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Pädagogische Hochschule Salzburg Beiträge aus Wissenschaft und Lehre Ausgabe 04 2011

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Pädagogische Hochschule SalzburgBeiträge aus Wissenschaft und Lehre

Ausgabe 04 2011

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AUSGABE 04/2011

InhaltsverzeichnisEDITORIALHeterogenität in Schule und UnterrichtElfriede Windischbauer 2

ASPEKTE DER LEHRERiNNENBILDUNGWohin die Reise gehtJosef Sampl 3Berufswahl im Spannungsfeld von Geschlecht und Zeitgeist Jürgen Bauer, Maria Haderer 7Lehrgang „Berufsbezogene Fremdsprache Englisch“ Didaktische Konzeption und KompetenzenkatalogChristian Lutsch 13

BEITRÄGE AUS WISSENSCHAFT UND FORSCHUNGHeterogenität in der Neuen MittelschuleAngelika McMahon 17Es war einmal eine homogene Lerngruppe Vom Mythos der Homogenität und dem Umgang mit HeterogenitätHans-Peter Gottein 25Dialog der EsskulturenUrsula Buchner 32Die Berufsstimme am Stimmarbeitsplatz Schule Das Stimmbetreuungsprojekt an der Pädagogischen Hochschule SalzburgHannes Tropper, Josef Schlömicher-Thier 41

GASTBEITRAGMehrsprachige Gesellschaft - zweisprachige Schulen? Anmerkungen zum Umgang mit sprachlicher VielfaltRudolf de Cillia 48

PROJEKTE„Cora kocht und Bernhard baut - Oder doch nicht?“ Geschlechtersensible Atelierangebote an der Praxissvolksschule der Pädagogischen HochschuleHeike Niederreiter, Silvia Nowy-Rummel 56Aus anderer Sicht - ein Projekt an der Pädagogischen HochschuleChristian Treweller 60Das Lesetagebuch als Beitrag zur individuellen LeseförderungChristine Schober 65Differenzierung durch Komplexität - Heterogenität im Mathematikunterricht begegnenMyriam Burtscher, Barbara Herzog 69

KOOPERATIONENImpulse der internationalen Zusammenarbeit für inklusive Pädagogik in ÖsterreichIrene Moser 74

ARBEITEN VON STUDIERENDENMathematik mit Kindern, die schwerhörig oder gehörlos sindBettina Lorenz 79

PUBLIKATIONEN VON MITARBEITERiNNEN DER PH SALZBURGKinder bei Tod und Trauer begleitenSagmeister, Raimund - Rezension von Friedrich J Drechsler 83Kompetente Beratung in der SchuleMagnus, Andrea - Rezension von Ewald Moser 84

AUTORINNEN / AUTORENKurzporträts 85

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EDITORIAL Elfriede Windischbauer

Heterogentität in Schule und Unterricht

Sehr geehrte Leserin, sehr geehrter Leser!

Mit diesem Heft halten Sie die Nummer 4 von ph script in Händen, die sich erstmals einem Schwer punk thema widmet Die Mehrzahl der Beiträge setzt sich mit dem Thema Hete-rogenität auseinander

Die Gesellschaft, in der wir leben, ist durch das Nebeneinander un-terschiedlicher Lebensstile und Wertorien-tierungen geprägt Globalisierung, offene Grenzen innerhalb der EU, Arbeitsmigration und internationale Fluchtbewegungen ver-stärken die Entwicklung hin zu einer zuneh-mend heterogenen Gesellschaft

Unabhängig davon, ob LehrerInnen und LehrerbildnerInnen diesen Tendenzen positiv oder kritisch gegenüberstehen, kann Schule als wesentliche gesellschaftliche Institution sich diesen sich verändernden gesellschaft-lichen Bedingungen nicht verschließen Vielmehr muss sie versuchen, der in der Ge-sellschaft bestehenden Heterogenität ge-recht zu werden und die individuellen Be-dürfnisse und Fähigkeiten der SchülerInnen besser wahrzunehmen „Die Heterogenität von Kindern und Jugendlichen anzuerken-nen bedeutet, die Unterschiedlichkeit in den Lernbegabungen, den Interessen, den Lerntypen, den ethnischen und kulturellen Hintergründen zu erkennen und sie im Un-terricht zu berücksichtigen Ein modernes Bildungssystem fördert das Potential jedes Kindes und unterstützt das Lernen des Ein-zelnen, denn jedes Kind, jeder Jugendliche

lernt anders und hat andere Voraussetzun-gen “ (Dräger/ Ölkers 2009: 4)

In diesem Sinn beschäftigen sich die AutorIn-nen der vorliegenden Nummer von ph script aus unterschiedlichen Perspektiven mit dem Thema Heterogenität

Geschlechtersensible Fragen, wie z B die Berufswahlentscheidung von Burschen und Mädchen oder das Angebot in offenen Lernphasen an der Praxisvolksschule der Pädagogischen Hochschule werden eben-so behandelt wie Themenbereiche der In-tegration und Inklusion von Menschen mit Lernschwierigkeiten und Behinderungen Wie unterschiedliche Lernwege und Inter-essen von SchülerInnen im Unterricht be-rücksichtigt werden können, wird anhand der Mathematik und der Arbeit mit Leseta-gebüchern gezeigt Im Gastbeitrag wird auf den Umgang mit sprachlicher Vielfalt an den Schulen eingegangen Weiters ist der Umgang mit Heterogenität in den Neuen Mittelschulen Thema wie auch die Tatsache, dass der Umgang mit Heterogenität u a von Persönlichkeitsmerkmalen der LehrerInnen beeinflusst wird

Die Redaktion hofft, mit dieser Nummer von ph script auch auf die heterogenen Interes-sen und Zugänge der LeserInnen eingehen zu können!

