Aufl Linear Narration Film
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Lizentiatsarbeit Universitt FribourgDepartement fr GesellschaftswissenschaftenFachbereich Medien- und Kommunikationswissenschafteingereicht bei Dr. Ursula Ganz-Blttler am 3. November 2003
Sie fragt nach der Kette,
die er in dem Krieg trug,
der eines Tages ausbrechen wird.(aus Chris Marker La Jetee)
Die Auflsung der linearen Narration im Film
Jean-Luc FroidevauxSchifflaube 18 3011 Bern Tel.: +41 (0)31 318 88 81 E-Mail: [email protected]
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INHALTSVERZEICHNIS
INHALTSVERZEICHNIS.............................................................................................II
1. EINLEITUNG .......................................................................................................1
1.1. Hinleitung zum Thema und Zielsetzung der Arbeit .............................................................................1
1.2. Aufbau der Arbeit....................................................................................................................................2
2. THEORETISCHE GRUNDLAGEN.......................................................................4
2.1. Definitionen, Begriffe und Konzepte......................................................................................................4
2.1.1. Definitionen .....................................................................................................................................42.1.2.. Narratologie und ihr Instrumentarium..............................................................................................62.1.2.1. Narratologie in Literatur und Film ..............................................................................................62.1.2.2. Was ist eine Erzhlung? ..............................................................................................................72.1.2.3. Story, Plot und Diegese ...............................................................................................................92.1.2.4. Die Untersuchungsdimensionen bei Genette.............................................................................102.1.2.5. Alternative Verknpfungs- und Ordnungssysteme....................................................................12
2.1.3. Exkurs: Drehbuchratgeber..............................................................................................................14
2.1. Angriffe auf die lineare Erzhlstruktur im Film.................................................................................18
2.1.1. Kulturphilosophische Angriffe auf die lineare Erzhlstruktur im Film..........................................182.2.1.1. Das lineare Denken entsteht und wird wieder in Frage gestellt.................................................182.2.1.2. Postmoderne und Schizophrenie ...............................................................................................20
2.2.1.3. Aktive Rezipienten ....................................................................................................................222.2.1.4. Offene und geschlossene Texte.................................................................................................242.2.2.. Intermediale Angriffe auf die lineare Erzhlstruktur im Film........................................................28
2.2.2.1. Literarische Versuche................................................................................................................282.2.2.2. Der Ariadnefaden in der Kunst..................................................................................................31
2.2.3. Technische Angriffe auf die lineare Erzhlstruktur im Film..........................................................342.2.3.1. Von der TV-Fernbedienung zur DVD.......................................................................................342.2.3.2. Hypertexte und Hyperfiktionen.................................................................................................382.2.3.3. Computergames.........................................................................................................................40
2.3. Wie das lineare Medium Film nicht-linear erzhlt.............................................................................442.3.1. Film wurde schon frh nonlinear ...................................................................................................442.3.2. Das Gegen-Kino.............................................................................................................................45
2.3.3. Delinearisierung im kommerziellen Kino ......................................................................................47
3. EMPIRISCHE UNTERSUCHUNG......................................................................50
3.1. Forschungsfragen ..................................................................................................................................50
3.2. Vorgehen und Methode.........................................................................................................................523.2.1. Vorgehen........................................................................................................................................523.2.2. Zur Wahl der Methode ...................................................................................................................533.2.3. Das Korpus.....................................................................................................................................543.2.4. Untersuchungsdimensionen ...........................................................................................................57
3.3. Liste.........................................................................................................................................................663.3.1. Aufbau der Liste.............................................................................................................................663.3.2. Eintrge..........................................................................................................................................67
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4. SUMMARISCHE ERGEBNISSE........................................................................68
4.1. Einleitende Bemerkungen .....................................................................................................................68
4.2. Realisierte Kategorien...........................................................................................................................69
4.3. Weitere Zusammenfassung zu Typen..................................................................................................87
4.4. Bemerkungen zu Funktion und Umfeld der Filme.............................................................................89
5. FAZIT UND AUSBLICK.....................................................................................92
5.1. Fazit ........................................................................................................................................................92
5.2. Ausblick..................................................................................................................................................935.2.1. Weitere potentielle Mglichkeiten der nonlinearen Narration im linearen Medium Film:.............935.2.2. Film im Zeitalter seiner technischen Delinearisierung...................................................................98
5.2.2.1. Einfach zu realisierende Mglichkeiten ....................................................................................98
5.2.2.2. Einige realisierte Beispiele nonlinearer, interaktiver Filme.......................................................995.2.2.3. Einige aktuelle Forschungsanstze ..........................................................................................100
6. MEDIOGRAPHIE .............................................................................................104
7. BIBLIOGRAPHIE.............................................................................................108
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1. EINLEITUNG
1.1. Hinleitung zum Thema und Zielsetzung der Arbeit
Was mich in dieser Arbeit interessiert, ist das Auslotsen der Mglichkeiten, wie Film die
dramaturgischen Konventionen der Darstellung einer linear induzierten Abfolge von
Ereignissen verlassen kann. Ob und wie ein nicht mehr ganz junges Medium infolge
verschiedener kultureller, technischer und medienbergreifender Einflsse seine
Konventionen neu formuliert. Und wohin sich dieses Medium durch die Erweiterung der
technischen Mglichkeiten entwickeln knnte.
Die drei klassischen Einheiten von Ort, Zeit und Handlung, die Aristoteles fr das Drama
postuliert hat, sind im Film nicht mehr sakrosankt. Film baut sich einen eigenen Raum (denfilmischen Raum), kombiniert verschiedene Zeiten und muss auch nicht zwangslufig bloss
einer Handlung folgen schon das klassische Kino verfolgt eine Haupt- und eine
Nebenhandlung. Wir kennen aber auch den Episodenfilm, der verschiedene Teilhandlungen
kombiniert, oder den Ensemblefilm, bei welchem viele Personen handeln. Zudem ist auch der
filmische Produktionsprozess nicht ein linearer. Filme werden nicht chronologisch, sondern
nach logistischen Kriterien gedreht und auch die Montage erfolgt (heute auch mit Video)
nonlinear.
Trotzdem funktioniert das klassische Erzhlkino (vor allem hollywoodscher Provenienz) nach
dem Muster des stringenten Erzhlens einer linear-kausalen Abfolge von Ereignissen in
chronologischer Ordnung, mglichst ohne viele Abweichungen (weil diese dramaturgisch als
retardierende Elemente aufgefasst werden), und vor allem ohne Betonung des Faktums, dass
wir uns in einer Erzhlung, einer Fiktion befinden. Insofern ist der Spielraum des klassischen
Erzhlkinos ziemlich eng, weil die Illusion der fiktiven Welt aufrechterhalten und diekognitive Eigenleistung des Zuschauers nicht allzu fest strapaziert werden soll; Film wird dort
verstanden als Rekreation und Entspannung und stabilisiert feste Weltbilder. Es soll damit in
keiner Weise unterstellt werden, dass Filme, die von der linearen Erzhlstruktur abweichen
per se bereits der vorherrschenden Ideologie gegenber kritischer eingestellt sind; zumindest
aber erffnen sie die Sensibilitt fr potentiell andere Mglichkeiten und damit auch fr
plurale Wahrheiten. Wenn dies auch immer wieder als postmodernes Anything-goes
attackiert wird, bei dem es keine gltigen Werte und Verbindlichkeiten mehr geben knne,
denke ich, greift diese Kritik gar zu kurz; verpflichtet dies doch den Rezipienten auch zu
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Mndigkeit und selbstndigem Denken, zu aktivem Auseinandersetzen und Hinterfragen,
oder verleitet ihn manchmal auch einfach nur zum Spielen.
Die Zielsetzung der Arbeit besteht also darin, Mglichkeiten zu erkunden, wie sich das
lineare Medium Film, von seiner unilinearen Erzhlweise lsen kann und auch schon gelst
hat, welche Anstze schon umgesetzt wurden und welche potentiellen noch auszuprobieren
wren.
Dies interessiert mich aus der Sicht des Produzenten und soll insbesondere auch einen
Ausblick auf zuknftige Gestaltungsmglichkeiten in interaktiven Medien liefern.
1.2. Aufbau der Arbeit
In einem theoretischen Teilder Arbeit werden verschiedene Grundlagen erarbeitet, die die
Untersuchung nicht-linearer Erzhlstrukturen im Film einerseits berhaupt erst ermglichen,
andererseits diese Untersuchung im kulturellen Denken unserer Zeit verorten. Dafr werden
zuallererst einigeDefinitionen, die Konzepte der Narratologie und dramaturgische Vorgaben
ausDrehbuchratgebern aufgenommen, die zeigen sollen, was unter einer Erzhlung im
Allgemeinen und einer konventionellen filmischen Erzhlung im Speziellen zu verstehen ist,und welche Dimensionen zu deren Verstndnis beitragen knnten. Dies soll sich aber auf
einige narratologische Konzepte beschrnken, die in direktem Zusammenhang mit der
Linearitt der Erzhlung stehen, also spter im praktischen Teil auch angewandt werden
knnen, und auch diese werden nur recht knapp beschrieben die Narratologie als eigene
Wissenschaft hat diese Konzepte natrlich in einer Tiefe elaboriert, die viel weiter geht.1
Weiter werden in diesem theoretischen Teil verschiedene Anstze diskutiert, die als Angriffe
auf die Linearitt des filmischen Erzhlens (und Denkens allgemein) betrachtet werdenknnen. Diese lassen sich unterteilten in kulturphilosophische, intermediale und technische
Angriffe. Eine monokausale Verbindung zwischen technischen Mglichkeiten und
kulturellem Wandel zu postulieren wrde dem nicht-linearen gegenseitigen Wechselspiel
wohl nicht gerecht. 2
1
Der Verfasser bedient sich damit wissenschaftlicher Konzepte ausserhalb seines Studienfachs und ersucht fachkundigereLeserinnen, ihm seine pragmatischen Simplifizierungen zu verzeihen.2 Umgekehrt besagt die Apparatus-Theorie, dass Technik nie neutral, sondern zuallererst immer sozial ist, und neueTechniken auch immer neue Ideologien schafft. Vgl. die Arbeiten von Baudry, Metz, Althusser und Lacan zit. in : Shaw,Jeffrey/Weibel, Peter (Hrsg.): Future Cinema. The Cinematic Imaginary after Film. Karlsruhe/Massachusetts 2003, S. 16/17.
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Imzweiten,empirischen Teilwerden 54 ausgewhlte Filme in Kurzform analysiert und durch
Zuschreibung bestimmender Merkmale kategorisiert (die einzelnen Eintrge sind in den
Anhang ausgelagert), wobei deren Gemeinsamkeit darin besteht, dass sie sich auf die eine
und/oder andere Art von einer rein linearen Erzhlweise unterscheiden. Um Aussagen ber
mgliche nicht-lineare Erzhlstrukturen zu erhalten, werden diese in verschiedenen
Dimensionen untersucht, die im Vorfeld und ad hoc erarbeitet wurden.
Die summarische Auswertung im dritten Teilsoll dann die realisierten Mglichkeiten als
Kategorien auflisten und beschreiben und in einer Art Typologie nochmals zusammenfassen
und diese kontextualisieren.
Abgeschlossen wird die Arbeit in einem letzten Teildann mit einem Ausblick auf mgliche
weitere Umsetzungen filmischer Erzhlstrukturen im linearen Medium Film, die von den in
der Auswertung beschriebenen Kategorien extrapoliert werden. Zudem soll ein Ausblick auf
die Mglichkeiten interaktiver, nonlinearer Medien erfolgen, wozu noch einige aktuelle
Forschungsanstze erwhnt werden.
