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130 StRR 4/2011 In Ihrer Online-Bibliothek Strafrecht (www.strafrecht-online.de) sind die Entscheidungen aus dem StRR, weiterführende Literatur und Vorschriften verlinkt und direkt abrufbar. : Von Lissabon über Karlsruhe nach Stockholm Demokratisches Defizit, mangelnder Mindeststandard, Verlustliste der Verteidigung von Professor Dr. Dr. h.c. mult. Bernd Schünemann, Universität München Bei den nachfolgenden Ausführungen handelt es sich um die gekürzte Fassung des am 11.9.2010 vor dem 3. EU-Strafrechtstag der Strafverteidigervereinigung NRW in Bonn gehaltenen Vortrags. Die vollständige Version finden Sie unter www.strafrecht-online.de/thema/von-lissabon-ueber-karlsruhe-nach-stockholm. Für wertvolle Mitarbeit wird Herrn Wiss. Ass. BENJAMIN ROGER, Maître en Droit, gedankt.

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welche Dokumente zu übersetzen sind und wie dies bezahlt werden soll, als besonders problematisch er-wiesen.

Das vierte Thema ist das der angemessenen Zeit und der Räumlichkeiten für die Vorbereitung einer Verteidi-gung. Signifikant ist, dass sich strafrechtliche Ermittlun-gen und Verfahren größtenteils an den Bedürfnissen, Vorstellungen und Zeitplänen der Ermittlungsbehör-den und Gerichte orientieren und die Bedürfnisse der Verdächtigen und Beschuldigten nicht berücksichti-gen. Dies trifft insbesondere auf die Anfangsphase ei-ner Ermittlung zu, die anerkanntermaßen häufig einen determinierenden Effekt auf das letztendliche Ergebnis des jeweiligen Falls hat. Probleme ergeben sich auch im Hinblick auf die Art und Weise, in der Beschuldigte über ihre Rechte – z.B. das Schweigerecht – aufgeklärt werden, Unklarheiten darüber, in welchem Moment ein Recht in Kraft tritt, die Zeit für die Vorbereitung von Anhörungen außerhalb der Hauptverhandlung, ver-schiedene Formen beschleunigter Verfahren, die die Notwendigkeit einer effektiven Verteidigung und das Recht zur Durchführung unabhängiger Ermittlungen im Interesse der Verteidigung nicht berücksichtigen.

Das fünfte und letzte Thema betrifft den exzessiven Gebrauch der U-Haft, der schon erhebliche Bedenken im Hinblick auf die Einhaltung der Unschuldsvermu-tung mit sich bringt, aber auch Einfluss auf die Vertei-digungsstrategie hat. Das Recht zur Entlassung aus der U-Haft ist in den meisten Ländern nur schwach ausgeprägt, und die Inhaftierung vermindert die Möglichkeit der Beschuldigten, ihre Verteidigung vor-zubereiten. Diese Probleme werden von der Tatsache verschärft, dass in vielen Gerichtsbarkeiten dem Be-schuldigten die tatsächlichen Grundlagen der Anträ-ge auf U-Haft nicht mitgeteilt werden, PKH in diesem Verfahrensstadium kaum verfügbar ist und wenn sie es ist, die Rechtsanwälte häufig passiv agieren, da nur geringe Vergütungen gewährt werden.

Die Studie endet mit einer Reihe von Vorschlägen an die jeweiligen Jurisdiktionen, ebenso wie an die EU und die Berufsjuristen, denn es ist erforderlich, dass sich alle Ebenen und alle Teile der Strafrechtssysteme dafür engagieren, effektive Strafverteidigung im Sys-tem zu verankern.

3. Gibt es ein einheitliches Niveau unter den Strafver-teidigern, das von einer Berufskultur untermauert wird, die erkannt hat, dass effektive Verteidigung den Verfahrenslauf ebenso berücksichtigen muss, wie das Ergebnis und für die die Wahrnehmungen und Erfahrungen der Beschuldigten und Angeklag-ten daher von zentraler Bedeutung sind?

Die Grundlage für unsere Untersuchung und Bewer-tung war die Rechtsprechung des EGMR zu den Rechtsgarantien des Art. 6 EMRK, ebenso wurde aber auch die Rechtsprechung zu den Art. 5, 8 und 10 EMRK berücksichtigt, soweit diese das Recht auf Ent-lassung aus der U-Haft, den Schutz der vertraulichen Kommunikation zwischen Mandant und Anwalt und die Redefreiheit in Zusammenhang mit Strafverfahren betreffen. Aus der Analyse der neun hier untersuchten Länder ist ersichtlich, dass eine isolierte Betrachtung der jeweiligen Rechte und Standards nicht möglich ist, da jeweils eine dynamische Beziehung mit einigen oder sogar allen anderen Rechten besteht. Bspw. hängt die Möglichkeit eines Verteidigers zur wirksamen Be-ratung des Mandanten – sowohl im Ermittlungsverfah-ren als auch im Gerichtsverfahren – davon ab, welche Informationen dem Verteidiger vonseiten der Behör-den zur Verfügung gestellt wurden und wann diese Informationen zugänglich gemacht worden sind.

