgende Gründe:

(1) Es gibt bislang ganz offensichtlich zum Teil erheb-liche Defizite bei der Strafverfolgung hinsichtlich der EU-finanzschädigenden Delikte. Diese Unzulänglichkeiten dürf-ten auf praktische und rechtliche Schwierigkeiten bei dergrenzüberschreitenden Kooperation, auf fehlenden Verfol-gungswillen und auf einen Mangel an (personellen) Verfol-gungsressourcen in der Strafjustiz der Einzelstaaten zurück-zuführen sein.

(2) Mag auch in einzelnen Mitgliedsstaaten die Strafver-folgung recht erfolgreich verlaufen, bestimmt sich der Mehr-wert aufgrund einer europaweiten Gesamtbetrachtung. „Un-ter dem Strich“ dürfte eine Europäische Staatsanwaltschaft inder Gesamtbilanz einen Effizienzgewinn gegenüber nationa-ler Strafverfolgung bedeuten. Diese Effizienzsteigerung istauch deshalb wahrscheinlich, weil es zur Verfolgung dieserStraftaten künftig keiner förmlichen Rechtshilfe zwischenden EU-Mitgliedsstaaten mehr bedarf. Vielmehr sollen auchdie in einem anderen Mitgliedsstaat erlangten Beweismittelim Grundsatz direkt ohne weitere Prüfung verwertbar sein.

(3) Der Schutz der EU-Finanzinteressen schließt mittel-bar auch den Schutz nationaler finanzieller Interessen ein. Sozahlte beispielsweise Deutschland im Jahre 2010 rund 23,7Milliarden EUR an die EU und erhielt davon 11,8 MilliardenEUR an Zahlungen zurück, was als Saldo einen bundesdeut-schen Nettozahlerbetrag von 11,9 Milliarden EUR ergibt.80Mithin hat auch und gerade Deutschland, wie insbesondereder deutsche Bundesrat hervorgehoben hat,81 ein Interessean einer rechtmäßigen Verwendung der Steuergelder in Brüs-sel und Europa.

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73 Vgl. BT-Dr. 18/1658, S. 4.74 Es liegt die Vermutung nahe, dass die Bezüge im Falle einer Vergütungdurch die EU deutlich höher ausfallen und damit der EuStA für die Mit-gliedsstaaten und ihre nationalen Staatsanwälte erheblich attraktiver seindürften als die nationalstaatliche Alimentierung.75 Vgl. AdR-Stellungnahme EU-ABl. 126/40.76 Vgl. AdR-Stellungnahme EU-ABl. 126/40.

77 Vogel, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Fn. 14), Art. 86 AEUV Rn. 6.78 BT-Dr. 18/1658, S. 7.79 Vgl. COM (2013) 851, S. 10 ff.80 Vgl. Europäische Kommission, Generaldirektion Haushalt, EU-Haus-halt 2010, Finanzbericht.81 Vgl. auch BR-Drs. 631/13, S. 1.

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VII. Zwangsbefugnisse und örtlicheZuständigkeit

1. Hybrides Strafverfahrensrecht

Will ein delegierter europäischer Staatsanwalt Ermittlungs-maßnahmen in seinem Land ergreifen, sieht er sich einemhybriden Regelungskomplex aus europäischem und nationa-lem Strafverfahrensrecht verpflichtet.82 Zum einen enthältder Verordnungsentwurf naturgemäß zentrale Regelungenzum Strafverfahrensrecht, so etwa dazu, welche Zwangsmaß-nahmen die EuStA ergreifen darf, wenn es einen PIF-Tatver-dacht gibt (Art. 25, 26 VO-E). So nennt die VO etwa Vor-aussetzungen von Durchsuchung, Beschlagnahme oder Tele-kommunikationsüberwachung (Art. 26 Abs. 1 lit. a, d, e VO-E). Die EuStA hat, ebenso wie etwa der deutsche Staats-anwalt, unparteiisch zu sein und sowohl be- als auch entlas-tende Umstände zu ermitteln (Art. 11 Abs. 5 VO-E bzw.Art. 5 Abs. 5 VO-E ü.F.). Soweit freilich die EuStA-VO zuden Ermittlungen und Strafverfolgungsmaßnahmen keineAussage trifft, greift die Subsidiaritätsklausel (Art. 11 Abs. 3Satz 2 VO-E) ein, wonach einzelstaatliches Strafverfahrens-recht maßgeblich ist.