Elfriede Windischbauerim Namen der Redaktion von ph script

Literatur:

Dräger, Jörg / Ölkers, Jürgen: Heterogenität und Bildung Individuelles För-dern in Deutschland Hindernisse und Herausforderungen Gütersloh, 2009

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Josef Sampl WOHIN DIE REISE GEHT

ASPEKTE DER LEHRERiNNENBILDUNG

Wohin die Reise gehtJosef Sampl

Die LehrerInnenaus-, -fort- und -weiterbildung steht zurzeit im Fokus der Bildungsreform in Österreich. Die Zweigleisigkeit zwischen der Ausbildung von PflichtschullehrerInnen und Lehrer-Innen der AHS/BSH wird diskutiert.Durchlässige und flexible Aus-, -Fort- und Weiterbildungsstrukturen, die das professionelle Han-deln von Lehrenden in einer modernen Wissens- und Lerngesellschaft gewährleisten, müssen das Ziel der Reform sein. Der Reformprozess löste eine intensive, unkonventionelle Diskussion aus, in der der vorliegende Beitrag eine deutliche Positionierung einnimmt.

1 Von den Ursprüngen der LehrerInnenbildung

„Ich muss den Gelehrten (Franz Michael Vierthaler) bewundern, der von seinen ge-liebten Büchern scheiden konnte, der den sichern Weg zum Ruhme verließ, um sich mit der elementaren Bildung armer Schul-präparanden abzugeben, und der sich ohne Aussicht auf Ruhm und Belohnungen für besseren Unterricht und bessere Erzie-hung des Volkes sein Leben lang einsetzen wollte“ (Arnthaller 1880:17) formulierte Arnt-haller, nachdem Franz Michael Vierthaler im November 1790 ein „Schullehrersemi-nar“ eröffnet und damit in Salzburg die in-stitutionelle LehrerInnenbildung begründet hatte Seit diesem Zeitpunkt sind über 200 Jahre vergangen und die LehrerInnenbil-dung hat in Salzburg und in Österreich eine wechselvolle Entwicklung genommen In-tensive Reformphasen wechselten mit län-geren Perioden der Reformruhe Während das Gymnasiallehramt aus dem Theologie-studium entstand und so von Beginn an in der Universität lokalisiert war, begann die Ausbildung zum Pflichtschullehrer mit einem

bloßen Anlernen bei erfahrenen Schulmeis-tern nach einer Art Meisterlehre Erst Ende des 18 Jahrhunderts entwickelten sich Leh-rerseminare – wie in Salzburg das von Viert-haler gegründete Ungefähr zur selben Zeit kam es durch eine „Trennung vom Theo-logenamt“ im deutschen Sprachraum zu einer institutionalisierten Gymnasiallehrer-ausbildung an den Universitäten Die Ent-wicklung des Gymnasiallehramtes war aber von Anfang an durch die Abgrenzung von der Ausbildung der Pflichtschullehrer/innen geprägt (Vgl Heinzel 2009:265 ff)

In den letzten 40 Jahren betrafen die Refor-men der LehrerInnenausbildung allerdings in erster Linie die PflichtschullehrerInnen-bildung Mit der Einführung der Pädagogi-schen Akademien im Jahre 1968 anstelle der bisherigen LehrerInnenbildungsanstalten wurde in der PflichtschullehrerInnenbildung ein großer Reformschritt gesetzt Von klei-neren Veränderungen abgesehen, sollte es 30 Jahre dauern, bis durch das Akademien-studiengesetz 1999 erste Elemente tertiä-ren Bildungswesens in die österreichische Pflichtschullehrer Innenausbildung Eingang

Die Zukunft hat schon begonnen(Robert Jungk)

Die Zukunft war früher schon einmal besser (Karl Valentin)

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WOHIN DIE REISE GEHT Josef Sampl

ASPEKTE DER LEHRERiNNENBILDUNG

fanden (vgl Härtel 2010:24 ff) Erst durch das Hochschulgesetz 2005 (HG 2005) wurde die Ausbildung der PflichtschullehrerInnen auf ein akademisches Niveau angehoben und endgültig im tertiären Bildungsbereich ver-ankert - einundneunzig Jahre nachdem der namhafte Schulreformer Otto Glöckel in der Arbeiterzeitung vom 27 3 1920 die schon am Lehrertag 1876 aufgestellte Forderung nach einer akademischen PflichtschullehrerInnen-ausbildung bekräftigt hatte

2 Die jüngsten Entwicklungen

Seit dem Hochschulgesetz 2005 und dem Beginn der Pädagogischen Hochschulen mit dem Studienjahr 2006/07 gibt es um die LehrerInnenbildung in Österreich eine not-wendige permanente Reformdiskussion So wurde im November 2008 von Unterrichtsmi-nisterin Claudia Schmied und dem damali-gen Wissenschaftsminister Johannes Hahn die ExpertInnengruppe „LehrerInnenbildung NEU Die Zukunft der Pädagogischen Beru-fe“ unter der Leitung des Bildungsexperten und Geschäftsführers der Steirischen Volks-wirtschaftlichen Gesellschaft, Peter Härtel, eingesetzt Die Ergebnisse der ExpertInnen-gruppe, der in erster Linie VertreterInnen der Universitäten aber auch zwei Mitglieder der Pädagogischen Hochschulen angehörten, wurden am 18 2 von Schmied und Hahn der Presse vorgestellt, der Endbericht am 26 3 2011 veröffentlicht (Vgl. www.bmukk.gv.at/medienpool/19218/labneu_endbe-richt.pdf)

In einem für bildungspolitische Vorhaben in Österreich völlig neuen Verfahren wurden diese Ergebnisse nun diskutiert Bildungspo-litik wurde in Österreich bisher von einem (kleinen) Kreis von ExpertInnen und Politiker-Innen gestaltet Die beiden Ministerinnen Schmied und Karl beschritten nun einen völlig neuen und zukunftsweisenden Weg In vier sogenannten Stakeholderkonferenzen in Linz (12 11 ), Wien (30 11 ), Graz (3 12 ) und Innsbruck (9 12 ) wurde in der zweiten Jah-

reshälfte 2010 mit 269 Verantwortungsträge-rInnen aus über dreißig Institutionen unter Beisein beider Ministerinnen in einem jeweils sechsstündigen Meeting der Bericht (kritisch) diskutiert Die Ergebnisse dieses demokratie-politisch wegweisenden „Begutachtungs-verfahrens“ werden nun vor einer allfälligen bildungspolitischen Festlegung in das Kon-zept ein- bzw dieses entsprechend umgear-beitet Eine Vorbereitungs gruppe unter der Leitung des steirischen Pädagogen Andreas Schnider ist zurzeit mit der Ausarbeitung von folgenden Eckpunkten befasst:

� Eckpunkten und Standards für Rahmen-curricula � Eckpunkten und Standards für Ausbil-dungsgänge � Qualitätsstandards für die Trägerorgani-sationen � Inhaltlichen Grundlagen für Einrichtung eines Entwicklungsrates für „PädagogIn-nenbildung NEU – Die Zukunft der Päd-agogischen Berufe“ (Vgl. www.bmukk.gv.at/medienpool/19976process.pdf)

Im Herbst wird ein Entwicklungsrat einge-richtet, der die weiteren Implementierungs-arbeiten begleitet Seine wesentlichen Auf-gaben sind:

� “Entwicklungsplan für die Umstellungspha-se � Richtlinien für Rahmencurricula, Ausbil-dungsgänge, Trägerorganisationen � Akkreditierung der Studiengänge � Sicherung der Ausbildungsstandards � Förderung der Qualität der Lehre und For-schung � Beratung der zuständigen MinisterInnen“ (www.bmukk.gvt.at/medienpool/19976 process.pdf)

3 Die notwendige Professionalität

Dass professionelles Handeln von Lehrenden in einer modernen Wissens- und Lerngesell-

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Josef Sampl WOHIN DIE REISE GEHT

ASPEKTE DER LEHRERiNNENBILDUNG

schaft von entscheidender Bedeutung ist, ist unbestritten Die Lehrerinnenbildungspro-fessionalität bestimmt wesentlich die indivi-duellen Bildungsverläufe und diese haben, empirisch belegt, „stets starke Rückkopp-lungseffekte auf Berufsverläufe und damit nicht nur Auswirkungen auf Berufs- und Le-benserfolg von Individuen, sondern auch für die Realisierung gesamtgesellschaftlicher Aufgabenstellungen (z B Stabilisierung de-mokratischer Strukturen, Umgang mit Mi-gration und Integration) ebenso wie auf das Wirtschafts- und Beschäftigungssystem (z B Ressourcenallokation, Entwicklung des Hu-mankapitals)“ (Zlatkin – Troitschanskaia u a 2009:13)

Für ein gelingendes professionelles Handeln ist daher eine entsprechende spezifische Aus- und Fortbildungsinstitution unabdingbar

Die Komplexität der Bedingungs-, Prozess- und Wirkungszusammenhänge, die professi-onelles Lehrhandeln ermöglicht, wurde und wird stark unterschätzt Trotz des intensiven Bemühens und der Bereitstellung beträcht-licher Mittel haben sich „zentrale Probleme unserer Bildungssysteme wie soziale Selekti-on, mangelnde Chancengerechtigkeit und unzulängliche individuelle Förderung in der letzten Dekade eher verschärft als abge-schwächt“ (Zlatkin – Troitschanskaia u a 2009:13)

4 Wohin die Reise geht

Die RektorInnenkonferenz der öffentlichen Pädagogischen Hochschulen Österreichs (RÖPH) (vgl Brunner 2010:233 ff ) hat im März 2011 eine Stellungnahme veröffent-licht, die die Meinung aller Rektorate der öffentlichen Pädagogischen Hochschulen wiedergibt Unter dem Titel „Das Lernen lehren, das Lehren lernen Positionspapier der RÖPH zu ‘LehrerInnenbildung NEU Die Zukunft der pädagogischen Berufe‘“ wird eindeutig festgestellt: „Pädagogische Be-rufe stellen eine eigenständige Profession

dar: ExpertInnen in den pädagogischen Handlungsfeldern brauchen akademische Bildung in Verbindung mit vielfältigen Lern-orten ihrer Berufsrealität Die Ausgestaltung des Theorie-Praxis-Bezugs verlangt ein wis-senschaftlich fundiertes und forschungsge-leitetes Konzept der PädagogInnen bildung Die Zielsetzung orientiert sich an der Schaf-fung, Verwirklichung und Weiterentwicklung einer bestmöglichen Gestaltung erzieheri-schen und unterrichtlichen Handelns in den pädagogischen Herausforderungen unseres Landes und seiner Menschen für die Ge-genwart und Zukunft Dies betrifft schulische Lernorte, aber auch und in zunehmendem Maß außerschulische und nicht-institutionel-le Lern- und Lebensräume Dafür erforder-lich ist ein konzentrisches und partizipatives Zusammenwirken aller beteiligten Akteure von Wissenschaft, Bildungsmanagement und pädagogischer Praxis Die dazu not-wendige Entwicklung erfordert strukturell, institutionell und im Sinn einer Konzentration der Kräfte wie auch in anderen Expertenbe-rufen als eigenen Typus eine Universität für pädagogische Berufe “ (www.bmukk.gv.at/medienpool/20260pb_roeph.pdf)

Für eine konsequente Entwicklung der pro-fessionellen LehrerInnenbildung spricht auch, dass die Ausbildung von PädagogIn-nen Elemente der zentralen Lenkung be-nötigt Es kann nicht sein – wie dies zurzeit in der universitären LehrerInnenbildung der Fall ist –, dass wesentliche, notwendige Vorga-ben für professionelles Lehrhandeln in der Ausbildung unberücksichtigt bleiben

Das bm:ukk hat gegenwärtig aufgrund der Vollrechtsfähigkeit und der damit verbunde-nen Autonomie der Universitäten wenig bis keine Möglichkeiten, entscheidende Inhalte für professionelles Lehrerhandeln im schu-lischen Kontext in die Ausbildung der AHS- und BHS- LehrerInnen strukturiert und verläss-lich zu implementieren Als Beispiele seien nur Themen wie Gewaltprävention, Individu-alisierung, Bildungsstandards, die Neue Mit-