Aus den Länderstudien gingen fünf Hauptthemen hervor, bei denen in praktisch allen untersuchten Gerichtsbarkeiten im Hinblick auf die Unterstützung einer effektiven Verteidigung Defizite in den Mecha-nismen und Rechtskulturen offenbar wurden.

Erstens ist Rechtsbeistand in vielen Ländern prob-lematisch, insbesondere im Hinblick auf den Zugang zu einem Rechtsbeistand, den Zeitpunkt des Zugangs und die Qualität des Beistands.

Zweitens ist PKH, eng verbunden mit dem Recht auf einen Rechtsbeistand, häufig ineffektiv, da sie schwer-fällig ist und unklaren und komplizierten Antragsbe-dingungen unterliegt. Zusätzlich ist die Verfügbar-keit, Qualität und Unabhängigkeit der Strafverteidiger in PKH-Fällen unzureichend, u.a. deswegen, da die Entlohnung der Arbeit in diesen Fällen gering ist.

Drittens werden Übersetzungen nicht immer garan-tiert, und wenn dies geschieht, hat sich die Frage,

Von Lissabon über Karlsruhe nach StockholmDemokratisches Defizit, mangelnder Mindeststandard, Verlustliste der Verteidigung

von Professor Dr. Dr. h.c. mult. Bernd Schünemann, Universität München

Bei den nachfolgenden Ausführungen handelt es sich um die gekürzte Fassung des am 11.9.2010 vor dem 3. EU-Strafrechtstag der Strafverteidigervereinigung NRW in Bonn gehaltenen Vortrags. Die vollständige Ver sion finden Sie unter www.strafrecht-online.de/thema/von-lissabon-ueber-karlsruhe-nach-stockholm. Für wertvolle Mitarbeit wird Herrn Wiss. Ass. Benjamin RogeR, Maître en Droit, gedankt.

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3. Zurück zur Strafrechtssetzungskompetenz der EU nach Lissabon. Das BVerfG hat in seinem Lissabon-Urteil (Rn. 352 – 354) die vom Umfang wie vom Gewicht her gewaltigen Kompetenzen zusam-mengestellt, die der EU auf dem Gebiet der Recht-setzung im Straf- und Strafverfahrensrecht in den Art. 82 – 86 AEUV übertragen worden sind und die im Strafrecht die gesamte besonders schwere Krimi-nalität umfassen, soweit sie nur auf einer gemeinsa-men Grundlage bekämpft werden muss, und zusätz-lich eine strafrechtliche Annexzuständigkeit in allen Politikbereichen der EU, wobei die vorläufige, selbst schon riesige Enumerationsliste durch einstimmi-gen Ratsbeschluss mit Zustimmung des Parlaments erweitert werden kann. Man versuche diesen Quan-tensprung in der Machtfülle der EU ja nicht damit zu verniedlichen, dass die betreffenden Materien schon zu einem erheblichen Teil möglicher Gegenstand von Rahmenbeschlüssen gewesen seien und dass zuvor schon kein anderer als der EuGH die strafrechtliche Annexkompetenz der EU erfunden habe. Denn den Rahmenbeschlüssen des Rats der EU fehlte in Wahr-heit jede Verbindlichkeit, und wenn es jemals einen rechtlich unwirksamen sog. ausbrechenden Hoheits-akt des EuGH gegeben hat, dann ist es seine Erfin-dung einer strafrechtlichen Annexkompetenz der EU gewesen. …

4. Eine noch gravierendere Kompetenzverschie-bung von den Mitgliedstaaten in den transnationalen Bereich ist den Architekten des Lissabon-Vertrags da-durch gelungen, dass das Prinzip der gegenseiti-gen Anerkennung, welches bis dahin für die Straf-rechtspflege ein bloßes politisches Postulat darstellte, nunmehr sogar mehrfach in der Unionsverfassung verankert ist, nämlich in Art. 67 Abs. 3 sowie Art. 82 Abs. 1 AEUV. Denn es soll mit diesem Prinzip nicht um die bloße Anerkennung im Sinne einer Verbeugung vor dem Gessler-Hut gehen, sondern darum, dass straf-verfahrensrechtliche Maßnahmen eines Mitgliedstaats auch in den anderen Staaten durch die Verfolgungs-behörden dieses Staats ohne inhaltliche Überprüfung ihrer inhaltlichen Richtigkeit vollstreckt werden. D.h. in der Praxis aber nichts anderes, als dass die Staats-gewalt jedes einzelnen Mitgliedstaats von den Grenzen ihres eigenen Territoriums befreit wird und im ganzen Raum der EU Durchsetzung verlangen und erlangen kann, wobei die Vollstreckungsorgane der anderen Staaten als Büttel des Anordnungsstaats fungieren. Abermals haben die Mehrheitler sich nicht einmal um ein Verständnis dafür bemüht, welche Ver-fassungsrevolution in diesem Prinzip steckt, und sich im Wesentlichen mit Betrachtungen darüber zufrie-dengegeben, dass für das praktische Funktionieren der gegenseitigen Anerkennung ein Vertrauen zwi-schen den Behörden der Mitgliedstaaten erforderlich sei, obwohl notabene in freiheitlichen Staaten, als die sich die Mitglieder der EU verstehen möchten, das Vertrauen der Bürger und nicht der Behörden die originäre und fundamentale Voraussetzung bilden sollte. Durch den beschriebenen Mechanismus wird aber nicht nur wie bei der Erfindung der mutual re-cognition im Warenverkehr die Verkehrsfähigkeit von