Die Regelung zu den Ermittlungsbefugnissen in Art. 26VO-E darf, wie auch der Bundestag zu Recht hervorhebt,nicht zu Konflikten mit den einzelstaatlichen Verfahrensord-nungen führen.83 Dass es hierbei auch – aus deutscher Sicht –unausgegorene Regelungen gibt bzw. solche, die in direkterKollision zu den verfassungsrechtlichen Vorgaben eines Na-tionalstaats stehen, zeigt etwa die Regelung des VO-E zurTelekommunikationsüberwachung (Art. 26 Abs. 1 lit. e): DieÜberwachung der Telekommunikation (TKÜ) ist nach deut-schem Recht (§ 100a StPO) nur bei schweren Straftaten mög-lich, anders als im VO-E etwa nicht bei einem einfachenBetrug oder Subventionsbetrug (vgl. § 100a Abs. 2 lit. n, oStPO). Zudem kann in Deutschland die TKÜ im Regelfallnur durch den Richter angeordnet werden (§ 100b Abs. 1Satz 1 StPO) bzw. muss die bei Gefahr im Verzug möglicheAnordnung durch den Staatsanwalt spätestens nach 3 Tagenvon einem Gericht bestätigt werden (§ 100b Abs. 1 Satz 2StPO). Dagegen wäre für die Genehmigung einer vomEuStA angeordneten TKÜ keine gerichtliche Genehmigung(Art. 26 Abs. 5 VO-E), sondern nur diejenige einer „Justiz-behörde“ (Art. 26 Abs. 4 VO-E) erforderlich (wozu freilichauch Gerichte gehören dürften).84 Hier wird man im wei-teren Rechtsetzungsverfahren klären müssen, ob die strenge-ren Voraussetzungen der deutschen StPO gelten sollen oderob der weitergehenden Regelung in der VO gefolgt werdenmuss. Denkbar wäre auch, überhaupt auf kollisionsträchtigeeigene europäische Vorschriften zu den Eingriffshandlungenzu verzichten und pauschal auf das nationale Strafverfah-rensrecht zu verweisen.

Soweit aber das nationale Verfahrensrecht eine Eingriffs-befugnis, die in dem VO-E enthalten ist, gar nicht kennt,wären die Strafprozessordnungen der Mitgliedsstaaten ent-sprechend zu ergänzen. So hat etwa die Möglichkeit derAnordnung der EuStA an Finanz- oder Kreditinstitute, inEchtzeit über verdächtige finanzielle Transaktionen zu infor-

mieren (Art. 26 Abs. 1 lit. g VO-E), kein explizites Pendantim deutschen Strafverfahrensrecht, mag auch die Echtzeit-überwachung bezüglich Verkehrsdaten in Art. 100g StPOund bezüglich Inhaltsdaten in § 100a StPO geregelt sein.85

Obwohl die EuStA-VO als Verordnung mit unmittel-barer Geltung in den Mitgliedsstaaten (Art. 288 Abs. 2AEUV) ausgestattet ist, darf man nicht übersehen, dass –

worauf der Sonderbeauftragte des Bundesjustizministeriumsfür die Europäische Staatsanwaltschaft, Herrnfeld, jüngsthingewiesen hat86 – es in regelungstechnischer Hinsicht nochvielfältiger nationaler Regelungen in den Mitgliedsstaatenbedarf, damit die Durchführung und Umsetzung dieseseuropäischen „Gesetzes“ gelingen kann.

