Aufklärungsphilosophie und Politik in Preussen

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1 1 Universität zu Köln Philosophische Fakultät Magisterarbeit im Fach Geschichte Zum Thema: Die Philosophie der Aufklärung in Preußen und ihre politischen Folgen bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts 1. Prüfer: Prof. Dr. Herbert Hömig vorgelegt von: Peter Sutor Marienstr 101 50825 Köln Tel.: 0221/632948 Abgabetermin: 5. 10. 1999

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My own Magister Thesis delivered at Cologne University in 1999. The focus is on the question of how new ways of thinking, brought about by developments in science and philosophy during enlightenment, influenced the subsequent political events in Prussia until the middle of the 19th century.

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Universität zu KölnPhilosophische Fakultät

Magisterarbeit im Fach GeschichteZum Thema:

Die Philosophie der Aufklärung in Preußen und ihre politischen Folgen bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts

1. Prüfer: Prof. Dr. Herbert Hömig

vorgelegt von:

Peter SutorMarienstr 10150825 Köln

Tel.: 0221/632948

Abgabetermin: 5. 10. 1999

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung3

1. Entstehung und Entwicklung der Aufklärungsphilosophie 5

1.1 Aufklärung in Preußen 9

1.1.1 Thomasius, Rüdiger und Wolff 9

1.1.2 Zum Kampf gegen Wolff 15

1.1.3 Letzte Phase der Aufklärung 18

1.1.4 Kant und die kritische Philosophie 19

2. Der Zusammenhang von Aufklärung und Politik 23

2.1 Aufklärung als eine emanzipatorische Bewegung 23

2.2 Das aufgeklärte Denken und seine Wirkungen 30

2.3 Die politischen Konzepte und Theorien der Aufklärung 33

2.4 Entstehung und Entwicklung eines politischen Bewußtseins 36

2.5 Die Rechts - und Staatsphilosophie Kants 39

2.5.1 Die Wirkung der Kant’schen Rechts - und Staatsphilosophie 41

3. Politische Wirkungen des ‘aufgeklärten’ politischen Bewußtseins 42

3.1 Die preußischen Reformen 42

3.2 Die weiteren politischen Entwicklungen im Vormärz und während der 1848er Revolution 45

Schlußbetrachtung 48

Quellen und Literatur 51

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Einleitung

Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, eine Brücke zwischen traditioneller

politischer Geschichtsschreibung und der Geschichte philosophischer Ideen zu

schlagen. Die Wechselwirkung zwischen politischer ‘Wirklichkeit’ und der Welt der

Ideen (Theorien, Konzepte etc.) kann keineswegs als geklärt gelten. Während man

auf der einen Seite meinen kann, Ideen würden aus irgendwelchen Bedürfnissen

heraus geschaffen, deren Wurzeln in einer politischen, sozialen oder wirtschaftlichen

‘Wirklichkeit’ liegen,1 kann man auf der anderen Seite behaupten, neue Ideen - wenn

allgemein akzeptiert und daher zu kulturellen Werten geworden - würden sich

letztlich auf irgendeine Weise auf das politische, soziale oder wirtschaftliche Leben

auswirken2. Beide Ansichten erscheinen etwas willkürlich und für beide Positionen

lassen sich zahllose Beispiele anführen und Zusammenhänge konstruieren. Eine

Lösung des Problems scheint mit historischen Beispielen allein nicht zu

bewerkstelligen zu sein. Zu vielfältig sind die Umstände und Ereignisse, zu

verwoben und undurchsichtig die Zusammenhänge. Wir drehen uns beständig um die

Frage, ob die Ideen Fakten produzieren oder durch Fakten Ideen entstehen. Mit

politischen Fakten sind dabei in erster Linie Ereignisse gemeint und diese sind, wenn

es nicht gerade um Naturkatastrophen geht, nichts anderes als menschliche

Handlungen. Ein Weiterkommen in unserer Frage ist wohl nur möglich, wenn wir

den Träger bzw. das Verbindungsglied, welcher zwischen ‘Fakten’ und Ideen steht,

näher untersuchen. Der Ort, wo Ideen und politische ‘Fakten’ zusammenkommen ist

der Mensch, genauer genommen die menschliche Psyche. Eine psychologische

Interpretation historischer Ereignisse und Entwicklungen ist keineswegs etwas Neues

und spätestens seit der Aufklärung den Historikern bekannt.3 Doch läßt sie sich

wahrscheinlich nicht bei allen historischen Problemen anwenden und kann

womöglich auf den ersten Blick zu kompliziert wirken. Zwischenzeitlich wurde sie

von anderen Ansätzen innerhalb der Geschichtsphilosophie und der

Geschichtsschreibung weitgehend verdrängt (so z.B.von einer marxistisch-

materialistischen und einer sozialwissenschaftlich orientierten

Geschichtsauffassung). Dennoch macht eine psychologische bzw. mentalistische

1 Randall, The Career of Philosophy, S.564-6.2 Tenbruck, Die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft, S.15.3 Siehe dazu Kondylis, Die Aufklärung, Kap. VI.4.

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Geschichtsbetrachtung Sinn, vor allem bei einer Zeit wie der Aufklärung, die weniger

für ihre politischen Ereignisse oder sozialen Umwälzungen als vielmehr für ihre

Philosophie und ihre Ideen bekannt ist. Will man eine politische Wirkung der

aufklärerischen Ideen nachweisen, kommt man nicht drum herum, den Weg

nachzuzeichnen, auf dem sie zu eben dieser Wirkung gelangen. Und hier kommt man

wiederum nicht an der menschlichen Psyche vorbei. Natürlich kann es in unserem

Zusammenhang nicht darum gehen, komplette psychologische oder kognitive

Theorien auf einen Prototyp des Aufklärungsmenschen anzuwenden - allein schon

deswegen nicht, weil es den Rahmen dieser Arbeit bei Weitem sprengen würde -,

doch kann schon eine kleine Wendung in der Sicht der Dinge - ein kleiner Wechsel

in der Perspektive - neue Einsichten in poliltische oder kulturelle Zusammenhänge

bringen. Ein Zitat aus dem Roman Die Masken der Illuminaten des Amerikaners R.

A. Wilson bringt die hier vertretene Position klar auf den Punkt:

Die Geschichte des Bewußtseins ist eine Geschichte der Worte [...] Wenn man mit Worten neue Metaphern bildet, die ins Bewußtsein der Masse eindringen, schafft man neue Wege, sich selbst und die Welt zu erkennen.

Damit wird die Wirkungsweise von Ideen deutlich zum Ausdruck gebracht. Wir können zwar

nicht genau bestimmen, wann eine durch Worte übertragene Metapher in unser Bewußtsein

eindringt und zu einem festen Bestandteil unserer Weltanschauung und unserer

Selbstauffassung wird; daß aber unser Bewußtsein von mentalen Konzepten (Worten)

beeinflußt oder gar beherrscht wird, und daß wir nur auf die Weise derartiger mentaler

Konzepte eine Ordnung bzw. Struktur in die uns umgebende politische, soziale oder kulturelle

‘Wirklichkeit’ zu bringen im Stande sind, kann wohl nicht bezweifelt werden.4

Die vorliegende Arbeit will die Aufklärung als einen mentalen Wandlungsprozeß,

der durch die neuen Ideen, Auffassungen und Denkweisen der Philosophen ausgelöst

wurde, darstellen und erklären. Dazu wird in den ersten Kapiteln ein Überblick über

die Aufklärungsphilosophie, seit ihren Anfängen im 17. Jh. bis Kant, geliefert. In den

weiteren Kapiteln wird der aufklärerische Bewußtseinsprozeß in seiner Entstehung

und seiner typischen Ausprägung erläutert. Schließlich wird der Frage nachgegangen,

inwiefern das für eine bestimmte Bevölkerungsschicht typische, neue Bewußtsein,

politische Wirkungen haben konnte. In den letzten beiden Kapiteln werden die

wichtigsten politischen Ereignisse und Entwicklungen der ersten Hälfte des 19. Jh. -

4 Dazu Ciompi, Außenwelt - Innenwelt, Kap. 4.

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also der Zeit nach der eigentlichen Aufklärung - geschildert. Diese zeitliche

Verschiebung zwischen Aufklärung und der Periode der politischen Geschichte, die

hier behandelt wird, erklärt sich daraus, daß erst gegen Ende der Aufklärung, so

etwas wie ein neues ‘politisches Bewußtsein’ in der Bevölkerung entstand. Dessen

Wirkungen mußten also zwangsläufig in eine spätere Zeit fallen. Die Revolution von

1848/49 und ihre Abwehr durch die erstarkende Reaktion markieren den

Schlußpunkt der vorliegenden Betrachtungen.

1. Entstehung und Entwicklung der Aufklärungsphilosophie

Das Wesen der Aufklärungsphilosophie besteht in erster Linie in einer Abwendung

von der weitgehend theologisch orientierten Weltanschauung des Mittelalters.5 Diese

dominierte die europäische Philosophie vom frühen Mittelalter an, bis weit in die

Neuzeit hinein.6 Ein wichtiger Wendepunkt auf dem Weg von der theologischen zu

einer mehr diesseitigen Weltbetrachtung, war die sogenannte ‘Kopernikanische

Wende’.7 Als Einzelereignis wird die astronomische Theorie von Kopernikus keine

neue Epoche des Philosophierens eingeleitet haben, dennoch ist sie ein Sinnbild eines

Aufbruchs in eine neue Zeit. Indem Kopernikus die Theorie verkündete, daß die Erde

nicht das Zentrum des Universums sei, sondern sich wie die anderen Planeten um die

Sonne drehe, untergrub er in einem wichtigen Punkt die Autorität der kirchlichen

Lehren und unterminierte in gewisser Weise die Ansicht der Theologen, der Mensch

sei, als das Abbild Gottes, die Krone der Schöpfung und Mittelpunkt der Welt. Auf

der anderen Seite trug seine Entdeckung sicherlich dazu bei, daß sich seine

Zeitgenossen und spätere Generationen der Tatsache stärker bewußt wurden, daß

man auf dem Wege der Beobachtung und des Nachdenkens oder auch Nachrechnens

das Wissen über die Welt erweitern kann. Kepler präzisierte die Theorie des

Kopernikus, indem er nachwies, daß die Umlaufbahnen der Planeten keine perfekten

Kreise, sondern Ellipsen zeichnen. Die nächsten Stufen zu einem neuen,

naturwissenschaftlichen Weltbild stellten die Entdeckungen von Galilei und Newton

5 Troeltsch, Aufklärung, S.245f; Kondylis, Aufklärung, S.22 u. 44. Kondylis bezeichnet die Theologie als den gemeinsamen Gegner der Aufklärer.6 Während noch bis zum 12. Jh. eine klare Trennung zwischen Theologie und Philosophie nicht existierte, übernahm die Philosophie später die Funktion einer Hilfswissenschaft, welche die Wahrheiten der Theologie rational unterstützen sollte; Vgl. hierzu Theo Kobusch, Philosophie. Mittelalter, Sp. 635-6 und 641-4.

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dar. Der erstere entdeckte grundlegende Gesetze der Mechanik, der zweite wandte sie

auf die Bewegungen der Himmelskörper an und formulierte das Gesetz der

Gravitationskraft, das im ganzen Universum Gültigkeit haben sollte.8 Damit war der

Weg zu einem naturwissenschaftlichen Weltbild geebnet. In diesem erschien die

ganze Welt als eine Ansammlung von physikalischen Gesetzen, welchen die

Vorgänge in der Natur unterliegen und welche alle Phänomene der objektiven Welt

erklärbar machen.9 Newton selbst schreckte noch davor zurück, weitreichende

Konsequenzen seiner Entdeckungen im Hinblick auf eine neue Weltanschauung zu

ziehen, und wies darauf hin, daß das Gravitationsgesetz zwar eine Relation zwischen

den Körpern beschreibe, daß aber die Kraft, welche dahinter stecke, nicht erklärt

werden könne. Diese Kraft könne nur Gott selbst zugeschrieben werden bzw. seinem

Willen, nach welchem er die Körper mit der entsprechenden Kraft ausgerüstet habe.10

Trotzdem mußte sich daraus für Gott eine neue Stellung im Spiel der Kräfte ergeben.

War man zuvor noch weitgehend der Überzeugung, daß Gott in das weltliche

Geschehen andauernd eingreife und mehr oder weniger nach seinem Willen den Lauf

der Dinge in der Welt bestimme, mußte jetzt mehr und mehr eine Anschauung an

Einfluß gewinnen, die Gott aus einem permanenten Eingreifen ins Weltgeschehen

zurückdrängte und ihm allenfalls eine Rolle als Schöpfer und erstem Beweger

zuerkannte.11 Immerhin erschien es jetzt möglich, in Zukunft restlos alle

Eigenschaften der Materie und damit die Gesetze der objektiven Wirklichkeit zu

erforschen und auf diese Weise die Wissenschaft der Theologie vollkommen zu

entreißen.12 Die Weltanschauung der Aufklärung war durch eine Abkehr von der

theologischen Metaphysik, die in der biblischen Offenbarung wurzelte und eine

Wendung zur diesseitigen Welt gekennzeichnet.13 Damit erfuhr das sinnlich

Wahrnehmbare eine ungemeine Aufwertung. War im theologischen Weltbild das auf

die diesseitige Welt gerichtete Sinnliche geradezu die Wurzel aller Sünden, da es den

Blick auf das ewige Leben trübte, so war nun das sinnlich Wahrnehmbare zur Quelle

der Weisheit und der Wahrheitserkenntnis erhoben worden. Zwar schreckten die

7 Dijksterhuis, Die Mechanisierung des Weltbildes, S.320f.8 Robert March, Physics for Poets. Die jeweiligen Kapitel über Galilei und Newton sind hier zugleich als eigene Kapitel der Physik-Geschichte konzipiert.9 Randall, The Career of Philosophy, S.566f.10 Ebd., S.591.11 Kondylis, S.115.12 Ebd., S.111.13 Zur Aufwertung der Natur und der Neubestimmung der Position Gottes s. Kondylis, Kap. II.2.

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meisten Philosophen davor zurück, die letzten Konsequenzen aus einer solchen

Weltanschauung zu ziehen, und Gott völlig zu beseitigen, doch war eine allgemeine

Verweltlichung des Weltbildes kaum noch aufzuhalten. Man rang nun nach der

Konsolidierung einer neuen Weltanschauung, in der die Linie zwischen Empirie und

Wissenschaft auf der einen und Theologie auf der anderen Seite neu gezogen werden

würde. Eine starke Tendenz, vor allem in England, zielte darauf, eine vollkommen

weltliche Weltanschauung aufzubauen, in der die Ausrichtung der Menschen auf

Gott überflüssig werden würde, in der allein dem Menschen erkennbare Gesetze

seinen Weg in der Welt bestimmen würden.14 Das wissenschaftliche Weltbild konnte

aber das theologische nur dann total ablösen, wenn es ihm gelingen könnte, auch für

das Leben des Einzelnen und für das Zusammenleben der Menschen untereinander

eindeutige Richtlinien zu entwerfen, i.e. ethische Regeln aufzustellen, die zu einem

vollkommeneren Leben des Einzelnen und einer besseren Gesellschaft führen

würden. Aus dem Sein also, der Welt in ihrer wissenschaftlich erkennbaren

Beschaffenheit, als Teil derer der Mensch nun angesehen wurde, müßten

Eigenschaften abgeleitet werden können, die auch das Sollen offenbaren, d.h. den

Weg weisen, den man gehen soll, damit der Mensch im Einklang mit seinem wahren

Wesen lebe.15 Die Erkenntnis des Natürlichen in der Welt, im Wesen des Menschen

und in den Organisationsformen des menschlichen Zusammenseins, sollte den Weg

weisen, welchen die Gestaltung des Lebens und der Gesellschaft in ihren politischen,

rechtlichen und wirtschaftlichen Aspekten nehmen soll. Aus dem Wesen der Welt,

ihrer Teile usw., ihre weitere Gestaltung bzw. Umarbeitung abzuleiten, war also eine

Losung der Zeit. Auf diese Weise entstanden neben einer Naturwissenschaft ein

Naturrecht und sogar eine natürliche Theologie. Die klassische Wirtschaftstheorie -

und Politik entsprangen demselben Denkmuster.16 Die Natur des Menschen - im

nicht-medizinischen Sinne - wurde zum Gegenstand der Psychologie und der

Anthropologie.17 In diesem allgemeinen Aufbruch zu einer an den Wissenschaften

orientierten Weltanschauung wurden jedoch zunehmend Zweifel an der

menschlichen Erkenntnis laut. Was sind die Quellen menschlichen Wissens? Was

kann der Mensch überhaupt erkennen? Was ist Wahrheit? Was ist Wirklichkeit?