I. Vertrag von Lissabon – Demiurg und Proteus in einer Person

1. (Es) kann kein Zweifel daran bestehen, dass der Lissabon-Vertrag Schöpfer einer europäischen Ver-fassung ist, die bspw. im Bereich des Strafrechts und des Strafverfahrens, das uns heute hier interessiert, der Bundesebene weit größere Gesetzgebungs-kompetenzen zuweist als bspw. die Verfassung der USA. Der Aufbau einer Bundesstrafjustiz für be-stimmte, sinnvollerweise nur auf der föderalen Ebene justiziable Materien ist in den USA ebenso exzessiv wie sprunghaft ausgereizt worden, man denke nur an die Begründung der Bundesjustiz für den Fall einer auf dem Postwege erfolgenden Überschreitung der Einzel-staatengrenze. Umgekehrt ist diese Methode bisher in der EU vollständig vernachlässigt worden. Ich erinne-re nur daran, dass sogar das von den namentlich in Deutschland kopfstarken Jubeleuropäern in den Ge-ruch der Miseuropie gerückte, von mir 2006 heraus-gegebene „Gesamtkonzept für die europäische Strafrechtspflege“ eine eigene europäische Straf-justiz jedenfalls für die Verfolgung der europäischen Amtsdelikte für völlig unerlässlich erklärte, dass es an dieser aber bis heute mangelt und die genannte Ver-folgung deshalb Aufgabe Belgiens wäre, was offenbar nur deshalb die belgische Justiz nicht überfordert hat, weil europäische Beamte ausnahmslos korrekt han-deln. … Umgekehrt hat der Lissabon-Vertrag der föde-ralen Ebene eine ausgedehnte Gesetzgebungsgewalt über die einzelstaatliche Strafrechtspflege verliehen, deren Pendant in den USA allein die Generalklausel des due process im 14. Amendment zur Bundesverfassung in Verbindung mit der die einzelstaatliche Judikatur kontrollierenden Rechtsprechung des Supreme Court bildet. Dagegen fehlt dem EuGH auf diesem Gebiet so gut wie jede Kompetenz, weil die im Lissabon-Vertrag vorgenommene Komplettierung des europäischen Rechtsschutzes nur für europäische Vollzugsakte gilt, sodass die Akte der einzelstaatlichen Strafjustiz nur über ein allein von deren Gerichten einzuleitendes Vorabentscheidungsverfahren in die Jurisdiktionsge-walt des EuGH geraten könnten.

2. Der Quantensprung in der Europäisierung der Strafrechtspflege, den der Lissabon-Vertrag gebracht hat, liegt deshalb einerseits bei der Gesetz-gebungskompetenz und andererseits in der me-phistophelisch genialen Erfindung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung, dessen Kraft zur Zer-trümmerung aller demokratischen und rechtsstaatli-chen Sicherungen nicht einmal vom klugen BVerfG in seinem der entschlossenen Verteidigung von Demo-kratie und Rechtsstaat gewidmeten Lissabon-Urt. v. 30.6.2009 erkannt worden ist (BVerfG 123, 267). … Lassen Sie mich trotz der eng begrenzten Zeit we-nigstens ein anderes europäisches Rechtsprinzip er-wähnen, hinter dessen harmlosem Augenaufschlag seine mit dem Hindugott Shiva vergleichbare Kraft zur Totalzerstörung rechtsstaatlicher Kautelen fast unkenntlich wird, nämlich das sog. Prinzip der Ver-fügbarkeit bei der Nutzung personenbezogener Da-ten durch Sicherheitsbehörden. …

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2. Das Lissabon-Urteil hat die Ausübung der Straf-gesetzgebungskompetenz durch die demokratisch nur suboptimal legitimierten europäischen Orga-ne dadurch zu domestizieren versucht, dass es den deutschen Regierungsvertreter im Rat an vorheri-ge Entscheidungen des deutschen Parlaments gebunden hat, was bei der Wahrnehmung der sog. Brückenklauseln zur zukünftigen Ausweitung der in den Art. 82 und 83 AEUV ausdrücklich zugewiese-nen Kompetenzen sowie umgekehrt bei der jeweils in Abs. 3 vorgesehenen nationalen Notbremse, wenn grundlegende Aspekte der eigenen Strafrechtsord-nung berührt werden, eine besondere Bedeutung be-sitzt. … An der aus dem GG zwingenden Notwendig-keit dieser Kautel der vorherigen parlamentarischen Zustimmung ist meiner Meinung nach mit dem BVerfG ebenso wenig zu zweifeln wie umgekehrt aber auch daran, dass sie nicht hinreichend ist, um den drama-tischen Machtverlust des im Zentrum der demokrati-schen Legitimation stehenden Parlaments gegenüber der Regierung und erst recht gegenüber den guberna-tiven europäischen Strukturen nennenswert zu redu-zieren. Zwar haben wir jetzt das Gesetz über die Aus-weitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesrats in Angelegenheiten der EU. Aber erst unlängst war anlässlich der Verabschiedung des EU-Geldsanktionengesetzes wieder zu beobachten, dass sich die Fraktionen im Bundestag … nicht trau-en, ihren Lakaiengehorsam selbst gegenüber frühe-ren Rahmenbeschlüssen auch nur infrage zu stellen.

