Auf der Hohen Maas entflohen die Arbeiterfamilien Anfang ... · Ideengut von Michail Bakunin. Im...

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MEININGEN SEITE 11 SAMSTAG, 10. OKTOBER 2009 Auf der Hohen Maas entflohen die Arbeiterfamilien Anfang der 20er Jahre ihrem schweren Alltag. An der Bakuninhütte konnten sie ihre Freiheit genießen, aber sich auch Gedanken über ein besseres Leben in einer freiheitlich-sozialistischen Gesellschaft machen. REPROS (2): WANDERVEREIN BAKUNINHÜTTE E.V. MEININGEN. „Freies Land und freie Hütte / Freier Geist und freies Wort / Freie Menschen, freie Sitte / zieht mich stets zu diesem Ort.“ Dieser Spruch, der einst an der Bakuninhütte auf der Hohen Maas prangte, lässt die histo- rische Bedeutung dieses Ob- jektes erahnen. Der Wander- verein Bakuninhütte e.V. hat sich daher zur Aufgabe ge- stellt, nicht nur das Haus an sich, sondern auch dessen wechselvolle Geschichte für die Nachwelt zu erhalten. Der Ort hat etwas Geheimnis- volles. Geschichten ranken sich um ihn. Von einem Geheim- bund wird erzählt, der sich dort früher getroffen hat und heute wieder aktiv sein soll. Statt von der Bakuninhütte wird von so manchem aber auch von der Pa- ganinihütte gesprochen … Enrico Knorr, Vorstandsmit- glied des 2006 gegründeten Wandervereins Bakuninhütte, weiß darum und kann nur schmunzeln, wenn er mit sol- chen Gerüchten konfrontiert wird. „Unser Ziel ist es auch, die Geschichte der Hütte zu erfor- schen. Es gibt schon eine ganze Reihe von Puzzleteilen, doch wir suchen weitere, um diese einmal zusammenfügen und ein ge- schlossenes Bild erhalten zu kön- nen.“ Antrieb dafür ist die Tat- sache, dass die Bakuninhütte eben keine normale Schutzhütte ist, von denen es andere im großen Landschaftsschutzgebiet Hohe Maas gibt. „Wir betrach- ten die Hütte als kulturhistori- sches Denkmal, das auch heute überregionale Bedeutung hat.“ Überregionale Bedeutung? Also doch ein Geheimbund? Natürlich nicht. Die Geschichte, die Enrico Knorr erzählen kann, ist interessant. „Anfang der 20er Jahre wurde hier von hungern- den Arbeitern eine Selbstversor- gungsfläche geschaffen. Das war der Beginn.“ Die Arbeiter pach- teten beziehungsweise erwarben das Land. Man traf sich dort zur Feldarbeit, aber auch zum freien Gedankenaustausch, zum freien Leben, etwas entfernt vom har- ten Alltag im Meiningen, in den längst nicht für alle „goldenen 20er Jahren“. Viele FAUD-Mitglieder Es entstand ein „Siedlungs- verein für gegenseitige Hilfe“, dessen Mitglieder zum Teil der FAUD (Freie Arbeiter Union Deutschlands), der wichtigsten Massenorganisation des deut- schen Anarchosyndikalismus, angehörten. Auf den Prinzipien von Selbstbestimmung, Selbst- organisation und Solidarität ver- folgte man das große revolu- tionäre Ziel, den Staat und den Kapitalismus durch die Über- nahme der Produktionsmittel in gewerkschaftlicher Selbstorgani- sation zu überwinden. So erklärt sich auch der Name der Hütte. Michail Bakunin war Mitbe- gründer und erster Organisator der anarchosyndikalistischen Massenbewegung, also des frei- heitlichen Sozialismus. Erst ein Steinwall „Ganze Familien fanden hier auf dieser Basis zusammen“, er- klärt Enrico Knorr und verweist auf historische