Woher wissen wir, daß unsere Konzepte von der Welt mit einer Wirklichkeit

14 Kondylis, Kap. IV.2. u. 3.15 Ebd., S.381ff.16 Randall, S.564-6.

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außerhalb unserer selbst übereinstimmen?18 Zwar wurde diesem Problem in der

Aufklärung eine wichtige Stellung eingeräumt, denn letztlich mußte eine theoretische

Absicherung unserer Erkenntniswege die sichere Basis für eine auf diesen ruhende

und gegen eine übernatürliche Autorität sich wendende Weltanschauung darstellen,

doch wandten sich die Wissenschaftler und Philosophen weiterhin auch anderen

Fragen zu, ohne daß die erstere schon befriedigend gelöst worden wäre. Eine

endgültige Lösung der Erkenntnisproblematik wurde ja bis heute nicht eindeutig

bewältigt.19 Eine von den englischen Philosophen Locke, Berkeley und Hume

ausgehende Einschätzung der menschlichen Erkenntnis, wonach diese ausschließlich

auf die sinnliche Erfahrung reduziert bzw. zurückgeführt werden kann, ließ eine

große Lücke für skeptische Ansichten in Bezug auf die Kapazität des menschlichen

Verstandes, aus eigener Kraft zur Wahrheit über die Welt vorzudringen, übrig.20

Wollte man nicht wichtige Fragen des zwischenmenschlichen Zusammenlebens und

der Lebensführung - kurz, der Ethik - der Theologie überlassen, mußte zumindest ein

Bild des Menschen entworfen werden, wonach das Moralische im Menschen bereits

zu seinen natürlichen Anlagen gehört und auch ohne eine erziehende theologische

Dogmatik (vom letzten Gericht, Höllenstrafen usw.) zur Ausprägung kommt.21 Dies

haben zum Teil englische Philosophen, wie Shaftesbury und Hutcheson, mit

wechselndem Erfolg versucht. Sie waren dabei gezwungen - wie auch zuvor die

Naturrechtler - unbeweisbare Annahmen über die menschliche Natur zu machen, aus

denen ein positives Bild der menschlichen Entwicklung abgeleitet werden konnte.22

Die Aufklärung stellt sich also insgesamt als ein Kampf dar zwischen der

wissenschaftlichen, auf Empirie und Rationalität aufgebauten Weltanschauung und

dem alten theologischen Weltbild, das den Willen Gottes ins Zentrum des

Weltgeschehens (als eine teleologischen Weltwissenschaft) und aller menschlichen

Aktivitäten (als präskriptive moralische Gesetze) stellte.

17 Wundt, Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung, S.11ff.18 Randall, S.367f. Randall bezeichnet die Erkenntnisproblematik als ein grundlegendes philosophisches Problem des 18. Jh. und der modernen Philosophie überhaupt.19 Einen umfassenden Überblick über die Entwicklung der Erkenntnistheorien seit der Antike bis in die Gegenwart bietet Sandkühler, Erkenntnis/Erkenntnistheorie.20 Kondylis, S.491.21 Ebd., Kap. IV.3.b).22 Ebd..

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1.1 Aufklärung in Preußen

1.1.1 Thomasius, Rüdiger und Wolff

Der Ablauf und die Auswirkungen des weltanschaulichen Kampfes, wie er weiter

oben kurz dargelegt wurde, war von Land zu Land - und innerhalb des deutschen

Reiches von Staat zu Staat - verschieden. Allgemein wird der Anfang der Aufklärung

für England postuliert, der dort politisch mit der Revolution von 1688 vorbereitet zu

sein scheint23 und mit Hobbes als Naturrechtler bzw. Staatstheoretiker, Newton als

Naturwissenschaftler und Locke in erster Linie als Psychologen und

Erkenntnistheoretiker die leitenden Persönlichkeiten des aufbrechenden Zeitalters

stellte.24 Auf einer weiteren Stufe gelangte die Aufklärungsphilosophie nach

Frankreich und erhielt hier ihre radikalste Ausprägung.25 Atheismus und Nihilismus

wurden hier teilweise bis zur letzten Konsequenz geführt. Auch in den politischen

Forderungen gingen die französischen Aufklärer, wie sich später zeigte, am

weitesten.26 In Deutschland, und im Besonderen in Preußen, mag man zwar mit

Wundt den Beginn der Aufklärung im Prinzip genauso früh ansetzen wie in England

- würde man Thomasius an ihren Anfang stellen27 - doch war ihre Wirkung ungleich

kleiner als in den genannten europäischen Ländern und es wurde zuweilen

bezweifelt, daß es eine Aufklärung in Deutschland überhaupt gegeben habe.28

Einerseits waren die Konzepte und Ideen der deutschen Aufklärer weniger radikal als

die ihrer englischen und französischen Kollegen und andererseits waren sie nicht so

weit verbreitet wie in den beiden anderen Ländern. Die Kritik gegen die Kirche hielt

sich stark in Grenzen, von anti-religiösen oder atheistischen Tendenzen konnte kaum

die Rede sein. Trotzdem läßt sich ein totales Ausbleiben der Aufklärung in

Deutschland keinesfalls postulieren, erst recht nicht für Preußen, das zumindest unter

Friedrich II. eine Vorreiterrolle in Puncto Aufklärung unter den deutschen Staaten

spielte.29

23 Kluxen, Die Auswirkungen der englischen Aufklärung auf Politik und Gesellschaft, S.44.24 Brandt, Die englische Philosophie als Ferment der kontinentalen Aufklärung; Ciafardone, Die Philosophie der deutschen Aufklärung, S.12.25 Ebd..26 Damit ist die Revolution von 1789 gemeint.27 Wundt, Die deutsche Schulphilosophie, S.19.28 Klaus Scholder, Grundzüge der theologischen Aufklärung in Deutschland, S.296.29 Voigt, Gesetzgebung und Aufklärung in Preußen, S.140.

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Den Anfang der Aufklärung in Preußen setzt man allgemein mit Thomasius an.30

Thomasius kommt 1690 als Professor für Recht von Leipzig nach Halle. Er tritt für

eine Trennung der Rechtswissenschaft von der Theologie und für eine Orientierung

der ersteren am Wesen des Menschen ein, wie schon vor ihm von den Naturrechtlern

des 17. Jh. gefordert wurde.31 Thomasius schränkt in seinen philosophischen

Schriften und Vorlesungen, die er ebenfalls gehalten hatte, die traditionellen

Themengebiete der Philosophie weitgehend ein und konzentriert sich auf

psychologische Themen wie die Erkenntnistheorie und eine eigene Affektentheorie.32

Seiner Erkenntnistheorie legt er den Satz des Aristoteles „nihil est in intellectu, quod

non prius fuerit in sensu“ zugrunde.33 Damit stimmt er in etwa mit Locke überein,

der ungefähr zur selben Zeit seinen Essay on Human Understanding (1690) schrieb,

in dem er eine ähnliche Theorie der menschlichen Erkenntnis entwarf.34 Für

Thomasius macht das Denken das Wesen der Seele aus. Denken ist ein innerer

Kommunikationsprozeß, in welchem die Abbildungen der äußeren Welt im Gehirn

die bedeutungstragenden Komponenten darstellen. Diese Abbildungen der äußeren

Welt werden durch Sinneseindrücke erzeugt. Die Seele im Ganzen könne man in

Verstand und Willen unterteilen. Der Wille hat seinen Ursprung in den Affekten. Die

wichtigsten Affekte sind Haß und Liebe. Sie äußern sich in einem emotionalen

Gerichtetsein auf andere Personen oder Gegenstände. Die Glückseligkeit des

Menschen besteht darin, Gemütsruhe zu erlangen und zu wahren. Diesen Zustand

erreicht man auf dem Wege der vernünftigen Liebe. Es handelt sich bei dieser um

eine Übereinstimmung zwischen dem Urteil der Vernunft und dem Willen. Der

Verstand erkennt die Bewegung des Willens, der vom Affekt der Liebe angetrieben

wird, als vernünftig an, die Einsicht in diesen inneren Einklang führt zur inneren

Ruhe. Wird der Wille von einem anderen Affekt als dem der Liebe angetrieben, bzw.

ist die Liebe unvernünftig, da sie vom Verstand als solche klassifiziert wird bzw. den

Vernunftprinzipien des Verstandes widerspricht, kommt es im Menschen zu inneren

Spannungen und Unruhe.35 Der aus den Affekten entspringende Wille ist also

oftmals die Ursache von innerem Konflikt und Spannung, wenn er nicht gerade vom

30 Wundt, Deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung, S.19; Kondylis, S.549.31 Wundt, S.24.32 Ebd., S.29ff33 Ebd., S.31.34 Wundt, S.31, führt die Gemeinsamkeiten zwischen Thomasius und Locke auf die beiden gemeinsame aristotelische Tradition zurück.35 Ebd., S.46.

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Affekt der Liebe angetrieben wird, der dem Verstand zudem als vernünftig erscheint.

Die Ethik des Thomasius wurzelt also in einer Theorie der menschlichen Psyche, das

Tugendhafte entspringt einem Leben im Einklang mit dem eigenen Wesen. Erkenne

dich selbst und lebe im Einklang mit dieser Erkenntnis, dann erreichst du inneren

Frieden und Glückseligkeit! - könnte die Zusammenfassung der Thomasianischen

Ethik lauten. Was an dieser Auffassung von einem tugendhaften Lebenswandel

auffällt, ist die völlige Trennung dieser Thematik von der Theologie. War nach

älterer Auffassung das moralische Handeln mit dem Erfüllen des Willen Gottes

geradezu identisch bzw. von diesem nicht zu trennen,36 so ist es bei Thomasius

Leben im Einklang mit der Erkenntnis, was für einen gut sei. Nach der persönlichen

Wendung zum Pietismus distanziert sich Thomasius teilweise von dieser Lehre und

entwirft ein viel pessimistischeres Bild des Menschen, wonach dieser nur durch die

Zuteilwerdung der göttlichen Gnade zu einem moralisch vollkommeneren Wesen

werden kann.37 Das weltliche Bild des Menschen, das Thomasius in seiner älteren

Lehre entworfen hatte, wird hier zugunsten einer traditionell - theologischen

Sichtweise von einer Einwirkung Gottes auf die Menschen umkonstruiert. Die

Schwankungen zwischen einem mehr theologisch und einem mehr weltlich-

wissenschaftlich dominierten Welt - und Menschenbild waren für die ganze deutsche

Aufklärung kennzeichnend und sollten noch das Denken Kants, bezüglich der

richtigen Trennung von Wissenschaft und Theologie, entscheidend beeinflußen.38

Die Werke von Rüdiger (1673-1731) zeigen eine teilweise Übereinstimmung mit der

Philosophie des Thomasius aus dessen vor-pietistischer Periode. Rüdiger stellt seine

Philosophie radikal auf den Boden einer empirischen Erkenntnistheorie.39 Wie schon

für Thomasius, stellen für ihn die Sinneseindrücke die einzige Quelle für alle Arten

von Gedanken bzw. Ideen dar. Auf einer höheren mentalen Ebene gibt es allerdings

noch die innere Wahrnehmung (perceptione interna), die Wahrnehmung der eigenen

Gedanken, wodurch die Idee des Denkens und des Wollens entsteht. Daraus erklärt

sich, daß wir nicht nur über die Welt nachdenken, wie sie uns durch die

Sinneseindrücke präsentiert wird, sondern auch diese mentalen Vorgänge aus einer

gewissen Entfernung beobachten können und auf diese Weise einen Eindruck von

der eigenen Denktätigkeit gewinnen. Im Einklang mit der empiristischen

36 Kondylis, S.115.37 Wundt, S.51.38 Wundt, Kant als Metaphysiker, S.111ff.

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Erkenntnistheorie steht ebenfalls Rüdigers Auffassung, daß wir keine Aussagen über

ein Ding bezüglich dessen absoluter Existenz machen können, sondern lediglich in

Bezug auf den Eindruck, den wir von dem Ding erhalten.40 Dem entspricht auch

Rüdigers Auffassung von Wahrheit, die als Übereinstimmung der Einwirkung der

Substanzen auf die Sinne (i.e. der Kraft, welche die Substanzen auf die Sinne

ausüben) mit dem Eindruck (Wahrnehmung), der infolgedessen im Subjekt entsteht,

gekennzeichnet wird.41 Es handelt sich dabei offensichtlich um das Problem eines

einwandfreien Funktionierens der Sinnesorgane bzw. des Nervensystems. Diese

Ansicht würde nicht überraschen, da Rüdiger Arzt war und Probleme der

Weiterverarbeitung von Sinnesreizen aus seiner Sicht wohl ein Thema sein konnten.

Eine zweite Art von Wahrheit, die logische Wahrheit, liegt wieder eher im Bereich

einer traditionell philosophischen Denkweise und bezeichnet die Übereinstimmung

unserer logischen, durch Denken gewonnenen Erkenntnis mit den ursprünglich

empfangenen Eindrücken (Wahrnehmungen).42 Obwohl mit einer derartigen

Wahrheitsauffassung Rüdigers Metaphysik relativ unkonventionell geraten ist, ist er

dennoch stark bemüht auch Gott innerhalb seines philosophischen Systems

unterzubringen. So gesteht er ihm eine von der Erkenntnis unabhängige Existenz zu.

Ferner betrachtet er die Physik als ein Studium der Werke Gottes. Die Erkenntnisse

der Physik sollen uns sogar vor Atheismus bewahren.43 Der Wille hat bei Rüdiger

eine eigentümliche Funktion. Er ist vom Intellekt geschieden. Es handelt sich bei ihm

um eine Art Instinkt, „eine von Gott eingeprägte Fähigkeit, die dem Körper

notwendigen Wahrheiten zu ahnen“44, wahrscheinlich also eine Art

Überlebensinstinkt. Insgesamt fällt bei Rüdiger, ähnlich wie bei Thomasius, das stark

psychologisch bestimmte Menschenbild auf. Der Bezug auf Gott wird zwar hin und

wieder gemacht, doch generell stehen der Mensch und die Naturerkenntnis im

Mittelpunkt von Rüdigers Werk. Damit kann er als ein typischer Aufklärer angesehen

werden.

39 Wundt, Schulphilosophie, S.84-6.40 Ebd..41 Wundt, S.88; im lateinischen Original heißt es: „convenientia ipsius sensionis cum illo accidente, quod sentitur“.42 Ebd.; im Original: „convenientia cogitationum nostrarum cum sensione“.43 Ebd., S.92.44 Ebd., S.87.

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Wolff (1679-1794) war wohl der einflußreichste Philosoph der preußischen

Aufklärung.45 Sein Werk ist durch zwei wesentliche Tendenzen gekennzeichnet, die

es ihm ermöglichten, diese Popularität zu gewinnen. Auf der einen Seite kommt er

dem Zeitgeist entgegen, indem er den Wert der Erfahrung als Ausgangsbasis allen

Wissens immer wieder betont, und darüberhinaus die menschliche Vernunft als eine

Kraft ansieht, die es dem Menschen ermöglicht, alle Wahrheiten zu erkennen und ein

moralisch vollkommenes Leben zu führen, und zwar sowohl in Bezug auf sich selbst,

wie in Bezug auf die Gemeinschaft mit Anderen. Die theologische Offenbarung wird

auf diese Weise im praktischen Leben des Menschen weitgehend irrelevant. Die Welt

kann so vor sich selber bestehen, ohne daß in irgendeinem Bereich des

philosophischen Wissens auf die Autorität kirchlicher Lehren zurückgegriffen

werden müßte. Die andere Tendenz in Wolffs Werk zielt dagegen in Richtung

Tradition, indem sie der Metaphysik eine wichtige Stellung einräumt.46 Während

Thomasius und Rüdiger mittels eines anthropozentrischen Ansatzes das Wesen des

Menschen zu erkunden suchten und sich von der ontologischen Metaphysik

weitgehend abwendeten, läßt Wolff den Menschen und seine Psyche zwar bei

Weitem nicht unbeachtet, widmet sich aber auch ausführlich der übrigen Welt - im

weitesten Sinne - und ihrer Entstehung. Kennzeichnend für Wolffs Art der

metaphysischen Lehre ist seine Erkenntnistheorie. Zwar bildet bei ihm, wie bei

Thomasius und Rüdiger, die sinnliche Wahrnehmung die Grundlage des Wissens,

doch kann der Mensch weit über diese hinausgehen, wenn er sich des logischen

Denkens, bei strikter Einhaltung einiger Grundregeln, bedient. Dann stehen seiner

Erkenntnis alle Türen offen. Diese Regeln sind: der Gebrauch klarer, eindeutiger

Begriffe und deren sorgfältige Verknüpfung. Für die Kombination der Begriffe zu

einer Aussage müsse man die beiden logischen Sätze anwenden: den Satz des

Widerspruchs und den Satz vom zureichenden Grunde. Der zureichende Grund ist

die Ursache, warum etwas ist. Auf diese Weise könne man die Wirklichkeit

erkunden, wie sie durch bloße Wahrnehmung nicht erkannt werden könne.