3. Das bedeutet: Der Einfluss der Bevölkerung in einer nach dem Muster des GG verfassten Demokratie wirkt sich in der heutigen Realität weitaus schwächer als nach den klassischen Theorien der repräsentati-ven Demokratie über das Parlament aus, weil dessen Mitglieder gewöhnlich als Schutztruppen der Regie-rung agieren, die über die Fraktionsleitung auch die Abgeordneten kommandiert. Weit wichtiger ist des-halb im Sinne des Konzepts der deliberativen Demo-kratie der Einfluss über die öffentliche Meinung, die sowohl die Regierung als auch die Abgeordneten im Fall einer von der Bevölkerung missbilligten Politik um ihre Wiederwahl fürchten lässt und die in Gestalt der Kristallisation in Bürgerinitiativen auch schon vorher der Regierung und ihrem parlamentarischen Tross mehr Hindernisse bereiten kann als eine noch so aktive Opposition. Genau hier liegt aber wiederum das keiner Kompensation zugängliche Defizit der EU, die wegen ihrer Vielsprachigkeit anders als die USA keine einheitliche Öffentlichkeit aufweist.

4. Ich komme damit zu dem Ergebnis, dass die EU eine signifikant geringere demokratische Legitimation auf-weist als die einzelnen Mitgliedstaaten und dass dieses Defizit auch nicht durch das Ausmalen schöner Bilder wie etwa der Mehrebenendemokratie kompensiert werden kann. Man sollte deshalb ohne weitere Versu-che von Heuchelei und verhüllender Rede nüchtern ein-gestehen, dass dies der Preis ist, den die europäische Bevölkerung für den von ihr aus der Europäisierung zu ziehenden Nutzen wie etwa Frieden, Freizügigkeit, wirtschaftliche Prosperität oder was auch immer zu

Gurken oder Kinderspielzeug geregelt, sondern eine Art intermediäre Ebene der strafrechtlichen Zwangs-gewalt etabliert, die zwischen der legislatorischen Macht der Union und der demokratisch legitimierten und rechtsstaatlich kontrollierten Exekutivmacht der Einzelstaaten eine extraterritoriale und in dem davon betroffenen, gewissermaßen kolonialisierten Gebiet nicht mehr kontrollierbare, europaweite Zwangsge-walt jedes einzelnen Mitgliedstaats etabliert. Indem dieses wie eine juristische Ausgeburt Frankensteins anmutende Zwangsinstrument im Strafrecht durch die immer weiter um sich greifende Aufhebung des Grund-satzes der beiderseitigen Strafbarkeit, um im Bilde zu bleiben, vollends von der Kette gelassen wird, sieht sich heute jeder Bürger eines Mitgliedstaats auch dem direkten Zugriff der Staatsgewalt der 26 anderen Mit-gliedstaaten ausgesetzt, ohne dass ihm hiergegen … in seinem Heimatstaat ein ausreichender Rechtsschutz garantiert wird. Auch hier wieder kann man ein Gefühl sportiver Bewunderung für die Schöpfer des Lissabon-Vertrags nicht unterdrücken, die der Staatsgewalt jedes einzelnen Mitgliedstaats durch das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung einen so riesigen Macht-zuwachs versprochen haben, dass der darin liegenden Versuchung keine Regierung widerstehen kann. Die Zeche zahlt jeder einzelne Bürger, der zu derartigen Instrumenten selbst dann kein Vertrauen fassen könn-te, wenn er nicht aufgrund eigener Untersuchungen der EU-Organe wüsste, dass bspw. die Strafjustiz in Rumänien und Bulgarien bis heute zutiefst korrupt und von jeder Vertrauenswürdigkeit weit entfernt ist.