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WOHIN DIE REISE GEHT Josef Sampl

ASPEKTE DER LEHRERiNNENBILDUNG

telschule oder die teilzentrale, kompetenzo-rientierte Reifeprüfung genannt

Auch der Einflussnahme der Universitätslei-tungen auf die Lehramtsstudien sind auf-grund der Freiheit von Wissenschaft und Lehre enge Grenzen gesetzt, sodass es in der Quantität und Qualität der fachdidak-tischen Ausbildungselemente an ein und demselben Standort zu großen Unterschie-den kommen kann

Aus meiner Sicht als Rektor der Pädagogi-schen Hochschule Salzburg ergeben sich für die nächsten Dekaden zwei wesentliche Forderungen:

Höchstmögliche Bologna-konforme Qua-1 lifikation für alle pädagogischen BerufeZusammenführung der Ausbildungen in 2 einer vollwertigen tertiären Bildungsinsti-tution (z B Pädagogische Universität), an der Qualitätssicherung, Schulentwicklung und berufsfeldbezogene Forschung und die Aus-, Fort- und Weiterbildung für alle pädagogischen Berufe stattfindet

Literatur:

Anthaller, Franz (1880): Franz Michael Vierthaler, der Salzburger Pädagoge Ein Beitrag zur Geschichte der Pädagogik Zitiert nach: W von der Fuhr (Hg ) (1904): Franz Vierthalers pädagogische Hauptschriften Paderborn: Ferdinand Schöningh Verlag (Sammlung der bedeutendsten pädagogi-schen Schriften aus alter und neuer Zeit Bd 29)

Brunner, Ivo (2010): Führung und Steuerung pädagogischer Hochschulen im Handlungskontext der österreichischen Rektorenkonferenz (RÖPH) – Möglichkeiten und Grenzen In: Zeitschrift zu Theorie und Praxis der Aus- und Weiterbildung von Lehrerinnen und Lehrern 28 2 233-241

Härtel, Peter (2010): Die Zukunft der pädagogischen Berufe: Wissenschaft und Forschung als integrales Element von LehrerInnenbildung NEU In: Er-ziehung und Unterricht 1 und 2 24-30

Heinzel, Friederike (2009): Gleichwertige universitäre Bildung für den Ele-mentar- Primar-, und Sekundarbereich in Deutschland In: Dorit Posse und Peter Posch (Hg ) (2009): Schule 2020 aus Expertensicht Zu Zukunft von Schule, Unterricht und Lehrerbildung Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwis-senschaften 265-270

Zlatkin-Troitschanskaia, Olga u a (2009): Perspektiven auf „Lehrerprofessi-onalität“ Einleitung und Überblick In: Zlatkin-Troitschanskaia u a (2009): Lehrerprofessionalität Bedingungen, Genese, Wirkungen und ihre Mes-sung Weinheim und Basel: Beltz Verlag 13-33

www bmukk gv at/medienpool/19218/labneu_endbericht pdf (Zugriff 7 4 2011)

www bmukk gv at/medienpool/19976process pdf (Zugriff 3 4 2011)

www bmukk gv at/medienpool/20260pb_roeph pdf (Zugriff 3 4 2011)

Alle nun gesetzten Maßnahmen wie die ge-planten Kooperationen der Pädagogischen Hochschulen mit den Universitäten, die Ak-kreditierung von Studiengängen, die Richtli-nien für Rahmencurricula etc sind auf dem Weg dazu hilfreich

|9ASPEKTE DER LEHRERiNNENBILDUNG

Jürgen Bauer / Maria Haderer BERUFSWAHL IM SPANNUNGSFELD

Betrachteten wir obiges Zitat im Hinblick auf die Berufswahl und brächten wir die Aussage mit den Berufswahltheorien in Ver-bindung, so müssten wir feststellen, dass es trotz intensiven Bemühens von Schüler- und BildungsberaterInnen und trotz Berufsorien-tierungsunterrichts zu keiner Veränderung in der Wahl der Berufe gekommen ist So kön-nen und wollen wir das aber nicht gelten lassen Der Artikel soll aufzeigen, inwieweit sich der Zugang zur Berufswahl verändert hat Wird obiges Zitat im Hinblick auf die Be-rufswahl betrachtet und wird die Aussage mit den Berufswahltheorien in Verbindung gebracht, so stellt sich die Frage, ob das in-tensive Bemühen von Schüler- und Bildungs-beraterInnen und der Berufsorientierungsun-terricht zu Veränderungen in der Wahl der Berufe beigetragen hat Dafür erscheint es notwendig, zunächst die Berufswahltheorien heranzuziehen: Der entscheidungstheoreti-sche Ansatz betrachtet die Berufslaufbahn als Entscheidungsprozess, den das Individu-um vollzieht Der entwicklungstheoretische Ansatz ist ein lebenslanger, auf die Person bezogener Prozess Die psychologische Be-rufswahltheorie beschäftigt sich mit den Persönlichkeitstypen nach Holland und der Allokationstheorie liegen sozioökonomische Zuweisungen zu Grunde Abhängig von der jeweiligen Theorie wird erläutert, welche Einflussfaktoren auf die Entscheidung ein-wirken Dies können die Familie, soziale oder wirtschaftliche Faktoren sein Aus heutigen Erkenntnissen muss überlegt werden, ob die Berufswahl ausschließlich über die Berufs-

wahltheorien erklärt werden kann, da sich u a die Arbeits- und Berufswelt wie auch die Berufsbilder gewandelt haben (vgl Hamme-rer, Kanelutti, Melter 2011: 14)

Darüber hinaus ist zu fragen, inwieweit schu-lische Bildung Geschlechterrollen verfestigt oder deren Aufbrechen begünstigt Vor 15 Jahren stellte Dickinger fest:

„Dem derzeitigen Bildungssystem können Merkmale der bürgerlichen Mädchenbil-dung nicht abgesprochen werden ( ) Trotz des formalen Ziels, die Ausbildung [Bundes-lehranstalten für wirtschaftliche Berufe] sol-le zur Ausübung gehobener Berufe in der Wirtschaft, im Sozial- und Gesundheitswe-sen befähigen, haben Absolventinnen nur wenige Chancen, tatsächlich einen aus-bildungsadäquaten Beruf zu ergreifen “ Dickingers Untersuchungen ergaben, dass Mitte der 1990er Jahre die Absolventinnen dieses Schultyps nach wie vor eher tradi-tionelle „weibliche“ Berufe ergriffen und eher heim- als berufsorientiert wären (vgl Dickinger 1995: 102f) Sollten diese Aussa-gen auch heute noch Gültigkeit haben, würde das bedeuten, dass Mädchen über-wiegend aus langer Tradition in typische geschlechtsspezifische Ausbildungen und Berufe streben und Burschen ihnen das gleichtun und alle Initiativen der letzten Jahre, die das Gegenteil angestrebt ha-ben, wie MUT (Mädchen und Technik), Girls Day, Boy‘s Day und einige mehr, ihr Ziel ver-fehlt hätten Allerdings sollte hier auch hin-

Berufswahl im Spannungsfeld von Geschlecht und ZeitgeistJürgen Bauer/ Maria Haderer

„Geschlechterverhältnisse werden heute als historische, kulturell wandelbare Kategorien betrach-tet, die für die Betroffenen Ordnungs- und Orientierungsfunktion haben, die gesellschaftlich die Verteilung von Macht und Einfluss strukturell regeln und die Teilhabemöglichkeiten und Chancen der Einzelnen bestimmen. Außerdem schwingen die Konzepte von Männlichkeit und Weiblich-keit in der Arbeit von Kunst, Wissenschaft und Medien mit.“ (Scheffler u. Baumann 2011: 50)

10| ASPEKTE DER LEHRERiNNENBILDUNG

BERUFSWAHL IM SPANNUNGSFELD Jürgen Bauer / Maria Haderer

terfragt werden, was die Koedukation von Mädchen und Burschen für die Berufswahl positiv beigesteuert hat, welchen Einfluss die soziale, geographische, kulturelle und sprachliche Herkunft und gesellschaftliche „Trends“ sowie die Wirtschaftslage auf die Berufsorientierung haben und ob und wie diese Vielfalt für die Berufswahl positiv nutz-bar gemacht werden kann Fakt ist, dass die oben genannten Faktoren einen Ein-fluss auf die Berufswahl besitzen Der Grad der Beeinflussung kann auch gesteuert werden: „Soziale Mobilität, die Möglichkeit, das Milieu oder den ‘Stand‘ zu verlassen, in den man hineingeboren wurde, einen Beruf zu ergreifen oder einen Lebensentwurf zu machen, der sich von den Erfahrungen und normativen Erwartungen der Vorgeneration unterscheidet, führt dazu, dass erreichte so-ziale Positionen und die zugehörigen sozia-len Identitäten keine Auskunft mehr geben über den dahinterliegenden Lebensweg “ (Dausin 2011: 29)

Grundsätzlich wird heute in der fortgeschrit-tenen Industrie- und Dienstleistungsgesell-schaft davon ausgegangen, dass Men-schen ihre Position nicht mehr überwiegend aufgrund von „Tradition“, sprich Status er-werben, sondern durch Leistung Ein ande-res Bild zeigen Bildungstests, da gerade in Österreich der Bildungsgrad der Eltern gro-ßen Einfluss auf die soziale Mobilität ihrer Kinder nimmt So weisen 52% der jungen Menschen einen gleichen Bildungsstand wie ihre Eltern auf, 25% sind Bildungsaufstei-ger und 22% Bildungsabsteiger (vgl Specht 2009: 153) Beruf und Person werden zu ei-nem wesentlichen Teil gleichgesetzt und der Beruf dient als Informationsquelle, mit wel-cher Person wir es zu tun haben Der Beruf ist ein stabilisierender Faktor in einer leistungs-orientierten Gesellschaft (vgl König 2002) Geht man in das Mittelalter zurück, war ein gesellschaftlich stabilisierender Faktor die Stand- und Schichtzugehörigkeit, in die man hineingeboren wurde Der Beruf war nicht frei wählbar, sondern wurde von Generati-

on zu Generation vererbt Durch die Zünfte

wurde die Zugehörigkeit zu einem Berufs-stand abgesichert und gefestigt Zum Schutz des Handwerkers mussten Gesellen, die die Meisterwürde erlangen wollten, eine stren-ge Prüfung ablegen, von ehelicher Geburt sein, das Freiheitsrecht besitzen, den Gesel-lenbrief und Kundschaftsbriefe vorlegen, verheiratet sein, das Bürgerrecht besitzen und sich mit einer respektablen Geldsum-me in die Zunft einkaufen (vgl Breitlinger/Weinkamer/Dohle 2009) Das Gerechtsame (das Anrecht/Vorrecht) eines Handwerks konnte vererbt, erheiratet, verkauft oder ver-pachtet werden Frauen waren bis in das 16 Jahrhundert in einigen Handwerken tätig und durften Zünften (wie der Weberzunft) beitreten oder gehörten einer reinen Frau-enzunft (wie Seidenspinnerinnen) an Im 16 Jahrhundert wurde Frauen das Arbeiten in einem Handwerk und das Führen eines Ge-werbes untersagt (vgl Mitterauer 1993) Mit der Gründung der ersten Manufakturen ver-richteten Männer zunehmend außerhäusli-che Produktionstätigkeit