Interessanterweise entspricht zwar die Vorgehensweise beim Schreiben dieser Arbeit ziemlich
dem nicht-linearen Credo des vernetzten, offenen Zugangs. Filme wurden angeschaut,
Sekundrtexte darber gelesen, in welchen wiederum Zitate aus anderen Texten wichtig
wurden. Gleichzeitig entstanden eigene Assoziationen zu gewissen Themen, denen dann
nachgegangen wurde, und daraus formierten sich neue Merkmale, die sich teilweise ebenfalls
als relevant erwiesen; oder aus einem Gesprch wurden medienfremde Ideen aufgenommen
und weiterentwickelt. Trotzdem liegt das Endprodukt als streng linearer Text vor (allerdings
mit einer Reihe von Fussnoten und Querverweisen). Ich muss mir im Nachhinein die Frage
stellen, ob es nicht sinnvoll gewesen wre, diesen Entstehungsprozess auch abzubilden und
anstelle eines monostringenten Textes etwa einen Hypertext zu produzieren, der fr
verschiedene Zugnge und Lesewege offen wre. Fr mich war diese Erkenntnis jedenfalls
ein weitere Hinweis darauf, dass weder die Entdeckung, noch die Verwertung von
Information linear funktioniert, und alles Linearisieren nur eine Frage der Konvention ist.
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2. THEORETISCHE GRUNDLAGEN
2.1. Definitionen, Begriffe und Konzepte
2.1.1. Definitionen
Vorgngig soll einmal geklrt werden, was linear bedeutet und welche Dimensionen der
Begriff in Bezug auf Medien und das Erzhlen hat.
Linearitt und Nonlinearitt3
Linear bedeutet nichts anderes als geradlinig, gleichmssig.4
In Bezug auf Raum und Zeit etwa bezeichnet linear also den chronologischen Ablauf, die
Einhaltung physikalischer Gesetzmssigkeiten, entsprechend menschlicher Erfahrungen, dass
die Zeit chronologisch abluft und Wege zwischen Rumen berwunden werden mssen.
Rumliche oder zeitliche Nonlinearitt wre also als achronologisch zu verstehen, oder als
Fragmentierung oder Verschmelzung der rumlichen Dimension.
Lineare Medien
Als linear bezeichnet man bewegte, zeitgebundene Medien. Bewegung zeichnet sich dadurch
aus, dass von einem zum nchsten Moment eine Vernderung des Ortes vollzogen wird, d.h.
die rtliche Vernderung ist an den Zeitablauf gebunden. Die Bewegung erfolgt aufgrund
einer festgelegten Reihenfolge. Die Aneinanderreihung von statischen Texten oder Bildern ist
noch nicht alleine aufgrund dieser Aneinanderreihung linear. Eine Diashow ist nicht linear,weil die Abstnde zwischen dem Wechsel von statischen Bildern zeitungebunden ist und die
Reihenfolge der gezeigten Bilder nicht unbedingt festgelegt sein muss. Zwar werden Filme
gerne grundstzlich als linear bezeichnet, da sie einer krperlichen Linearitt unterliegen, dem
Filmstreifen, dennoch sagt diese Linearitt im Grunde wenig bzw. nichts ber den erzeugten
Inhalt aus. So kann etwa ein Standbild erzeugt werden, das statisch ist, aber nicht dadurch
3 Nicht-linear und nonlinear werden in dieser Arbeit als Synonyme verwendet, weil dies in der konsultierten Literaturebenfalls so gehandhabt wird und der Verfasser es als nicht sehr sinnvoll anschaut, diese in allen zitierten Stellen durch eineeinheitliche Verwendung zu ersetzen.4 Der grosse Duden. Bd. 5. Mannheim und Zrich 1974.
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zustande kommt, dass der Filmvorfhrer den Projektor anhlt, sondern dadurch, dass ein und
dasselbe Bild vervielfacht wird.
Narration
Auf den Begriff der Narration wird in Kapitel 2.1.2 nher eingegangen. Grundstzlich
versteht man darunter eine Erzhlung, es kann aber auch der Akt des Erzhlens gemeint sein.
Lineare Erzhlung
Bordwell und Thompson definieren linearity in einer Erzhlung folgendermassen:
In a narrative the clear motivation of a series of cause and effects that progresswithout significant digression, delays or irrelevant actions. 5
Nebst der zeitlichen Dimension der Linearitt kann also auch noch eine kausale Dimension
unterschieden werden. berlegen wir uns weiter, was das Lineare einer Erzhlung sonst noch
ausmacht, so kommen wir auf die eingangs erwhnten weiteren Einheiten von Ort und
Handlung sowie auf die Kontinuitt von Erzhlebene und Perspektive der Erzhlung.
Nicht-linear sind demzufolge per Definitionem ex negativo alle Erzhlungen, in denen die
rumliche, zeitliche, logische, kausale oder perspektivische Kontinuitt aufgehoben wird,
oder mehrere Handlungen oder Erzhlebenen miteinander kombiniert werden.6
5 Bordwell, David/Thompson, Kristin: Film Art. An Introduction. 6 Ed. Wisconsin 2001, S. 431.6 Einige Forscher umgehen den Begriff der nicht-linearen resp. nonlinearen Erzhlung bei linearen Medien, wie Buch undFilm, und sprechen etwa von metalinearer Erzhlung. Vgl. Brooks, Kevin Michael: Metalinear Cinematic Narrative. Theory,Process and Tool. Dissertation am Massachusetts Institute of Technology. Massachusetts 1999, S. 33.
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2.1.2..Narratologie und ihr Instrumentarium
2.1.2.1. Narratologie in Literatur und Film
Geschichten erzhlen ist seit jeher ein zentrales Element der menschlichen Kultur, um aus den
Gegebenheiten der Umwelt Sinn zu machen, unabhngig davon, in welchem Medium diese
erzhlt werden.
Das Erzhlen ist in seinen Dimensionen der Weltdarstellung und vermittlungbergreifender [als das Zeigen], weil es das Gezeigte in Zusammenhnge stellt,Strukturen aufzeigt, die hinter dem Prsentierten bestehen und dieses bestimmen,weil es zwischen dem einzelnen Wahrnehmbaren kausale Beziehungen stiftet unddamit Geschichten entstehen lsst.7
Die Narratologie als Wissenschaft versucht diese Strukturen aus den unterschiedlichsten
Erzhlungen herauszukristallisieren und soll hier dazu dienen, etwas ber die
Erzhlstrukturen in Filmen herauszufinden. Genette verweist darauf, dass sich die
Narratologie in ihren Anfngen8 mit der Geschichte (der Gesamtheit der erzhlten Ereignisse)
selbst und erst spter auch mit der Erzhlung (dem Diskurs, der von ihnen erzhlt) resp. der
Narration (als Akt der Erzhlung) beschftigt hat.9 Damit wurden die Theorien der
Erzhlforschung, die sich zuallererst an literarischen Stoffen versucht haben, auch fr die
Filmanalyse nutzbar.10 Autoren, wie Raymond Bellur suchten nach einem System von
Wiederholungen in der Filmerzhlung und argumentierten, dass die Anordnungen von
Bildern auf gewisse Typen narrativer Organisation zurckzuverfolgen sind, die in erster Linie
der Prsentation einer Geschichte dienen und den Fluss an Empfindungen und Bedeutungen
regulieren. Unterschiede zwischen der Literatur und unserem Untersuchungsgegenstand Film
bestehen natrlich, so etwa auch in Bezug auf die in dieser Arbeit zentrale lineare
Eingeschrnktheit oder Mglichkeit der Erzhlung. Die Filmerzhlung verfgt im Vergleich
zur schriftlichen Erzhlung etwa durch die 2,5-Dimensionalitt11 des Kino-Bildes und der
Kombination von Bild und Tonebene ber mehr Mglichkeiten zum Durchbrechen des
Linearen. Zudem lsst sich nebst dem Prinzip der Aneinanderreihung von Bildern in der
vertikalen Montage12 etwa auch die Tiefenmontage 13 fr die filmische Erzhlung nutzen. Und
Hagenbchle schreibt:
7 Hickethier, Knut: Film- und Fernsehanalyse. Stuttgart 1996, S. 107.8 Etwa in den Arbeiten von Vladimir Propp ber russische Mrchen oder bei Claude Lvy-Strauss ber Mythen.9 Vgl. Genette, Grard: Die Erzhlung. 2. Aufl., Mnchen 1998, S. 200.10 Vgl. die Untersuchungen von Chatman, Bordwell, Branigan, Hagenbchle und weitere.11
Die eigentliche Zweidimensionalitt des Abgebildeten wird durch Tiefenstaffelung mittels Lichtgestaltung und Gesetzender Perspektive kombiniert mit der Dimension Zeit zur vierdimensionalen Raum-Zeit. Vgl. Hagenbchle, Walter: NarrativeStrukturen in Literatur und Film. Bern 1991, S. 93.12 Was konventionellerweise als die eigentliche Montage, d.h. das Zusammenkleben von Filmstreifen bezeichnet wird.13 Einstellung A,B und evtl. C sind im selben Bild sichtbar. Die Bildebenen treten zueinander in Beziehung.
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Auch auf der Ebene des sprachlichen Diskurses gibt es Unterschiede zwischenden beiden Medien [Literatur und Film]. Die wortsprachliche Literatur kann alslineares System beispielsweise nicht verbal berblenden; die natrliche Situationeines Mehrpersonengesprchs mit berlappenden Gesprchsteilen kann dieWortliteratur aufgrund ihres syntaktischen Duktus nur nacheinander darstellen, wasbei direkter Redewiedergabe Folgen bezglich des dargestellten zeitlichenErzhlrahmens hat.14
Gleiches gilt etwa auch fr zwei gleichzeitig stattfindende Teilereignisse, wie etwa Es regnet
und Jacques luft die Strasse hinunter, die sprachlich nur nacheinander, im Filmkader aber
simultan erzhlt werden knnen.15
Filme erzhlen also wie Bcher auch Geschichten, die mittels der Narratologie untersucht
werden knnen. Welches sind denn nun aber die Kriterien, damit berhaupt von einer
Erzhlung gesprochen und dieses Instrumentarium damit auch angewandt werden kann?
2.1.2.2. Was ist eine Erzhlung?
Eine recht verbreitete Definition ist die von Bordwell und Thompson, eine Erzhlung sei:
...a chain of events in cause-effect relationship occuring in time and space.16
Ryan fasst den Begriff sowohl weiter wie auch enger und stellt drei verschiedene zunehmend
engere Definitionen auf.17 Sie sieht Erzhlung
als Reprsentation physischer oder mentaler Ereignisse vertrauter oder verbundenerTeilnehmer in einerzeitlichen Reihenfolge,
als kausale Interpretation dieser Ereignisse, als semantische Struktur, die zustzlich gewisse formale Anforderungen erfllt, so
z.B. ein herausragendes Thema, eine Entwicklung, die von Gleichgewicht zur Krise zu
einem neuen Gleichgewicht18 fhrt und ein Anstieg und Fall von Spannung.19
14 Hagenbchle, Walter: Narrative Strukturen in Literatur und Film. Bern 1991, S. 90.15 Ebd., S. 100.16 Bordwell, David/Thompson, Kristin 2001, S. 60.17 Ryan, Marie-Laure: Narrative as Virtual Reality. Immersion and Interactivity in Literature and Electronic Media. Baltimoreand London 2001, S. 244.18 Todorov etwa spricht von den zwei Prinzipien der Narration, Kausalitt einerseits und Entwicklung andererseits, die er infnf Stufen einteilt; von einem Gleichgewicht, zur Zerstrung des Gleichgewichts, zur Wahrnehmung, dass es eine Strung
des Gleichgewichts gab, zum Versuch, die Strung aufzuheben und zum Wiederherstellen des ursprnglichenGleichgewichts. Vgl. Todorov, Tzvetan: The Poetics of Prose. Ithaca, N.Y. 1977, S. 41-58, der Einfachheit halber oftmalsauch einfach wiedergegeben in drei Stufen: Gleichgewicht, Zerstrung des Gleichgewichts und Wiederherstellung desGleichgewichts. Vgl. Lacey, Nick: Narrative and Genre. Key Concepts in Media Studies. New York 2000, S.27.19 Vgl. die Dramaturgiepyramide von Freytag.