II. Domestikationsversuche aus Karlsruhe

1. Fürs erste genug zu Lissabon, doch darf abschlie-ßend korrekterweise nicht übersehen werden, dass die grenzüberschreitende Kriminalität in der EU ein dringend regelungsbedürftiges Problem bildet, ge-wissermaßen als Kehrseite des Grundrechts auf Frei-zügigkeit. In einem einheitlichen kriminalgeogra-fischen Raum, wie ihn die EU heute darstellt, muss natürlich auch eine grenzüberschreitende Strafver-folgung möglich sein, sonst würde auf die Moder-nisierung der Kriminalität nicht mit der gebotenen Modernisierung ihrer Verfolgung reagiert. Es kann also nur darum gehen, diese Aufgabe ohne Preisga-be des demokratischen Rechtsstaats zu lösen. Exakt diesem Ziel hatte sich das Lissabon-Urteil des BVerfG v. 30.6.2009 verschrieben, sodass der gnadenlose Verriss, den ihm ein Großteil der haute volée des Staats- und Europarechts bereitet hat und der durch die Häufung pejorativer Attribute selbst Rezensionen der Romane von Günter Grass und Martin Walser durch Marcel reich-ranicki übertrumpft, auch solche Autoren zusammenzucken lässt, die wie der Referent bei ihrer eigenen Kritik höchstrichterlicher Entschei-dungen kein besonderes Zartgefühl erkennen lassen. … Weil jedoch inzwischen unverdächtige Autoritäten … diese Heftigkeiten widerlegt haben, kann ich mich dem Lissabon-Urteil von einer anderen Seite aus nä-hern, indem ich der normativen Argumentation des BVerfG die empirische Wirksamkeitsfrage hinzufüge.

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ordnung gegenüber den Strafverfolgungsins tanzen von Anfang bis Ende unterlegene Verteidigung in einem grenzüberschreitenden Strafverfahren durch die Vervielfältigung der ihre Machtmittel durch Infor-mationsaustausch, durch enge Zusammenarbeit und durch gegenseitige Anerkennung bündelnden und potenzierenden Behörden zu einer quantité négli-geable zu degenerieren droht, en quelque façon nulle in den Worten Montesquieus, sodass die im engen Verbund arbeitenden Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten bei jedem Verteidiger einen – um den Satz auch frankofon zu Ende zu führen – cauchemar des coalitions auslösen müssen. Zwar können multi-nationale Konzerne bei grenzüberschreitenden Wirt-schaftsverbrechen oder internationale Mafiaorgani-sationen diese Unterlegenheit kompensieren, aber allein schon die Unschuldsvermutung verbietet uns, dies von vornherein und für das ganze Strafverfah-ren zu unterstellen – ganz abgesehen davon, dass die sozusagen biederen Schutzmechanismen vom orga-nisierten Verbrechen kaum in Anspruch genommen zu werden brauchen, ihre volle Garantie deshalb spe-zifisch für den quantitativ im Vordergrund stehenden Durchschnittsbürger entfalten werden.

4. Anders formuliert: Die Verteidigung ist bei grenz-überschreitenden Strafverfahren nicht nur strukturell von vornherein entscheidend benachteiligt, sondern ist durch die inzwischen auf europäischer Ebene durchgeführte Kooperation und Konzentration der Kräfte, die ja weiter intensiv fortgesetzt wird …, in eine Position hoffnungsloser Unterlegenheit versetzt worden. Mit ein paar hingekleckerten ein-zelnen Verfahrensrechten ist es deshalb nicht getan, vielmehr ist eine institutionelle Kompensation unerlässlich, die auch nicht etwa durch privaten Zusammenschluss und Zusammenarbeit von Rechts-anwälten ersetzt werden kann, weil zehn Rechtsan-wälte nun einmal keine stärkere Rechtsstellung besit-zen als ein einziger Rechtsanwalt. Wie sehr sich die grenzüberschreitende Strafverfolgung schon heute zu einem Moloch entwickelt hat, könnte ich Ihnen nur in weiteren Vortragsstunden aufzählen, und selbst die würden nicht ausreichen, um jenes rechtsstaat-liche Ärgernis genügend bloßzulegen, das in dem Verzicht auf das Prinzip der beiderseitigen Straf-barkeit besteht – so als ob in einem einheitlichen Raum der Freiheit und des Rechts immer noch wie zu Zeiten von Pascal einzelne Flüsse und Gebirge da-rüber entscheiden könnten, dass diesseits Wahrheit und jenseits Irrtum liege, der Kriminalisierungsirrtum aber europaweit zu respektieren sei. Dass man we-der in den Organen der EU noch unter den deutschen Mehrheitlern und Hurraeuropäern bemerkt hat, dass das Strafrecht, welches den Bürger vom Verbrecher, den freien Menschen von der wie in einem Käfig ge-haltenen Kreatur trennt, in einem Raum der Freiheit und des Rechts mit totaler Freizügigkeit nicht un-terschiedlich gehandhabt werden darf, habe ich bis heute nicht zu begreifen vermocht … . Jedenfalls hat die Preisgabe des im Grunde gerade für die EU sach-logisch vorgegebenen Prinzips der „dual criminality“, die extraterritoriale Machtentfaltung vermöge der

zahlen bereit sein muss und offensichtlich auch bereit ist.