Ausgehend von diesem Konzept des Wissens und Erkennens will Wolff seine

Metaphysik aufbauen. Die Dinge der materiellen Welt unterteilt Wolff in einfache

und zusammengesetzte. Die zusammengesetzten Dinge setzen sich aus den einfachen

zusammen. Die einfachen Dinge müssen entweder ohne Anfang sein oder auf einmal

45 Ebd., S.199.

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anfangen. Da aber aus nichts nicht etwas werden kann, müssen sie eine Ursache

haben. Diese wird in die Kraft und den Willen Gottes gesetzt. Die einfachen Dinge

„entstehen daher auf einmal und auf eine uns unbegreifliche Weise, während

zusammengesetzte nach und nach und in verständlicher Weise entstehen“.47 Die

Quelle der materiellen Veränderungen ist Kraft. „Durch die Kraft erlangt das

Mögliche seine Erfüllung und wird zur Wirklichkeit.“48 Wolff setzt das Mögliche mit

dem Verstand Gottes gleich. Kommt zu diesem der Wille und mit ihm die Kraft

Gottes hinzu, wird das rein Potentielle zur Wirklichkeit. Die praktische Philosophie,

die Wolff traditionell in Ethik und Politik unterteilt, wird ausschließlich nach

weltlichen Gesichtspunkten aufgerollt. Die Tugend des Menschen kommt in der

Einheitlichkeit seiner Taten zum Ausdruck, welche zudem auch mit seinem Wesen

im Einklang stehen müssen. Die Erkenntnis des Tugendhaften in einem derartigen

Lebenswandel ist notwendiger Bewegungsgrund des Willens, d.h. der Wille

entspringt der Einsicht, was tugendhaft sei. Er ist also mit der Ratio, die die Tugend

erkennt, eng verknüpft. Die Wechselwirkung zwischen Erkenntnis, Wille und

Tugend stellt für Wolff ein Naturgesetz dar, welches unabhängig vom Willen Gottes

existiert.49 Der vernünftige Mensch, der dies einsieht, ist sich daher selbst Gesetz.

Die Wolff’sche Ethik ist also von einem starken Rationalismus geprägt. Sie ist

unabhängig von der göttlichen Offenbarung und kommt auch ohne das Konzept einer

angeborenen Tugendhaftigkeit des Menschen aus, wie sie teilweise von den

englischen Philosophen - z.b. von Shaftesbury50- postuliert wurde. Sie stellt insofern

einen Prototyp aufklärerischen Denkens dar, welches die Vernunfttätigkeit über alle

Autorität stellte und ihrer Anwendung keine Grenzen setzte. Die Wolff’sche Politik

ist im Grunde lediglich eine auf das Gemeinwesen übertragene Morallehre. Ihr Sinn

und Zweck liegt darin, die Glückseligkeit der Menschen mit vereinten Kräften zu

fördern. „Die Absicht des gemeinen Wesens ist die Beförderung der Wohlfahrt und

die Erhaltung der Sicherheit.“51 Die Wahrheiten der Politik gründen sich auf die der

Ethik und des Naturrechts. Diese Disziplinen sind eng miteinander verwandt, wobei

man allerdings das Naturrecht eher als reine Theorie, die Ethik dagegen als eine

46 Ebd..47 Wundt, S.163.48 Ebd..49 Ebd., S.172.50 Kondylis, S.394.51 Wundt, S.174f.

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Anweisung zum Handeln, also eher als praktisch, ansehen könne.52 Wolff hatte auch

einige Werke über die Naturwissenschaften verfaßt. In diesen betont er den Wert der

Experimente, welche die Erfahrungsgrundlage liefern, auf der die Verknüpfungen der

Logik aufbauen können. Es wiederholt sich hier also das bereits aus der Metaphysik

bekannte Prinzip der Erforschung der Wahrheit oder Wirklichkeit, in dem die

sinnliche Wahrnehmung die Ausgangsbasis darstellt, auf welche die logischen

Operationen angewendet werden. Zusammenfassend kann man über Wolff sagen,

daß er ein typischer Vertreter seiner Zeit war, insofern er die Bedeutung sowohl der

Empirie als auch der Ratio immer wieder herausstellte, und beide als die

notwendigen, aber auch zureichenden Mittel ansah, die Wirklichkeit in allen ihren

Aspekten zu erforschen. Er ging sogar teilweise über dieses Ziel hinaus, wenn er

meinte die Tugend mit Hilfe dieser Mittel bestimmen und sie zu einem Naturgesetz

erklären zu können, welches für jeden vernünftigen Menschen erkennbar sei. Triebe

oder ein unkontrollierbarer Wille sind für Wolff kein Thema. Die Vernunft kann zum

einen alles einsehen, wenn sie dabei immer streng wissenschaftlich vorgeht und die

logischen Sätze sorgfältig anwendet, zum anderen bestimmt sie den Willen, indem

erst das als vernünftig Erkannte zum Antrieb des Willens wird. Der Mensch kann

also aus eigener Kraft Wahrheit und Tugend erkennen, seine Taten mittels Vernunft

kontrollieren und auf diese Weise Glückseligkeit erlangen. Für die Theologie bleibt

innerhalb eines solchen philosophischen Systems, welches ausschließlich auf der

Kraft der Vernunft aufgebaut worden sein will, nicht viel Platz übrig. Letztlich wird

aber Gott noch zum Garanten der Weltordnung erklärt. Daß seine Kraft die Welt und

die Dinge erst wirklich existent macht, wurde bereits erwähnt, der Akt der Schöpfung

wird ihm somit auch nicht streitig gemacht. So sehr der Inhalt der Wolff’schen

Philosophie den optimistischen, empiristischen und rationalistischen Zeitgeist der

Aufklärung wiederspiegelt, so sehr gehört sein auf das Weltganze zielende,

ontologische Denken der Vergangenheit an. Ein philosophisches System, das alle

Aspekte des Wissens integrieren und in Einklang bringen will, widerspricht der

Tendenz einer Zeit, in der sich die einzelnen Wissenschaften zunehmend an

unterschiedlichen Phänomenen und Problemen orientieren und damit immer mehr in

verschiedene Richtungen entwickeln.

52 Ebd., S.198.

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16

1.1.2 Zum Kampf gegen Wolff

Die rationalistische Weltsicht Wolffs, die Gott im Wesentlichen nur als eine Art

Kraft kannte, und die die Vernunft über alle Autorität erhob, war bei vielen

Zeitgenossen Wolffs auf starken Widerspruch gestoßen. Der Widerstand kam

einerseits von der Theologie bzw. den stärker an der Theologie orientierten

Philosophen, zum anderen von einer anthropologisch orientierten Philosophie, die

den strikten Rationalismus Wolffs in Bezug auf den Menschen ablehnte. So sehen

beispielsweise Strähler und Lange eine Gefahr des Atheismus in der Wolff’schen

Philosophie.53

Hoffmann dagegen kritisiert Wolffs Theorie des Wissens, welche davon ausgeht, daß

mittels logischer Schlußfolgerungen alle Wahrheiten der Welt erkannt werden

können. Er selbst wendet sich dabei teilweise einem radikalen

erkenntnistheoretischen Psychologismus zu, wenn er fordert, man müsse bei der

Anwendung des Satzes vom zureichenden Grunde, die Basis desselben, also die

menschliche Verstandeskraft, in ihrer Funktionsweise kennen. Damit wirft er bereits

die kritische Frage Kants auf.54 Trotzdem will er die Philosophie nicht nur „als bloße

Erkenntnis sinnlicher Wirkungen“ verstanden wissen; er hält also noch an einer

unabhängig von den sinnlichen Wahrnehmungen existierenden ‘realen Welt’ fest,

deren Struktur und Beschaffenheit man mittels der Anwendung einer korrekten

Methode erkunden könne.55 Die Art des Zusammenhangs zwischen dem

menschlichen kognitiven Apparat und der Beschaffenheit der ‘realen Welt’ steht im

Mittelpunkt der Hoffmann’schen Philosophie. Die Kognition setzt sich nach

Hoffmann aus den Kategorien Gedächtnis, Erfindungskraft und Beurteilungskraft

zusammen. Die Erfindungskraft bezeichnet die Kraft der möglichen Kombinationen

von Konzepten im Gedächtnis oder die Kraft, alle möglichen

Gedankenkombinationen im Gedächtnis durchzuspielen. Die Beurteilungskraft

bezeichnet die Kraft der notwendigen Kombinationen, d.h. die Kraft, die richtigen

Schlüsse zu ziehen. Zum Erkennen der Wahrheit dienen drei logische Sätze:

1. Der Satz des Widerspruchs;

53 Wundt, S.236.54 Ebd., S.250.55 Ebd., S.251.

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2. Der Satz des Untrennbaren = was sich nicht als getrennt denken läßt, kann auch in

Wirklichkeit nicht getrennt sein.

3. Der Satz des Unvereinbaren = was sich nicht miteinander denken läßt, kann auch

in Wirklichkeit nicht miteinander existieren.

Indem er die Denkbarkeit zum Kriterium der Wirklichkeit werden läßt, knüpft

Hoffmann die objektive Wirklichkeit wieder an die menschliche Erkenntnis. Von

dem Plan einer transzendentalen Logik, welche bei einer Kritik des Gedachten die

Prinzipien des Denkens berücksichtigt, bleibt im Endeffekt nichts übrig. Trotzdem

wird man Hoffmann zugute halten müssen, daß er das wichtige Problem des

Zusammenhangs zwischen Erkennen auf der einen, und einer realen Welt oder

objektiven Wirklichkeit auf der anderen Seite erkannt hatte, auch wenn ihm keine

überzeugende Lösung des Problems gelungen ist.

Einer von Hoffmanns Schülern - Crusius - weist zwar auf die Grenzen der

menschlichen Erkenntnis hin, doch kann auch er eine extrem idealistische Sicht der

Wirklichkeit, wonach nur das Denkbare bzw. den Gesetzen der Logik nicht

Widersprechende, wirklich sein kann, nicht überwinden.56 Die ersten Ansätze von

Hoffmann, zu einer prinzipiellen Kritik der menschlichen Erkenntniskraft zu

gelangen, werden von Crusius nicht wieder aufgegriffen, stattdessen wird die

traditionelle Linie der Wissenstheorie weiterverfolgt. Ein wesentlicher Unterschied

zu Wolff ist in dieser nicht zu erkennen. Ein solcher bestand schon eher in der

Willenslehre, die bei Crusius die Grundlage der Ethik bildet. Der Wille wird als eine

Grundkraft der Seele neben den Verstand gesetzt. Der Wille hat die Kraft auf den

Verstand und auf den Körper zu wirken. Des Weiteren zeichnet er sich durch Freiheit

aus, „sich zu einer Handlung selbst zu bestimmen“.57 Die Richtung, in welche sich

der Wille zu bewegen hat, um den Menschen zur Tugend anzuleiten, wird ihm vom

Gewissen diktiert. Gewissen sei nichts anderes „als der allgemein verbindliche Wille

Gottes“.58 Bei dieser Wesensbestimmung des Gewissens handelt es sich eindeutig

um einen theologisch-irrationalen Zug, womöglich um einen bewußten Rückgriff auf

traditionellere Konzepte, wonach Gott einen direkten Einfluß auf die menschliche

56 Wundt, S.260.57 Ebd.,S.257.58 Ebd., S.258.

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Seele habe. Auf diese Weise wäre zumindest in der Ethik ein klarer Gegensatz zu

Wolff geschaffen, auf den es Crusius auch ankam.59

Im Kampf gegen Wolff zeigt sich immer wieder aufs neue die weltanschauliche

Grundsituation der Aufklärung, die durch den Widerstreit eines theologisch

orientierten, traditionellen Weltbildes mit einem weltlich orientierten, empirisch-

wissenschaftlichen Weltbild, gekennzeichnet war.

1.1.3 Letzte Phase der Aufklärung

Eine anthropozentrische Weltsicht beherrscht die letzte Phase der Aufklärung nach

1750.60 Das Nachdenken wird nicht mehr so sehr vom Sein der Welt wie vom Selbst

des Menschen bestimmt. Die Anthropologie wird statt der Ontologie zur führenden

Wissenschaft. Eine vom erkennenden Subjekt ausgehende Weltanschauung war vor

allem in England stark verbreitet und die englische Philosophie wurde nun auch in

Deutschland zunehmend rezipiert.61 In Preußen selbst war die anthropozentrische

Weltsicht bereits durch Thomasius, Rüdiger und Hoffmann, aber auch im gewissen

Maße durch Wolff vorbereitet. Nur daß Wolff noch der Metaphysik anhing und eine

einheitliche Lehre vom Weltganzen schaffen wollte, während die jüngere Generation

sich nunmehr einzelnen Fragen der menschlichen Existenz zuwandte, ohne sich um

das Sein der Dinge zu kümmern.62 Christoph Meiners, in seinem „Kurzen Abriß der

Psychologie“ (1773), wagte sogar zu sagen, daß „in der Psychologie und denen von

ihr abgeleiteten Wissenschaften [...] die ganze Theorie des Menschen und der

Philosophie enthalten“ sei.63 An die Stelle der Logik tritt nun eine Psychologie des

Denkens. An der Ontologie interessiert nicht mehr die Wahrheit des Seins, sondern

wie das Bewußtsein zu ihr gelangt. Die Metaphysik beschränkt sich nunmehr auf die

Theologie bzw. fällt mit dieser zusammen.64 Die Ethik wird dafür nun besonders

wichtig. Wie schon bei Wolff dreht sie sich nicht um den Willen Gottes, der erfüllt

werden müsse, sondern will den Menschen zu einer ihm in dieser Welt erreichbaren

Glückseligkeit anleiten. Die starke Spannung zwischen Diesseits und Jenseits,

59 Ebd., S. 257.60 Wundt, S.265f.61 Ebd., S.265.62 Ebd.,S.266.63 Abgedr. bei Wundt, S.276.

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welche die Morallehre seit langem beherrschte, wurde zugunsten einer fast

ausschließlichen Verschiebung derselben zur Weltlichkeit hin aufgelöst.65 Überhaupt

scheint die Ethik in dem Zeitalter nach Wolff eine Wendung weg von der Theologie

und hin zur Kunst und Ästhetik gemacht zu haben.66 So merkwürdig es auf den

ersten Blick erscheinen mag, wurde das moralisch Gute bald mit dem ästhetisch

Schönen assoziert. Wesentliches Verbindungsglied war dabei der Gedanke der

Harmonie. Ein lebhaftes Interesse an Kunstfragen, am Wesen des Ästhetischen und

harmonisch Vollendeten, war ein Kennzeichen der Zeit und ließ die Ästhetik zum

Teil an die Stelle der Theologie rücken.67

Eine kritische Rehabilitierung der philosophischen Metaphysik versuchte

ansatzweise Tetens.68 Er erkannte die mangelnde Gewißheit und Klarheit der

Begriffe als das Hauptproblem der Metaphysik. Die Lösung, die Tetens andeutet, ist

er aber nicht imstande durchzuführen. Die Metaphysik müßte demnach auf einfachen

Ideen aufgebaut werden, die ihre Wurzeln in der sinnlichen Wahrnehmung haben.

Die Ideen müßten einer psychologischen Kritik unterzogen werden, um die Art ihrer

Beziehung zur ‘realen’ Welt festzustellen. Anschließend müßte sich eine

mathematische Formulierung dieser Ideen finden lassen, um eine ebensolche

Exaktheit ihrer Handhabung und ihrer Ergebnisse zu erreichen. Ein zentrales

Problem bleibt dabei für Tetens, wie wir uns der Wirklichkeit der wie auch immer

gewonnenen Begriffe, versichern können. Damit bleibt die Frage nach der

Übereinstimmung zwischen Ideengehalt und objektiver Wirklichkeit virulent, wie sie

schon von Hoffmann aufgeworfen wurde. Sie weist eindeutig in Richtung Kant.

1.1.4 Kant und die kritische Philosophie

Kant ist vor allem für seine „Kritik der reinen Vernunft“ bekannt geworden und

wird deswegen auch in erster Linie als Erkenntnistheoretiker angesehen.69 In

Wirklichkeit war eine Neugründung der Metaphysik sein wahres Ziel, an dem er sein

64 Ebd..65 Wundt, S.279.66 Ebd., S.281f.67 Ebd..68 Ebd., S.326ff.69 Wundt, Kant als Metaphysiker, S.1.

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Leben lang festhielt.70 Die Erkenntnistheorie war nur als eine Propädeutik zu jener

gedacht. Eine Kritik der Erkenntnis sollte die Fehler der alten Metaphysik vermeiden

helfen.71 Einen solchen kritischen Ansatz hatten ja schon vor Kant Hoffmann und

Tetens teilweise versucht, ohne jedoch darin sehr weit gekommen zu sein. Kant war

darin mehr Glück beschieden. Kants Kritik der reinen Vernunft war im Wesentlichen

eine Analyse des Denkens nach Grundsätzen der Logik.72 Als Ausgangsbasis dieser

Analyse wählte er Aussagen bzw. Urteile einer gewöhnlichen Subjekt - Prädikat

Form. Unter diesen unterscheidet Kant die synthetischen von den analytischen

Urteilen.73 Letztere sind solche, in denen das Prädikat lediglich eine

Wesensbestimmung oder Erklärung des Subjekts ist, in denen man also nichts

Zusätzliches über das Subjekt erfährt. Man erkennt solche Urteile auch daran, daß

ihre Verneinung einen inneren Widerspruch bzw. logisch widersprüchlichen Satz,

ergibt. So wäre zum Beispiel eine Verneinung des Satzes „ein Regentag ist ein nasser

Tag“, ein Widerspruch in sich. Das Prädikat „ist ein nasser Tag“ ist folglich nur eine

nähere Erläuterung des Subjekts „Regentag“. Synthetische Urteile hingegen sagen

etwas Zusätzliches über das Subjekt aus, z.B. was mit dem Subjekt geschieht, in

welchem Zustand es sich befindet, usw.. Eine weitere Unterscheidung der Urteile ist

die in Sätze a priori und a posteriori.74 Urteile a priori sind solche, deren

Wahrheitsgehalt ohne Rückgriff auf Erfahrung (a priori) eingesehen werden kann.