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Den ersten Fall bezeichnet sie als sequentielle, den zweiten als kausale und den dritten als
dramatische Erzhlung. Sequentielle Erzhlung kommt bereits zustande, wenn willkrlich
eigenstndige Lexien20 verknpft werden, sofern diese medienbedingt nur nacheinander und
nicht miteinander rezipiert werden knnen was fr das lineare Zeitmedium Film
gewhrleistet ist.21 Damit wird also die Narratologie auch fr die Flle nutzbar, in welchen die
Konventionen des klassischen Erzhlkinos verlassen werden und die etwa McKee in seinem
Dreieck der Plotstruktur als Antiplot oder sogar als Nonplot22 bezeichnet.23
Genette spricht bereits von einer Minimalerzhlung, sobald auch nur eine einzige Handlung,
ein einziges Ereignis vorliegt, weil damit bereits eine Vernderung stattfindet, ein bergang
von einem Vorher zu einem Nachher. Seine Minimaldefinition ist der Satz: Ich gehe an
dem er gengend Vernderung festmachen kann, damit der Satz als Erzhlung bestehen
kann.24
Auch bei Chatman ist der Begriff narrativ in einem weiten Sinn zu verstehen, wenn er
Kommunikationsobjekte in textuelle25 oder nicht-textuelle differenziert, wobei er unter
textuellen alles subsumiert, was deren Rezeption zeitlich kontrolliert, im Vergleich zu
statischen, worunter etwa Gemlde, Statuen und Photographien fallen. Gleich auf der
nchsthheren Ebene folgt dann die Unterscheidung von Texten in Narrationen und andere
(etwa Beschreibung oder Argument).26
Demnach wren also kausal nicht (eindeutig) verknpfte oder chronologisch nicht
bestimmbare Ereignisse, die sich aber entwickeln und miteinander in Verbindung stehen,
noch in narratologischen Begriffen fassbar. Das oft angefhrte Argument, dass sich
Interaktivitt und Narration gegenseitig ausschliessen, geht also von einer Narration im
engeren Sinn aus27 (einer dramatischen, gemss Ryan), die die aristotelischen Forderungen
nach Gratifikation erfllen msse, deren sich ja gerade viele Autoren- und Avantgardefilme
bewusst verweigern.
20 Eine Lexie ist eine Leseeinheit, in Kapitel 2.2.1.3 wird noch nher darauf eingegangen.21 Ryan 2001, S. 244.22 Die er als Pragmatiker aber auch noch dem im weitesten Sinn Narrativen zuordnet.23 McKee, Robert: Story. Die Prinzipien des Drehbuchschreibens. Berlin 2000, S. 69.24
Genette 1998, S. 202.25 Im weiteren Verlauf soll an diesem Textbegriff festgehalten werden. Wenn in der Folge also von Texten gesprochen wird,sind filmische Texte immer mitgemeint, ausser diese wrden explizit als literarische o.a. Texte spezifiziert.26 Chatman, Seymour: Coming to Terms: The Rhetoric of Narrative in Fiction and Film. Ithaca und London 1990, S. 9.27 Vgl. Kapitel 2.2.3.3.
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2.1.2.3. Story, Plot und Diegese
Eine weitere zentrale Konzeption in der Erzhlforschung ist die Differenzierung zwischen
Fabula und Syuzhet nach Shklovsky, zu deutsch zwischen Geschichte und Fabel, in der
angelschsischen Variante28 als Story und Plot bezeichnet.
Story ist das, was sich ereignet hat (fiktiv oder real), der Inhalt der Erzhlung in
chronologischer Reihenfolge und entspricht dem, was wir in der Semiotik unter Signifikat
(Bezeichnetes) verstehen.29
Plot ist die Art und Weise, wie uns der Autor dieses Ereignis prsentiert30, die Erzhlung,
wie wir sie lesen, sehen oder hren, vom ersten bis zum letzten Wort oder Bild - das
Signifikant (Bezeichnende).31
In der Einheit Plot liegt also bereits ein Beziehungssystem von spezifischer
Sinntrchtigkeit32. Dazu gehrt die Gruppierung in Raum und Zeit und die Bildung von
Phasen. Forster bringt den folgenden Beispielsatz: Der Knig starb und dann starb die
Knigin sei eine Story, zum Plot werde es erst durch die Ergnzung zu: Der Knig starb
und dann starb die Knigin aus Trauer.33 Gemss ihm ist also Kausalitt (A fhrt zu B) eine
Voraussetzung dafr, dass von Plot gesprochen werden kann.34 Das kausale Argument in der
Aneinanderreihung von Bestandteilen der Erzhlung sieht Chatman sogar als
erzhlungskonstituierend, verweist allerdings darauf, dass der Zuschauer auch den ersten
Satz: Der Knig starb und dann starb die Knigin von sich aus als Kausalzusammenhang
wahrnehmen will, weil er nach Strukturen35 innerhalb von Erzhlungen sucht und Elemente
(in diesem Fall etwa die Knigin) als kohrent anzusehen versucht (dass es sich um dieselbe
Knigin handelt) und daraus schliesst, dass der erste Teil des Satzes mit dem zweiten etwas
28 Der Verfasser wird sich an diese Version halten, weil viele aus dem englischen bersetzte Drehbuchratgeber damitoperieren und es hier ja letztlich um einen praktischen Ansatz geht.29 Vgl. Todorov 1988, S. 160 und Thwaites et al. 1994, S. 121 zit. in: Lacey, Nick: Narrative and Genre. Key Concepts inMedia Studies. New York 2000, S. 18/19.30 Chatman unterscheidet zwischen story und discourse und bei ihm ist der discourse die Prsentation des plots, wasaber mit einer gewissen Legitimation oftmals auch synonym verwendet wird. Vgl. Chatman, Seymour: Story and Discourse.Ithaca 1993, S. 19.31 Ebd.32 Lmmert, Eberhard: Bauformen des Erzhlens. Stuttgart 1955, S. 25.33 Vgl. Chatman 1993, S. 45 (Hervorhebung durch den Verfasser).34 Vgl. dazu auch Barthes, Roland: L'aventure smiologique. Paris, 1985, S. 184, der die strukturalistischen Untersuchungenvon Propp denjenigen der spteren Strukturalisten (Lvi-Strauss, Greimas, Bremond, Todorov) gegenberstellt. Betont Propp
die Zentralitt der Chronologie in der Erzhlung, wird diese gegenber der Kausalitt spter wieder sekundr, wie schon beiAristoteles, der die Tragdie als Einheit der Handlung der Geschichte als Einheit der Handlung und der Zeit versteht. DieAnalyse der Narratologie wird also dechronologisiert und relogifiziert.35 Als Struktur sieht er im Sinne der Definiton von Piaget etwas das die Kriterien, Abgeschlossenheit, Transformation undSelbstregulation erfllt.
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zu tun habe. Er spricht dabei von verdeckter, impliziter Kausalitt.36 Die Unterscheidung
zwischen Story und Plot ist fr die vorliegende Untersuchung insofern von Relevanz, als die
Konstruktion des Plots nicht mit der Rekonstruktion der Story identisch sein muss, und wenn
die Linearitt des Plots aufgebrochen wird, die Story deswegen trotzdem linear sein kann.
In diesem Zusammenhang ebenfalls von Bedeutung ist der Begriff derDiegese. Damit wird
das Universum bezeichnet, in welchem eine Geschichte spielt und welches gleichzeitig in der
Erzhlung prsentiert wird.37 Die einfachste Art der Unterscheidung zwischen intra- und
extradiegetischen Elementen besteht darin, sich zu fragen, ob die Protagonisten der Erzhlung
diese Elemente auch wahrnehmen knnen, oder ob nur wir als Zuschauer dazu in der Lage
sind. So sind etwa Titel und Abspann extradiegetische Elemente des Films, weil diese nur von
den Zuschauern, nicht aber von den Protagonisten wahrgenommen werden knnen. Sie
gehren zwar zum Plot weil sie dem filmischen Text beigefgt wurden nicht aber zur
Story. Umgekehrt sind indirekt angesprochene Ereignisse, die nicht gezeigt werden, zwar
Bestandteil der Story, nicht aber der Diegese.38
2.1.2.4. Die Untersuchungsdimensionen bei Genette
Genette beschftigt sich in seinem Werk Discours du rcit (dt. Die Erzhlung)39
systematisch mit den Erzhltechniken des Romans, liefert aber damit auch Teile eines
Instrumentariums, die sich fr die Analyse von Filmplots nutzen lassen. So untersucht er
unter anderem die Dimensionen Ordnung, Modus und Ebene.40 Bei der Ordnung geht er auf
verschiedene Formen von Anachronien, also von Dissonanzen zwischen der Ordnung der
Geschichte (Story) und derjenigen der Erzhlung (Plot) ein, wie die Prolepse und die
Analepse. Er gibt zu bedenken, dass Anachronie weder ein seltenes noch ein neuartiges,
sondern im Gegenteil eines der traditionellen Mittel der literarischen Narration sei und
verweist etwa auf den In-medias-res41-Beginn in der Illias mit anschliessendem verzgerten
Rckblick auf die Vorgeschichte.42 Zudem bezieht er sich auf Todorov, von welchem er die
Kategorie der temporalen Deformationen, d.h. der Verstsse gegen die chronologische
Abfolge und solche ber die Beziehungen (des Ineinandergreifens, des Wechsels, der
36 Vgl. Chatman 1993, S. 30.37 Vgl. Bordwell/Thompson 2001, S. 61/62.38
Ebd.39 Genette, Grard: Die Erzhlung. 2. Aufl., Mnchen 1998.40 Sein exemplarischer Untersuchungsgegenstand ist der Roman A la recherche du temps perdu von Alain Proust.41 Mitten in die Sache hinein.42 Vgl. Genette 1998, S. 23.
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Verschachtelung) derselben bernimmt.43 Die Prolepse bezeichnet jedes narrative Manver,
das darin besteht, ein spteres Ereignis im Voraus zu erzhlen oder zu evozieren44 und mit
Analepse werden alle nachtrglichen Erwhnungen von Ereignissen bezeichnet, die innerhalb
der Story zu einem frheren Zeitpunkt stattgefunden haben.45 Dieses Erwhnen wiederum
kann ein erzhltes sein, wenn ein Protagonist mndlich oder schriftlich etwa fehlende Teile
der Story nachreicht, es kann aber auch aufgefhrt werden.46 Die Analepse ist bestens in Form
des filmischen Flashback, der Rckblende47 bekannt, die sowohl auf der Ebene des
auktorialen Erzhlers48 stattfinden kann, wie auch aus der Subjektive eines Protagonisten. Die
Prolepse in Form des Flashforward ist sehr viel seltener anzutreffen, weil sie Ereignisse
vorwegnimmt, die die Protagonisten noch nicht wissen knnen, und damit Gefahr luft, die
erzhlerische Illusion zu zerstren, was vom konventionellen Erzhlkino natrlich nicht
erwnscht ist. So kommt diese zwar auch in Ausnahmefllen als Subjektive vor, wenn der
Protagonist prophetische Eigenschaften aufzuweisen scheint49, ist aber auch in seiner
objektiven Variante selten genug.