Mit der Industrialisierung entstanden viele neue Berufe in der Produktion, Verwaltung und im Vertrieb Die Ausbildung dafür wurde unsystematisch und begrenzt durchgeführt, sodass Anfang des 20 Jahrhunderts - aus gesamtgesellschaftlichem Interesse und zur Verbesserung, Ordnung und Standardi-sierung - der Staat berufsbildende Schulen, einschließlich den Berufsschulen einrichte-te (vgl Beck/Brater/Daheim 1980) Frauen erhielten nur bedingt eine Ausbildung, sie waren häufig als Anlern- und Hilfskräfte in Fabriken, als Dienstboten oder - beginnend - als Angestellte tätig Die bürgerliche Frau durfte keiner außerhäuslichen Erwerbsarbeit nachgehen So forderten Frauen des Prole-tariats und der unteren Mittelschicht „Schutz vor einem Zuviel an Arbeit“ und bürgerliche Frauen „Recht auf Arbeit“ (vgl Brinker-Gab-ler 1979) Einigkeit gab es darüber, dass der Hausfrauen- und Mutterberuf der Erwerbsar-beit vorzuziehen sei (vgl Kerchner 1992)

|11ASPEKTE DER LEHRERiNNENBILDUNG

Jürgen Bauer / Maria Haderer BERUFSWAHL IM SPANNUNGSFELD

Abb. 2: Schülerzahlen berufsbildender Schulen – nach Schularten (1960-2005)

Abb. 1: Die zehn häufigsten Lehrabschlüsse nach Lehrberufen und Geschlecht

Geschlechtsspezifität und Schule/Lehre

Aus dem Zitat von Dickinger sowie aus den oben erläuterten Strukturen, wie Berufe erlernt und übertragen wurden und sich veränderten, gilt es, einen Blick auf die ge-schlechtsspezifisch unterschiedlichen Bil-dungskarrieren zu werfen

Die heutigen „Top Ten der Lehrberufe“ zei-gen nach wie vor das Bild typisch weiblicher und männlicher Berufe (vgl Abb 1)

Ein ähnliches Bild zeigt sich bei der Wahl von berufsbildenden Schulen Bis heute ist in technischen Schulen der Mädchenanteil weit geringer als der der Knaben, obwohl er von 2,2% 1990 auf 27,2% 2005 gestiegen

ist Hier könnte vermutet werden, dass Pro-gramme, welche mehr Frauen dazu moti-vieren sollten, traditionell typische Männer-berufe zu wählen, erfolgreich waren Das gegenteilige Bild zeigen die Bemühungen, Männer für typische Frauenberufe zu inter-essieren An wirtschaftsberuflichen Schulen stieg der Knabenanteil geringfügig von 0,5% 1990 auf 5,5% 2005 (vgl Abb 2) Es scheint also die Frage angebracht, ob es nicht ent-sprechender Initiativen bedarf

Auswirkungen des veränderten Bildungsan-gebotes zeigen sich in der Zahl bestande-ner Reifeprüfungen, die von 1970 auf 2008 um ca 62% auf 41 546 gestiegen ist Der An-teil der Maturantinnen betrug im Schuljahr 2008/09 bereits 57,9%

12| ASPEKTE DER LEHRERiNNENBILDUNG

BERUFSWAHL IM SPANNUNGSFELD Jürgen Bauer / Maria Haderer

Die Heterogenität der Geschlechter und die damit verbundenen Eigenschaften und Stär-ken kommen auf Grund der unveränderten Wahl der Lehrberufe und gering veränder-ten Wahl einer berufsbildenden Schule (sie-he oben) kaum zu tragen und haben somit keinen nennenswerten positiven Einfluss auf das von der Gesellschaft wahrgenommene Rollenbild, das vorgibt, in Prozess, in Verän-derung zu sein Das Geschlecht spielt nach wie vor eine entscheidende Rolle für den Bil-dungsverlauf und die damit verbundene Be-rufswahl (Vgl Scheffler & Baumann 2011: 51)

Person und Umwelt

Der Einfluss von Personen und Umwelt auf die Berufswahl darf nicht vernachlässigt wer-den Zu berücksichtigen ist die Zeit, in der die Entscheidung stattfindet „Berufswahl findet notwendigerweise immer in einem sozialen und historischen Kontext statt “ (Hirschi 2011: 99) Einflussfaktoren, die noch Anfang des 20 Jahrhunderts Gültigkeit hatten, haben sich auf Grund der historischen Entwicklung verändert Hier sind die veränderten Ausbil-dungsmöglichkeiten, der offene Bildungszu-gang für beide Geschlechter, die Berück-sichtigung des Migrationshintergrundes und Maßnahmen in der Berufsorientierung zu erwähnen Wenngleich auch die Unterstüt-zungsmaßnahmen breiter und vielfältiger werden und die Heterogenität in der Be-rufsorientierung als positiver Faktor gesehen werden kann, muss darauf hingewiesen wer-den, dass die soziale Herkunft nicht nur einen massiven Einfluss auf die Berufswahl, sondern auch auf die Chancen im Berufsleben und die Karriere selbst hat „Im beruflichen Be-reich ist gut dokumentiert, dass der soziale Status des Elternhauses, das Geschlecht, die Nationalität oder die Hautfarbe einen be-deutenden Einfluss auf berufliche Entwick-lungsverläufe haben “ (Kirkpatrick, Johnson & Mortimer 2002, zit n Hirschi 2011: 99f)

In vielen Bereichen lässt sich nicht erkennen, dass kulturelle Vielfalt und die damit oftmals

einhergehende Mehrsprachigkeit positiven Einfluss auf das Fortkommen im Beruf haben In international agierenden Firmen wird er-kannt, wie wichtig es ist, dass die Mitarbeite-rInnen mit den Sitten, Gebräuchen und der Sprache der Kooperations- und Geschäfts-partner vertraut sind Trotzdem bedeuten in vielen gängigen Berufen diese Kompeten-zen keinen Mehrwert Im Gegenteil, oft führt die Herkunft zur Benachteiligung, wenn es um die Berufschancen geht Zu beachten ist, dass Personen dennoch einen Einfluss auf ihre Laufbahn besitzen, wie folgendes Zitat belegt: „Wir können somit festhalten, dass Berufswahl und berufliche Entwicklung immer von der Dynamik von Person (Persön-lichkeit, Einstellungen zur Berufswahl, Hand-lungen zur Berufswahl), sozialem Umfeld (Fa-milie, Peers, MentorInnen, soziale Netzwerke) sowie dem Arbeitsmarkt (Berufsanforderun-gen, Arbeitsmarkt, Personalselektion) be-stimmt werden “ (Hirschi, 2011: 100)