2. Katalog der Beschuldigtenrechte, Bindung anEuropäische Grundrechtecharta sowie EMRK

In den Verordnungs-Entwurf sind eine Reihe von Beschul-digtenrechten aufgenommen worden, mittels derer klar-gestellt wird, dass der Beschuldigte alle diejenigen (Verfah-rens-)Rechte haben soll, die ihm von der EuropäischenGrundrechte-Charta (EuGrCh) eingeräumt werden, wiezum Beispiel gemäß Art. 32 Abs. 2 VO-E das Recht auf Dol-metscherleistungen, das Akteneinsichtsrecht, das Recht aufWahl eines Verteidigers, das Aussageverweigerungsrecht(Art. 33 Abs. 1 VO-E), die Unschuldsvermutung (Art. 33Abs. 2 VO-E), das Recht auf Prozesskostenhilfe (Art. 34VO-E) und Beweisrechte (Art. 35 VO-E). Soweit dieEuGrCh Rechte enthält, die denjenigen der EMRK entspre-chen, so werden jene, sofern sie nicht über die EMRK hi-nausgehen, zumindest auf das Schutzniveau der EMRK an-gehoben (Art. 52 Abs. 3 EuGrCh). Darüber hinaus habenVerdächtige und Beschuldigte sowie andere Verfahrensbetei-ligte alle Verfahrensrechte, die ihnen das geltende einzelstaat-liche Recht zuerkennt (Art. 33 Abs. 5 VO-E). Das bedeutetetwa für Deutschland, dass die EMRK und ihre Konkretisie-rung durch den EGMR als Bestandteil des nationalen Rechtsihre volle Geltung für das Ermittlungs- und Hauptverfahrenin PIF-Sachen erlangt (etwa hinsichtlich des im VO-E undder EuGRCh nicht erwähnten Frage- und Konfrontations-rechts des Beschuldigten gemäß Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK).

Es wurde hierbei auch diskutiert bzw. gefordert, manmöge der EuStA auch eine Europäische Verteidigungsinsti-tution, den Eurodefensor, gegenüber stellen.87 Von einemsolchen Defensor ist im Verordnungsentwurf aber an keinerStelle die Rede, und auch in der jüngsten Stellungnahme derBundesrechtsanwaltskammer und des Deutschen Anwalts-vereins spielt dieser keine Rolle.88 Man geht wohl davon aus,dass – vor dem Hintergrund einer primär dezentral struktu-rierten EuStA – eine angemessene Verteidigung von Beschul-digten mit den bestehenden Strafverteidigungsstrukturen inden Mitgliedsstaaten erreicht werden kann. Festzuhaltenbleibt gleichwohl, dass der Stärkung der Verteidigungsrechte

756 Edward Schramm Auf dem Weg zur Europäischen Staatsanwaltschaft JZ 15/16/2014

82 Krit. dazu etwa Satzger, Internationales Strafrecht, 6. Aufl. 2013, § 10Rn. 22 („Patchwork-Strafprozessystem“); ebenso die StellungnahmeBRAK/DAV 48/2013 („Flickenteppich“); zu einer von Wissenschaftlern2012 vorgelegten Modellverfahrensordnung mit einem in sich geschlossenensupranationalen Strafprozessrecht siehe http://www.eppo-project.eu.83 BT-Dr. 18/1658, S. 8.84 Zu Recht kritisch auch Grünewald HRRS 2013, 508, 511.

85 Die Echtzeitregelung in § 100g StPO erfasst Verkehrsdaten i. S. des§ 96 TKG. Bei der Überwachung nach Art. 26 Abs. 1 lit. g VO-E dürfte essich dagegen (zumindest auch) um Inhaltsdaten handeln, deren Anordnungim deutschen Verfahrensrecht unter § 100a StPO fällt; vgl. Bruns, in: Kriti-scher Kommentar (KK)-StPO, 7. Aufl. 2013, § 100a Rn. 13.86 So als Gastreferent auf der Tagung „Transnationale Verfahrensrechteund transnationales Strafverfahren“ des DFG-Netzwerks „Zur Rolle derStrafrechtsvergleichung für die Europäisierung der Strafrechtspflege“. DieTagung hat an der Universität Jena (8. 5. – 10. 5. 2014) stattgefunden. Zuabsehbaren Jurisdiktionskonflikten vgl. Herrnfeld, in: Luchtman, Choice ofForum in Cooperation Against EU Financial Crimes, 2013, S. 206 ff.87 Vgl. Satzger (Fn. 82), § 10 Rn. 23.88 Stellungnahme 48/2013.