MitModus geht Genette auf die Mglichkeit ein, etwas mehr oder weniger nachdrcklich und
aus verschiedenen Perspektiven zu erzhlen oder zu zeigen. Je nachdem, ob der Autor
jemanden nur von etwas erzhlen lsst, oder ob er dies zeigt, rckt dieses von der
Mglichkeits- in die Wirklichkeitsform und je nachdem, ob aus der Perspektive einer
beteiligten oder unbeteiligten Person gesprochen wird (oder einer Mischform, was sehr hufig
eintritt), ist der Rezipient im ersten Fall nher dran, verliert aber gleichzeitig die bersicht.
Diese beiden Untersuchungsdimensionen knnten hier insofern von Interesse sein, weil Filme
oftmals von ihrer Linearitt abweichen, indem sie etwas anderes zeigen als das, wovon der
implizite oder explizite Erzhler spricht, oder weil ein Geschehen aus verschiedenen
Perspektiven gezeigt wird.
Beim Thema der Ebene geht es Genette darum, wie unterschiedliche,
ineinanderverschachtelte diegetische Ebenen zu betrachten sind, wobei sich diese im Film
natrlich technisch viel besser umsetzen lassen als in der Literatur,50 schon weil die
43 Ebd. S. 18.44 Ebd. S. 25.45 Ebd.46 Vgl. Bordwell 1985, S. 78.47
Lmmert spricht in der Literatur von Rckwendungen und unterteilt diese noch in Rckschritt, Rckgriff und Rckblick jenach narrativer Funktion. Vgl. Lmmert 1955, S.112-139.48 Aus der Sicht des Autors und daher in Bezug auf die Story allwissend.49 Vgl. etwa Don't look now. Nicolas Roeg. VHS, 110 min. England/Italien 197350 Vgl. Kapitel 2.1.2.1.
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verschiedenen formalen Ebenen (Bild, Text, Ton) voneinander getrennt und fr
Metaerzhlungen und Kommentare genutzt werden knnen.
2.1.2.5. Alternative Verknpfungs- und Ordnungssysteme
Einzelne Teile einer Erzhlung knnen entweder bloss in additiver Verknpfung
miteinander stehen, in korrelativer (sie haben miteinander zu tun, bedingen sich aber nicht)
oder aber eben in konsekutiver (kausaler).51 Vertreter von (konservativen?) Erzhltheorien,
die von der Einheit der Handlung als oberster sthetischer Forderung ausgehen, billigen der
konsekutiven Verknpfung den hchsten Grad knstlerischer Wirksamkeit zu, und sprechen
bei abweichenden Formen vom Prinzip der Verrtselung durch Umordnung.52 In Analogie
dazu verluft die Entwicklung des narrativen Schemas beim Rezipienten whrend der
Ontogenese53 ber verschiedene Teilschemata der Datensammlung und -organisation
unterschiedlicher Komplexitt, wie es Branigan darstellt.54 Diese knnen selbst wiederum als
Alternative oder Ergnzung zur Erzhlstruktur (strictu sensu) in der Organisation und zum
Verknpfen von Filmmaterial angewendet werden:
einHaufen als zufllige Sammlung von Daten, die einzig durch die Unmittelbarkeitder Wahrnehmung, durch die freie Assoziation des Moments vernetzt sind.
ein Katalog als Sammlung von Daten, die einen gemeinsamen Bezug haben; etwaEigenschaften einer bestimmten Person, Objekte in einem bestimmten Raum, aber
auch solche, die zum Beispiel in einer bestimmten Zeitspanne aufgenommen wurden
(was das zeitliche Elemente bereits einbezieht).
eineEpisode als Sammlung der Konsequenzen einer zentralen Situation, zum Beispielalles, was einer bestimmten Figur innerhalb einer rumlichen Einheit passiert und was
diese Figur dort tut. Im Vergleich zum Haufen und zum Katalog geschieht in einer
Episode eine Vernderung, eine Entwicklung.55
eine unfokussierte Reihe als Serie von Ursachen und Wirkungen ohne kontinuierlichesZentrum. So folgt etwa die Kamera eine Weile der ersten Figur, dann der zweiten,
schliesslich der dritten, wie in La Ronde56oder Mystery Train57.
51 Lmmert 1955, Kapitel B.52 Im Film bezeichnen wir dies als Scharadenfilm, nach der Scharade, dem Wortrtsel.53 Branigan zitiert eine Untersuchung ber die Aneignung von narrativen Schemata bei Kindern, die besagt, dass erst im Altervon etwa sieben Jahren die Struktur einer Erzhlung erkannt wird und fr uns besonders interessant - ,dass das Verstndnisfr komplexe Erzhlstrukturen, insbesondere unterschiedliche Perspektiven, mehrere Erzhlstrnge und eine zeitlich
verschachtelte Prsentation erst viel spter angeeignet wird. Vgl. Branigan 1992, Kapitel 1.54 Branigan 1992, S. 19/20.55 Auf die Episode als Spezialfall eines Erzhlstranges wird noch spter eingegangen. Vgl. Kapitel 3.2.4, Dimension [6].56 Ronde, La. Max Ophuls. VHS, 95 min. Frankreich 1950.57 Mystery Train. Jim Jarmusch. VHS, 113 min. USA/Japan 1989.
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einefokussierte Reihe als Serie von Ursachen und Wirkungen mit kontinuierlichemZentrum, etwa die kontinuierlichen Abenteuer einer Figur, die Ereignisse, die sich um
ein Objekt oder um einen Ort herum abspielen, oder die Ausarbeitung eines Themas.
eine einfache Erzhlung als Serie von Episoden, die in fokussierter Reihezusammengestellt sind. Nicht nur die einzelnen Teile innerhalb der Episoden sind
durch Ursachen und Wirkung verknpft, sondern auch das kontinuierliche Zentrum
kann sich von Episode zu Episode entwickeln. Das Ende ist erreicht, wenn die
Kausalketten vollstndig erklrt sind, und es kann an den Anfang zurckverfolgt
werden. Das entspricht dem, was wir unter geschlossener Erzhlung verstehen.
Zeit und Kausalitt werden also innerhalb dieser Unterteilung zunehmend linearer und
expliziter.58
58 Vgl. Branigan 1992, S. 19/20.
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2.1.3.Exkurs: DrehbuchratgeberBis in die Zehner Jahre des 20. Jahrhunderts wurde im Kino strker der Schauwert des neuen
Mediums betont. Mit dem bergang zum klassischen Kino rckte dagegen die erzhlendeForm in den Vordergrund.59 Nebst realen Vorgngen wurden auch gestaltete Ablufe gezeigt,
zum Beispiel Tnze, die fr die Kamera inszeniert wurden. Von da war es nur ein kleiner
Schritt zu einer Spielhandlung, die sich dadurch definierte, dass die Auftritte von Personen
Interaktionen zum Inhalt haben, die in kausaler Folge weitere Interaktionen nach sich ziehen.
In den kurzen, oft nur 40 Sekunden dauernden Filmen werden Handlungskerne vorgefhrt:
Faust und Mephisto streiten sich, Mephisto lst sich in Luft auf. Robespierre tritt auf in
grosser Pose, unterschreibt ein Papier, wird erschossen.60 Film in seiner kanonischen Form
orientierte sich in seiner Entwicklung mehr an Roman und Theater, als etwa an Malerei und
Fotographie und bernahm auch deren Regelkanon bis zu einem gewissen Grad; so etwa in
den szenischen Einheiten von Zeit, Ort und Handlung des Theaters oder der raumzeitlichen
Verdichtung des Romans, die zur Montage im Film fhrte.61 McLuhan weist darauf hin, dass
uns bewusst wird, wie stark der Film als Spule oder Drehbuch mit der Buchkultur verhaftet
ist, wenn wir uns einen Film vorstellen, der auf der Einteilung einer Zeitung aufgebaut ist.62
Die meiste Ratgeber-Literatur fr die Entwicklung funktional-effizienter Drehbcher fr den
Film63 beruht denn auch auf der Drei-Akt-Struktur des Dramas, wie es seit Aristoteles Poetica
(ca. 330 v. Chr.) besteht: Eine Geschichte soll die Imitation einer Handlung sein, die
abgeschlossen, komplett und von einer gewissen Wichtigkeit ist. Komplett ist etwas, das
einen Anfang, eine Mitte und ein Ende hat.64 Im 1. Akt werden Personen, Konflikt, Zeit und
Ort prsentiert. Im 2. Akt entwickelt sich der Konflikt und es werden untersttzende
Nebenerzhlungen eingefhrt. Im 3. Akt wird der Konflikt gelst. Am Ende jeden Aktes steht
eine Klimax (Hhepunkt) oder ein Wendepunkt, der den Fortlauf der Geschichte oder die
Handlung der Protagonisten ndert.65 Gustav Freytag teilt in seinen Dramentheorien den
59 Vgl. Christen, Thomas: Das Ende im Spielfilm. Vom klassischen Hollywood zu Antonionis offenen Formen. Marburg2002, S. 48.60 Hickethier, Knut: Film- und Fernsehanalyse. Stuttgart 1996, S. 54.61 Ein intermedialer Transport, der spter auch in umgekehrter Richtung funktionierte, wenn wir an den Gebrauch vonalinearen Verknpfungen von Erinnerungen, Rckwendungen, Retardierung und Parallelisierung von Bewusstseinsinhaltenim modernen Roman denken.62 Vgl. McLuhan 1970, S. 276.63
siehe etwa Field, Syd: Das Handbuch zum Drehbuch. Frankfurt am Main 1991.64 Und zwar zwingend in dieser Reihenfolge. Vgl. Jean-Luc Godard:Meine Filme haben einen Anfang, eine Mitte und einenSchluss, nur nicht unbedingt in der Reihenfolge. Zit. nach: Tarantino, Quentin in: Gunske 1994, S. 22 zit. in: Nagel, Uwe:Der rote Faden aus Blut. Erzhlstrukturen bei Quentin Tarantino. Marburg 1997, S. 84.65 Vgl. Armes, Roy: Action and Image. Dramatic Structure in Cinema. Manchester and New York 1994, S. 63-68.
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zeitlichen Aufbau einer Erzhlung in Exposition, Aufschwung, Peripetie, Klimax und
Ausklang.66 Diese Einteilung wird in heutigen hollywoodkonformen Drehbuchratgebern
przise auf die Minute Film vorgegeben. Ein System mit Zwang zur Linearitt, die hchstens
als Unfall aufgegeben wird; so z.B. wenn Mlies,67 indem sich das zu belichtende
Filmmaterial in der Kamera festklemmt, den Stopptrick erfindet oder, dadurch dass ein
Kinooperateur die notabene als Akte bezeichneten Filmrollen verwechselt und so ein
bisschen Tarantino68 spielt.
Weiter fordern diese Drehbuchratgeber, dass sich eine Szene kausal aus der vorhergehenden
ergibt und die nchste hervorrufen soll, d.h. die Ereignisse sollen in kausalchronologischer
Linearitt angeordnet und nur umgestellt werden, wenn dies unbedingt ntig ist. Auf zwei
hufige Abweichungen von diesem Prinzip geht Eder ein: Erstens auf den Flashback, der
schon bei Genette als Analepse erwhnt wurde, und auf die Parallelmontage, welche zwei
lineare Strnge alternierend erzhlt. Beide Ausnahmen wurden frh in der Filmgeschichte
konventionalisiert und stellen lngst schon keine Verstndnisprobleme mehr dar. Trotzdem
wird deren reduzierter Gebrauch nahegelegt. Zudem wird der Flashbackin der Regel ber die
Subjektivierung in eine Person gelegt und unterbricht die Linearitt der Handlung nicht, weil
sie in eine erzhlerische Leerzeit gelegt wird, den die Person fr Gedanken nutzen kann.