Bewusstmachung der Thematik im Unterricht

Für LehrerInnen stellt sich die Frage, wie die Inhalte an Jugendliche herangetragen und diese für die Berufswahlfaktoren sensibilisiert werden können, um selbst bestimmte Ent-scheidungen treffen zu können

Aus diesem Grund wurden im Rahmen des Lehrgangs „Berufsorientierung“ an der Pä-dagogischen Hochschule Salzburg die zu-künftigen BerufsorientierungslehrerInnen zu einem historischen Rundgang durch die Altstadt Salzburgs eingeladen, alte Hand-werksbetriebe wurden besucht, deren Ge-schichte, die damaligen Einflussfaktoren auf deren Entwicklung und deren Fortbestand bis zur Jetztzeit besprochen und ein Einblick in historische und aktuelle Bildungsstatistiken (Schülerzahlen an Pflicht-, Mittel- und berufs-bildenden Schulen, Studierende je Studien-art an Universitäten und Fachhochschulen, Geschlechterverhältnisse) gegeben Im Anschluss daran sollten die Studierenden

|13ASPEKTE DER LEHRERiNNENBILDUNG

Jürgen Bauer / Maria Haderer BERUFSWAHL IM SPANNUNGSFELD

didaktische Modelle für den Unterricht ge-stalten, mit dem Ziel, Bewusstsein für Berufs-wahlentscheidungen zu entwickeln Einige Ergebnisse dieses Projektes werden im Fol-genden präsentiert:

Rollenspiel:1 Folgende Situation wird den SchülerInnen vorgegeben, die sie weiterspielen sollen: Ein Fahrer kommt mit seinem Sportwagen in die Kfz-Werkstätte und berichtet über einen für ihn nicht erklärlichen technischen Defekt an seinem Fahrzeug Dem Kunden wird eine junge Kfz-Technikerin zugewiesen, die sich laut Werkstättenleiter um die Fehlerbehe-bung kümmern wird

Vergleich Hausfrauentätigkeit – Manage-2 menttätigkeit

Die SchülerInnen suchen im Internet oder in einer Zeitung ein Stellengesuch für eine mittlere Führungskraft und listen auf, welche Eigenschaften an die gesuchte Person ge-stellt werden (z B Flexibilität, Stressresistenz, Fähigkeit zur Kommunikation) Die Eigen-schaften werden jenen einer Hausfrau ge-genübergestellt, die zuerst herausgearbeitet werden müssen Danach wird über den Wert von Arbeit diskutiert

Beleuchtung der eigenen Berufsbiografie3 Als Input dient eine Einladung eines Frisörs und einer Mechanikerin in den Unterricht Ziel ist es, mittels Interviews die Berufsbiogra-fien der eigenen Familie zu gestalten und die Zufriedenheit mit der Ausbildung und der damit verbundenen Berufswahl inner-halb der Generationen zu erfragen

Erarbeiten generations- und geschlechts-4 übergreifender Berufsbiografien

Als Hausübung erarbeiten die SchülerInnen die Berufsbiografien der Großeltern (jeweils Großmutter und Großvater), der Eltern (je-weils Mutter und Vater) und gegebenenfalls der Geschwister (Schwester und Bruder) Der mögliche Unterschied zwischen den Gene-ration wird im Unterricht herausgearbeitet

Weiters wird der Unterschied innerhalb einer Generation betrachtet Im dritten Schritt soll die Gruppe den Einfluss auf die eigene Be-rufswahl herausarbeiten Die Ergebnisse wer-den auf Plakaten gesichert und im Plenum präsentiert und diskutiert

Die vier Beispiele zeigen, dass es im Unter-richt vielfältige und durchaus kreative Wege gibt, sich mit der Thematik zu beschäftigen

Zusammenfassung

Im 20 Jahrhundert haben zwei Weltkriege dazu geführt, dass die Trennlinien zwischen Männerarbeit und Frauenarbeit aufgeho-ben wurden Nach dem Krieg verlief die Ein-gliederung der Männer in das Erwerbs- und Familienleben nicht ohne Probleme, denn Frauen hatten über ihre traditionelle Rolle hinaus Erfahrungen gemacht Trotzdem er-hielten Kriegsteilnehmer sowie Familienväter wegen des herrschenden Arbeitsmangels bevorzugt einen Arbeitsplatz Frauen, die nicht unbedingt einen Arbeitsplatz benö-tigten, wurden entlassen Frauen haben ge-zeigt, dass sie durchaus in der Lage waren, Männerarbeit zu leisten Nichtsdestotrotz wurden nach beiden Weltkriegen die „al-ten“ Verhältnisse weitgehend wiederherge-stellt (vgl Wetterer 2002: 65f; Rouette 1993) Das seit den 1960iger Jahren gewachsene Bildungsangebot brachte sehr wohl eine Veränderung auf der Ebene der Qualifikati-on, denn inzwischen hat sich das Bildungs- und Ausbildungsniveau der Frauen an das der Männer angeglichen Zwischen den Geschlechtern lässt sich mittlerweile we-der auf Ebene der schulischen Abschlüs-se, noch auf derjenigen der beruflichen Ausbildung, noch bei Fachhochschul- und Universitätsabschlüssen ein Bildungsgefäl-le messen Allerdings zeigen sich weiterhin nicht die gewünschten Auswirkungen einer Geschlechterhomogenität bei der Berufs-wahl Wie aktuelle Untersuchungen zeigen, sind Traditionen hinsichtlich der Geschlech-terrollen schwer aufzulösen, die Unterschie-