Alle analytischen Urteile sind a priori, da - wie wir gesehen haben - deren

Verneinung logisch unmöglich ist, folglich wohl auch keine sie widerlegende

Erfahrung gemacht werden kann. A posteriori sind aus Erfahrung gewonnene Sätze.

Nur synthetische Urteile können a posteriori sein. Kant zufolge müssen in

synthetischen Aussagen a priori, wenn es solche überhaupt gibt, Grundsätze des

Denkens enthalten sein.75 Der Schlüssel zur Entdeckung solcher Grundsätze, welche

die Bildung synthetischer Urteile a priori ermöglichen sollen, liegt Kant zufolge in

den logischen Formen der Urteile.76 Aus den zwölf ihm bekannten logischen

Urteilsformen leitet Kant ebensoviele Kategorien ab, welche reine, a priorische

Begriffe des Verstandes darstellen sollen. Die zwölf Kategorien sind: 1. Einheit; 2.

70 Ebd., S.91.71 Ebd., S.190-93.72 Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: ders., Werke in sechs Bänden, Bd.II.73 Ebd., S.52.74 Ebd., S.46f.75 Ebd., S.55ff.76 Ebd., S.111ff

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Vielheit; 3. Allheit/Allgemeinheit; 4. Realität; 5. Negation; 6. Limitation; 7.

Inhärenz; 8. Kausalität; 9. Wechselwirkung; 10. Möglichkeit - Unmöglichkeit; 11.

Dasein - Nichtsein; 12. Notwendigkeit - Zufälligkeit.77 Neben den Kategorien als

reinen, a priorischen Formen des Verstandes, existieren für Kant auch noch reine, a

priori Formen der Anschauung. Diese sind Raum und Zeit.78 Nach Kant sind sie die

notwendige Voraussetzung dafür, daß wir uns Dinge und Ereignisse vorstellen

können. Vor unserem geistigen Auge erscheinen uns alle Dinge als räumlich und alle

Geschehnisse finden in der Zeit statt. Wahrnehmungen, wie wir sie erleben, wären

ohne die beiden Formen der Anschauung nicht möglich, deswegen müssen auch sie

uns a priori gegeben sein. Erst durch das Zusammenwirken der reinen

Anschauungsformen und der Kategorien wird Erfahrung möglich.79 Die sinnlichen

Eindrücke werden im Zusammenspiel mit den Anschauungsformen zu

Wahrnehmungen von Objekten oder anderen Empfindungen geformt. Wendet man

auf diese Wahrnehmungen und Empfindungen die Kategorien an, entsteht objektive

Erfahrung.80 Objektive Erfahrung bedeutet allerdings nicht, daß wir die Wirklichkeit

erfahren wie sie in der Tat ist, sondern daß wir nur gewisse Erscheinungsformen der

Wirklichkeit wahrnehmen und denkend ordnen, und zwar wie es uns unsere a priori

Formen der Anschauung und des Verstandes ermöglichen.81 Das Wesen der Dinge

selbst liegt außerhalb unserer Erfahrungsmöglichkeit.82 Oberhalb des Verstandes und

der objektiven Erfahrung (d.h. einer mit Hilfe der Kategorien geordneten und

strukturierten Wahrnehmung) liegt die Vernunft, die ebenfalls eine Kraft a priori ist,

deren Wesen wir jedoch nicht einsehen können, ist sie doch etwas Unbedingtes,

welches die Bedingungen für die niederen Kapazitäten der Seele liefert. 83 Ebenso

wie das Wesen der Dinge, ist die Vernunft für den Verstand nicht erkennbar, mit

seinen Kategorien nicht zu erfassen. Sie leitet und ordnet vielmehr den Verstand, ist

also die lenkende Kraft im Hintergrund.84 Die Vernunft betätigt sich nach Kant auf

die Weise der syllogistischen oder mittelbaren Schlüsse.85 Ein solcher Schluß besteht

immer aus zwei Bedingungssätzen - dem Ober- und dem Untersatz - und einem

77 Ebd., S.116-124.78 Ebd., S.69-96.79 Ebd., S.194ff.80 Ebd., S.249.81 Ebd., S.256-61.82 Ebd..83 Ebd., S.311ff.84 Ebd..85 Ebd., S.314-16.

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Schlußsatz. Der Obersatz ist der Satz, der das Prädikat des Schlußsatzes enthält. So

wären z.B. der Obersatz „ Alle Menschen sind sterblich“ und der Untersatz „alle

Philosophen sind Menschen“ die Bedingungssätze des Schlußes „Alle Philosophen

sind sterblich“. Entsprechend der logischen Form der Relation von Aussagen oder

Urteilen unterscheidet Kant kategorische, hypothetische und disjunktive

Vernunftschlüsse.86 In diesen sind die möglichen Verhältnisse zwischen dem Ober -

und dem Untersatz ausgedrückt. Die drei genannten Arten der Schlüsse führen uns,

wenn sie nach gewissen Kriterien konsequent weiterbearbeitet werden, zu den drei

obersten Ideen Seele, Welt und Gott.87 Die Ideen oder reinen Vernunftbegriffe bilden

den eigentlichen Gegenstand der Metaphysik, welche entsprechend in die rationale

Seelenlehre (Psychologie), rationale Kosmologie und Theologie unterteilt werden

könnte.88 Eine solche Metaphysik ist allerdings nicht durchführbar, da die Ideen nicht

mit Erfahrungsbegriffen vermischt, bzw. wie diese vom Verstand bearbeitet werden

dürfen. 89 Ein solches Vorgehen wäre ein unzulässiger Gebrauch der

Vernunftbegriffe, welche nur einer Leitung des Verstandes dienen können, nicht aber

wie dessen Erkenntnisobjekte benutzt werden dürfen. Der Verstand könne sich

immer nur auf Objekte der Anschauung beziehen, also Erscheinungen a posteriori,

Ideen könnten dagegen niemals auf die Anschauung angewendet werden. Eines

derartigen falschen Gebrauchs der Ideen habe sich die alte Metaphysik schuldig

gemacht.90 Diese habe z.B. die Seele des Menschen wie ein Objekt behandelt oder

aus dem Dasein Gottes die Wirklichkeit der Welt abgeleitet. Lehnt man diese

Vorgehensweise ab, da man nun das wahre Wesen der Ideen und deren Funktion

kennt, kann auch die Metaphysik in ihrer alten Form und mit den alten Inhalten nicht

weiterbestehen. Nun stehen wir vor der offenen Frage, ob Metaphysik überhaupt

möglich ist und inwiefern. Kant definiert Metaphysik als ein System der reinen

Erkenntnis a priori.91 Ausgehend von dieser Definition und dem Wesen der

Erkenntnis a priori, kommt Kant zu dem Ergebnis, daß zumindest eine reine

Naturwissenschaft (Physica rationalis) möglich ist, welche ausschließlich auf den a

priorischen Anschauungsformen und ebensolchen Kategorien aufgebaut werden

86 Ebd..87 Ebd., S.336-9.88 Ebd..89 Ebd., S.339f.90 Wundt, Kant, S.228ff; Diese Auffassung Kants wird ebenfalls durch die ausführliche Behandlung des falschen Gebrauchs der reinen Vernunftideen in der Kritik der reinen Vernunft impliziert.91 Ebd., S.613.

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kann.92 Des Weiteren gebe es die Möglichkeit, eine reine, a priorische Morallehre aus

den Grundsätzen der praktischen Vernunft zu entwickeln. Diese wird von Kant in

seinen Werken Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und Kritik der praktischen

Vernunft ausgearbeitet.93 Im Mittelpunkt der Kant’schen Ethik steht der Wille.94 Der

Wille ist Einsicht in das moralische Gesetz und in die Pflicht, diesem Gesetz bei

allen seinen Taten zu gehorchen. Das moralische Gesetz wiederum ist das Prinzip,

ausschließlich nach Maximen zu handeln, von denen wir wünschten, daß sie

allgemeine Gesetze wären, oder die durch unseren Willen zu allgemeinen Gesetzen

werden sollten.95 Eine Tat wird nur dann nach dem Gesetz des Willens ausgeführt,

wenn sie aus der Einsicht in ihre Pflichtgemäßheit erfolgt. Alle anderen Triebfedern

des Handelns sind nicht als Bewegungen des Willens anzusehen.96 Der Wille des

Menschen wird zwar oftmals durch andere, subjektive Handlungsmotive verunreinigt

bzw. verdeckt. Trotzdem ist er als ein objektives Gesetz des menschlichen Handelns

bestimmbar und macht als solches die Würde des Menschen aus.97 Durch seinen

Willen wird jeder Mensch zu seinem eigenen Gesetzgeber, zu einem Zweck an sich.

Die Würde des Menschen, welche aus seinem freien Willen abgeleitet wird, ist bei

Kant die Grundlage für alle politischen Menschenrechte.98

2. Der Zusammenhang von Aufklärung und Politik

2.1 Aufklärung als eine emanzipatorische Bewegung

Aus dem soweit gesagten wird ersichtlich, daß sich die Aufklärungsphilosophen in

ihrem Denken aus dem alten Rahmen der theologischen Dogmatik weitgehend

gelöst hatten und an ihre Stelle ein eklektisches Philosophieren (Thomasius) setzten,

undogmatisch über alles mögliche reflektierten oder - wie Kant - eigene

philosophische Systeme schufen. Auffällig ist dabei wie die Erkenntnistheorie in den

Mittelpunkt rückt. Will die menschliche Erkenntnis auf die göttliche Offenbarung

92 Ebd., S.620ff.93 Kant, Werke in sechs Bänden, Bd.4.94 Ebd., S.74f.95 Ebd., S.51.96 Ebd., S.26.97 Ebd., S.67ff.98 Alexander Schwan, Politische Theorien des Rationalismus und der Aufklärung, S.162.

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verzichten, müssen zuerst ihre Möglichkeiten und Grenzen gefunden werden. Um

eine neue Metaphysik - also ein System der grundlegenden Prinzipien aller

Wissenschaft - aufzubauen, versuchte Kant das Wesen der menschlichen Erkenntnis

neu zu bestimmen. Unverkennbar ist bei allen Aufklärungsphilosophen das

Vertrauen in die Kraft des eigenen Verstandes bzw. der eigenen Vernunft. Kopper

stellt es sogar als das wichtigste Merkmal der Philosophie der Aufklärung heraus,

daß sie sich von dogmatischen Denkgebäuden fernhalten will, und daß sich ihr

Denken nur auf die Weise der ihm eigenen, zur Verfügung stehenden Mittel,

vollziehen will.99 Kant bezeichnet er dagegen als einen Überwinder der Aufklärung,

in dem allerdings eher negativen Sinne, daß dieser eine neue Dogmatik als

Betätigungsrahmen für das Denken errichtet habe, wodurch das Denken sich wieder

mehr von sich selbst entfremdet habe.100 Man kann also die Aufklärungsphilosophie

auch als eine Kultur des Selbstdenkens ansehen101, oder, um mit den Worten Kants

zu sprechen, als eine Aufforderung, sich des eigenen Verstandes zu bedienen.102 Die

Anfänge einer solchen Denkkultur sind schon bei Thomasius auszumachen, in einem

noch stärkeren Maße tritt Wolff für das Selbstdenken ein. In Kap. 1.1.1 wurde bereits

erwähnt, wie sehr Wolff die Kraft der Vernunft verabsolutiert hatte, sie geradezu an

die Stelle der göttlichen Offenbarung setzte. Weiter kann man die Zuversicht in die

Kraft der menschlichen Vernunft wohl kaum treiben. Die Wahrheit kann nach Wolff

von jedem Einzelnen gefunden werden. Sie ist nicht das Monopol irgendwelcher

Autoritäten, auch nicht nur Eingeweihten aus der Wissenschaft vorbehalten. Man

kann sich ohne weiteres vorstellen, welch eine emanzipatorische Wirkung von

diesem Dogma über die menschliche Erkenntniskraft ausging. Die Verstandeskraft

wird zur allgemeinen Richtlinie im menschlichen Leben erhoben, und sie ist

theoretisch jedermann verfügbar. Die Ordnung der Gesellschaft, die Wahrheiten der

Religion, das Wesen des Menschen, die Gesetze der Natur - Fragen, die die

Menschheit seit Jahrtausenden beschäftigten - werden von Wolff als für jeden

einsehbar ausgegeben, der sich auf die Suche nach ihnen macht und sich seines

Verstandes richtig bedient. Es ist dennoch ein weiter Weg, von einem Wechsel in der

Denkweise einiger Philosophen, welcher allenfalls auf einen kleinen Kreis von

Lesern und Studenten ausstrahlen konnte, zum Postulat, dieser Wechsel habe zu

99 Kopper, Einführung in die Philosophie der Aufklärung, S.21ff100 Ebd.,101 Hinske, S.419f.

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einem politischen Wandel geführt oder beigetragen. Dieser Zusammenhang wird

wohlgemerkt nicht für die politische Wirkung einzelner Ideen postuliert - dies würde

wohl als unmittelbar einleuchtend erscheinen -, sondern für eine allgemeine oder

prinzipielle geistige Einstellung, die sich zunächst nicht unbedingt oder nur unter

anderem auf politische Themen richtete. Aber gerade diese Eigentümlichkeit der

Aufklärungsphilosophie, kein Denk - oder Lehrgebäude im eigentlichen Sinne zu

sein, sondern vielmehr eine Aufforderung zum eigenständigen Philosophieren bzw.

zum Gebrauch der eigenen Vernunft, erklärt ihre emanzipatorische Kraft. Diese

Allgemeinheit bzw. Unbestimmtheit erlaubte es der aufklärerischen Denkweise, sich

auf die verschiedensten Bereiche des privaten und öffentlichen Lebens auszuwirken

und überall ihre Spuren zu hinterlassen. Ihr undogmatisches Wesen macht es aber auf

der anderen Seite extrem schwierig, ihre Wirkungen exakt zu bestimmen. Um der

Wirkungsweise der Aufklärungsphilosophie beizukommen, ist es deswegen

unzureichend, ihren einzelnen Strömungen, die sich zum Teil - wie bei Kant - zu

ganzen Systemen oder Denkgebäuden entfalteten, nachzuspüren und die Wirkung

ihrer Konzepte und Ideen in politischen Diskussionen und Auseinandersetzungen zu

analysieren und zu interpretieren, da man auf diese Weise den Kern des

Aufklärungsdenkens immer noch nicht erfaßt hat, allenfalls einige seiner

Manifestationen. Will man aber den Anspruch nicht aufgeben, politische Wirkungen

der Aufklärung als einer allgemeinen Denkweise oder einer bestimmten Einstellung

zur eigenen Vernunft und zum eigenen Leben, bestimmen zu wollen, wird man

versuchen müssen, eine andere Bedeutungsdimension von ‘Aufklärung’ zu

konzipieren, die einen Weg aus diesem Dilemma weist und zudem theoretisch

begründet werden kann. Ein wertvoller Ansatz, dieses Problem zu lösen, ist der

Versuch von Bödeker, die aufklärerische Denkweise als einen kollektiven kognitiven

Wandel zu deuten.103 Der Autor zählt prinzipiell zwei Charakteristika dieses

kognitiven Wandels auf. So spricht er einerseits von einem ‘kognitiven

Perspektivwechsel’, der als ein Kennzeichen der Modernität [im Menschen] zu gelten

habe; andererseits von einer Entstehung neuer ‘Wahrnehmungs - und

Kognitionsmuster’.104 Als einen wichtigen ‘Perspektivwechsel’ des

Aufklärungsmenschen bezeichnet Bödeker „die Annahme eines historischen

102 Kant, Werke, Bd.VI, S.53.103 Bödeker, Prozesse und Strukturen politischer Bewußtseinsbildung der deutschen Aufklärung.104 Ebd., S.14.