III. Eine schwache Aushilfe ist besser als gar keine: Impulse für eine neuartige Gewaltenteilung

1. Die Kautelen des klassischen demokratischen Rechtsstaats schrumpfen damit auf das Prinzip der Gewaltenteilung zusammen, das in der EU ganz ähnlich wie in einem Bundesstaat funktioniert. Wenn man einmal vom EuGH absieht, gibt es infolge der im Lissabon-Vertrag vorgenommenen drastischen Auf-wertung des europäischen Parlaments mit diesem, der Kommission und dem Rat drei Kontrahenten, die an die Machtverteilung zwischen Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat vor der die Konfliktberei-che reduzierenden Föderalismusreform erinnern. Die hierdurch notwendige Konsensfindung macht ent-sprechende Verfahren notwendig und öffnet da-mit die Machtausübung für die Einflussnahme durch rationale Argumente, sozusagen für eine prozedu-ral-argumentative Demokratie. Genau hier liegt die Einflussschneise der Rechtskundigen und damit auch der Rechtsanwälte und ihrer Berufsorganisatio-nen, die bei einem gebildeten und gutwilligen Reprä-sentanten der politischen Macht Gehör finden können und müssen, wenn sie mit rechtswissenschaftlich trif-tigen Argumenten aufwarten. Ich habe diese Rolle der Rechtswissenschaft früher einmal als eine vierte Ge-walt im Staat bezeichnet, die nicht herrscht, sondern nur kontrolliert, und wenn ich von Rechtswissen-schaft spreche, meine ich natürlich nicht den Stand der Professoren, sondern die schlüssigen Argumente, die von Rechtskundigen vorgetragen werden. …

2. Was der Rechtsetzungsprozess in der EU an demo-kratischer Legitimation eingebüßt hat, kann und muss deshalb durch eine Optimierung der Rationali-tätskriterien ausgeglichen werden. Zentrale Anlauf- und Verarbeitungsstelle ist hierfür ihr bürokratisches Machtzentrum, also die Kommission …. Zwar ist die Kommission hierarchisch aufgebaut, sodass es nicht ausreicht, wenn die rationalen Argumente zwar den Referatsleiter, aber nicht den zuständigen Kommissar zu überzeugen vermögen. Aber diese weitere Aufga-be scheint derzeit nicht chancenlos zu sein …. Zwar kann wiederum der Rat die Kommission blockieren, wie er es in der Vergangenheit bei den Verfahrens-mindestrechten ja auch getan hat, aber wenn ich sei-ne Entschließung v. 30.11.2009 über einen Fahrplan zur Stärkung der Verfahrensrechte von Verdächtigen oder Beschuldigten im Strafverfahren (ABl. EU 2009 C 295/01) lese, fühle ich mich in die Zeit zurückver-setzt, als das Wünschen noch geholfen hat. …

3. … in der Entschließung des Rats wurde … ein schrittweise anzugehender Fahrplan aufgestellt, den man beim besten Willen nicht, um ViViane redinGs Worte zu benutzen, als „ambitious“ bezeichnen kann. Bevor ich einen kurzen Blick auf dessen einzelne Sta-tionen werfe, will ich voranstellen, was ich an diesem Fahrplan fundamental vermisse: Nämlich die Erkennt-nis, dass die schon in der einzelnen nationalen Rechts-

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obwohl durch das Mittel der elektronischen Fußfessel 98 % davon entbehrlich und in unserem „Gesamtkon-zept für die europäische Strafrechtspflege“ eine Fülle sofort durchführbarer Remeduren aufgeführt worden ist. Hätte bis jetzt noch ein Funken Bewunderung für den Fahrplan des Rats in meinem Busen geglommen, wäre er mit der behäbigen Thematisierung der U-Haft zweifellos endgültig erloschen.

6. An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen, heißt es in Matthäus 7, was unser Altbundeskanzler kohl in seiner genialen Veranschaulichung durch alltägliche körperliche Erfahrung dahin reformuliert hat, ent-scheidend sei, was hinten herauskommt. Der Fahr-plan des Rats, der wohlweislich behutsam und nach und nach abgearbeitet werden soll, belegt im Grunde selbst den Untertitel meines heutigen Vortrags: „man-gelnde Mindestrechte und Verlustliste der Verteidi-gung“, wobei es offensichtlich nicht etwa um einzel-ne verlorene Rechte der Verteidigung geht, sondern darum, dass die Verteidigung kurzerhand selbst auf die Verlustliste gesetzt wird.

7. … Sicher klingt der Text des „Stockholmer Pro-gramms für ein offenes und sicheres Europa im Dienste und zum Schutz der Bürger“ nicht wie das Abendgebet von Teufels Großmutter, aber die Schlag-seite zugunsten der Sicherheit und damit der Polizei und der Strafverfolgung könnte ich Ihnen … Stück für Stück belegen. Am kürzesten geht es vielleicht in der Weise, dass ich aus den politischen Prioritäten im Ab-schn. 1 zitiere, wo unter der „Förderung der Grund-rechte“ der Schutz personenbezogener Daten betont wird, die aber ja nach dem Grundsatz der Verfügbar-keit den Polizei- und Strafverfolgungsbehörden zur freien Benutzung offenstehen sollen; oder wo unter der Überschrift „Europa, das schützt“ die Zusammen-arbeit im Bereich der Strafverfolgung gefordert wird, um Europa sicherer zu machen; und wo noch die Glo-balisierung und die Verantwortung für Migrations- und Asylfragen angeführt wird, das rechtsstaatliche Strafverfahren aber unerwähnt bleibt. Die Rechte des Einzelnen im Strafverfahren werden dann zwar unter 2.4 doch noch angesprochen, aber mit einem aus-drücklichen Bekenntnis zu dem von mir schon vor-stehend sezierten Fahrplan des Rats. …