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gebührende Aufmerksamkeit geschenkt werden muss, wieauch die Agentur der EU für Grundrechte gefordert hat.89

3. Örtliche Zuständigkeit

Auch die Frage der örtlichen Zuständigkeit ist noch in derDiskussion. Die diesbezüglichen Regelungen zur örtlichenZuständigkeit sind im VO-Entwurf im Moment sehr vageund mit einem weiten Beurteilungsspielraum für die EuStAformuliert (Art. 27 Abs. 4 Satz 1 VO-E): entweder als derOrt, an dem die Straftat oder im Falle mehrerer Straftatendie Mehrheit der Straftaten begangen wurde (Art. 27 Abs. 4Satz 2 lit. a VO-E), der Ort des gewöhnlichen Aufenthaltsdes Beschuldigten (Art. 27 Abs. 4 Satz 2 lit. b VO-E), derOrt, an dem sich die Beweismittel befinden (Art. 27 Abs. 4Satz 2 lit. c VO-E) oder der Ort des gewöhnlichen Aufent-halts der direkten Opfer (Art. 27 Abs. 4 Satz 3 lit. d VO-E).Das birgt in der Tat die Gefahr, dass besonders effektivitäts-und verfolgungsorientierte delegierte europäische Staats-anwälte sich – im Rahmen dieses breiten „Zuständigkeits-Angebots“ – einen Gerichtsstand in einem Mitgliedsstaataussuchen, in dem die Eingriffsvoraussetzungen niedrig-schwellig und die Strafdrohungen streng sind.90

Die Gefahr eines solchen „Forum-Shoppings“ besteht inden nationalen Strafverfahrensordnungen, in denen dieStaatsanwaltschaft meist frei wählen kann, bei welchem vonmehreren örtlich zuständigen Gerichten sie Anklage erhebenwill,91 gerade nicht – denn das nationale Verfahrensrecht istbei jeder örtlichen Zuständigkeit im Regelfall dasselbe. Amvorzugswürdigsten erscheint (zumindest prima vista) bei derEuStA eine Lösung, die der örtlichen Zuständigkeit einenVorrang einräumt: Danach wäre der Gerichtsstand prioritärbei dem Gericht zu begründen, in dessen Bezirk die Straftatbegangen wurde, also nach dem Tatortprinzip. Nach diesemaufgrund des Begehungsorts jeweils maßgeblichen nationa-len Strafverfahrensrecht in Verbindung mit den übergreifen-den Regelungen in der EuStA-VO hätte sich auch die straf-prozessuale Grundlage der Ermittlungsmaßnahmen zu be-messen, so dass es nicht zu einem – cum grano salis gespro-chen – „strafprozessualen Billigimport“ aus dem Auslandkommt. Schon 2010 hat Schünemann mit guten Gründengefordert, dass eine frühe Zuständigkeitskonzentration inder Weise erfolgen sollte, dass ein einziger Staat für die Er-mittlung und Aburteilung ausschließlich zuständig ist, wo-mit auch nur ein einziges Strafverfahrensrecht zur Anwen-dung gelangen würde.92 Begrüßt werden muss auch die For-derung des Bundestags, dass die auf den Einzelfall anwend-bare Rechtsordnung bereits im Ermittlungsverfahrenbekannt sein und nicht erst nach Abschluss der Ermittlungendurch Auswahl des für das Hauptverfahren zuständigen Ge-richts (Art. 27 Abs. 4 VO-E) bestimmt werden sollte.93