Trotzdem sind die klassischen Flashback objektiv in dem Sinne, dass sie auch Dinge
erzhlen, die der erinnernden Person nicht bekannt sein knnen, dem Zuschauer aber helfen,
in der Geschichte zu bleiben.69 Bei der Parallelmontage (engl. Crosscutting) wird zwischen
zwei rumlich getrennten aber simultanen Handlungsstrngen hin- und hergewechselt. Indem
beim Wechsel zu einer Handlungslinie die Ereignisse der anderen nicht gezeigt werden, kann
die Parallelmontage als elliptischer Zeitraffer wirken.70
In der klassischen Konstruktion71 der Story ist Kausalitt also das Hauptprinzip der
Verbindung und diese bestimmt auch die zeitliche Organisation des Plots: die Abfolge,
Frequenz und Dauer der Ereignisse. Meistens besteht der Plot aus einer doppelten
Kausalkette. Die eine folgt dem berwinden einer Aufgabe in Arbeit, Krieg, bei einer
66 Freytag, Gustav: Die Technik des Dramas 1922 zit. in: Eder, Jens: Dramaturgie des populren Films. Drehbuchpraxis undFilmtheorie. Hamburg 1999, S. 102.67 Vor der Zeit dieser Standardwerke natrlich.68 Vgl. die Analyse von Pulp Fiction. Quentin Tarantino. VHS, 154 min. USA 1994.69
Vgl. Bordwell 1986, S. 25.70 Vgl. Eder, Jens: Dramaturgie des populren Films. Drehbuchpraxis und Filmtheorie. Hamburg 1999, Kapitel 7.71 Metz spricht von der kohrenten Kodifizierung der grossen Syntagmatik des Kinos, die zwar auch wenn er diese alsSprache mit fester Syntax auffasst weitaus flexibler ist, weil sie, im Vergleich zur Schriftsprache, nicht ausserhalb desKunstsystems Kino existiert und daher auch strker von den Machern mitgestaltet werden kann. Vgl. Metz 1972, S. 185.
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Mission etc, die andere folgt einer heterosexuellen Romanze. Der Plot wird in einzelne
Szenen aufgebrochen, die der klassischen Einheit von Ort, Zeit und Handlung folgen, wobei
diese rumlich und zeitlich fr sich abgeschlossen, kausal aber offen sind, um die nchste
Szene zu motivieren. Die Szenen beginnen mit einer Exposition72, in der Mitte der Szene
arbeiten die Protagonisten auf ihr Ziel hin, am Ende lsen sie noch bestehende offene
Kausalketten von vorherigen Szenen auf und beginnen neue fr die nchsten Szenen.73 Die
Akte bestehen aus einer Verknpfung von Szenen, die einerseits logisch, andererseits aber
auch berraschend ist, in welcher jede Szene der Erzhlung eine neue Richtung gibt. Das
bergreifende Muster ist dasjenige zunehmender dramatischer Spannung, die zu einer Klimax
fhrt, die logisch, dramatisch und thematisch mit dem Anfang konsistent ist, zu diesem
Zeitpunkt aber noch nicht vorweggenommen werden kann.74 Das Basismodell einer
filmischen Erzhlung zeichnet sich also durch Kausalitt, Linearittund Geschlossenheitaus.
Ein hoher Grad an Geschlossenheit wird durch das Bauprinzip einer einfachen Erzhlform
erreicht: Die Konflikte zwischen Zielen und Hindernissen werden bis zum Schluss gelst, die
Kausalitt erlaubt ohne grosse Mhe, der Handlungsentwicklung zu folgen. Am Ende bleibt
keine wichtige Frage offen.75 Oder wie Eder bezglich der Vorteile der Linearitt des Plot-
Aufbaus auf die Wirkungen der Zuschauer meint: Die Rekonstruktion der Story wird
erleichtert, weil keine weit auseinanderliegenden Ereignisse ber lngere Zeit im Gedchtnis
behalten und aufeinander bezogen werden mssen; es lsst sich schneller und konomischer
erzhlen, reflektives Zurcktreten aus der Handlung und Langeweile wird verhindert.76
Gefordert wird eine Konzentration auf den main fabula path, der sich direkt und objektiv
vor den Augen des Zuschauers als unsichtbarer Beobachter entwickelt.77 Der kohrente,
linear vorwrtsdrngende Ereignisstrom wird so selten wie mglich durch Anachronien
unterbrochen, um die illusionistische Bruchlosigkeit nicht zu zerstren.78 Lineares Erzhlen
sei die Voraussetzung fr Spannung, weil diese dadurch entsteht, dass ein Ereignis dem
Zuschauer (mindestens) zwei mgliche Antworten in Bezug auf die Folgen des Ereignisses
nahelegt,79 von denen eine erwnscht und unwahrscheinlich, die andere unerwnscht und
wahrscheinlich ist.80 Branigan geht davon aus, dass auch die komplexeren Erzhlformen vom
Zuschauer in seinem Verstehensprozess auf das Basismodell zurckzufhren versucht72 Der Einfhrung von Ort, Zeit und der relevanten Akteure.73 Vgl. Bordwell, David: Classical Hollywood Cinema: Narrational Principles and Procedures. In: Rosen, Philip (Hrsg.):Narrative, Apparatus, Ideology. New York 1986, S. 20.74 Vgl. Armes, Roy: Action and Image. Dramatic Structure in Cinema. Manchester and New York 1994, S. 65.75 Vgl. Christen 2002, S. 30.76
Eder 1999, S. 77.77 Vgl. ebd.78 Vgl. Branigan 1992, S. 39-40.79 Vgl. die Ausfhrungen ber den proairetischen Code bei Barthes in Kapitel 2.2.1.3.80 Vgl. Eder 1999, Kapitel 7.
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werden, und dabei die zu leistende Eigenaktivitt, die Anstrengung grsser wird, je strker der
Plot von diesem Basismodell abweicht; bis es schliesslich zur Verweigerung, zum vorzeitigen
Abbruch der Filmrezeption kommt.81
Jens Eder schreibt allerdings im Vorwort zu seinem Drehbuchratgeber auch, er habe die
Tendenz zur Vernderung des filmischen Erzhlens festgestellt habe, deren dramaturgischer
Aufbau werde verspielterund komplexer, und neue Drehbuchratgeber begnnen, ihre Regeln
vorsichtiger und flexibler zu formulieren als die Klassiker.82 Er unterscheidet zudem drei
zeitgenssische kulturelle Muster, die von denen des Mainstreamkinos abweichen: die
Aufklrung ber die Vernderbarkeit der gesellschaftlichen Verhltnisse, wie es das epische
Theater leistet; das Aufzeigen der Kontingenz und prinzipiellen Unfassbarkeit unseres
Daseins, wie im modernen Roman oder im Kunstkino, und das ironische Spiel mit den
Versatzstcken der Medienrealitt wie im postmodernen Kino.83 Welches sind denn nun diese
Faktoren, die die Linearitt der klassischen Filmerzhlung angreifen?
81 Vgl. Branigan 1992, S. 39-40.82 Vgl. Eder 1999, S. 2.83 Vgl. ebd., S. 121/122.
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2.1. Angriffe auf die lineare Erzhlstruktur im Film
2.1.1.Kulturphilosophische Angriffe auf die lineare Erzhlstruktur im Film2.2.1.1. Das lineare Denken entsteht und wird wieder in Frage gestellt
Mit der Einfhrung und Verbreitung der Schrift, mit dem Aufreihen vonBuchstaben und dem anschliessenden Lesen, d.h. Entziffern der einzelnen Symboleeins nach dem anderen (auflesen) wird die Linearitt zum dominantenOrdnungsprinzip unserer Kultur.84
Geschichte wird nicht nur erst mittels Schrift aufgezeichnet, auch das Denken in Geschichte,
in chronologisch-kausaler85 Abfolge von Handlungen ist durch die Linearitt der Schrift
induziert, Geschichte entwickelt sich irgendwohin, ist teleologisch und macht Sinn.
Mit der Erfindung der Linearschrift war die eigentliche Geschichte geboren. Weildie Zeichen der Texte die magische Oberflche aufrollten, verwandelten sie dieSzenen in lineares Geschehen, und so entstand die lineare, gerichtete,geschichtliche Zeit. Das existenzielle Klima wurde durch diese Umkodierung vonOberflchen in Linien radikal verndert, weil das Leben nun nicht lnger einKreislauf der ewigen Wiederkehr war, sondern zu einer Serie unwiderruflicherAugenblicke wurde, welche dramatische Entscheidungen erforderten.86
Es stellt sich also mit Paul Ricoeur die Frage, ob nicht die konzeptionelle Beziehung
zwischen Erzhlung und Zeit verkehrt dargestellt wird, ob wir der Zeit nicht eine (falsche?)Linearitt auferlegen, weil unsere Mythen ber das Menschliche als lineare Erzhlungen
berichten. Die Art, Geschichten zu erzhlen und erzhlt zu bekommen, verndert unsere
Wahrnehmung von Zeit und damit unsere Wahrnehmung der Welt. Ein Hinweis darauf wren
vielleicht die abweichenden Zeitkonzepte in oralen Kulturen, wo eher zyklische Auffassungen
vorherrschen. Dort findet die Erzhlung in Anstzen diskursiv und interaktiv statt, eher in
einem Erzhlraum als an einem Erzhlstrang. Auch im Umgang mit niedergeschriebenen
heiligen Texten zeigt sich dieser Unterschied noch. So geht die hebrische und orientalische
Denkweise etwa in Kurven und konzentrischen Spiralen an eine Botschaft heran,87
whrenddessen sich die Bibelgelehrten des Widerspruchs zwischen ihren Methoden und einer
komplexen, in Wechselwirkung stehenden Botschaft zwar bewusst sind, dennoch aber linear
84 Flusser, Vilm: Medienkultur. Frankfurt a. Main 1997, S. 21-40.85 Wobei McLuhan auf David Hume verweist, der bereits im achtzehnten Jahrhundert gezeigt hat, dass sich aus einer blossenAufeinanderfolge kein Kausalittsprinzip ergibt. Dass etwas auf etwas anderes folgt, heisst noch gar nichts. Nichts folgt ausdem Aufeinanderfolgen ausser einer Vernderung. Vgl. McLuhan, Marshall. Die magischen Kanle. Understanding Media.
Frankfurt a. Main 1970.86 Flusser 1997, S. 135.87 Vgl. etwa auch die Ausfhrungen ber die Notation von Botschaft und Kommentaren, Verweisen, Anmerkungen imTalmud. Fendt, Kurt: Offene Texte und nicht-lineares Lesen. Hypertext und Textwissenschaft. Inauguraldissertation derphilosophisch-historischen Fakultt der Universitt Bern. Bern 1993, S. 94.