Bilder. Eines zeigt den Ursprung der Bakuninhütte – ein überdachter Steinwall, der bei schlechtem Wetter Schutz bot. Selbst im Winter wurde die- ser genutzt, wenn sich die Ver- einsmitglieder zum Skifahren auf der Hohen Maas trafen. Ab 1925 entstand aus diesem be- scheidenen Unterstand ein mas- sives Haus, das nach 1928 zu ei- nem wichtigen Treffpunkt deut- scher Anarchisten und Anar- chosyndikalisten wurde. Über- regionale Veranstaltungen, Se- minare, Feste und Zeltlager fan- den in und an der Bakuninhütte statt. In diese Zeit fallen die Be- suche des Publizisten Erich Müh- sam in der Bakuninhütte, der Anfang der 30er Jahre Mitglied der FAUD wurde und in dieser Zeit zu den wichtigen Vorden- kern der Bewegung gehörte. „Wir haben zwei Ansichtskarten, die Erich Mühsam von hier ge- schrieben hat“, zeigt Enrico Knorr eine Kopie. Die Karte trägt das Datum vom 9. Februar 1930. Mit der gewachsenen Bedeu- tung wurde schnell klar, dass die Hütte erweitert werden muss. Der Verein startete daher etwa 1930 eine Solidaritätskampagne für den Um- und Ausbau. Ein modernes Gebäude sollte ent- stehen. „Mit einer sogenannten Baufondskarte wurde für Spen- den geworben“, erklärt Knorr, der eine solche Postkarte als Re- plik präsentieren kann. Der heu- tige Wanderverein hat nach dem historischen Vorbild eine neue Karte anfertigen lassen. Sie zei- gen neben Bakunin die alte Hütte und die Vision der neuen. 1932 begannen die Arbeiten, die jedoch nicht in vollem Umfang realisiert werden konnten, da der Siedlungsverein nach der Mach- tergreifung der Nazionalsozialis- ten 1933 zwangsaufgelöst und enteignet wurde. Wechselnde Eigentümer Die Besitzer wechselten fortan rasch. Da offenbar die „SS-Stan- darde 3/75 Meiningen“ und selt- samerweise auch die NSDAP München mit dem Objekt we- nig anfangen konnten, wurde es an einen Ellingshäuser verkauft. Das lag nahe, da das Grundstück damals wie heute zur Ellings- häuser Flur gehört. Der Mann baute die Bakuninhütte zum Wohnhaus um, hatte aber nicht lange Freude daran. 1945 ent- eignete ihn die sowjetische Mi- litäradministration. Der Siedlungsverein hoffte nach Kriegsende auf Rehabilitie- rung durch die neuen, sozialisti- schen Machthaber. „Das wurde 1946 aber verweigert“, zitiert Knorr die Aktenlage. 1947 über- nahm die SED Meiningen das Zepter, wobei unbekannt ist, ob und was die Sozialistische Ein- heitspartei damit anstellte, zu- mal sie sich keinesfalls in der Tra- dition Bakunins sah. Karl Marx beschimpfte ihn ab 1868 nur noch als „Intrigant“, „Vieh“ und „verdammten Moskoviter“. Mit so einem wollte man in der DDR nichts zu tun haben … 1953 fiel das Haus an die Ge- meinde Ellingshausen, zwischen 1960 und 1970 gehörte es dem Energiekombinat Suhl, dem Rat des Bezirkes (Abteilung Land- wirtschaft), zeitweise genutzt als Station Junge Naturforscher, so- wie dem Rat der Stadt Meinin- gen (Abteilung Kultur). 1970 kam das Ministerium des Innern der DDR in Verantwortung. Bis 1989 blieb das Haus somit Be- standteil des Übungsgeländes der Meininger Bereitschaftspoli- zei. Nach der Wende fiel das Ob- jekt in die Zuständigkeit des Bundesvermögensamtes. Gleich- zeitig nahm außerhalb von Mei- ningen das Interesse zu, Nach- forschungen zur Geschichte der Bakuninhütte anzustellen. Eine besondere Rolle kommt dabei dem einstigen Hüttenwart Fritz Scherer zu. Er rettete unter an- derem das Hüttenbuch vor dem Zugriff der Nazis. So gelangte es nach Berlin, wo die Erinnerung an den Meininger Siedlungsver- ein in den letzten Jahren sozu- sagen „wachgeküsst“ wurde. 