4. Rechtsschutzsystem

Mit der europäischen Staatsanwaltschaft wird nicht zugleichein europäisches Strafgericht geschaffen,94 weder zur Verfol-

gung der PIF-Delikte noch zur Kontrolle der EuStA. Viel-mehr wird die Rechtmäßigkeit der Handlungen der europä-ischen Staatsanwälte von denjenigen nationalen Gerichtendes Staates überprüft, in denen der Europäische Staatsanwalttätig wurde. Die Europäische Staatsanwaltschaft gilt gemäßArt. 36 Abs. 1 VO-E insoweit gerade nicht als europäische,sondern als einzelstaatliche Behörde. Das bedeutet, dass diedeutsche Strafrechtspflege zur Kontrolle von Ermittlungs-maßnahmen der europäischen Staatsanwälte in Deutschlandbefugt ist. Somit ist im Regelfall ein Amtsgericht nach § 98Abs. 2 Satz 2 StPO analog für die gerichtliche Überprüfungvon Maßnahmen im Ermittlungsverfahren zuständig.

Die Tätigkeit der EuStA muss letztlich wohl einer um-fassenden nationalen, fachgerichtlichen, verfassungs- und eu-roparechtlichen gerichtlichen Kontrolle unterliegen: (1.) Fürdie richtige Anwendung des Straf- und Strafverfahrensrechtssind die jeweiligen Fachgerichte, in Deutschland die ordent-liche Strafgerichtsbarkeit, zuständig. (2.) Wegen ihrer Verfas-sungsbindung (Art. 20 GG) dürfte die Tätigkeit der EuStA –

insoweit als nationalstaatliche Justizbehörde gemäß Art. 31Abs. 1 VO-E – und der von ihr eingesetzten polizeilichenErmittlungspersonen auch der Kontrolle des BVerfG unter-liegen. (3.) Da EuStA und nationale Gerichte europäischesVerordnungsrecht sowie die Europäische Grundrechtechartaanwenden, müsste, gemessen am Maßstab des Art. 19 Abs. 1Satz 2 EUV, folgerichtig auch der EuGH die richtige Umset-zung der EuStA-VO und der in ihr garantierten Verfahrens-rechte aus der EuGrCh umfassend überprüfen können.Art. 33 Abs. 1 VO-E schreibt zwar vor, dass die EuStA alsnationale Justizbehörde gilt, was zur Konsequenz hätte, dasssie nicht über Art. 263 AEUV der Kontrolle durch denEuGH unterliegt. Dies und die bislang sehr begrenzten Kon-trollbefugnisse des EuGH im Verordnungsentwurf (Art. 47Abs. 2, 65 Abs. 3, 69 Abs. 2, 5 VO-E) können aber nicht dasletzte Wort sein.95 Auch das Vorabentscheidungsverfahren(Art. 267 AEUV) wird Bedeutung erlangen.96 (4.) Sollteschließlich die EU der EMRK beitreten (Art. 6 Abs. 2 Satz 1EUV, Art. 59 Abs. 2 EMRK), was wohl nur noch eine Frageder Zeit ist,97 unterläge nicht nur, wie schon bislang, dienationale Strafgerichtsbarkeit, sondern auch die EuStA derKontrolle durch den EGMR in Straßburg (Art. 32 EMRK).Wie bei der EuStA dieses „Viereck“ an gerichtlicher Kon-trolle (nationale Fachgerichtsbarkeit, nationale Verfassungs-gerichtsbarkeit, EuGH und EGMR) austariert werden muss,ist eine ebenso spannende wie noch zu klärende, hochkom-plexe Fragestellung.

VIII. Ausblick

Unsere Zeit der europäisierten Gesetzgebung wird nachmenschlichem Ermessen bald eine EU-Verordnung und inihrem Gefolge Änderungen nationaler Gesetze mit sich brin-gen, die einen Meilenstein98 der europäisierten Strafrechts-pflege bilden werden. Mit der Verordnung würden jahrhun-dertealte, scheinbar selbstverständliche Strukturen exklusiver