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Fortschritts“ und den Wechsel „von einer zyklischen zu einer progressiven

Zeitvorstellung“. Damit verlor die Vergangenheit „ihre orientierende Kraft,

zugunsten einer prinzipiell offenen Zukunft“.105 Ein weiterer ‘Perspektivwechsel’ -

der wahrscheinlich eine noch wichtigere Komponente des aufklärerischen

Bewußtseinswandels darstellt - ist eine individualistische bzw. subjektivistische, d.h.

eine vom Ich, vom Selbst oder vom einzelnen Menschen ausgehende Weltsicht.106

Ihre Wurzel liegt ohne Zweifel in der empiristischen, die Psychologie der

Wahrnehmung und Wissensverarbeitung in den Mittelpunkt stellenden

Erkenntnistheorie, die während der ganzen Aufklärung in der Philosophie

vorherrschend war.107 Diese machte die alten Themen, mit denen sich etwa die Logik

oder die Metaphysik beschäftigte, „zu Epiphänomenen des menschlichen

Bewußtseins ... Das Primäre [war nunmehr] nicht die Totalität des Universums,

dessen Teile, und Gott, dessen Geschöpfe wir sind, sondern die je eigene

Wahrnehmung und deren Verarbeitung in der eigenen Psyche.“108 Als ein Beispiel

für ein neues ‘Wahrnehmungs - und Kognitionsmuster’ - also die zweite Modalität

des kognitiven Wandels - führt Bödeker den ‘statistischen Blick’ an.109 Ein anonymer

Zeitgenosse definierte diesen als „Die Fähigkeit ..., gewisse Sachen auffallend zu

finden..., gewisse Seiten zu bemerken, die anderen nicht merkwürdig scheinen“.110

Bödeker unterstreicht, „daß es sich bei dem ‘statistischen Blick’ nicht allein um mehr

Informationen oder größere Genauigkeit handelt, sondern daß ihm eine andere

Auffassungsweise, ein anderes Bewußtsein, ein anderes Reflexionsvermögen

zugrundelag“.111 Ergänzend zur Entstehung neuer ‘Kognitionsmuster’, also der Art

und Weise das Wahrgenommene kognitiv zu verarbeiten und zu werten, sagt

Bödeker, die Gebildeten hätten sich vom „traditionellen anschauenden Denken“

abgesetzt und einen „distanzierten und kontrollierenden Blick“ entwickelt.112 Dies

deutet, in Verbindung mit dem bereits über den ‘statistischen Blick’ Gesagten, auf

ein kritisches, analytisches Denken hin, welches ein Erkenntnisobjekt bewußt in

einzelne Komponenten zerlegt und erst nach deren näherer kritischer Prüfung, zu

105 Ebd..106 Wundt, Deutsche Schulphilosophie, S.269.107 Kondylis, S.309f. 108 Brandt, Die englische Philosophie als Ferment der kontinentalen Aufklärung, S.67.109 Bödeker, S.12.110 Zitiert nach Bödeker, S.12.111 Ebd..112 Ebd..

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einem Ganzen wieder zusammensetzt. Der Prüfstein einer solchen Analyse oder

Kritik kann dabei immer nur das eigene Wissen bzw. die eigene Vernunft sein. Kant

erklärt es wie folgt:

Eine Erkenntnis mag ursprünglich gegeben sein, woher sie wolle, so ist sie doch bei dem, der sie besitzt, [nur] historisch, wenn er nur in dem Grade und so viel erkennt, als ihm anderwärts gegeben worden, [...] er weiß und urteilt nur so viel, als ihm gegeben war. [...] Er hat gut gefaßt und behalten, d.i. gelernet, und ist ein Gipsabdruck von einem lebenden Menschen.113

Auf das Eigenständige Erfassen der Zusammenhänge kommt es also an. Wer nur die

Lehrsätze oder Gedanken anderer übernimmt, hat keine ‘philosophische’, sondern

nur ‘historische’ Erkenntnis erlangt, er kann lediglich wiedergeben, was ein anderer

erkannt oder eingesehen hat. Kritisch kann man also nur dann sein, wenn man einen

Sachverhalt auf die Weise der eigenen kognitiven Strukturen und Schemata

verarbeitet und erfaßt hat.114

Das über die Aufklärung als einen psychisch-kognitiven Wandel gesagte, kann man

wie folgt zusammenfassen: Dieser Prozeß ist zum einen durch einen ‘kognitiven

Perspektivwechsel’ gekennzeichnet, einmal in Bezug auf die politisch - rechtliche

und soziale Gestaltbarkeit der Zukunft, welche nunmehr als offen und veränderbar

erscheint, und des weiteren - und wahrscheinlich noch wichtiger - in Bezug auf eine

komplett neue Weltanschauung, die ihren Ausgang vom menschlichen Individuum,

als dem die Welt erkennenden und diese gestaltenden Subjekt nimmt und ihn zum

Maß aller Dinge erhebt. Die theologische Weltsicht, die Gott und seinen Willen in

den Mittelpunkt aller philosophischen Überlegungen stellte, wird von einer

anthropozentrischen Weltanschauung, die das Wesen des Menschen ins Zentrum der

Erkenntnistheorie, der Ethik, wie der Rechts - und Staatsphilosophie stellt,

abgelöst.115 Zum anderen war die Aufklärung als ein psychisch-kognitiver

Wandlungsprozeß von der Entstehung neuer ‘Wahrnehmungs - und

Kognitionsmuster’ geprägt, so eines ‘statistischen’ oder kritisch - analytischen

Blicks, welcher ein vorliegendes Datenmaterial bzw. Erkenntnisobjekt bewußt einer

kritischen Auswertung bzw. Betrachtung unterzieht und zu eigenen Ergebnissen oder

113 Kant, Werke, Bd.2, S.698f.114 Zum Begriff der kognitiven Strukturen und Schemata vgl. L. Ciompi, Zur Integration von Fühlen und Denken im Licht der ‘Affektlogik’.115 Wundt, Deutsche Schulphilosophie, S. 8-14.

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Meinungen gelangt, die einem ‘rein anschauenden Denken’ nicht zugänglich sind.116

Der Weg, auf dem die Aufklärer zu dieser Wandlung oder Weiterentwicklung ihrer

kognitiven Strukturen oder Kapazitäten gelangten, war die Bildung bzw. die

Selbstbildung. Weitgehend einer Meinung sind die Aufklärungsforscher in Bezug auf

die herausragende Stellung, welche die Bildung im Aufklärungsprozeß innehatte.117

Eine leitende Funktion kam dabei der Philosophie zu118 und innerhalb derselben der

empiristischen Erkenntnistheorie119. Mit der Wendung zu einem eklektischen

Räsonieren über die Welt, welches sich keiner Schule oder Weltanschauung

verpflichtet fühlt,120 gewann das Lernen bzw. die Bildung eine Eigendynamik, die es

weit über die Universitäten und andere offizielle Bildungseinrichtungen hinaustrug

und in die privaten Häuser und freiwilligen Vereinigungen wie die

Lesegesellschaften, die patriotischen Gesellschaften und die geheimen Logen,

brachte. Dabei kann Lernen bzw. Bildung, nach dem bisher gesagten, niemals als ein

Auswendiglernen irgendwelcher Inhalte verstanden werden, sondern ein sich Üben

im selbständigen Erfassen von Zusammenhängen, welches allerdings ein Aufgreifen

neuer Konzepte, Theorien etc. nicht ausschließt. Der Ort, an dem der Lern - und

Bildungsprozeß auch nach dem Besuch der Universität oder des Gymnasiums

kontinuiert wurde, waren in erster Linie die verschiedenen

Aufklärungsgesellschaften, v.a. aber die Lesegesellschaften.121 Die

Lesegesellschaften waren freiwillige Vereinigungen von Privatpersonen, mit dem

Zweck einer gemeinschaftlichen Anschaffung von Zeitungen, Zeitschriften und

Büchern. Auf diese Weise konnten die Anschaffungskosten dieses Lesematerials für

den Einzelnen deutlich gesenkt werden, oder umgekehrt, dasselbe Exemplar einer

Zeitschrift oder eines Buches, konnte von mehreren Personen gelesen werden. Die

tatsächliche Verbreitung des schriftlich veröffentlichten ‘Wissens’ konnte auf diese

Weise im Vergleich zur Auflagezahl stark ausgeweitet werden. Darüberhinaus boten

die Lesegesellschaften, die oftmals über eigene Bibliotheks - und Leseräume

verfügten, den Mitgliedern die Möglichkeit, sich über das Gelesene auszutauschen

116 Maßgeblich für diese Position ist der Aufsatz von Bödeker.117 So Möller, S. 179ff; Schneiders, S.2; Bödeker, S.10.118 Schneiders, S.7.119 Kondylis, S.309.120 Zur Eklektik der Aufklärung siehe Wundt, S.29; ferner Hinske, S.419; Über die schulmäßige Ungebundenheit der Aufklärungsphilosophie als einer rein autonomen, undogmatischen Denkweise siehe Kopper. 121 Bödeker, S.19f.

Page 29: Aufklärungsphilosophie und Politik in Preussen

29

29

und zu diskutieren.122 Der Lern - und Bildungsprozeß, der durch die Vereinigung und

die Zusammenkünfte der Aufklärer in den Aufklärungsgesellschaften ermöglicht

wurde, wurde von Bödeker - im Anschluß an Schindler und Bonß - als ‘kollektiv-

autodidaktischer Lernprozeß’ bzw. als ‘autonomer Selbstbildungsprozeß’

bezeichnet.123 Möller schätzt die kommunikativ-erzieherische Funktion der

Aufklärungsgesellschaften in etwa ähnlich ein, und bezeichnet sie als eine Form des

‘kommunikativen Netzes der Gelehrtenrepublik’ und als ‘Zentren aufgeklärten

Denkens’.124 Die aufgeklärte Denkweise, die wir weiter oben als ‘kognitiven

Perspektivwechsel’, als neue ‘Wahrnehmungs - und Kognitionsmuster’ und

schließlich als kritisch-analytisches, autonomes Denken klassifiziert haben, konnte

also innerhalb der aufklärerischen Assoziationen entwickelt und weitergereicht

werden. Die neuartige Reflexionsweise der Aufklärer bezog sich auf alle möglichen

Themen und konnte auch an Themen der Politik, des Rechts, der wirtschaftlichen

und sozialen Angelegenheiten nicht vorbeigehen.125 Möller wiederum sieht das

Wesen des Politischen im Aufklärungszeitalter im „Anspruch der Aufklärer, die

Grundsätze der Vernunft öffentlich auf die Gegenstände der Gesetzgebung und des

Regierungshandelns anzuwenden“.126 Damit wird bereits über die rein theoretische

Reflexion über Politik hinaus ein weitergehender politischer Anspruch der Aufklärer

angedeutet, nämlich das Recht, mit politischen Sachverhalten öffentlich ins Gericht

gehen zu dürfen oder gar zu müssen.127 Und in der Tat trug die Vereinigung der

Aufklärer in den Lesegesellschaften und anderen Assoziationen neben einer

kognitiven Weiterentwicklung zur Entstehung eines neuen Selbstbewußtseins und

Selbstverständnisses dieser Personengruppe bei.128 „In ihnen [den

Aufklärungsgesellschaften] wurde zweifellos das politische und soziale

Selbstbewußtsein der aufklärererischen Eliten gestärkt, ihr politisches Wissen

vermehrt und ihre politische Urteilsfähigkeit entwickelt.“129 Das neue politische und

soziale Selbstbewußtsein bzw. Selbstverständnis könnte auch als ein spezifischer

‘kognitiver Perspektivwechsel’ eingestuft werden, und zwar in Bezug auf die

122 Ebd..123 Ebd..124 Möller, Wie aufgeklärt war Preußen? S.186f.125 Bödeker, S.10.126 Möller, S.186.127 Ebd..128 Bödeker, S.19.129 Ebd., S.20.

Page 30: Aufklärungsphilosophie und Politik in Preussen

30

30

Stellung des Selbst im politischen und sozialen Rahmen. Man kann aber auch von

einem politischen Ego als einer neuen Dimension des Selbstbewußtsein oder der Ich -

Identität sprechen und sie zusätzlich neben die bereits erwähnten kognitiven

Errungenschaften des Aufklärungsmenschen stellen.

Denkt man sich nun einige der wichtigsten psychisch-kognitiven Neuentwicklungen

des typischen Aufklärers zusammen, zum einen die Verfügung über neue kognitive

Muster und die Annahme einer offenen, gestaltbaren Zukunft und zum anderen das

neu erwachte politische Selbstbewußtsein, wird es klar, daß eben dieser psychisch -

kognitive Wandel, der das Spezifische der Aufklärung als einer Epoche der

Geistesgeschichte ausmacht, zu neuartigen politischen Ansichten, Positionen oder

gar Ansprüchen und Forderungen führen mußte. Neben neuen Erkenntnissen

entstanden neue Bedürfnisse, die der neuen Weltanschauung und dem neuen

Selbstverständnis folgten und die von entsprechenden Forderungen nach deren

Befriedigung begleitet wurden.130 Der Aufklärer wird sich auf diese Weise

zunehmend seines politischen Gewichts bewußt, bzw. konstruiert für sich einen

politischen Anspruch.

Auf der Basis des oben ausführlich behandelten mentalitären Konzeptes der

Aufklärung, kann man zu klareren Ergebnissen in Bezug auf die politischen

Wirkungen des Aufklärungsprozesses gelangen, welcher in Preußen als ‘eklektische

Philosophie’ bei Thomasius begonnen hatte.131 Der Aufklärungsprozeß stellt sich

dann insgesamt als eine Wechselwirkung zwischen geistigen Ideen und der

Entstehung neuer Bewußtseins - und Kognitionsstrukturen bei einem Teil der

Bevölkerung dar, welche wiederum zur Entstehung neuer Theorien, Konzepte etc.

führen. Die Ausführungen der folgenden Kapitel wollen versuchen, diesen

Wechselmechanismus darzulegen und zu kommentieren.

2.2 Das aufgeklärte Denken und dessen Wirkungen

Eine politische Wirkung konnte die emanzipatorische Bewegung der Aufklärung

grundsätzlich erst dann entwickeln, wenn sich die aufklärerische Denkweise auch in

Regierungskreisen durchsetzte, bzw. wenn Aufklärer auf irgendeine Weise Einfluß

130 Tehnbruck, Kultureller Umbruch, u.a.

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31

31

auf die Regierenden ausüben konnten. Des Weiteren mußte das autonome, sich seiner

Kraft bewußt gewordene Denken an den bestehenden politischen Verhältnissen in der

Tat etwas auszusetzen haben und Veränderungen oder Verbesserungen als notwendig

erachtet haben. Sind diese Bedingungen nicht erfüllt, kann eine politische Wirkung

der Aufklärungsphilosophie nicht als erwiesen gelten.

Die Wirkung der Aufklärung als einer emanzipatorischen Kraft konnte - allgemein

betrachtet - auf zwei Ebenen stattfinden: einmal im Individuum, welches sich

persönlich von autoritär vorgegebenen Auffassungen und Ansichten freimachte und

zu eigenen Überzeugungen gelangte und zweitens in der praktischen Verwirklichung

von Zielen, die dem neuen, eigenständigen Denken entsprangen, insofern diese

konträr zu den existierenden bzw. üblichen Zuständen, Praktiken oder Konventionen

waren. Die zentrale Frage, die sich daraus für unser Thema stellt, ist, wie, oder auf

welchem Wege und inwiefern der Prozeß der Emanzipation des Individuums,

welcher auf der ersten Stufe einen rein mentalen Prozeß darstellt, sich im Laufe der

Zeit zu einer politisch relevanten Kraft entwickeln konnte. Zuerst einmal muß

bestimmt werden, welche soziale Gruppen und in welchem Ausmaß von dem

erwähnten Bewußtseinswandel betroffen waren. Erst nach einer derartigen

Bestandsaufnahme kann zu den zentralen Punkten der Untersuchung fortgeschritten

werden: der Frage wie es zum Aufgreifen politischer Themen durch die Aufklärer

kam, mit welchen Denkmitteln (Konzepten, Theorien) diese angepackt wurden und

wie eine etwaige praktische Wirksamkeit des theoretischen Reflexionsprozeßes

erreicht werden konnte bzw. erreicht wurde. Eine wichtige Nebenfrage in diesem

Zusammenhang wäre, ob die Aufklärer, oder Gruppen von Aufklärern miteinander in

Kontakt standen, über politisch relevante Themen kommunizierten, und ob es dabei

zu ideellen Übereinstimmungen bzw. gar gemeinsamen Willensäußerungen kam.

Theoretisch könnte aufgeklärtes Denken und Handeln politisch wirksam werden,

wenn einzelne Individuen ihre persönlichen politischen Ziele alleine verfolgen, ohne

sich dabei einem kollektiven Willen anzupassen oder zu unterwerfen. Wir werden

aber später sehen, daß die Kommunikation der Aufklärer untereinander eine äußerst

wichtige Rolle bei der Entstehung eines politischen Bewußtseins in der Spätzeit der

Aufklärung spielte. Das Ziel der folgenden Ausführungen ist es also, zu erfassen, wie

der Prozeß einer inneren Emanzipation einzelner Individuen, der im Wesentlichen

131 Wundt, Schulphilosophie, S.29.

Page 32: Aufklärungsphilosophie und Politik in Preussen

32

32

von der Aufforderung zum Selbstdenken ausgelöst wurde, einen Einfluß auf

politische Verhältnisse und Zustände gewinnen konnte.

Wir gehen zuerst zur Bestimmung desjenigen Kreises über, welches wir als Aufklärer

oder als aufgeklärt bezeichnen können. Im Anschluß an Möller wollen wir dabei die

folgende Unterscheidung treffen: einmal zwischen den aktiven Aufklärern, welche

durch die Veröffentlichung aller Arten von Schriften für die Verbreitung und

Propagierung der aufklärerischen Ideen und Ideale sorgen wollten, und zum zweiten

dem aufgeklärten Publikum, welches in erster Linie von den Konsumenten der

aufklärerischen Schriften, also den „Rezipienten aufgeklärten Gedankenguts“,

gebildet wurde.132 Um den Kreis der aktiven Aufklärer bestimmen zu können,

wertete Möller die Liste der Autoren aus, die für das führende preußische

Aufklärungs-Organ - die Berlinische Monatsschrift - geschrieben hatten. Von den ca.