75 Vereinsmitglieder Zu denen, die sich dabei en- gagierten, gehört auch der Berli- ner Enrico Knorr. 2005 kaufte der Verein Wander- und Natur- freunde Meiningen e.V. die Bakuninhütte mit mehreren Flurstücken dem Bundesvermö- gensamt für nicht wenig Geld ab. Im März 2006 kam es dann zur Gründung des Wanderver- eins Bakuninhütte e.V., dem in- zwischen 75 Mitglieder aller Al- tersgruppen angehören. „Man kann durchaus von einem über- regionalen Charakter des Vereins sprechen, da unsere Mitglieder aus gut 35 unterschiedlichen Städten oder Gemeinden stam- men.“ Viele haben den Bezug zu Meiningen oder aber Interesse an der Geschichte und dem Ideengut von Michail Bakunin. Im Verein praktiziere man daher gegenseitige Hilfe und Solida- rität. Diskriminierung ist ein Fremdwort und jeder engagiert sich nach seinen Fähigkeiten. Eine Ideologie wird aber nicht verfolgt, versichert Knorr. „Neben dem Umweltschutz und dem Wandern ist es unser Ziel, die Bakuninhütte gemäß ihrem ursprünglichen Zweck wieder zu einem vitalen Treff- punkt für Wanderfreunde aus nah und fern zu machen. Unsere Vision ist es, die Hütte mittelfri- stig zu bestimmten Terminen für Wanderer und Skifahrer zu öff- nen. Doch dafür braucht es Zeit, Geld und viel Kraft.“ Außerdem eigne sich die Bakuninhütte als lebendiges Ob- jekt der Wissensvermittlung. Im- merhin spiegelten die bisherigen Forschungen die wechselvolle Geschichte des 20. Jahrhunderts wider. „Wir haben natürlich großes Interesse, noch mehr zu erfahren“, so Knorr, der für hi- storische Informationen eine spezielle E-Mail-Adresse einge- richtet hat: [email protected] Verfall aufgehalten Das Vorhaben des Vereins, die Hütte wieder mit Leben zu er- füllen, ist nicht nur theoretischer Natur. In den letzten Jahren ist schon einiges getan worden, um den Verfall des historisch be- deutsamen Gebäudes aufzuhal- ten. Das Dach ist geflickt, die Dachentwässerung verbessert, marode Holzbalken teils schon gewechselt. Erst im Sommer gab es wieder einen mehrtägigen Ar- beitseinsatz. „Wir sind auf einem guten Weg.“ Wer dabei helfen will, ob mit Material, seinem Fachwissen, Technik oder Spen- den, ist natürlich „herzlich will- kommen“. Von der positiven Entwick- lung überzeugen konnten sich alle, die zum Tag des offenen Denkmals den Weg auf die Hohe Maas nicht gescheut haben. Dort informierten Vereinsmitglieder über ihre Pläne, ließen sich über die Schulter schauen und ge- währten Einblicke in ihre For- schungen. Auf dem Gelände rund um die Hütte waren so auch bisher wenig bekannte Spu- ren des einstigen Siedlungsver- eins und seiner vielfältigen Ak- tivitäten zu entdecken. Darun- ter Reste zahlreicher Gedenkta- feln und Sitzgruppen, aber auch das Fundament eines Karussells, dass ein Siedlungsvereins-Mit- glied in den 20er Jahren mit Ma- terialien aus dem Meininger Raw gefertigt hatte. Nationale und lokale Ge- schichte zum Anfassen, mitten in