JZ 15/16/2014 Edward Schramm Auf dem Weg zur Europäischen Staatsanwaltschaft 757

89 FRA-Opinion 1/2014 v. 4. 2. 2014.90 Lohse Recht + Politik 4/2014, 5.91 Zur Rechtslage in Deutschland vgl. nur Scheuten, in: KK-StPO(Fn. 85), Vorbem. zu §§ 7 bis §§ 21 Rn. 3.92 Schünemann, in: ders. (Hrsg.), Ein Gesamtkonzept für die europäischeStrafrechtspflege, 2006, S. 93, 100; ebenso Grünewald HRRS 2013, 508, 514.93 BT-Dr. 18/1658, S. 6.94 Vogel, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Fn. 14), Art. 86 AEUV Rn. 12.Dazu, dass dies auch nicht von der primärrechtlichen Grundlage gedecktwäre, da in Art. 86 Abs. 2 Satz 2 ausdrücklich vorgesehen sei, dass die

EuStA Anklage vor den nationalen Gerichten erhebt, vgl. Böse, in: Schwar-ze (Fn. 9), Art. 86 Rn. 3 AEUV.95 So zu Recht auch die BRAK und der DAV in ihrer gemeinsamenStellungnahme 48/2013, S. 9.96 Vgl. dazu auch die Stellungnahme des Bundesrats, BR-Dr. 631/13, S. 7.97 Vgl. den Entwurf eines Abkommens über den Beitritt der EU zurEMRK, 47+1(2013)008rev2 vom 10. 6. 2013; Brodowski ZIS 2013, 455.98 Zöller, in: Böse (Fn. 10), § 21 Rn. 101.

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nationaler Strafgerichtsverfassung durch Öffnung gegenüberEuropa einem Wandel unterzogen – ein Ereignis von durch-aus strafrechtshistorischer Bedeutung. Es handelt sich dabeifreilich um ein ambitioniertes Projekt von großer rechtlicherKomplexität, das sorgfältig vorbereitet sein sollte. Überhas-tet durchgeführte Rechtssetzungsverfahren führen zu recht-lichen Komplikationen, der Vernachlässigung von Beschul-digtenrechten, politischen Irritationen und einem (weiteren)Verlust von Vertrauen in EU-Institutionen. Als warnendesBeispiel sei an das Rechtssetzungsverfahren zum Europä-ischen Haftbefehl erinnert.

Die künftige Verordnung zur EuStA sollte aber auchnicht überfrachtet werden. Nicht jede heute schon denkbareFallkonstellation oder Detailfrage braucht in der VO geklärtzu werden. Richterliche Konkretisierung und Rechtsfortbil-dung von (europäischem) Verfahrensrecht gehören zum täg-lichen Brot nationaler und europäischer Gerichte. Aus denvorstehenden Ausführungen möge schließlich deutlich ge-

worden sein, dass die Europäische Staatsanwaltschaft, beialler Kritik im Detail, ein sinnvolles und auf der Grundlagedes (freilich zu modifizierenden) Verordnungsentwurfs auchein praktisch realisierbares Projekt ist.99 „Die Zeit ist reif fürdie Erschaffung des Europäischen Staatsanwalts“ (MireilleDelmas-Marty).100

Professor Dr. Raphael Koch, LL.M. (Cambridge), Augsburg*

Rechte des Unternehmers und Pflichten des Verbrauchers nachUmsetzung der Richtlinie über die Rechte der Verbraucher

Bei den in der Verbraucherrechte-Richtlinie enthaltenenRegelungen ging es nicht einseitig um eine Stärkung desVerbraucherschutzes, sondern gerade auch um einen Ausgleichmit den Interessen von Unternehmern. Der folgende Beitraguntersucht, inwieweit dieser Ausgleich nach der Umsetzung derRichtlinie im deutschen Recht gelungen ist.