8. Also schweige ich von der Initiative des Königreichs Belgien und sechs anderer Staaten, darunter Öster-reich und Schweden, für eine Richtlinie über die europäische Ermittlungsanordnung in Strafsa-chen, die seit Mai dieses Jahres auf dem europäischen Tisch liegt und in einem einzigen Instrument jede Art der Ermittlungsanordnung regeln will, inklusive der Erhebung von Daten in Echtzeit, etwa der (einfa-chen) Telekommunikationsüberwachung. Auf die kri-tischen Reaktionen zum vorangegangenen Grünbuch wird weder in der Begründung noch in dem Memo-randum eingegangen, und als Innovation wird maß-geblich gefeiert, dass die dem Vollstreckungsstaat verfügbaren Ablehnungsgründe weiter reduziert, tat-sächlich auf ein absolutes Minimum gestutzt wurden. So sind alle Richtervorbehalte entfallen, ebenso das Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit, die Terri-

gegenseitigen Anerkennung und vermöge der durch eine ganze Reihe von Instituten und Regelungen op-timierten Kooperation der Strafverfolgungsbehörden, zu einer Machtfülle integriert, die allein noch durch die Einführung jenes Eurodefensor halbwegs ausbalanciert werden könnte, die wohl den inge-niösesten Teil des von mir mit 14 europäischen Kol-legen erarbeiteten „Gesamtkonzepts für die europäi-sche Strafrechtspflege“ ausmacht. …

5. Ich fahre mit einem kurzen Blick auf den Fahr-plan des Rats zu den Mindestrechten des Be-schuldigten fort. Ich kann das recht flott machen, denn es geht, um einen bekannten deutschen Ban-kier zu zitieren, eher um Peanuts, denen ich einen Blick auf die die Strafverfolgung betreffenden und in der Produktionsröhre der EU befindlichen wirklichen Schwergewichte folgen lassen möchte.

a) Am Anfang steht die Garantie von Übersetzun-gen und Dolmetscherleistungen. Dass ist natür-lich notwendig, aber wie sähe denn ein Strafprozess aus, in dem der die Landessprache nicht sprechende Beschuldigte nicht einmal verstehen könnte, was um ihn herum geschieht? Diese Garantie ist also ebenso selbstverständlich wie trivial … .

b) Nicht weniger selbstverständlich ist die Beleh-rung des Beschuldigten über die Beschuldigung und seine Rechte … . Kein Wort dagegen, aber man bilde sich nur nicht ein, mit einem in die Hand ge-drückten Wisch die Rechtsstaatlichkeit des transnati-onalen Strafverfahrens garantiert zu haben.

c) Das Thema von frühzeitigem Rechtsbeistand und Prozesskostenhilfe ist, wie übrigens auch schon die vorangehenden Punkte, längst von der EMRK und der einschlägigen Rechtsprechung des EGMR erfolgreich bearbeitet worden. So alte Hüte nochmals in einen Fahrplan aufzunehmen, ver-braucht unnötig ökologische Ressourcen in Gestalt von Papier und Druckerschwärze.

d) Dass ein Festgenommener seine Angehörigen oder Konsularbehörden darüber in Kenntnis set-zen können muss, ist abermals eine Selbstverständ-lichkeit. Für die Idee einer ausbalancierten Verteidi-gung folgt daraus nichts.

e) Dass den aufgrund ihres Alters, geistigen oder körperlichen Zustands zum Verständnis des Ver-fahrens nicht mehr befähigten Beschuldigten eine be-sondere Aufmerksamkeit zuteilwerden soll, scheint mir eher ein humoristischer Beitrag für die Faschings-zeitung des Richterbundes als eine ernsthafte Kautel zu sein. Nach deutschem Verständnis fehlt nämlich in diesen Fällen bereits die Verhandlungsfähigkeit als Grundvoraussetzung eines jeden Verfahrens.

f) Dass die U-Haft zwischen den Mitgliedstaaten er-heblich variiert und dass übermäßig lange Zeiten für die betreffende Person nachteilig sind, wird vom Rat erkannt und soll gemächlich in einem Grünbuch the-matisiert werden. In Wahrheit ist aber die grenzüber-schreitend angeordnete U-Haft erst durch den euro-päischen Haftbefehl aufs Äußerste gesteigert worden,

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Darstellung und Kritik einen eigenen Vortrag erfor-dern würde. Das Ziel einer Kanalisierung der Zustän-digkeiten via Eurojust ist an sich vollauf berechtigt. Aber ohne Eurodefensor kann die zu einem scharfen Schwert ausgebaute Institution Eurojust nicht legiti-miert werden, das steht schon mit allen Einzelheiten in dem von mir mehrfach apostrophierten „Gesamt-konzept für die europäische Strafrechtspflege“.

torialvorbehalte und die Möglichkeit, Rechtsschutz im Vollstreckungsstaat zu erlangen. Es bedarf nur gerin-ger Fantasie, um sich vorzustellen, wie der schlappe Fahrplan zur Sicherstellung der Beschuldigtenrechte jahrelang gemächlich abgearbeitet wird, während die Eingriffsmöglichkeiten im ICE-Tempo durchgepeitscht werden. Dazu passt dann auch der permanente Ausbau der Kompetenzen von Eurojust, dessen