einem wunderschönen Stück Natur vor den Toren der Stadt – das sind gute Gründe, sich für den Erhalt der Bakuninhütte zu engagieren. RALPH W. MEYER Freies Land und freie Hütte … Wanderverein Bakuninhütte sichert den Erhalt des einmaligen historischen Kleinods Enrico Knorr zeigt auf die Pläne zur Sanierung der Bakuninhütte, die mittelfristig von den Vereinsmitgliedern in die Realität umge- setzt werden sollen. FOTOS: RALPH W. MEYER Freizeitgestaltung an der Bakuninhütte: Das Kettenkarussell ent- stand im Raw. Noch heute ist das Fundament zu sehen. Die Bakuninhütte heute. Der drohende Verfall wurde durch den Verein bereits gestoppt, doch bleibt noch viel zu tun in der Zukunft. Jede Hilfe ist willkommen. Michail Aleksandroviè Bakunin geboren am 30. Mai 1814, Premuchino (Gouvernement Tver), nordwestlich von Moskau gestorben am 1. Juli 1876, Bern Bakunin gehört zu den zen- tralen Figuren des libertären Sozialismus und kann als des- sen Mitbegründer und erster Organisator gelten. Mit Baku- nin entwickelt sich der Anar- chismus erstmals zur revolu- tionären Massenbewegung, in Spanien und Italien hält der Sozialismus sogar insgesamt zuerst in Gestalt von Bakunins Anarchismus Einzug. In Russ- land wirkt Bakunin auf die ge- samte Generation der 70er Jahre: Selbst G. Plechanow war zu Beginn seiner Karriere „Bakunist“. Als Stammvater des Anarcho-Syndikalismus er- streckt sich sein Einfluss ferner auf Länder wie Frankreich (Syndikalismus vor dem Ersten Weltkrieg) und Deutschland (Anarcho-Syndikalismus in der Weimarer Republik). Zum Teil erklärt sich diese Breitenwirkung durch die Pio- nierrolle, die Bakunin vor dem Hintergrund der Auffäche- rung des Sozialismus in Sozial- demokratie, Kommunismus und Anarchismus in der zwei- ten Hälfte des 19. Jahrhun- derts zugefallen ist. Während sich Kommunismus und Sozi- aldemokratie von Marx und Engels herleiten und in ihnen beide staatssozialistischen An- sätze tatsächlich lautstarke Begründer fanden, wäre die antiautoritäre Spielart des So- zialismus ohne Bakunin viel- leicht von vornherein massen- mäßig überrollt worden. Durch seine Ideen und seine mitreißende Tätigkeit hat aber Bakunin der libertären Bewegung einen Platz gesi- chert und ihr den Weg geeb- net. In diesem Sinne gehören Bakunins Ideen strömungsü- bergreifend dem gesamten herrschaftslosen Sozialismus an, sie bilden sozusagen das Urgestein antiautoritären Ge- dankengutes. Überhaupt sind Bakunins Beiträge zur anarchistischen Theorieentwicklung lange Zeit unterschätzt worden – vielleicht auch aufgrund des unsystematischen Stils seiner Schriften, die zwar gespickt sind mit außergewöhnlichen Ideen und Einsichten, aber zum Teil die richtigen Propor- tionen vermissen lassen. Bakunins Anarchismus könn- te, auf einen Begriff gebracht, als radikaler, emanzipatori- scher Humanismus bezeichnet werden. Quelle: „Wolfgang Eckhardt Michail Aleksandroviè Bakun- in. Ein biographischer Überblick“ http://www.bakunin.de WER WAR BAKUNIN? Im Innern der Bakuninhütte hat sich schon eine Menge getan. Das linke Bild zeigt den unteren Raum, der Wanderern auch in Zukunft Schutz bieten soll. Rechts ein Blick in das Obergeschoss. Dort wurden bereits viele verfaulte Balken ausgetauscht.