I. Ziele der Verbraucherrechte-Richtlinie

Der Titel dieses Beitrags liest sich zugegebenermaßen para-dox: Als Folge einer Richtlinie über die Rechte der Verbrau-cher1 (VR-RiL) bzw. ihrer Umsetzung2 erwartet man imersten Zugriff eine Stärkung der Rechte der Verbraucher,nicht der Rechte der Unternehmer; man ist eingestellt aufeine Pflichtenbegründung auf Unternehmer-, nicht auf Ver-braucherseite. Die Erwartungshaltung wird nicht vollkom-men enttäuscht: Tendenziell handelt es sich bei der Verbrau-cherrechterichtlinie um Verbraucherrecht, sie ist „aus Ver-brauchersicht“ verfasst (daher der Name der Richtlinie).Doch Richtlinie und Umsetzung sind vielschichtiger als esdie Richtlinienbezeichnung auf den ersten Blick erahnen

lässt. Die Umsetzung der Verbraucherrechte-Richtlinie zum13. 6. 2014 bringt ambivalente Neuerungen und Änderungenim Verbraucherrecht mit sich. Neben einem ordnungsgemäßfunktionierenden Binnenmarkt strebt die Richtlinie ins-besondere ein hohes Verbraucherschutzniveau an. Zugleichsoll das angestrebte Verbraucherschutzniveau nicht dazuführen, unternehmerische Tätigkeiten zu stark einzuschrän-ken. Eine Belastung des Unternehmers mit erheblichenPflichten kann nämlich zu Beeinträchtigungen des Binnen-markts führen, wenn ein wirtschaftliches Handeln unrenta-bel wird. Ziel der Richtlinie ist dementsprechend „ein mög-lichst ausgewogenes Verhältnis zwischen einem hohen Ver-braucherschutzniveau und der Wettbewerbsfähigkeit derUnternehmen“ (Erwägungsgrund 4 VR-RiL). Anders ge-wendet: Der Verbraucher hat Pflichten zu tragen, in einemgewissen Maße werden ihm Rechte abgeschnitten. Letztlichmusste die Richtlinie einen Kompromiss herbeiführen, der indieser Konfliktsituation – die Rechte einer Seite führen in derRegel zur Begrenzung der Rechte der anderen Seite – nichteinfach zu erreichen war. Es ist daher zu analysieren, ob esden Gesetzgebern gelungen ist, einen sachgerechten Aus-gleich zwischen den Interessen der Verbraucher und der Un-ternehmer herzustellen. Dazu werden zentrale Aspekte derVerbraucherrechterichtlinie und ihrer Umsetzung – im Ein-zelnen: Widerrufsrecht, Informationspflichten, Zurückbehal-tungsrecht, Kostentragung – untersucht.

II. Verbraucher und Unternehmer

Der Verbraucher wird in der Verbraucherrechte-RiL defi-niert als „jede natürliche Person, die bei von dieser Richtlinieerfassten Verträgen zu Zwecken handelt, die außerhalb ihrergewerblichen, geschäftlichen, handwerklichen oder berufli-

99 Kritisch dagegen z. B. Grünewald HRRS 2013, 508, 515: „Schaffungeiner europäische Strafverfolgungsbehörde bzw. eines europäischen Straf-verfolgungsraums ohne eine hinreichende, nämlich rechtsstaatlichen Anfor-derungen genügende verfahrensrechtliche Grundlage“.100 Delmas-Marty, „(. . .) le moment est venu de créer le parquet euro-péen“, Le Monde vom 26. 6. 2012.

* Der Autor ist Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Zivilver-fahrensrecht, Unternehmensrecht, Europäisches Privat- und InternationalesVerfahrensrecht an der Universität Augsburg.1 RiL 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom25. 10. 2011 über die Rechte der Verbraucher, zur Abänderung der RiL 93/13/EWG des Rates und der RiL 1999/44/EG des Europäischen Parlamentsund des Rates sowie zur Aufhebung der RiL 85/577/EWG des Rates undder RiL 97/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates; ABl. EU L304 vom 22. 11. 2011, S. 64. Die Haustürwiderrufs-RiL und die Fernabsatz-RiL werden dadurch mit Wirkung vom 13. 6. 2014 aufgehoben.2 Gesetz zur Umsetzung der Verbraucherrechterichtlinie und zur Ände-rung des Gesetzes zur Regelung der Wohnungsvermittlung vom 20. 9. 2013,BGBl. I 2013, S. 3642.

Juristenzeitung 69, 758–764 DOI: 10.1628/002268814X14035347167233ISSN 0022-6882 © Mohr Siebeck 2014

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