Europäisches „ne bis in idem“ – Alte und neue Fragen nach dem Vertrag von Lissabonvon RiOLG Professor Dr. Joachim Vogel, Tübingen/Stuttgart

Mit dem europäischen „ne bis in idem“ nach Art. 54 SDÜ, Art. 50 GRCh hat die EU ein supra- und transnationa-les Justizgrundrecht geschaffen, das zuvor in den Mitgliedstaaten nicht anerkannt war und bis heute außer-halb der Union nicht anerkannt ist – das sollte bei aller Kritik an einem demokratisch zu fragil legitimierten, zu punitiven europäischen Strafrecht anerkannt werden. Mit dem Vertrag von Lissabon ist die Union noch einen Schritt weiter gegangen und hat dem europäischen „ne bis in idem“ primärrechtlichen (konstitutionellen) Charakter gegeben. Vor diesem Hintergrund stellen sich neue Fragen und alte Fragen neu. Die nachfolgenden Ausführungen gehen diesen Fragen nach. Dabei handelt es sich um eine überarbeitete und auf Stand Februar 2011 gebrachte Fassung des Vortrags, den der Verfasser auf den 3. EU-Strafrechtstag der Strafverteidiger-vereinigung NRW e.V. am 11.9.2010 in Bonn gehalten hat.

I. Kriminalpolitischer Hintergrund

Das klassische Bedenken gegen ein transnatio-nal wirkendes „ne bis in idem“ wurzelt im Grund-satz der Staatensouveränität (vgl. hierzu VoGel, FS Schroeder, 2006, S. 877, 882 ff.): Das (Völker-)Recht eines souveränen Staats, eine Tat zu verfolgen und abzuurteilen, die seiner Gerichtsbarkeit unterfällt, kann durch das Handeln eines anderen Staats nicht beeinträchtigt werden. Im Hintergrund steht das Misstrauen zwischen souveränen Staaten, die fürch-ten, ihr Strafklagerecht durch eine zu milde, gar frei-sprechende ausländische Entscheidung zu verlieren. Derartige Erwägungen sind in der Union als einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts fehl am Platze und bereits vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon wesentlich relativiert worden. Es ist Ausdruck des seit dem Europäischen Rat von Tam-pere 1999 anerkannten Grundsatzes der gegensei-tigen Anerkennung, der nunmehr in Art. 82 Abs. 1 AEUV primärrechtlich verankert ist, dass rechtskräf-tige Aburteilungen derselben Tat durch einen ande-ren Mitgliedstaat für alle anderen Mitgliedstaaten im Grundsatz Strafklageverbrauch bewirken müssen. Dahinter steht das Postulat des gegenseitigen Ver-trauens aller Mitgliedstaaten in die Strafrechtspfle-ge aller anderen Mitgliedstaaten. Dieses Vertrauen ist zwar teilweise Fiktion und bedarf der Korrektur durch einen europäischen ordre public-Vorbehalt und auch durch einen Vorbehalt der Nichtanerkennung von Rechtsmissbrauch (vgl. in anderem Zusammen-hang BVerfG, Beschl. v. 9.10.2010 – 2 BvR 2115/09, Rn. 40 „Christoforakos II“, StRR 2010, 152). In der Tat sollten Vertrauen einerseits und wechselseitige

(horizontale) Kontrolle zwischen den Mitgliedstaa-ten anderseits Hand in Hand miteinander gehen (vgl. weiterführend Burchard, in: Beck u.a. [Hrsg.], Straf-rechtsvergleichung als Problem und Lösung, 2011, S. 275 ff.). Dies stellt jedoch das europäische „ne bis in idem“ als solches nicht infrage, sondern läuft nur auf Korrekturen hinaus wie z.B. auf die Nichtaner-kennung von „sham proceedings“, also von Schein-Aburteilungen, die lediglich den Zweck haben, den Abgeurteilten vor weiterer Strafverfolgung in der Union zu schützen.

Weiterhin trägt das europäische „ne bis in idem“ in unionsrechtlicher Perspektive dem Freizügigkeits-recht Rechnung: Wer in einem Mitgliedstaat rechts-kräftig abgeurteilt ist, soll im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts keine weitere Strafverfol-gung befürchten müssen, die ihn an der Wahrneh-mung seines Freizügigkeitsrechts hindern könnte. Schließlich schont das europäische „ne bis in idem“ die beschränkten Strafverfolgungsressourcen der Mitgliedstaaten und sichert zudem die transnationale Dignität ihrer Judikate.

II. Art. 54 SDÜ

Das in Art. 54 SDÜ niedergelegte europäische „ne bis in idem“ hat bekanntlich drei Elemente: Das Urteilselement – es muss bereits eine rechtskräftige Aburteilung vorliegen –, das Vollstreckungselement – im Fall einer Verurteilung muss die Sanktion bereits vollstreckt worden sein, gerade vollstreckt werden oder sie darf nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden können – und das Tatele-