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MEININGEN SEITE 11SAMSTAG, 10. OKTOBER 2009

Auf der Hohen Maas entflohen die Arbeiterfamilien Anfang der 20er Jahre ihrem schweren Alltag. An der Bakuninhütte konnten sie ihre Freiheit genießen, aber sich auchGedanken über ein besseres Leben in einer freiheitlich-sozialistischen Gesellschaft machen. REPROS (2): WANDERVEREIN BAKUNINHÜTTE E.V.

MEININGEN. „Freies Land undfreie Hütte / Freier Geist undfreies Wort / Freie Menschen,freie Sitte / zieht mich stetszu diesem Ort.“ DieserSpruch, der einst an derBakuninhütte auf der HohenMaas prangte, lässt die histo-rische Bedeutung dieses Ob-jektes erahnen. Der Wander-verein Bakuninhütte e.V. hatsich daher zur Aufgabe ge-stellt, nicht nur das Haus ansich, sondern auch dessenwechselvolle Geschichte fürdie Nachwelt zu erhalten.

Der Ort hat etwas Geheimnis-volles. Geschichten ranken sichum ihn. Von einem Geheim-bund wird erzählt, der sich dortfrüher getroffen hat und heutewieder aktiv sein soll. Statt vonder Bakuninhütte wird von somanchem aber auch von der Pa-ganinihütte gesprochen …

Enrico Knorr, Vorstandsmit-glied des 2006 gegründetenWandervereins Bakuninhütte,weiß darum und kann nurschmunzeln, wenn er mit sol-chen Gerüchten konfrontiertwird. „Unser Ziel ist es auch, dieGeschichte der Hütte zu erfor-schen. Es gibt schon eine ganzeReihe von Puzzleteilen, doch wirsuchen weitere, um diese einmalzusammenfügen und ein ge-schlossenes Bild erhalten zu kön-nen.“ Antrieb dafür ist die Tat-sache, dass die Bakuninhütteeben keine normale Schutzhütteist, von denen es andere imgroßen LandschaftsschutzgebietHohe Maas gibt. „Wir betrach-ten die Hütte als kulturhistori-sches Denkmal, das auch heuteüberregionale Bedeutung hat.“

Überregionale Bedeutung?Also doch ein Geheimbund?Natürlich nicht. Die Geschichte,die Enrico Knorr erzählen kann,ist interessant. „Anfang der 20erJahre wurde hier von hungern-den Arbeitern eine Selbstversor-gungsfläche geschaffen. Das warder Beginn.“ Die Arbeiter pach-teten beziehungsweise erwarbendas Land. Man traf sich dort zurFeldarbeit, aber auch zum freienGedankenaustausch, zum freienLeben, etwas entfernt vom har-ten Alltag im Meiningen, in denlängst nicht für alle „goldenen20er Jahren“.

Viele FAUD-MitgliederEs entstand ein „Siedlungs-

verein für gegenseitige Hilfe“,dessen Mitglieder zum Teil derFAUD (Freie Arbeiter UnionDeutschlands), der wichtigstenMassenorganisation des deut-

schen Anarchosyndikalismus,angehörten. Auf den Prinzipienvon Selbstbestimmung, Selbst-organisation und Solidarität ver-folgte man das große revolu-tionäre Ziel, den Staat und denKapitalismus durch die Über-nahme der Produktionsmittel ingewerkschaftlicher Selbstorgani-sation zu überwinden. So erklärtsich auch der Name der Hütte.Michail Bakunin war Mitbe-gründer und erster Organisatorder anarchosyndikalistischenMassenbewegung, also des frei-heitlichen Sozialismus.