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vorgehen.88 Zwar knnen in oralen Erzhlungen wiederkehrende Figuren und Situationen
ausgemacht werden, wie Vladimir Propp anhand seiner Studien von russischen Mrchen89 und
ihren 31 narrativen Schemata, oder Joseph Campbell anhand seiner Untersuchung der
Mythen90 belegen, diese konnten aber im Verlauf der mndlichen Erzhlung immer wieder
neu kombiniert, je nach Reaktion der Zuhrer situativ variiert und modifiziert werden. Eine
Mglichkeit, die mit der linearen Aufreihung von Buchstaben in ein feststehendes Schema
gezwngt und vom Prinzip her auch bei der kinematographischen Aufreihung von
Einzelbildern, Einstellungen und Szenen beibehalten wurde. Lacey bernimmt die
Gegenberstellung oraler und literarischer Kulturen bei der Prsentation von Erzhlung von
Fiske und Hartley, und bezeichnet das Orale als episodisch, mosaikartig und dynamisch,
whrend das Literarische sequentiell, linear und statisch sei.91 Schon frh in unserer
Kulturgeschichte wurden Erzhlungen, die vorher mndlich variiert wiedergegeben wurden
(z.B. Illyas, Odyssee), nicht nur in einer linearen, schriftlichen Reihenfolge, sondern auch in
fest definierten Erzhlstrukturen fixiert.
Die Konstruktion damit verbundener linearer, kausaler, mechanischer Weltbilder dient
letztlich der Erschaffung einer stabilen Umwelt, in der aus den Erfahrungen der
Vergangenheit einigermassen verlssliche Erwartungen fr die Zukunft abgeleitet werden
knnen, um eine Orientierung fr das Handeln in der Gegenwart zu erhalten.
Vielleicht mssen wir aber von diesen vertrauten Weltbildern wieder Abschiednehmen, wenn wir die komplexen und nicht-linearen Systeme, die wiroffensichtlich sind, die uns umgeben und die wir heute in immer grssererKomplexitt auch wahrnehmen knnen, sinnvoll beschreiben wollen. Jean Piageterwhnt als Beispiel, wie wir unsere ersten kausalen Weltbilder konstruieren, dasKind, das sich an der Tr wehmacht und daraufhin die Tr schlgt mit den Worten:Du bse Tr!92
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts zeitgleich also mit der kinematographischen Frhgeschichte
kam das positivistische Denken und damit auch die teleologische Rationalitt unserer Kultur
in eine Krise. Ausgelst durch Erkenntnisse aus der Wissenschaft, dass Zeit relativ ist
(Relativittstheorie), unterschiedliche Positionen des Beobachters das Beobachtete be-
einflussen (Heisenbergsche Unschrferelation), und der Mensch nicht rational allein handelt,
88 Vgl. McLuhan 1970, S. 35.89
Vgl. Propp, Vladimir: Morphologie des Mrchens. Mnchen 1972.90 Vgl. etwa die Untersuchungen zur Heldengestalt in Campbell, Joseph: The hero with a thousand faces. New York 1949.91 Vgl. Lacey 2000, S. 86.92 Krieg, Peter: WYSIWYG oder das Ende der Wahrheit. Dokumentarfilm in der Postmoderne. In: Felix, Jrgen (Hrsg.): DiePostmoderne im Kino. Ein Reader. Bamberg 2002, S. 150.
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sondern von seinem Unterbewussten gesteuert wird (Freuds Traumdeutung93) wurde der
Laplacsche Dmon94 des Positivismus aus der Welt vertrieben.
Die Diskontinuitt ist, in den Wissenschaften wie in den Alltagsbeziehungen, die
Kategorie unserer Zeit: die moderne westliche Kultur hat die klassischen Begriffevon Kontinuitt, universellen Gesetzen, Kausalbeziehungen, Vorhersagbarkeit derPhnomene endgltig aufgelst.95
An die Stelle von eindeutigen Ursachen und Wirkungen traten Mglichkeitsfelder96 in einem
nicht-euklidischen Raum, in welchem Abzweigungen durchaus auch wieder zusammenfhren
knnen. Es entstanden entweder partizipatorische Universen, die erst durch die Teilnahme
geschaffen werden, oder Pluriversen, wo jedes sich durch die Beobachtung spaltende
Phnomen eine Vielzahl paralleler Welten erzeugt.97
2.2.1.2. Postmoderne und Schizophrenie
Aber nicht nur die allgemeingltigen Gesetze, sondern auch die grosse, bergeordnete
Geschichte, die grand narrative, die Meta-Erzhlung, wurde spter in der Postmoderne in
Frage gestellt und mehrere kleine Geschichten an deren Stelle gesetzt.98 Der Charakter von
Kultur wird beschrieben, als ein sprunghafter, konfliktreicher Pluralismus, der
spannungsgeladene Umgebungen schafft, die einen Einfluss haben, sowohl auf dieKonstruktion von Vorstellungen, als auch von den Subjekten, die mit ihnen interagieren.
Jameson stellt in diesem Zusammenhang die Frage nach der Darstellung von Geschichte
(Histoire), ob es eine angemessene erzhlerische Rahmenkonstruktion geben knne, in
welcher sich Geschichte wiedergeben liesse.99 Die poststrukturalistischen Philosophieanstze,
etwa der von Deleuze geprgte Begriff des schizophrenen Textes oder Derridas
93
In diesem Zusammenhang ist interessant zu erwhnen, dass Freud die Trume als Erzhlungen anschaut, die nonlinearfunktionieren, weil alle Elemente gleichzeitig prsent sind wie er an dem berhmten Beispiel des Traumes vom Wolfmannexemplifiziert, und gleichzeitig Mhe bekundet, diese in die lineare Form seiner Aufzeichnungen zu transkribieren. Vgl.Weinbren, Grahame: In the Ocean of Streams of Story. In: MFJ,1995, No. 28.94 Dieser besagte, dass sich bei bekannter Position, Richtung und Geschwindigkeit einzelner Teile die Bewegung desgesamten Universums vorausberechnen liesse.95 Eco 1996, S. 214.96 Der Feldbegriff steht in der Physik fr eine neue Auffassung von Ursache und Wirkung, die nicht mehr eindeutig, sondernals komplexes Interagieren von Krften aufgefasst wird. Der Begriff der Mglichkeit ist ein philosophischer Terminus, dereine ganze Tendenz der zeitgenssischen Wissenschaft widerspiegelt: das Abgehen von einer statischen und syllogistischenAuffassung der Ordnung, die Offenheit fr eine Plastizitt persnlicher Entscheidungen und eine Situations- undGeschichtsgebundenheit. Vgl. Eco, Umberto: Das offene Kunstwerk. (7. Aufl.). Frankfurt am Main 1996, S. 48.97 Vgl. Lischka, Gerhard Johann/Weibel Peter: Polylog. 1989. Http://www.aec.at/20jahre/archiv/19891/1989_065.html(24.07.2003), S. 15.98
Dies fhrte u.a. auch zur Ansicht, Wissenschaft generell und insbesondere die Narratologie seien auch nur Geschichtenunter anderen. Die Struktur in Erzhlungen entstehe erst eigentlich dadurch, dass die Narratologie deduktiv an die Texteherangehe und danach suche.99 Vgl. Jameson, Frederic. Das politische Unbewusste. Literatur als Symbol sozialen Handelns. Reinbek bei Hamburg 1988,S. 15-18.
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Dekonstruktion100, weisen derartige Totalisierungen im Namen von Differenz, Fluss,
Dissemination und Heterogenitt entschieden zurck.101 Im Rahmen dieser Debatte wird
vermehrt auch die diachrone Achse in der Textkonstruktion bercksichtigt; d.h. je nach
Anordnung der Zeichen, ndert der Text seine Bedeutung(en) und entzieht sich damit jeder
Einheitlichkeit. Struktur kann nicht mehr von Bedeutung(en) unterschieden werden.102
Zudem zitieren sich die einzelnen Texte zunehmend gegenseitig und brechen damit ebenfalls
ihre Linearitt auf.
Erzhlungen konstruieren aber nicht nur Sinn, wie anfangs schon bemerkt wurde, sondern
auchIdentitt. Persnliche Identitt ist nicht in unseren Krpern festgemacht, sondern wird
konstruiert, indem wir uns durch markante Eckpunkte unserer Biographie von anderen
unterscheiden, eine eigene Geschichte am laufen erhalten. Oder um mit Richard Rorty zu
sprechen: Der Mensch erschafft sich schreibend selbst. 103Schizophrenie wird als das
Auflsen der Einheit einer Person diagnostiziert und der poststrukturalistische Psychoanalyst
Jacques Lacan versteht dies als Zusammenbruch im zeitlichen Ablauf von Bedeutungen, einer
Unfhigkeit, die Linearitt der Dinge aufrecht zu erhalten. Um normal zu sein, msse man
ein lineares Konzept von Zeit haben, nicht zuletzt deshalb, weil dies als Basis fr Schuld und
moralisches Handeln gilt, wie filmische Erzhlungen wie Slaughterhouse Five104 zeigen,
denen gerade dies fehlt.105 Deleuze und Guattari sehen den Verlust einer zeitlichen Abfolge
und das damit verbundene schizophrene Erlebnis als bezeichnend fr die postmoderne Kultur,
als Normalfall, der denjenigen des kontrollierten Ablaufs abgelst hat. Die Interpretation
eines Textes findet nicht mehr linear von der Vergangenheit in die Zukunft statt; Zeit
kollabiert in ein permanentes Prsens, das stets alle Mglichkeiten potentiell enthlt. Currie
vergleicht die Situation mit dem Kaufakt in einem Supermarkt, wo der zeitliche Aufwand auf
ein Minimum komprimiert wird und wir uns andauernd fr ein Produkt entscheiden mssen,
nur dass wir bei Texten zwischen unterschiedlichen Bedeutungen, Rollen und psychischen
Zustnden whlen knnen.106 Dies hat auch mit der spielerischen Funktion des postmodernen
Textes zu tun: Stellte der moderne Text epistemologische Fragen nach der Mglichkeit der100 Der Dekonstruktivismus schlgt vor, einen Text, der von einem Autor mit seinem jeweiligen Hintergrund, seinerBiographie, konstruiert wurde, zu zerlegen und durch den Leser mit unterschiedlichem Hintergrund und unterschiedlicherBiographie zu rekonstruieren es geht also um die subjektive Aneignung des Textes. Die Dekonstruktion ist gleichzeitigKonstruktion wie auch Destruktion eines Sinnes, ein Textanalyseverfahren, das im Gegensatz zur Hermeneutik nicht voneiner reproduzierbaren Sinneinheit ausgeht, im Gegenteil den Nachweis erbringen will, dass und vor allem: wie ein Textseine Bedeutung selbst hinterfragt, durchkreuzt und gerade mit solchen Paradoxien Sinn schafft.101 Vgl. Lutter/Reisenleitner 2002, S. 65.102
Ebd.103 Vgl. Currie, Mark: Postmodern Narrative Theory. London 1998, S. 101.104 Slaughterhouse Five. George Roy Hill. VHS, 104 min. USA 1972.105 Vgl. Currie 1998, S. 103.106 Vgl. ebd., Kapitel 5.
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Erkenntnis der Welt in den Vordergrund, so wird der postmoderne zwar nicht die Welt als
Spiel ansehen, aber Texte ber die Welt in Spielform107 dazu benutzen, verschiedene
Entwrfe und Identitten auszuprobieren.108 Es entsteht ein grundlegender Zweifel an
bergeordneten Konzepten wie Objektivitt, Kausalitt, Subjekt, Geschichte und
Fortschritt.109 Also kann auch die klare, einheitliche, abgeschlossene, lineare Erzhlung im
Film nicht lnger bestehen.