300 Autoren waren 27% Professoren oder Lehrer, 20% waren höhere oder höchste

Staatsbeamte, 17% Pfarrer oder Prediger, 15% Adlige. Die restlichen 20% teilten

sich die freien Schriftsteller (10 - 15 Personen) und Kaufleute (7Personen) mit

anderen Splittergruppen. Auffallend ist der hohe Anteil der Staatsbediensteten, der

die beiden Gruppen der Professoren und Lehrer und der hohen Staatsbeamten umfaßt

und damit nahezu die Hälfte aller Autoren der Berlinischen Monatsschrift ausmacht.

Das wirtschaftliche Bürgertum ist unter den Autoren kaum vertreten, sieht man

einmal von den sieben Kaufleuten ab. Die oft vertretene These, daß die Aufklärung

eine Philosophie des aufstrebenden wirtschaftlichen Bürgertums gewesen war, 133

läßt sich mit dieser Studie also keineswegs unterstützen. Vielmehr legt sie den

Schluß nahe, die Bildung sei das gemeinsame Merkmal der Aufklärer gewesen. Die

Ergebnisse der oben erwähnten Studie wurden laut Möller durch eine Analyse der

Mitarbeiter der Allgemeinen Deutschen Bibliothek - der wichtigsten preußischen

Rezensionszeitschrift - bestätigt, die zu einem ähnlichen Ergebnis bezüglich des

beruflichen bzw. sozialen Profils der Aufklärer gekommen war.134 Einen größeren

Kreis als der Kern der aktiven Aufklärer stellte das aufgeklärte Publikum dar. Zu

ihnen gehörten die Konsumenten der aufklärerischen Schriften. Sie rekrutierten sich

in etwa aus denselben sozialen Schichten wie die aktiven Aufklärer, waren aber

zahlreicher als diese. Trotzdem handelte es sich bei ihnen nur um einen kleinen Teil

132 H. Möller, Wie aufgeklärt war Preußen? S. 179-184.133 Randall, S.564f.134 Möller, Wie aufgeklärt war Preußen? S.181.

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33

der gesamten Bevölkerung.135 Laut Möller waren es Angehörige der ‘kulturellen

Oberschicht’ aus den Reihen der Bürgerlichen, der Theologen und des Adels.136

Damit wird wieder die Funktion des Faktors ‘Bildung’ für den Aufklärungsprozeß

sichtbar.137

2.3 Die politischen Konzepte und Theorien der Aufklärung

Widmen wir uns nun der politischen Dimension des aufklärerischen Diskurses und

den Konzepten und Theorien, derer sich die Aufklärer bedienten, um politische bzw.

rechtliche Probleme und Sachverhalte kognitiv zu erfassen und einzuschätzen bzw.

zu beurteilen. Eine Tendenz zu politischen Themen war der Aufklärung von Anfang

an immanent. Dies wird schon aus der Tatsache ersichtlich, daß das Naturrecht eine

ihrer Wurzeln war.138 Das Naturrecht war auch der bei weitem wichtigste

Denkrahmen für die Erörterung politischer Themen im 18. Jh.139 Es ist ein

allgemeines Kennzeichen des Naturrechts, daß in ihm die Beziehung zwischen Staat

und Individuum problematisiert wird. Es wird darin versucht, aus dem Wesen des

Menschen die Notwendigkeit der Errichtung staatlicher Gemeinwesen und deren

Form abzuleiten.140 Je nach dem, was man für das Wichtigste am Wesen des

Menschen hält, wird man allerdings zu verschiedenen Ergebnissen oder

Schlußfolgerungen in Bezug auf die optimale oder einzig richtige Staats - und

Rechtsordnung gelangen.141 Das ältere deutsche Naturrecht, das etwa bis in die

siebziger Jahre des 18. Jh. im politischen Diskurs in Deutschland vorherrschte, ging

in seinen Grundzügen auf Pufendorf zurück.142 Nach Pufendorfs Auffassung gehört

der Mensch zwei verschiedenen Seinsbereichen an: der Welt der physischen (‘entia

physica’) und der Welt der moralischen Dinge (‘entia moralia’). Als Teil der

physischen Welt wird der Mensch von Trieben und Leidenschaften beherrscht und

135 Ebd., S. 182f.136 Ebd..137 Zur Rolle der Bildung im Prozeß der Aufklärung siehe auch Schneiders, Aufklärungsphilosophien; ferner Bödeker, Prozesse und Strukturen politischer Bewußtseinsbildung der deutschen Aufklärung, S.10.138 Wundt, deutsche Schulphilosophie, S. 21-26.139 Kersting, Kontraktualismus; Klippel, Naturrecht als politische Theorie.140 Kersting, Kontraktualismus, S.91.141 Kondylis, S.149.142 Kersting, Kontraktualismus, S.91.

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34

geleitet. In dieser Eigenschaft sei er böser als die Tiere.143 Andererseits kann er aber

aufgrund seiner Vernunft die Triebe und Leidenschaften kontrollieren und moralisch

handeln. Moralische Taten erkennt man an ihrer Übereinstimmung mit den Gesetzen

des Naturrechts. Die Gesetze des Naturrechts wiederum kann man aus der Erkenntnis

der menschlichen Natur gewinnen. Allerdings nicht in dem Sinne, daß diese in der

menschlichen Natur auf irgendeine Weise enthalten wären, sondern umgekehrt, daß

sie die Defizite der menschlichen Natur ausgleichen, den Trieben des Menschen

entgegenwirken sollen. Dementsprechend ist die Geselligkeit des Menschen bei

Pufendorf kein ‘Sein’, keine Naturanlage, sondern ein Imperativ, also ein ‘Sollen’.

Ein Leben im friedlichen Einvernehmen mit seinen Mitmenschen entspringt weniger

dem Wesen des Menschen, als vielmehr der entsprechenden Einsicht der Vernunft,

und ist ein Verhaltensgebot. Die Vernünftigkeit des Menschen soll ihm demnach

helfen, seine Triebhaftigkeit zu überwinden. Allerdings entkräftet Pufendorf selbst

diese Argumentationsweise und begibt sich auf theologisch - irrationales Terrain,

wenn er sagt, die natürlichen Gesetze wären von Gott befohlen worden und er könne

deren Einhaltung notfalls mit physischer Gewalt - Einfluß auf die Gesundheit, die

Gemütsruhe etc. - erzwingen.144 Eine parallele Funktion in Bezug auf das positive

Recht erfüllt der Staat. Er soll die Wirksamkeit des positiven Rechts in der

Bevölkerung gewährleisten, notfalls unter Strafandrohung erzwingen. Das Naturrecht

behält aber insofern seine Wirksamkeit, als daß es erst den Staat autorisiert, Gesetze

zu erlassen und allen positiven Gesetzen, die ihm widersprechen, jegliche

verpflichtende Kraft nimmt.145

Eine ähnliche Konstruktion des Naturrechts wie bei Pufendorf finden wir bei

Thomasius. Eine explizite Unterscheidung zwischen entia physica und entia moralia

taucht bei ihm allerdings nicht wieder auf.146 Thomasius erklärt zuerst die

‘socialitas’, später das Selbsterhaltungs - und Glücksstreben zu den Konstanten der

menschlichen Natur.147 Das Ziel, möglichst lange und glücklich zu leben, kann nur

dann verwirklicht werden, wenn die ‘leges naturales’ eingehalten werden. Diese sind

‘honestum’ (das Ehrenhafte) und ‘decorum’ (das Schickliche). Das erstere leitet die

inneren, das letztere die äußeren Handlungen, „mit denen wir das Wohlwollen der

143 Pufendorf, De iure naturae et gentium, Auszüge in: Ciafardone, Die Philosophie der deutschen Aufklärung, Stuttgart, 1990, aus dem lateinischen übersetzt von Rainer Specht, S.279. 144 A. Hügli, Naturrecht, in: Historisches Lexikon der Philosophie, Sp. 590.145 Ebd., Sp. 591.146 Ebd..

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35

Mitmenschen erwerben“.148 Das Rechte (‘iustum’) dagegen „beruht auf einer

äußeren, in der Furcht vor der Zwangsgewalt anderer Menschen begründeten

Pflicht“.149 Die Einteilung des Rechts in Naturrecht (‘honestum’ und ‘decorum’) und

positives Recht (‘iustum’) bezieht sich allerdings nicht auf den Inhalt der beiden

Rechtsbereiche, sondern auf das Prinzip ihrer Wirkung. Während das erstere

freiwillig, aus Einsicht in dessen Gültigkeit oder Notwendigkeit, eingehalten wird,

wirken die Gesetze des letzteren nur unter Androhung von physischer Gewalt oder

anderer Strafmaßnahmen.150 Die Naturgesetze werden von Thomasius auch als

‘consilia’ (Ratschläge), die positiven Gesetze, die auf Zwangsgewalt beruhen, als

‘imperia’ bezeichnet. Würden alle Menschen freiwillig die ‘consilia’ bzw. die

Gesetze des Naturrechts einhalten, wäre eine positive Rechtsetzung nicht notwendig.

Diese ist aber zur Erhaltung und Wiederherstellung des Friedens in einem

Gemeinwesen nötig, da einige „Toren nur durch die zwangsandrohenden positiven

Gesetze zu lenken sind“.151

Im Zentrum des Naturrechts bei Wolff steht das Konzept der Volkommenheit. Dieser

Zustand wird dann erreicht, wenn alle Taten einer Person miteinander im Einklang

stehen. „Weil zur Vollkommenheit gehört, daß jeder frühere mit jedem späteren

Zustand ‘zusammenstimmt’ und allein die Vernunft den Zusammenhang der Dinge

erkennt, ist die Vernunft ‘die Lehrmeisterin des Gesetzes der Natur’“152 Aufgrund

seiner Vernunft sieht der Mensch demnach ein, was einen Zustand der

Vollkommenheit für ihn ausmacht und durch seine Einsicht in den Zusammenhang

seiner inneren Zustände, kann er die Vollkommenheit bewußt und gezielt anstreben.

In Wirklichkeit würden Menschen diese Zusammenhänge oftmals nicht erkennen.

Deswegen müßten positive Gesetze eingeführt werden, damit die Unzulänglichkeiten

der Vernunft korrigiert werden. Das positive Recht müßte demnach mit dem

Naturrecht zusammenfallen. Die Staatsmacht erfüllt den Zweck, das Naturrecht als

positives, kodiertes Recht innerhalb eines Gemeinwesens durchzusetzen.153

Alle drei Denker, Pufendorf, Thomasius und Wolff vertreten die Ansicht, daß das

Recht seine Wurzeln in der vernünftigen Einsicht in die Natur des Menschen hat, aus

147 Ebd..148 Ebd..149 Ebd..150 Ebd..151 Ebd., Sp. 592.152 Ebd..153 Ebd., Sp. 593.

Page 36: Aufklärungsphilosophie und Politik in Preussen

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36

welcher die Konditionen für ein vollkommeneres Zusammenleben der Menschen

untereinander ableitbar sind - eben das natürliche Recht. Die Gesetze des Naturrechts

müssen in positives, kodiertes Recht umgewandelt werden und unter Androhung von

Strafen durchgesetzt werden, damit auch die weniger Einsichtigen sich an die

Regeln, die für ein Gemeinwesen von Natur aus gelten, halten. Um die Vorteile von

allgemein anerkannten Verhaltens - und Handlungsregeln wirksam werden zu lassen,

wird unter den Mitgliedern einer bestimmten Menschengruppe, ein Staatsvertrag

geschlossen. Dieser wird in einen Gesellschaftsvertrag und einen Herrschafts - bzw.

Unterwerfungsvertrag eingeteilt.154 Kraft des ersten Teilvertrages wird eine

Kooperation unter den sich zu einem Staat zusammenschließenden Individuen

vereinbart. Im zweiten Teil des Staatsvertrages wird die Rechtsetzungs - und

Herrschaftsgewalt auf einen Regenten oder eine Regierung übertragen. Die

Unterwerfung der Staatsbürger unter eine zentrale Staatsgewalt wird von v. Justi mit

folgenden Worten gerechtfertigt: „Allein, da das gesamte Volk schwerlich geschickt

ist, diese vereinigte Kraft selbst zu gebrauchen: so ist es nötig, daß es festsetzet, wie,

auf welche Art und von wem die gesamte Kraft des Staates ausgeübet und gebrauchet

werden soll; und hierdurch geschiehet es eben, daß die eigentlich so genannte oberste

Gewalt im Staate gegründet und hervorgebracht wird.“155 Die Mitglieder einer

Staatsgemeinschaft bzw. Staatsbürger schließen als eine rechtliche Körperschaft

einen Vertrag mit einem Herrscher.156 Sie stellen damit eine der zwei

Vertragsparteien, sind aber gegenüber der Staatsgewalt de facto untergeordnet, da sie

sich, der allgemeinen Ordnung willen, der Staatsgewalt unterwerfen müssen. Auf die

Mittel, die der Staat wählt, um den Staatszweck zu erfüllen, haben die Bürger keinen

Einfluß.157 Auf diese Weise wird das ältere deutsche Naturrecht zu einer Theorie des

herrschaftlichen Absolutismus.

2.4 Entstehung und Entwicklung eines politischen Bewußtseins

Innerhalb des älteren deutschen Naturrechts wird ein Anspruch auf eine Teilnahme

der Bürger an politischen Entscheidungen oder Gesetzgebung noch nicht erhoben.

154 Kersting, Kontraktualismus, S. 96f.155 Abdr. in Ebd., S.93.156 Ebd., S.98.

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37

Die Untertanen haben sich dem Willen des Regenten - der allgemeinen Ordnung

willen - zu unterwerfen. Die damals übliche Reflexion über Politik bzw.

staatsrechtliche Fragen hatte insofern eine Legitimierung der absolutistischen

Staatsform zum Ziel.158 Eine kritisch - konstruktive Denkhaltung scheint also die

Reflexion über Politik noch nicht erreicht zu haben. Die theoretische Reflexion

konzentriert sich zwar auf eine rationale Rechtfertigung eines vorhandenen

Zustandes, nicht aber auf die Möglichkeiten seiner Veränderung. Es wäre

verwunderlich, wenn eine auf die Kritik bestehender Zustände und Autoritäten

abzielende Zeit, wie es die Aufklärung gewesen war, eine derartige traditionell -

konservative Auffassung von einem optimalen Staat noch weiterhin tolerieren würde.

Und in der Tat war es nur eine Frage der Zeit, bis die Kritik die Fürstenherrschaft

selbst treffen sollte. Ein Wandel im Denken in Bezug auf politische Themen war, wie

bereits in Kap. 2.1 beschrieben, im allgemeinen Bewußtseinswandel, der die

Aufklärung konstituierte, mit angelegt.159 Um den neukonstruierten politischen

Anspruch, der ein Ausfluß der neuen Weltanschauung und des neuen

Selbstverständnisses der Aufklärer war, theoretisch zu untermauern, bzw. als

verbindlich darzustellen, mußte die bisherige Rechtfertigungsbasis der politischen

Verhältnisse - das Naturrecht - entsprechend umgewandelt bzw. in den Dienst der

„neuen politischen Zielfunktionen“ gestellt werden.160 Klippel spricht hier von einer

‘Verrechtlichung’ der neuen politischen Ziele. Aufgrund der bis dahin prädominanten

Rolle naturrechtlicher Argumentation bei politischen Themen, wurden die neuen

politischen Forderungen der Spätaufklärung „in das Gewand naturrechtlicher Axiome

... gekleidet“161 Den Wandel des Naturrechts im Sinne der neuen politischen

Zielfunktionen bezeichnet Klippel als eine „methodische, systematische und

inhaltliche Neuorientierung“ desselben.162 An erster Stelle werden wir uns dem

inhaltlichen Wandel des Naturrechts widmen, da ausschließlich dieser in direkter

Beziehung mit den neuen politischen Zielen und Ansprüchen steht. Auf die neue

Methodik und Systematik wird weiter unten, im Zusammenhang mit der

Rechtsphilosophie Kants, kurz eingegangen. Daraus wird aber auch ersichtlich, daß

157 Ebd., S.99.158 Kersting; Klippel.159 Bödeker, Prozesse und Strukturen politischer Bewußtseinsbildung. Eine genauere Darstellung des Sachverhalts schließt sich weiter unten an.160 Klippel, Naturrecht als politische Theorie, in: Politisierung der Aufklärung, S.268. 161 Ebd..162 Ebd., S.273.