Erst ein Steinwall„Ganze Familien fanden hier

auf dieser Basis zusammen“, er-klärt Enrico Knorr und verweistauf historische Bilder. Eines zeigtden Ursprung der Bakuninhütte– ein überdachter Steinwall, derbei schlechtem Wetter Schutzbot. Selbst im Winter wurde die-ser genutzt, wenn sich die Ver-einsmitglieder zum Skifahrenauf der Hohen Maas trafen. Ab1925 entstand aus diesem be-scheidenen Unterstand ein mas-sives Haus, das nach 1928 zu ei-nem wichtigen Treffpunkt deut-scher Anarchisten und Anar-chosyndikalisten wurde. Über-regionale Veranstaltungen, Se-minare, Feste und Zeltlager fan-den in und an der Bakuninhüttestatt. In diese Zeit fallen die Be-suche des Publizisten Erich Müh-sam in der Bakuninhütte, derAnfang der 30er Jahre Mitglied

der FAUD wurde und in dieserZeit zu den wichtigen Vorden-kern der Bewegung gehörte.„Wir haben zwei Ansichtskarten,die Erich Mühsam von hier ge-schrieben hat“, zeigt EnricoKnorr eine Kopie. Die Karte trägtdas Datum vom 9. Februar 1930.

Mit der gewachsenen Bedeu-tung wurde schnell klar, dass dieHütte erweitert werden muss.Der Verein startete daher etwa1930 eine Solidaritätskampagnefür den Um- und Ausbau. Einmodernes Gebäude sollte ent-stehen. „Mit einer sogenanntenBaufondskarte wurde für Spen-den geworben“, erklärt Knorr,der eine solche Postkarte als Re-plik präsentieren kann. Der heu-tige Wanderverein hat nach demhistorischen Vorbild eine neueKarte anfertigen lassen. Sie zei-gen neben Bakunin die alteHütte und die Vision der neuen.1932 begannen die Arbeiten, diejedoch nicht in vollem Umfangrealisiert werden konnten, da derSiedlungsverein nach der Mach-tergreifung der Nazionalsozialis-ten 1933 zwangsaufgelöst undenteignet wurde.

Wechselnde EigentümerDie Besitzer wechselten fortan

rasch. Da offenbar die „SS-Stan-darde 3/75 Meiningen“ und selt-samerweise auch die NSDAPMünchen mit dem Objekt we-nig anfangen konnten, wurde esan einen Ellingshäuser verkauft.Das lag nahe, da das Grundstück

damals wie heute zur Ellings-häuser Flur gehört. Der Mannbaute die Bakuninhütte zumWohnhaus um, hatte aber nichtlange Freude daran. 1945 ent-eignete ihn die sowjetische Mi-litäradministration.

Der Siedlungsverein hofftenach Kriegsende auf Rehabilitie-rung durch die neuen, sozialisti-schen Machthaber. „Das wurde1946 aber verweigert“, zitiertKnorr die Aktenlage. 1947 über-nahm die SED Meiningen dasZepter, wobei unbekannt ist, obund was die Sozialistische Ein-heitspartei damit anstellte, zu-mal sie sich keinesfalls in der Tra-dition Bakunins sah. Karl Marxbeschimpfte ihn ab 1868 nurnoch als „Intrigant“, „Vieh“ und„verdammten Moskoviter“. Mitso einem wollte man in der DDRnichts zu tun haben …

1953 fiel das Haus an die Ge-meinde Ellingshausen, zwischen1960 und 1970 gehörte es demEnergiekombinat Suhl, dem Ratdes Bezirkes (Abteilung Land-wirtschaft), zeitweise genutzt alsStation Junge Naturforscher, so-wie dem Rat der Stadt Meinin-gen (Abteilung Kultur). 1970kam das Ministerium des Innernder DDR in Verantwortung. Bis1989 blieb das Haus somit Be-standteil des Übungsgeländesder Meininger Bereitschaftspoli-zei.