Postmoderne Filme haben sich auch von den utopischen und aufklrerischenZielsetzungen des modernen Films verabschiedet. Sie bilden keinen linearenProzess der Vernderung mehr ab, sondern bewegen sich stets in mehrereRichtungen gleichzeitig [...]. Das Kino [...] beschreibt Beziehungen in immer neueVernetzungen110 hinein. Es entwickelt offene sthetische Systeme, deren Strukturenfr den Zuschauer leicht nachzuvollziehen sind, sich aber immer weiter entwickeln(und daher sozusagen die Mitarbeit des Zuschauers111 brauchen).112
2.2.1.3. Aktive Rezipienten
Durch diese Mitarbeit des (allgemeiner bezeichneten) Lesers hat der Begriff der Lektre in
der Literatur-, Kunst- und Filmwissenschaft der letzten 30 Jahre eine neue Bedeutung
erhalten. Lesen meint nicht mehr nur das Entziffern, Decodieren und schliesslich Wiederholen
in sich vollstndiger, lesbarer Texte, sondern die konstruktive Wahrnehmung und aktiveVerknpfung von Unzusammenhngendem, Widersprchlichem, Unlesbarem zu einer Flche,
einer Textur, einem Rhizom113.114
Ryan erwhnt einen Cartoon, den sie in der New Yorker-Tageszeitung gesehen hat: Ein Mann
sitzt am Bett seiner Tochter und hlt ein Buch in der Hand, darunter steht geschrieben: Stell
nicht so viele Fragen, sonst spiele ich in Zukunft wieder eine Kassette ab. Der Unterbruch
des Erzhlens einer linearen Geschichte stellt fr den Vater eine Retardierung im abendlichen
Ritual dar, dessen er schon mde ist: Fr die Tochter hingegen sind Rckfragen und
Anmerkungen nicht nur eine Mglichkeit, lnger wach zu bleiben, sondern auch essentiell fr
die Aneignung des Textes.115
107 Vgl. dazu Kapitel 2.2.3.3.108 Vgl. Ryan 2001, S. 198.109 Vgl. Petersen, Christer: Jenseits der Ordnung. Das Spielfilmwerk Peter Greenaways. Strukturen und Kontexte. Kiel 2001,S. 108.110 Vgl. die Ausfhrungen ber Hypertext in Kapitel 2.2.3.2.111 Vgl. die Ausfhrungen ber aktive Rezipienten im folgenden Kapitel.112 Seesslen, Georg: David Lynch und seine Filme. Marburg 2000, S. 127/128.113
Der Begriff Rhizom als Textstruktur wurde von Deleuze und Guattari geprgt: Es handelt sich dabei um ein Netz, inwelchem jeder Punkt mit jedem anderen verbunden ist.114 Vgl. Binczek, Natalie/Rass, Martin (Hrsg.): Sie wollen eben sein, was sie sind, nmlich Bilder. Anschlsse an ChrisMarker. Wrzburg 1999, S. 45.115 Vgl. Ryan 2001, S. 204.
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Barthes erweitert den traditionell strukturalen Zugang zum Text um die Dimension des
Lesers, indem er zwischen den konventionellen Texten (er nennt diese die lesbaren Texte)
und den schreibbaren Texten unterscheidet, bei welchen der Leser zur aktiven Partizipation,
zur Mit-Autorschaft angehalten, und somit vom Konsumenten zum Produzenten wird. Der
klassische, lesbare Text ist kontinuierlich, vollstndig und zu einem kohrenten Ganzen
integrierbar; der schreibbare Text dagegen enthlt unendlich viele Mglichkeiten und ist
offen gegenber dem Spiel mit Bedeutungen und Unterschieden. Gemss Barthes haben alle
Erzhlungen gewisse organisatorische Strukturen gemeinsam, die unser Lesen von Texten
beeinflussen, aber jede Erzhlung setzt diese individuell zusammen. Statt dies als
Einschrnkung zu empfinden, sollten wir diese Pluralitt an Codes als Einladung ansehen,
einen Text so zu lesen, dass alle seine vielfltigen Bedeutungen und Konnotationen
aufscheinen. Statt einen Text seines linearen Plots wegen zu lesen oder sich von Genre oder
zeitlicher Abfolge einschrnken zu lassen, pldiert Barthes fr einen schreibenden Zugang
zu Texten. Der schreibende Zugang bedeutet, dass wir dem Text whrend des Lesens selber
Bedeutung geben, indem wir Entscheidungen treffen ber dessen Genre und Ideologie, bevor
sich dieser seiner potentiellen Pluralitt von Zugngen, seiner Offenheit und der sprachlichen
Unendlichkeit entzieht. Barthes zeigt uns anhand seiner Analyse der Kurzgeschichte
Sarrasine von Honor de Balzac116, wie gross die Mglichkeiten und Bedeutungen einzelner
Stze sein knnen, indem er diese auf fnf elementare Codes zurckfhrt, wovon sich zwei
der hermeneutische und der proairetische Code mit dem zeitlichen und kausalen Verlauf der
Geschichte befassen.
Der hermeneutische Code verweist auf alle Elemente einer Geschichte, die nicht erklrt
werden und daher als Rtsel bestehen, beim Leser Fragen aufwerfen, die nach einer Erklrung
verlangen. Die meisten Geschichten halten Details zurck, um den Effekt der Auflsung der
diegetischen Wahrheit am Schluss zu erhhen. Wir neigen dazu, von einer Geschichte nicht
befriedigt zu sein, bis alle Ungereimtheiten geklrt sind. Der Text operiert mit bewussten
Abweichungen von der Wahrheit, mit Mehrdeutigkeiten, partiellen und aufgeschobenen
Antworten und dem Eingestndnis von Unlsbarkeit, um das Rtsel aufrechtzuerhalten.
Bestes Beispiel dafr ist natrlich der Krimi, dessen ganze Erzhlung auf den
hermeneutischen Codes zurckzufhren ist; wir werden Zeuge eines Verbrechens und die
116 Vgl. Barthes, Roland: S/Z. Frankfurt am Main 1976.
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Frage nach dessen Auflsung, nach der Rekonstruktion der Story, bestimmt den weiteren
Ablauf des Plots.
Derproairetische Code verweist auf das andere bedeutende Prinzip der Strukturierung, das
Interesse oder Spannung erzeugt. Er wird auf smtliche Handlungen und Ereignisse
angewandt, die weitere Handlungen und Ereignisse implizieren. Wenn zum Beispiel ein
Revolverheld seine Pistole auf einen Gegner richtet, sind wir gespannt, ob er diesen erschiesst
oder selber verletzt wird. Die Spannung wird hier also durch die Handlung selbst erzeugt.
Dies entspricht auch wieder dem Grundprinzip, dass wir von jeder Ursache auch eine
Wirkung erwarten, den Text also nach kausal-logischen Konventionen lesen wollen.117
Barthes sieht den Text nicht als Struktur von Bedeutetem, sondern als Galaxie von
Bedeutendem, in welchem viele Netze miteinander interagieren, ohne Anfang und Ende;
reversibel und mit unzhligen Eingngen, keiner wichtiger als der andere.118 Ein schreibbarer
Text hat viele Ein- und Ausgnge und es gibt keine Notwendigkeit mit dem Anfang zu
beginnen und bis zum Ende fortzufahren. Barthes will zeigen, wie das, was wir
traditionellerweise unter der Konstruktion des Plots verstehen eigentlich ein retroaktiver
Prozess ist. Dazu bricht er den Text in Fragmente auf, welche er Lexien Leseeinheiten
nennt und spricht vom Handhaben und Unterbrechen, vom Wiederlesen, das einen Text aus
seiner internen Chronologie herauslsen, die eindeutige und lineare Lesart aufbrechen und ihn
gegenber verschiedenen Zugngen ffnen soll. Der Leser wird zu einem aktiven Leser, der
den Text auf unterschiedliche Arten realisieren kann. Der Text wird zu einem offenen
Gewebe mit Sinnpotential.119
2.2.1.4. Offene und geschlossene Texte
Eco zeigt in seinem Werk Das offene Kunstwerk120 einerseits diese grundstzliche
Offenheit eines Werks, die Mehrdeutigkeit seiner Botschaft auf, andererseits attestiert er den
modernen Knstlern eine absichtliche Offenheit bei dessen Konstruktion, eine
Auseinandersetzung mit der wie er es nennt nicht endgltigen, aber fruchtbaren
Unordnung, die aus dem Zerbrechen einer traditionellen Ordnung und der damit
einhergehenden Absage an eine objektive Struktur der Welt hervorgetreten ist. Dies wre also117 Vgl. Kapitel 2.1.2.2.118
Barthes 1976 zit. in: Fendt, Kurt: Offene Texte und nicht-lineares Lesen. Hypertext und Textwissenschaft.Inauguraldissertation der philosophisch-historischen Fakultt der Universitt Bern. Bern 1993, S. 130.119 Vgl. Fendt, Kurt: Offene Texte und nicht-lineares Lesen. Hypertext und Textwissenschaft. Inauguraldissertation derphilosophisch-historischen Fakultt der Universitt Bern. Bern 1993, S. 131.120 Eco, Umberto: Das offene Kunstwerk. 7.Aufl., Franfkurt am Main 1996.
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als Einladung zu verstehen, zusammen mit dem Autor das Werk zu machen, sei es bei
Kunstwerken in Bewegung121 im physischen Sinn oder allgemeiner im Akt der Perzeption
durch stndige Neuknpfung122 von inneren Beziehungen, oder auch nur durch das
Herantragen unterschiedlicher Lesarten123 persnlicher Perspektiven, Geschmacks-
richtungen und Ausfhrungen.
Da die modernen Knstler sich bei der Realisierung dieses Wertes [Offenheit]hufig an Idealen von Informalitt, Unordnung, Aleatorik, Unbestimmtheit derErgebnisse orientieren, wurde auch versucht, das Problem einer Dialektik vonForm und Offenheit zu formulieren: also die Grenzen zu bestimmen, innerhalbderer ein Kunstwerk die grsste Mehrdeutigkeit verwirklichen und vom aktivenEingriff des Konsumenten abhngen kann, ohne damit aufzuhren, Kunstwerk zusein. Wobei als Kunstwerk ein Gegenstand mit bestimmten strukturellenEigenschaften gelten soll, die den Zugang der Interpretation, die Verschiebung derPerspektiven, zugleich ermglichen und koordinieren.124
Und dabei sieht Eco im offenen Kunstwerk einige Tendenzen der modernen Wissenschaft
reprsentiert, etwa die Bezugnahme auf ein Raum-Zeit-Kontinuum zur Erklrung der Struktur
von Joyces Universum, oder das Mglichkeitsfeld125, als Bezeichnung fr das Wesen der
Kompositionen von Pousseur. Ob diese Flucht vor der sicheren und festen Notwendigkeit
und diese Tendenz zu Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit126 als Krise unserer Zeit oder eher
als positive Mglichkeit zur stndigen Erneuerung der Lebens- und Erkenntnisschemata, als
Erweiterung der Horizonte oder als beides zusammen angesehen werden soll, ist fr Eco nicht
klar zu beantworten, er favorisiert jedoch eine Interpretation, derzufolge die moderne Kunst
die Mglichkeit zu einem pdagogischen Instrument mit befreiender Funktion darstellen
knnte. Indem das offene Kunstwerk die Vergnglichkeit und das Zerbrechen von Modellen
und Schemata zu ihrem eigenen Schema macht, wrde sie dem Individuum die Mglichkeit
geben, aus dem auszubrechen, was er soziale Krankheiten, wie Konformismus, Herdentriebund Vermassung als Folge der bernahme von Normen der guten Form auf allen Ebenen,
nennt.127 Jedenfalls prgt sich dadurch eine Kultur aus, fr die gegenber dem Universum der
wahrnehmbaren Formen und interpretativen Operationen die Komplementaritt
unterschiedlicher Anschauungsweisen und Lsungen mglich ist; die Rechtfertigung einer
121 Ske Dinkla spricht in diesem Zusammenhang vom flottierenden Kunstwerk, siehe auch Kapitel 2.2.2.2.122 Eine Analogie zum Konzept des Hypertextes (Kapitel 2.2.3.2) mit den verbindenen Links liegt nicht allzu fern. Leiderlsst sich hier aber kein physischer Link zum erwhnten Zielort herstellen.123
Vgl. auch die Anstze der Cultural Studies, die dieses Konzept auf kulturelle und subkulturelle Gruppen ausweiten.124 Eco 1996, S. 8.125 Vgl. die Ausfhrungen ber Mglichkeitsfelder in Kapitel 2.2.1.1.126 Eco 1996, S. 16.127 Vgl. ebd., S. 152.