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38

Kant nicht als der Urheber neuer inhaltlicher Positionen angesehen werden kann,

sondern lediglich als einer, der die neuen Inhalte methodisch und systematisch auf

einen neuen Boden stellt.163 Wesentlich für die neuen politischen Ansprüche, die

plötzlich aus dem Wesen des Menschen, bzw. aus dem Naturrecht, ableitbar sein

sollen, ist das Konzept angeborener, unveräußerlicher Menschenrechte.164 Klippel

ordnet die Menschenrechtsposition der Spätaufklärung als „festen Bestandteil

liberaler politischer Theorie“ ein.165 Damit wird auf eine weit in die Zukunft

reichende Entwicklung hingewiesen und die Kontinuität im politischen Denken

zwischen Naturrecht und Liberalismus sichtbar. Die theoretische Wende wird in der

Spätaufklärung in Form des ‘jüngeren deutschen Naturrechts’ vollzogen.166 Das

umgewandelte, jüngere Naturrecht legitimiert liberale Positionen als in der Natur des

Menschen begründet. Eine der ersten und wichtigsten derartiger liberaler Positionen,

welche naturrechtlich begründet werden, ist die Forderung nach Meinungs - und

Pressefreiheit. E.F. Klein beschrieb bereits 1784 in einem Artikel der Berlinischen

Monatsschrift die Meinungs - und Pressefreiheit als ein Recht, auf das die Menschen

„von Geburt an unveräußerliche Ansprüche“ haben.167 J. Kern wird in seinen

Ausführungen noch etwas präziser und fordert in seiner 1786 veröffentlichten Schrift

Briefe über die Denk -, Glaubens -,Red - und Preßfreiheit, die im Titel genannten

Freiheiten als Menschenrechte, welche „auf die Uranlagen der Menschen - Natur“

zurückgeführt werden können.168 Daraus wird die naturrechtliche Position Kerns

ersichtlich. Abgeleitet wird diese Position zum einen aus der angeborenen Freiheit

des Denkens, welches sich allen Kontrollmöglichkeiten entziehe, und zum anderen

aus dem natürlichen Trieb des Menschen, mit seinen Mitmenschen zu

kommunizieren.169

Der ‘Katalog der politischen Rechte’ beschränkte sich keineswegs nur auf die Rede -

und Pressefreiheit, doch ging die Einforderung dieses Rechts, anderen naturrechtlich

abgeleiteten Ansprüchen teilweise zeitlich voraus und war für den

163 Ebd..164 Kersting, Kontraktualismus, S.101.165 Klippel, S.273.166 Der Ausdruck wird von Klippel und Kersting verwendet; Birtsch, Naturrecht und Menschenrechte, verwendet dagegen die Bezeichnung ‘aufgeklärtes Naturrecht’ für in etwa dieselbe theoretische Position.167 Wilke, Die Entdeckung von Meinungs - und Pressefreiheit als Menschenrechte im Deutschland des späten 18. Jh., S.125.168 Ebd., S.127.169 Ebd., S.126-29.

Page 39: Aufklärungsphilosophie und Politik in Preussen

39

39

Aufklärungsprozeß und dessen regionale und soziale Ausbreitung von großer

Wichtigkeit.170

2.5 Die Rechts - und Staatsphilosophie Kants

Eine theoretische Neubegründung in methodischer und systematischer Hinsicht

erhielt das mit den neuen Inhalten versehene Naturrecht erst bei Kant.171 Kant

integrierte die gesamte Rechts - und Staatslehre in seine ‘Metaphysik der Sitten’ als

einem System der reinen apriorischen Prinzipien der ‘Praktischen Vernunft’.172 Die

‘Metaphysik’ wird auch als ‘Allgemeine Pflichtenlehre’ bezeichnet und in Ethik

(Tugendlehre) und Rechtslehre eingeteilt. Der wesentliche Unterschied zwischen

Ethik und Rechtslehre besteht in der Weise, wie die zu diesem oder jenem

Teilsystem der ‘Allgemeinen Pflichtenlehre’ gehörenden Gesetze, den Menschen zu

deren Einhaltung zwingen. Anders ausgedrückt, die Triebfeder, die den Menschen

zur Einhaltung der Pflicht zwingt, klassifiziert die eingehaltenen Gesetze als ethisch

bzw. als juridisch. War die Triebfeder einer Handlung die Einsicht in ihre

Pflichtgemäßheit, war das Gesetz, welches der Handlung zugrundelag, ethisch. War

die Triebfeder eine andere als die ‘Idee der Pflicht’, war das der Handlung

zugrundeliegende Gesetz juridisch. Das wichtigste Kennzeichen sowohl der Tugend -

wie der Rechtslehre ist die Willensfreiheit. Ohne die Willensfreiheit ist weder

moralisches noch rechtskonformes Handeln möglich, weil sich ohne sie kein Mensch

zu einer Handlung selbst bestimmen könnte. Das wichtigste Prinzip, welches beiden

Teilen der ‘allgemeinen Pflichtenlehre’ zugrundeliegt, ist das ‘moralische Gesetz’,

der ‘kategorische Imperativ’, nur nach solchen Maximen zu handeln, von denen wir

wünschten, daß sie auch allgemeine Gesetze wären, bzw. die durch unser Handeln zu

allgemeinen Gesetzen würden. Im Bereich des Rechts erfolgt die Anwendung dieses

Prinzips durch „ein dem Anwendungsverfahren des kategorischen Imperativs

...entsprechendes Gedankenexperiment“, welches für den Gesetzgeber gilt, nämlich

170 Möller, S.186-89, stellt die Bedeutung der Kommunikation im Allgemeinen und der öffentlichen Diskussion im Besonderen für eine Politisierung der Aufklärung klar heraus.171 Kersting, S.104.

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40

nur solche Gesetze zu erlassen, denen jeder Bürger zustimmen könnte.173 Es ist ein

„jeden empirischen Gesetzgeber unbedingt verpflichtendes Handlungsprinzip“.174

Auf diese Weise ist ein wegweisendes Prinzip für den Gesetzgeber vorgezeichnet.

Mit einer entsprechenden Vorgehensweise des Gesetzgebers wird automatisch die

politische Freiheit der Untertanen garantiert. Diese wird nämlich von Kant als die

Freiheit definiert, nur solchen Gesetzen gehorchen zu müssen, von denen ich selbst

wollen könnte, daß sie allgemeine Gesetze wären. An dieser Stelle wird deutlich, daß

der allgemeine Vernunftcharakter der Gesetze, der ethischen wie der iuridischen,

schlichtweg die Richtlinie ist, an der die Menschen, Privatpersonen wie Gesetzgeber,

ihr Handeln orientieren sollen. Die Art und Weise, wie positive, staatliche Gesetze

zustandekommen ist zweitrangig, wenn nur die staatsbürgerliche Freiheit der Bürger

nicht angetastet wird. Als teleologisches Endziel der historischen Entwicklung denkt

sich Kant dennoch eine nach demokratischen Prinzipien konstituierte Republik.

Diese soll aber keineswegs auf dem Weg eines revolutionären Umsturzes errichtet

werden, sondern auf dem Weg der Reformen, ausgehend von dem existierenden

politischen System. Diese Ansicht Kants ist in seiner Theorie des Kontraktualismus

eingebettet. Nach dieser ist der Staatsvertrag, der im älteren Naturrecht als ein

empirische Ereignis konstruiert wurde, nichts anderes als ein Diktat der ‘Praktischen

Vernunft’. Es handele sich um eine der wichtigsten Pflichten eines jeden Menschen,

sich einer staatlichen Ordnung zu unterwerfen. Der Aspekt der Freiwilligkeit, der im

älteren Naturrecht in der Idee des Staatsvertrages mitwirkte, verschwindet bei Kant.

Die Menschen leben im Staat, weil eine andere Form des Zusammenlebens nicht sein

kann. Deswegen ist der vorhandene politische Zustand auf jeden Fall zu respektieren

und die Weterentwicklung des politischen Systems, hin zur Verwirklichung einer

tatsächlichen politischen Freiheit, d.h. eines „repräsentativen Systems der

Demokratie“175, ist nur auf dem Weg allmählicher Reformen zu erreichen.

Entscheidend in Kants Konzept der Entwicklung politischer Systeme ist sein

teleologisches Konzept der menschlichen Natur.176 Demnach entwickelt sich der

Mensch als Gattung von einem eher tierischen Stand des Bewußtseins, welches von

Trieben, Neigungen und Leidenschaften beherrscht wird, zu einem Bewußtsein der

172 Kant, Werke, Bd.4, S.321.173 Kersting, S. 16f.174 Ebd..175 Langer, Kant, S.95.176 Krieger, Kant and the Crisis of Natural Law, S.202.

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41

Willensfreiheit, in welchem die Einsicht in die Pflicht, nach dem ‘Sittengesetz’ zu

handeln, die Aktivitäten des Menschen bestimmt. Diese angenommene ‘Bestimmung

des Menschen zur Freiheit’ ist für Kant der Rechtfertigungsgrund für die Forderung

nach politischer oder staatsbürgerlicher Freihelt. In dem Maße wie die Menschen

lernen, gemäß des ‘Sittengesetzes’ zu handeln, können sie auch politische

Verantwortung tragen. Man kann auch sagen, daß aus dieser natürlichen Anlage bzw.

Bestimmung des Menschen zur Freiheit, die wir lediglich auf die Weise des

moralischen Imperativs bestimmen können, Kant seine ganze politisch-rechtliche

Philosophie ableitet.177

2.5.1 Die Wirkung der Kant’schen Rechts - und Staatsphilosophie

Die Kant’sche Rechts - und Staatsphilosophie hat auf zweierlei Weise das politische

Denken der nachfolgenden Zeit beeinflußt. Zum einen wurde sie von einer

reformerisch gesinnten Mehrheit der Aufklärer weitgehend positiv rezipiert, zum

anderen von auf eine komplette Erneuerung der Gesellschaft drängenden Kräften

radikalisiert.178 Wollte man nicht auf das Wohlwollen der Regierung warten, nur

Gesetze zu erlassen, denen jeder Bürger zustimmen würde, bzw. hielt man diese

Einstellung für irrealistisch, „wurde der Kantianismus jakobinisch“.179 Aus der

ersten, reformerisch gesinnten Position heraus, entstand eine politische

Erneuerungsbewegung innerhalb der preußischen Staatsbürokratie, welche wir

allgemein als die ‘Preußischen Reformen’ betiteln. Diese Erneuerungsbewegung

wurde von der obersten Schicht der preußischen Beamten getragen, die wir in Kapitel

2.2 bereits als eine der wichtigsten Schichten der aktiven Aufklärer identifiziert

haben. Die Einheit von Aufklärung und Reform wird damit offensichtlich. Es ist

zwar für unsere Argumentationsstruktur nicht zwingend notwendig, eine

Orientierung der Reformpolitiker an den Prinzipien der Kant’schen Rechts - und

Staatsphilosophie nachzuweisen, doch könnte der Nachweis eines derartigen

Zusammenhangs, wie ihn Langer in ihrer ausführlichen Abhandlung zu dieser Frage

durchzuführen versucht hatte, die Einheit zwischen Aufklärung und Reform genauer

177 Ebd., S.204.178 Kersting, Kontraktualismus, S.105.179 Ebd., S.106.

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beleuchten, sowie die kommunikativen Wege des aufklärerischen Diskurses und

dessen Wirkung als eine politische Kraft, offenlegen.

3. Politische Wirkungen des ‘aufgeklärten’ politischen Bewußtseins

3.1 Die Preußischen Reformen

Der entscheidende Auslöser für den Entschluß der reformerisch gesinnten

preußischen Politiker, den Preußischen Staat einer radikalen Reformkur zu

unterziehen, war die militärische und außenpolitische Katastrophe Preußens in den

Kämpfen mit Frankreich im Jahr 1806. Im Tilsiter Frieden wurde die Abtretung von

in etwa der Hälfte der preußischen Territorien, sowie die Zahlung gewaltiger

Kontributionen an Frankreich, vereinbart. Mit den bis dahin üblichen Mitteln der

Politik und bei der gegebenen Wirtschaftskraft des Königreiches, schien diese

Aufgabe kaum erfüllbar.180 Als erstes forderten die Reformpolitiker die Aufgabe der

bisherigen Kabinettspolitik des Königs und die Übertragung von weitgehenden

Entscheidungskompetenzen in einzelnen politischen Fragen an die zuständigen

Minister. Dadurch sollte die Realisierbarkeit von Reformen erst einmal ermöglicht

werden. Das Ziel, welches in erster Linie anzustreben war, war eine radikale

Erhöhung der Steuereinnahmen, damit die Kontributionen abgezahlt und das Heer

neu aufgebaut werden konnte.181 Dazu standen prinzipiell zwei Wege offen: zum

einen konnte die relative Steuerbelastung der Bevölkerung erhöht, zum anderen die

Ertragskraft der Wirtschaft gesteigert werden, damit die Steuereinnahmen wenigstens

proportional zu dieser steigen.182 Wollte man den ersten Weg gehen, war es wichtig,

die Bevölkerung von der Notwendigkeit dieser unpopulären Maßnahmen zu

überzeugen, bzw. durch eine engere emotionale Bindung der Bevölkerung an den

Staat, deren Bereitschaft, die durch die Kriege und den Wiederaufbau entstandenen

180 Thielen, S.210.181 Ebd..182 Winter, Reorganisation des Preußischen Staates, Nr. 261.

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zusätzlichen Lasten zu tragen, zu fördern. Die zweite Möglichkeit, die

Steuereinnahmen zu erhöhen, ohne die Steuern relativ zum Einkommen anzuheben,

war die Steigerung der Wirtschaftskraft bzw. des Pro - Kopf - Einkommens. Diese

konnte nur auf dem Weg wirtschaftlicher Reformen erzielt werden. Eine Reform der

Wirtschaft war aus den Prinzipien des Naturrechts oder der Kant’schen

Staatsphilosophie nicht abzuleiten, die Reformer mußten sich folglich nach einem

entsprechenden theoretischen Instrumentarium im Ausland umsehen. Die sich dazu

am ehesten anbietende Theorie, war die des A. Smith - in England als ‘Political

Economy’, in Deutschland heute als ‘klassische Wirtschaftstheorie’ bekannt -, die

auch Hardenberg und Stein bestens bekannt war.183 Dieser Wirtschaftstheorie

zufolge, läßt sich der maximale wirtschaftliche Wohlstand nur auf dem Wege einer

optimalen Handlungsfreiheit der Wirtschaftsteilnehmer erreichen.184 Wird der

Mensch in seinem wirtschaftlichen Verhalten, also in der Art des Einsatzes seiner

Arbeitskraft und bezüglich seines Konsumverhaltens rechtlich nicht bevormundet

oder eingeschränkt, oder, anders ausgedrückt, darf jeder produzieren, anbieten und

nachfragen wozu er Lust hat, bzw. wovon er meint, daß es ihm das maximale

Einkommen oder den maximalen Nutzen bringen wird; und wird ferner die

Preisbildung weitgehend dem Markt überlassen, gelangt auch die ganze Nation zu

einem maximal möglichen Volkseinkommen oder wirtschaftlichen Wohlstand.185

Liest man die Rigaer Denkschriften von Hardenberg und Altenstein186, wird man sich

des Eindrucks nicht erwehren, daß eben diese Theorie für deren Pläne einer

staatlichen, wirtschaftlichen und sozialen Reform in Preußen pate stand.187 Wenn

auch die Smith’sche Wirtschaftstheorie nicht auf preußischem oder deutschem Boden

entstand, und auch auf den ersten Blick nichts mit der Naturrechtstradition oder

anderen, auf preußischem Boden bekannten, politischen Theorien, gemein hatte, so

bringt sie doch die Eklektik des Aufklärungsdenkens deutlich zu Tage, die Wahrheit

daher zu nehmen, wo man sie findet.188 Statt einer Orientierung an einem einzigen,

dogmatischen Lehrgebäude, bedient sich der aufgeklärte, unvoreingenommene

Denker desjenigen theoretischen Instrumentariums, welches ihn, in Bezug auf ein

Ziel oder einen Zweck, am ehesten überzeugt. Ohne einen tiefen Bewußtseinswandel,

183 Treue, Adam Smith in Deutschland, S.106ff.184 A. Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of the Nations, London, 1776. 185 Ebd..186 Winter, Reorganisation, Nr. 261 u. 262.187 Vgl. Treue, S.108.

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einen Abschied vom dogmatischen Denken früherer Epochen, wäre eine derartige

Denkweise der preußischen Beamten wohl kaum erklärbar.189 Die preußischen

Reformen, sofern sie nicht aufgrund eines konservativen Einflußes abgeschwächt

oder entstellt wurden, entsprachen durchweg einem wirtschaftsliberalen Muster.190

So paßte die Bauernbefreiung genauso in dieses Konzept wie die Gewerbereform,

das Emanzipationsedikt, die Steuerreformen und die Zollpolitik. Die

Verfassungsdiskussion, welche parallel zur allgemeinen Reformdiskussion

entbrannte, war, aus der Sicht der Reformbeamten, eng mit den anderen Reformen

zur Rettung des Staates verknüpft. Der Staatskanzler hatte darin ein Instrument

gesehen, die Maßnahmen der Regierung in der Bevölkerung populärer zu machen

bzw. die Bevölkerung stärker an den Staat zu binden. Auf der Seite der Bevölkerung

- zumindest bei einigen liberal Denkenden - war die Einstellung zur Frage einer

Repräsentation des Volkes auf politischer Ebene, sicherlich eine andere. Hier erhoffte

man in der Tat eine politische Mitbestimmung der Abgeordneten einer

Nationalrepräsentation - etwa in Fragen der Gesetzgebung oder Steuerbewilligung.