Nach der Wende fiel das Ob-jekt in die Zuständigkeit desBundesvermögensamtes. Gleich-

zeitig nahm außerhalb von Mei-ningen das Interesse zu, Nach-forschungen zur Geschichte derBakuninhütte anzustellen. Einebesondere Rolle kommt dabeidem einstigen Hüttenwart FritzScherer zu. Er rettete unter an-derem das Hüttenbuch vor demZugriff der Nazis. So gelangte esnach Berlin, wo die Erinnerungan den Meininger Siedlungsver-ein in den letzten Jahren sozu-sagen „wachgeküsst“ wurde.

75 VereinsmitgliederZu denen, die sich dabei en-

gagierten, gehört auch der Berli-ner Enrico Knorr. 2005 kaufteder Verein Wander- und Natur-freunde Meiningen e.V. dieBakuninhütte mit mehrerenFlurstücken dem Bundesvermö-gensamt für nicht wenig Geldab. Im März 2006 kam es dannzur Gründung des Wanderver-eins Bakuninhütte e.V., dem in-zwischen 75 Mitglieder aller Al-tersgruppen angehören. „Mankann durchaus von einem über-regionalen Charakter des Vereinssprechen, da unsere Mitgliederaus gut 35 unterschiedlichenStädten oder Gemeinden stam-men.“ Viele haben den Bezug zuMeiningen oder aber Interessean der Geschichte und demIdeengut von Michail Bakunin.Im Verein praktiziere man dahergegenseitige Hilfe und Solida-rität. Diskriminierung ist einFremdwort und jeder engagiertsich nach seinen Fähigkeiten.Eine Ideologie wird aber nichtverfolgt, versichert Knorr.

„Neben dem Umweltschutzund dem Wandern ist es unserZiel, die Bakuninhütte gemäßihrem ursprünglichen Zweckwieder zu einem vitalen Treff-punkt für Wanderfreunde ausnah und fern zu machen. UnsereVision ist es, die Hütte mittelfri-stig zu bestimmten Terminen fürWanderer und Skifahrer zu öff-nen. Doch dafür braucht es Zeit,Geld und viel Kraft.“

Außerdem eigne sich dieBakuninhütte als lebendiges Ob-jekt der Wissensvermittlung. Im-merhin spiegelten die bisherigenForschungen die wechselvolleGeschichte des 20. Jahrhundertswider. „Wir haben natürlichgroßes Interesse, noch mehr zuerfahren“, so Knorr, der für hi-storische Informationen einespezielle E-Mail-Adresse einge-richtet hat:[email protected]

Verfall aufgehaltenDas Vorhaben des Vereins, die

Hütte wieder mit Leben zu er-

füllen, ist nicht nur theoretischerNatur. In den letzten Jahren istschon einiges getan worden, umden Verfall des historisch be-deutsamen Gebäudes aufzuhal-ten. Das Dach ist geflickt, dieDachentwässerung verbessert,marode Holzbalken teils schongewechselt. Erst im Sommer gabes wieder einen mehrtägigen Ar-beitseinsatz. „Wir sind auf einemguten Weg.“ Wer dabei helfenwill, ob mit Material, seinemFachwissen, Technik oder Spen-den, ist natürlich „herzlich will-kommen“.

Von der positiven Entwick-lung überzeugen konnten sichalle, die zum Tag des offenenDenkmals den Weg auf die HoheMaas nicht gescheut haben. Dortinformierten Vereinsmitgliederüber ihre Pläne, ließen sich über

die Schulter schauen und ge-währten Einblicke in ihre For-schungen. Auf dem Geländerund um die Hütte waren soauch bisher wenig bekannte Spu-ren des einstigen Siedlungsver-eins und seiner vielfältigen Ak-tivitäten zu entdecken. Darun-ter Reste zahlreicher Gedenkta-feln und Sitzgruppen, aber auchdas Fundament eines Karussells,dass ein Siedlungsvereins-Mit-glied in den 20er Jahren mit Ma-terialien aus dem Meininger Rawgefertigt hatte.