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Diskontinuitt der Erfahrung, die jetzt anstelle der konventionalisierten Kontinuitt als Wert
aufgefasst wird.
Nach Eco besteht der Anspruch des modernen Autors darin, Modelle organisierter Unordnung
in ein Zeichensystem einzufhren, um dessen Informationsmglichkeiten zu erhhen.128 Er
kann nicht alle Regeln des Zeichensystems ausser Kraft setzen, weil sonst keine
Verstndigung mehr zustande kme, er beschrnkt sich aber auch nicht darauf nur innerhalb
der Regeln zu funktionieren und seine Originalitt auf den Inhalt zu beschrnken, wie dies die
klassische Kunst tat. Die Diskontinuitt des Weltbildes wird also vom offenen Kunstwerk
nicht nur erzhlt, sondern reprsentiert, und in dem Sinne lassen sich Form und Inhalt
schlecht trennen.
Hingegen differenziert Eco in Anlehnung an Fergusson und Gouhier zwischen Handlung und
Aktion einer Erzhlung: DieHandlung als ussere Organisation der Fakten, die dazu dienen,
die tiefere Struktur, die Aktion, sichtbar zu machen.129 So bringt er das Beispiel des
Oedipus, dessen Handlung schnell erzhlt ist: Oedipus forscht nach den Ursachen der Pest
und blendet sich, nachdem er entdeckt hat, dass er der Mrder seines Vaters und der Gatte
seiner Mutter ist. DieAktion aber spielt sich auf einer tiefer liegenden Ebene ab und betrifft
das komplexe Zusammenwirken von Schicksal und Schuld. Die Handlung ist vllig
eindeutig, die Aktion kann die Tnung von tausend Mehrdeutigkeiten annehmen und fr
tausend Deutungsmglichkeiten offen stehen.130 Offene Kunstwerke reduzieren die
Handlung zugunsten der Aktion, des Themas in allen erzhlenden Gattungen, in den Bchern
von Alain Robbe-Grillet, dem Theater von Ionesco und Beckett und in den Filmen von
Antonioni.
In der Ablehnung der Handlung realisiert sich die Anerkennung der Tatsache,dass die Welt ein Geflecht von Mglichkeiten ist und dass das Kunstwerk diesen
Charakter der Welt wiedergeben soll.131
Eco betont, dass das Leben nicht offen, sondern zufllig ist und dass man, um aus dieser
Zuflligkeit ein Geflecht von tatschlichen Mglichkeiten zu machen ein
Organisationsmodell einzufhren htte. Man muss also die Elemente einer Konstellation
auswhlen, zwischen denen [...] mehrwertige Zusammenhnge hergestellt werden sollen. 132
128 Vgl. Eco 1996, S. 150.129 Diese Unterteilung hat selbstverstndlich nichts mit der narratologischen Unterscheidung zwischen Story und Plot zu tun,
die ja beide auf die Erzhlung einer Geschichte im engeren Sinn abzielen. Vielmehr knnte man Aktion mit dem Themaeines Werks gleichsetzen.130 Eco 1996, S. 200.131 Eco 1996, S. 201.132 Ebd., S. 203.
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Gleichzeitig optiert Eco fr eine neue Art, aufeinanderfolgende Ereignisse als nicht
notwendigerweise zusammenhngend133 anzuschauen, wo doch heute die Konvention besteht,
dass Ereignisse, die aufeinanderfolgen, automatisch miteinander zu tun htten.134 In diesem
Sinne spricht er sich fr das Setzen des Nichtzusammenhangs, des ungewhnlichen
Zusammenhangs oder musikalisch ausgedrckt eines seriellen135 statt tonalen
Zusammenhangs136 aus.
Bezogen auf den Untersuchungsgegenstand Film kann sich Unabgeschlossenheit und
Ungelstheit einerseits auf die Bauform des Stckes und auf die Abrundung der
Figurenkonstellation des Filmes, andererseits auf den Sinn beziehen. Hufige offene
Bauformen sind episodische und a-chronologische Folgen und oftmals besteht die Offenheit
auch darin, dass bestehende Konflikte am Ende des Filmes nicht gelst werden und daher in
der Realitt des Rezipienten zu beantworten sind.137 Es kann differenziert werden zwischen
Filmen mit widersprchlicher Aussage und solchen, die gar nicht um eine Aussage bemht
sind, sowie zwischen expliziter und impliziter Offenheit. Wird etwas in mehreren Varianten
durchgespielt, msste von expliziter, bei Mehrdeutigkeit innerhalb einer einzigen Variante
von impliziter Offenheit gesprochen werden. Ein Experiment mit expliziten,
widersprchlichen Aussagen war der Film Clue138, ein Krimi, der in verschiedenen
Versionen realisiert wurde, die alle unterschiedlich endeten, mit verschiedenen Mrdern. Die
Zuschauer fhlten sich aber von dieser Offenheit eher betrogen als herausgefordert, was
Murray zur konservativen Ansicht verleitet, der Zuschauer wolle eine kontrollierende Instanz,
einen Autor, der die Erzhlung beherrscht.139
133 Vgl. mit dem Hinweis von McLuhan auf David Hume in Kapitel 2.2.1.1.134 Vgl. Eco 1996, S. 199-201.135
Vgl. hierzu auch die Ausfhrungen ber serielle Musik in Kapitel 2.2.2.2.136 Eco 1996, S. 201.137 Vgl. Hickethier 1996, S. 117 ff.138 Clue. Jonathan Lynn. VHS, 94 min. USA 1985.139 Vgl. Murray, Janet. H.: Hamlet on the Holodeck. The Future of Narrative in Cyberspace. New York 1997, S. 275.
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2.2.2..Intermediale Angriffe auf die lineare Erzhlstruktur im Film
2.2.2.1. Literarische Versuche
Die Literatur blieb von den in den vorhergehenden Kapiteln erwhnten Umwlzungen nicht
verschont und schon bald einmal wich die narratologische Notwendigkeit dem Zufall, es
begann die Krise des Erzhlens. Diese bezog sich vor allem auf die Schwierigkeit, mit Hilfe
von linearen, kausal motivierten Geschichten die komplexe Wirklichkeit der modernen, sozial
differenzierten und technisierten Gesellschaft darzustellen. Noch 1897 forderte Emile Zola
der naturalistische Roman msse die Ereignisse nicht nur chronologisch auf-, sondern auch
kausal auseinander folgen lassen, weil ja das Leben per se deterministisch ablaufe; whrend
Andr Gide zur gleichen Zeit140
in seinem Roman Paludes eine Geschichte sucht, die ebengerade nicht kausal verursacht wre. Er suchte den acte gratuit, eine Handlung, die von
nichts abhinge, von allem anderen losgelst wre.141
Aber vielleicht wurde die Linearitt der Erzhlung schon immer in Frage gestellt. So schiebt
Laurence Sterne etwa in seine Erzhlung von Tristram Shandy (1766) zahllose erklrende und
beurteilende Texte ein, die von der linearen Folge der Erzhlung ablenken, diese aber auch
erweitern und den Leser anweisen, wie er damit umzugehen habe. Sterne brachte dieMetaebene als sthetisches Element ins literarische Spiel, um die Beteiligung des Lesers an
der Sinnkonstruktion explizit zu machen.
Mallarm hingegen hat in seinem nicht vollendeten Werk mit dem simplen Titel livre
bereits 1868 die physische Auflsung der Linearitt als Projekt antizipiert.
Im Livre sollten die Seiten keine feste Anordnung haben: sie sollten nachPermutationsgesetzen unterschiedlich zusammengestellt werden knnen. Bei einerReihe loser (nicht durch einen die Reihenfolge bestimmenden Einband
zusammengehaltener) Hefte sollte jeweils die erste und die letzte Seite auf einen inder Mitte gefalteten grossen Bogen geschrieben sein, der Anfang und Ende desHeftes bezeichnet htte; innerhalb der Hefte wre es dann zu einem freien Spielvon einzelnen, einfachen, beweglichen und untereinander austauschbaren Bltterngekommen, jedoch so, dass bei jeder Kombination ein fortlaufendes Lesensinnvollen Zusammenhang ergeben htte.142
140 Man beachte, dass hier der Verfasser wie vielerorts in dieser Arbeit - in die Absurditt verfllt, die Auflsung derLinearitt als eine lineare Entwicklung darzustellen. Die Neuinterpretation und -verknpfung kulturtheoretischer Ereignisse
wrde aber den Rahmen dieses theoretischen Teils bei weitem sprengen und msste von kompetenteren Personen auf demGebiet vorgenommen werden.141 Vgl. Martinez, Matas: Krise und Innovation des Erzhlens in der Literatur der Moderne. Eine Skizze. In: Rosenthal,Stephanie: Stories. Erzhlstrukturen in der zeitgenssischen Kunst. Kln 2002.142 Eco 1996, S. 44.
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Der Roman lste sich von einer linearen Erzhlung auch dadurch, indem er
Handlungsirrelevantes ebenso stark gewichtete und indem er sich fr Assoziationen ffnete,
die weit weg von einer stringenten Handlung fhrten, wie bei James Joyce, dessen Sprache
Bilder entwirft, die sich durch extreme Vieldeutigkeit auszeichnen und dadurch visuellen
knstlerischen usserungen nahe stehen. Zudem bernimmt der Roman filmische
Erzhltechniken und beeinflusst seinerseits den experimentalen Film durch alternative
Formen der Organisation von Raum und Zeit. Joyce bewirkt durch seine Technik des
Bewusstseinsstroms das, was Ske Dinkla als Entgrenzung bezeichnet143 die Auflsung
der Trennung zwischen Subjekt und Welt; der Prozess des Denkens wird selbst zum Thema
und ermglicht das Verlassen der Welt der Linearitt und Klarheit. Der Text schafft stndig
neue Konstellationen, die offen sind fr wechselnde Verbindungen und fr das Knpfen
immer neuer Knoten - das Lesen wird zusehends zu einem networking.144 Joyce strebt
danach, eine Botschaft auf immer neue Weise erfassen zu lassen, die von sich aus mehrwertig
ist, im Vergleich etwa noch zu Dante, der auf immer neue Weise eine eindeutige Botschaft
vermittelt. Hier liegt die von modernen Autoren angestrebte Reichhaltigkeit. Diese will der
Roman auch verwirklichen wenn er nicht mehr eine einzige Handlung erzhlt, sondern in
einem einzigen Buch mehrere Handlungsablufe darzustellen versucht.145
Zur ungefhr selben Zeit wie Joyce machten sich unterschiedliche Autoren an die Auflsung
der Linearitt in der Literatur. Bedeutende Grossstadtromane des 20. Jahrhunderts wie etwa
Alfred Dblins Berlin Alexanderplatz (1929) versuchten, die simultane, ebenso disparate
wie fragmentarische Prsenz heterogenster Elemente im modernen Grossstadtleben
darzustellen. Ausserdem werden Geschichten auf ein blosses Geschehen, auf eine Abfolge
von Zustnden reduziert, es werden zunehmend irrelevante Ereignisse erzhlt oder alltgliche
Details, die sich den For