Dennoch wandelte sich die Einstellung des Kanzlers zur Frage einer

Volksrepräsentation mit der Zeit etwas, und er forderte vom König die Einlösung von

dessen Verfassungsversprechen, um dem Geist der Zeit entgegenzukommen und

etwaigen revolutionären Tendenzen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Doch die

Reaktion am Hof wurde zunehmend stärker. Erschreckt durch die Gerüchte über

revolutionäre Umtriebe in seinem Staat, wollte der König von einer Beteiligung des

Volkes an der politischen Macht nichts mehr wissen.191 Verstärkt wurden seine

Ängste noch durch den österreichischen Staatskanzler Metternich, der die Gefahr

revolutionärer Umtriebe, dem König gegenüber immer wieder betonte und zu einer

reaktionären Poltik drängte.192 Zum Teil wurden repressive Maßnahmen im Rahmen

des Deutschen Bundes beschlossen, so die ‘Karlsbader Beschlüsse’ von 1819. Der

Kanzler wurde nach und nach entmachtet und der Staatsapparat zunehmend mit

konservativen Politikern besetzt. Lediglich einige der Reformbeamten, die flexibel

genug waren, sich den neuen Zuständen anzupassen - wie der ehemalige erste

Minister Altenstein und der ostpreußische Oberpräsident v. Schön - konnten sich

188 Wundt, S.23, über Thomasius’ Einstellung zum Philosophieren; Vgl. ferner Hinske S.419.189 Treue, S. 107, weist auf den offenen, aufgeklärten Geist an der Göttinger Universität, wo Stein und Hardenberg studiert haben, hin. 190 Vogel, Allgemeine Gewerbefreiheit, S.166.191 Haake 29, S.349ff.

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noch länger in relativ verantwortungsvollen Positionen Halten. Die Zeit der

Reformen war dennoch fürs erste endgültig vorbei.

3.2 Die weiteren politischen Entwicklungen im Vormärz und während der

1848er Revolution

Trotz der nach 1815 erwachten Reaktion und der vom Deutschen Bund und vom

König erlassenen repressiven Maßnahmen zur Unterdrückung liberaler und

demokratischer politischer Kräfte, konnte das in der Spätaufklärung erwachte

politische Bewußtsein nicht ausgelöscht werden. Zwar wurden alle revolutionären

Umtriebe mit polizeilichen Maßnahmen erfolgreich unterdrückt, doch war der

Wunsch nach politischer Mitsprache bei einem Teil der Bevölkerung und vor allem

die Menschenrechtsposition des aufgeklärten Naturrechts, lediglich in eine latente

Phase zurückgesunken, ohne wirklich erloschen zu sein. Die in den vierziger Jahren

zunehmenden sozialen Proteste und Revolten, vor allem der unterbürgerlichen

Schichten, zeigten, daß die Unzufriedenheit mit dem existierenden politischen

System und der Wunsch nach Reformen - v.a. nach einer Beteiligung der

Staatsbürger an politischen Entscheidungsprozessen und der Gesetzgebung - mit rein

repressiven Maßnahmen auf Dauer nicht zu unterdrücken waren. Die theoretischen

Positionen begannen sich in den vierziger Jahren deutlicher herauszukristallisieren,

waren aber nicht grundsätzlich anders als in der Spätaufklärung. Schon damals

standen bekanntlich Reformer und Revolutionäre nebeneinander, und während die

einen eine allmähliche Umgestaltung des Absolutismus in Richtung auf mehr

politische Rechte des Einzelnen anstrebten, wollten die anderen eine weitgehende

Entmachtung des Königs und die Schaffung einer demokratischen Republik.193 Die

einzige theoretische Neuentwicklung, die die radikalen Demokraten des Vormärz von

den Jakobinern der späten Aufklärung schied, war die Forderung nach staatlichen

Sozialmaßnahmen zur Unterstützung der unteren Bevölkerungsschichten. Zu dieser

192 Ebd..

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neuen Position kam es vor allem deshalb, weil die Industrielle Revolution inzwischen

die sozialen Verhältnisse grundlegend umgestaltet hatte. Die im Zuge der

Bauernbefreiung verarmten oder landlos gewordenen Bauern strömten massenhaft in

die Städte, wo sie auf ein Arbeitsplatz in der entstehenden Industrie spekulierten.

Doch war die noch junge Industrie zu schwach, um alle Arbeitswilligen

aufzunehmen, oder zumindest nicht zu solchen Löhnen, die allen Beschäftigten einen

einigermaßen akzeptablen Lebensstandard ermöglicht hätten. Die Intellektuellen

Führer der radikalen Demokratie machten sich diese Lage der unterbürgerlichen

Schichten zunutze und nahmen die Anliegen der Arbeiter in ihre politischen

Programme auf. Auf diese Weise konnten sie ihren Forderungen ein größeres

Gewicht verleihen. Vor allem die Wirtschaftskrise des Jahres 1846 war für die

politischen Bewegungen ein neuer Antrieb, da man im Allgemeinen die Politik für

die wirtschaftliche und soziale Misere verantwortlich machte und sich von einem

neuen politischen System, die Lösung aller Probleme erhoffte. Es entstanden überall

in Preußen und in ganz Deutschland politische Vereine, die in zahlreichen

Kundgebungen und Debatten, zumindest theoretisch über die bestehende Lage und

das in Zukunft Machbare bzw. zu machende, sinnierten. Der Ausbruch und Sieg der

Februarrevolution in Frankreich brachte auch in Preußen und in anderen deutschen

Staaten das Faß zum Überlaufen. Die Flut von Petitionen an den König oder die

Regierung wollte nicht mehr abbrechen, hier und da kam es zu

Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizei oder Militär. In den

kleineren deutschen Staaten lenkten die Monarchen ohne großen Widerstand ein und

beriefen Politiker der Opposition in die Regierung. Auch der preußische König sah

sich zumindest zu einem teilweisen Einlenken genötigt, und verkündete die

Einberufung eines Vereinigten Landtages für den 2. April. Darüberhinaus bekannte er

sich nun zum Verfassungsgedanken. Die angespannte Lage entlud sich jedoch in

handfesten Straßenkämpfen , als das Militär in Berlin in eine Menge von

Demonstranten schoß. Der König war von den Ereignissen vollkommen überwältigt

und machte weitgehende Versprechungen an die revolutionäre Partei. Immerhin

berief auch er jetzt oppositionelle Politiker in die Regierung und ernannte den

Rheinländer Camphausen zum Ministerpräsidenten. Die neue Regierung

verabschiedete ein neues Wahlrechtsgesetz, welches die Modalitäten für die

193 Schlumbohm, Freiheit, S.149ff.

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konstituierende Nationalversammlung enthielt. Es wurde nach allgemeinem und

gleichen, aber indirektem Stimmrecht gewählt. Die konstituierende

Nationalversammlung trat am 22. Mai zum ersten Mal zusammen. Die ehemaligen

Oppositionellen hatten gegenüber den Königstreuen eine überwältigende Mehrheit

der Mandate. Allerdings zerfielen sie jetzt in fünf Fraktionen. Zwei davon bildeten,

mit insgesamt 169 Mitgliedern, die Demokraten. Sie bekannten sich zum Prinzip der

Volkssouveränität und forderten einen klaren Bruch mit dem monarchischen

System.194 Die anderen drei Fraktionen waren Liberale, die bereit waren an das

bestehende politische System anzuknüpfen und eine beidseitige ‘Vereinbarung’

zwischen König und Nationalversammlung über die zu schaffende Konstitution

wünschten.195 Die Liberalen stellten - abgesehen von den wenigen Konservativen -

den Rest von der insgesamt 402 Versammelten. Doch während die

Verfassungsberatungen ziemlich zäh vorankamen, erkannte der König und die

Konserativen, daß das Spiel für sie noch nicht verloren war.196 Eine Reihe von

Umständen spielte den Konservativen zudem in die Hände. Eine Auseinandersetzung

über den Einsatz der Armee als Schutz für die Volksversammlung - die von der

Regierung befürwortet und von der Versammlung in der Mehrheit abgelehnt wurde -

führte zum Rücktritt der Regierung Camphausen. Ein anderer Vorfall - ein ziemlich

gewaltsames Vorgehen der Armee gegen Protestdemonstranten vor der Festung

Schweidnitz - veranlaßte einen Abgeordneten der Volksversammlung dazu, einen

Antrag an diese zu stellen, wonach das Offizierskorps auf die neue politische

Ordnung verpflichtet werden und sich somit von allen reaktionären Bestrebungen

fernhalten sollte. Der Antrag wurde mit knapper Mehrheit angenommen. Diese

Brüskierung der Krone und der Armee hatte den Rücktritt der zweiten liberalen

Regierung, Auerswald - Hansemann, zur Folge.197 Inzwischen organisiserte sich die

Reaktion wieder neu und holte zum Gegenschlag aus. Nach Arbeiterunruhen in

Berlin und Kämpfen zwischen ihnen und der Bürgerwehr im Oktober, verlangte der

König vom Ministerpräsidenten Gen. Pfuël, den Belagerungszustand für Berlin zu

erlassen. Als sich Pfuël weigerte der Anweisung zu folgen, wurde er kurzerhand von

seinem Posten abgesetzt. Graf Brandenburg wurde nun zum Chef eines

hochkonservativen Kabinetts ernannt. Als die Voksversammlung gegen das

194 Koser, Die Anfänge der politischen Parteibildung in Preußen bis 1849, S.389.195 Ebd., S. 390.196 Mommsen, S.253.

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eigenmächtige Vorgehen des Königs in einer so wichtigen staatlichen Angelegenheit

protestierte, wurde sie aufgelöst und vertagt. Zudem wurde der Tagungsort in die

Provinzstadt Brandenburg verlegt. Ein Teil der Abgeordneten rief daraufhin zum

Steuerboykott auf, ohne daß diese Verzweiflungstat eine Wirkung gehabt hätte.

Wenige Tage nachdem die Versammlung in Brandenburg wieder zusammentrat,

wurde sie, am 5. Dezember, von der Regierung mit einer oktroyierten Verfassung

konfrontiert. Diese beinhaltete zugleich Bestimmungen über die Art der

Versammlung, die über die Revision oder Annahme der oktroyierten Verfassung

beraten und abstimmen sollte und über die Wahlmodalitäten zu dieser

Versammlung.198 Es war eine Errichtung von zwei Kammern vorgesehen. Das

Wahlrecht zur ersten Kammer war an die Vollendung des 30. Lebensjahres und an

einen mäßigen Zensus gebunden. Das Wahlrecht zur zweiten Kammer umfaßte alle

Volljährigen. Der Verfassungsplan sah die Beibehaltung eines solchen Zwei-

Kammer-Systems vor. Die Staatsfinanzen sollten nun der Volksversammlung

unterstellt werden, die Rechtsprechung wurde zu einer autonomen, von Krone und

Regierung unabhängigen Institution erklärt und ein Katalog von Grundrechten für

alle Preußen formuliert. In der entscheidenden Abstimmung am 20. März 1849

wurde der Verfassungsentwurf mit einer knappen Mehrheit von 11 Stimmen

angenommen. Die Konstitution stellte einen Kompromiß zwischen den Forderungen

der Liberalen und der Demokraten auf der einen und den Ansprüchen und

Erwartungen des Königs und der Konservativen auf der anderen Seite dar. Dennoch

muß sie in erster Linie als ein Entgegenkommen des Königs an die Konstitutionellen

gewertet werden, da sie wohl mehr Proteste bei den Konservativen als bei den

Liberalen auslöste.199 Die Demokraten störten sich weniger an dem Inhalt der

Konstitution als an der Art und Weise wie sie zustande kam.200 Trotz des teilweisen

Erfolges der Konstitutionellen ist es zu keiner tiefgreifenden Veränderung im

politischen System gekommen. Der König behielt seine politische Vormachtstellung

und ein Vetorecht gegenüber allen Beschlüssen der Volksversammlung. Der lange

Prozeß der Entstehung eines politischen Bewußtseins in Preußen konnte auch ein

halbes Jahrhundert nach der Aufklärung der politischen Ordnung des preußischen

Staates keinen deutlichen Stempel aufprägen.

197 Ebd., S.207.198 Koser, S.394.199 Ebd.; Mommsen, S.258.

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Schlußbetrachtung

Die Aufklärung hatte ihre Wurzeln in den naturwissenschaftlichen Entdeckungen des

16. und des 17. Jh..Die neue Wissenschaft erschütterte das alte Weltbild und löste

eine neuartige Reflexion der Philosophen über die alten Fragen von Gott, Welt und

Mensch aus. Als das theologisch orientierte Weltbild nicht mehr akzeptabel war, weil

es die neuen Entdeckungen und die neu entstehenden Auffasungen von der Welt in

sich nicht aufnehmen, ihnen aber auch nichts entgegensetzen konnte, wurde zum Teil

gezielt an einer Ablösung des theologischen Weltbildes gearbeitet. Die neue

Naturwissenschaft übernahm eine leitende Funktion in diesem weltanschaulichen

Kampf. Die sinnlich wahrnehmbare Welt wurde stark aufgewertet. Der Mensch

begriff sich nun selbst zunehmend als Naturwesen und weniger als ein Kind Gottes.

Ein Naturwesen, das allerdings über die einmalige Gabe der Vernunft verfügt, die es

ihm ermöglicht sich selbst und die Welt zu erkennen. Das alte Weltbild wurde mehr

und mehr als eine willkürliche Konstruktion angesehen und zudem als eine Fessel für

die eigene Denkkraft. Entsprechend der sich durchsetzenden Anschauung, man

könne selber vermittels der eigenen Vernunft zur Wahrheit über die Welt gelangen,

entstanden während der Aufklärung zahlreiche unterschiedliche Denkrichtungen, die

thematisch unterschiedliche Akzente setzten. Das an ein weltanschauliches System

gebundene Denken wurde überwunden, die Vernunft hat in diesem Sinne ihre

Freiheit erlangt. Die Aufklärer ließen selbst typisch religiöse Fragen nicht in Ruhe

und wollten sogar die Kerninhalte der christlichen Religion einer anthropologischen

Deutung unterziehen.201 In diesem Fall sieht man am deutlichsten, wie der Mensch

nun selbst ins Zentrum der eigenen philosophischen Überlegungen rückt, wenn er die

Religion als etwas was ihm nutzen oder dienen soll betrachtet, und nicht mehr als

eine ihm von Gott aufgetragene Aufgabe oder Pflicht. Es konnte von da an nicht

mehr lange dauern, bis die Menschen auch an ihren weltlichen Autoritäten kratzten.

Zwar konnten sich diese gegen die Unterminierung ihrer Stellung mit rechtlichen und

polizeilichen Maßnahmen wehren, doch waren sie außer Stande die neu gewonnene

Denkfreiheit total zu unterdrücken. In einigen Fällen, wie vor allem im Falle

200 Koser, S.394.

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Friedrichs II., wurden aber selbst die Fürsten zu Verbündeten der neuen Denkfreiheit

und der Lust am Philosophieren. Im Laufe der Aufklärung gewannen politische

Themen zunehmend an Bedeutung und in Verbindung mit der allgemeinen

Emanzipation von traditionellen Wertvorstellungen und Ordnungen wurden auch die

bestehenden politischen Verhältnisse zunehmend kritisch betrachtet. Letztlich

entstanden Auffassungen, wonach der Herrscher seine Position allenfalls aus der

Hand des Volkes empfangen kann und die eigentliche Macht im Staat eigentlich im

Volke liegt. Inwiefern dabei an antike Vorbilder angeknüpft wurde, läßt sich nicht

genau sagen. Nach der Französichen Revolution erhielt die Menschenrechtsposition

des aufgeklärten Naturrechts und das politische Freiheitsdenken einen weiteren

Schub, ohne daß es allerdings in Preußen oder sonstwo in Deutschland ebenfalls zu

einer Revolution gekommen wäre. Seit dem Wiener Kongreß gewann die Reaktion

gegen die freiheitlichen Bewegungen die Oberhand und konnte alle oppositionellen

Aktivitäten und Bestrebungen mit repressiven Maßnahmen im Keim ersticken.Die

erzwungene Ruhe währte bis zum März 1848, als infolge einer erneuten Revolution

in Frankreich, das latente politische Bewußtsein in Preußen, und allgemein in

Deutschland, neu entflammte und sich diesmal in revolutionären Aktionen entlud. Es

stellte sich ein Kräftemessen zwischen der Krone und ihrer konservativen

Gefolgschaft auf der einen Seite und der liberalen und demokratischen Opposition

auf der anderen Seite ein. Die prinzipielle Ordnung des Staates stand auf dem Spiel.

Das Spiel endete mit einem Patt, als beide Seiten von ihren Ansprüchen etwas

abließen, sich näher kamen, und schließlich einen Kompromiß eingingen.

201 Vgl. Scholder, Grundzüge der theologischen Aufklärung in Deutschland.

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