Nationale und lokale Ge-schichte zum Anfassen, mittenin einem wunderschönen StückNatur vor den Toren der Stadt –das sind gute Gründe, sich fürden Erhalt der Bakuninhütte zuengagieren.

RALPH W. MEYER

Freies Land und freie Hütte …Wanderverein Bakuninhütte sichert den Erhalt des einmaligen historischen Kleinods

Enrico Knorr zeigt auf die Pläne zur Sanierung der Bakuninhütte,die mittelfristig von den Vereinsmitgliedern in die Realität umge-setzt werden sollen. FOTOS: RALPH W. MEYER

Freizeitgestaltung an der Bakuninhütte: Das Kettenkarussell ent-stand im Raw. Noch heute ist das Fundament zu sehen.

Die Bakuninhütte heute. Der drohende Verfall wurde durch den Verein bereits gestoppt, doch bleibtnoch viel zu tun in der Zukunft. Jede Hilfe ist willkommen.

Michail Aleksandroviè

Bakunin

geboren am 30. Mai 1814,Premuchino (GouvernementTver), nordwestlich vonMoskaugestorben am 1. Juli 1876,Bern

Bakunin gehört zu den zen-tralen Figuren des libertärenSozialismus und kann als des-sen Mitbegründer und ersterOrganisator gelten. Mit Baku-nin entwickelt sich der Anar-chismus erstmals zur revolu-tionären Massenbewegung, inSpanien und Italien hält derSozialismus sogar insgesamtzuerst in Gestalt von BakuninsAnarchismus Einzug. In Russ-land wirkt Bakunin auf die ge-samte Generation der 70erJahre: Selbst G. Plechanowwar zu Beginn seiner Karriere„Bakunist“. Als Stammvaterdes Anarcho-Syndikalismus er-streckt sich sein Einfluss fernerauf Länder wie Frankreich(Syndikalismus vor dem ErstenWeltkrieg) und Deutschland(Anarcho-Syndikalismus in derWeimarer Republik).…Zum Teil erklärt sich dieseBreitenwirkung durch die Pio-nierrolle, die Bakunin vor demHintergrund der Auffäche-rung des Sozialismus in Sozial-demokratie, Kommunismusund Anarchismus in der zwei-ten Hälfte des 19. Jahrhun-derts zugefallen ist. Währendsich Kommunismus und Sozi-aldemokratie von Marx undEngels herleiten und in ihnenbeide staatssozialistischen An-sätze tatsächlich lautstarkeBegründer fanden, wäre dieantiautoritäre Spielart des So-zialismus ohne Bakunin viel-leicht von vornherein massen-

mäßig überrollt worden.Durch seine Ideen und seinemitreißende Tätigkeit hataber Bakunin der libertärenBewegung einen Platz gesi-chert und ihr den Weg geeb-net.…In diesem Sinne gehörenBakunins Ideen strömungsü-bergreifend dem gesamtenherrschaftslosen Sozialismusan, sie bilden sozusagen dasUrgestein antiautoritären Ge-dankengutes.…Überhaupt sind BakuninsBeiträge zur anarchistischenTheorieentwicklung langeZeit unterschätzt worden –vielleicht auch aufgrund desunsystematischen Stils seinerSchriften, die zwar gespicktsind mit außergewöhnlichenIdeen und Einsichten, aberzum Teil die richtigen Propor-tionen vermissen lassen.…Bakunins Anarchismus könn-te, auf einen Begriff gebracht,als radikaler, emanzipatori-scher Humanismus bezeichnetwerden.

Quelle: „Wolfgang EckhardtMichail Aleksandroviè Bakun-in. Ein biographischerÜberblick“http://www.bakunin.de

WER WAR BAKUNIN?

Im Innern der Bakuninhütte hat sich schon eine Menge getan. Das linke Bild zeigt den unteren Raum, der Wanderern auch in Zukunft Schutz bieten soll. Rechts ein Blick indas Obergeschoss. Dort wurden bereits viele verfaulte Balken ausgetauscht.