14| ASPEKTE DER LEHRERiNNENBILDUNG

BERUFSWAHL IM SPANNUNGSFELD Jürgen Bauer / Maria Haderer

de in der Berufswahl bleiben bestehen Es gibt eine ganze Reihe von Berufen, die aus verschiedensten ökonomischen, politischen, rechtlichen, sozialen und kulturellen Rah-menbedingungen im Laufe der Zeit das Ge-schlecht gewechselt haben, wie Sekretär, Computerprogrammiererin (war anfänglich ein „typisch“ weiblicher Beruf und wurde erst später zu einem „typisch“ männlichen Beruf) oder Volksschullehrer (Anm d Auto-

ren: Hier wurde auf die Genderschreibwei-se bewusst verzichtet ) Wobei es sich zeigt, dass der Wechsel des Geschlechts eines Be-rufes von männlich zu weiblich in der Regel mit einem Statusverlust des Berufs und somit auch seines Trägers/seiner Trägerin einher-geht Bislang gibt es keine Berufe, die ihre Geschlechtszugehörigkeit völlig verloren hätten (vgl Wetterer 2002:156f; Hoffmann 1987; auch Bundeskanzleramt 2010)

Literatur

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Rouette, Susanne (1993): Nach dem Krieg:Zurück zur „normalen“ Hierar-chie der Geschlechter In: Hausen Karen (Hg ): Geschlecherhierarchie und Arbeitsteilung Zur Geschichte ungleicher Erwerbchancen von Män-nern und Frauen Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 19-39

Scheffler, Sabine / Baumann, Heinz (2011): Gender und Beratung – Das Geschlecht bei der Arbeit In: Marika Hammerer, Erika Kanelutti, Ingeborg Melter (Hg ) (2011): Zukunftsfeld Bildungs- und Berufsberatung Neue Ent-wicklungen aus Wissenschaft und Praxis Bielefeld: W Bertelsmann 49-55

Specht, Werner (Hg ) (2009): Nationaler Bildungsbericht Österreich 2009, Band 1: Das Schulsystem im Spiegel von Daten und Indikatoren Graz: Ley-kam URL: http://www bifie at/buch/657 [20 3 2011]

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Wetterer, Angelika (2002): Arbeitsteilung und Geschlechterkonstruktion Konstanz: UVK

|15ASPEKTE DER LEHRERiNNENBILDUNG

Christian Lutsch BERUFSBEZOGENE FREMDSPRACHE ENGLISCH

Berufliche Handlungskompetenz – Kom-petenzmodelle

Im Mittelpunkt der Berufspädagogik steht die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Art und Weise der Vermittlung der berufli-chen Handlungskompetenz, welche die Ge-samtheit des Wissens, der Einstellungen sowie der Fertigkeiten beschreibt, die zur erfolg-reichen Ausübung eines Berufs nötig sind In der Folge soll exemplarisch auf zwei Modelle beruflicher Handlungskompetenz näher ein-gegangen werden, die für die Konzeption des Lehrganges BFE maßgeblich sind

Zum Ersten sei der Begriff „Arbeitsprozesswis-sen“ von Felix Rauner (2004: 14) erwähnt, der den Zusammenhang von praktischem und theoretischem Wissen beschreibt und thema-tisiert Beide Arten von Wissen können sowohl subjektiv als auch objektiv sein und werden kontextbezogen, handlungsleitend und ex-plizit in beruflichen Tätigkeiten angewendet

Zum Zweiten sind die für die österreichische Berufsbildung zentralen Bildungsstandards anzuführen Analog zum Kompetenzmodell von Rauner (2004) und zu jenem von An-derson & Krathwohl (2001) unterscheidet das Raster für die Bildungsstandards eben-so zwei Dimensionen: die Handlungsdimen-sion und die Inhaltsdimension Die Inhaltsdi-mension umfasst inhaltliche Bereiche, die für einen Gegenstand oder einen Fach-bereich von Relevanz sind Die Handlungs-dimension umfasst fünf Elemente, welche

die kognitiven Prozesse in Bezug auf den Inhalt beschreiben, d h , wie der Lernende mit dem Inhalt umgehen soll (Projekthand-buch 2010: 11)

In späterer Folge werden beide Kompetenz-modelle um eine dritte, reflektierende, Kom-ponente, die den Bereich der Einstellungen thematisiert, erweitert, auf die jedoch aus Platzgründen in diesem Beitrag nur hinge-wiesen werden kann (vgl Rauner 2009, 9 und Projekthandbuch 2010: 19)

Sprachen- und Fachsprachendidaktik

Da Studierende berufliches Sach- und Fach-wissen zertifiziert durch eine abgeschlossene Berufsausbildung in den Lehrgang mitbrin-gen, liegt der Lehrgangsfokus neben der Erweiterung der Sprachkompetenzen auf dem Gebiet der Sprachendidaktik Durch das doppelte Ausbildungsziel der berufsbil-denden Schulen (Allgemeinwissen und be-rufliche Bildung) ist für den Lehrgang BFE ne-ben allgemeiner Sprachendidaktik für den Bereich Allgemeinwissen die Fachsprachen-didaktik und CLIL (Content and Language Integrated Learning) in Hinblick auf die be-rufliche Handlungsfähigkeit von besonderer Bedeutung

Im Bereich der Fremdsprachen werden die Kompetenzen der Bildungsstandards in der Berufsbildung auf Basis des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Spra-chen (GERS) beschrieben Der hier grund-

„Berufsbezogene Fremdsprache Englisch“Didaktische Konzeption und Kompetenzenkatalog

Christian Lutsch

Der landesweite berufsbegleitende Lehrgang „Berufsbezogene Fremdsprache Englisch an Berufs-schulen“ an der Pädagogischen Hochschule Salzburg vermittelt als zusätzliche Lehrbefähigung jene Kompetenzen, die für den Unterricht an österreichischen Berufsschulen (BS) im Pflichtgegenstand „Berufsbezogene Fremdsprache Englisch“ (BFE) und im Freigegenstand „Lebende Fremdsprache“ an Berufsschulen (BS) notwendig sind. Dieser Beitrag erläutert die pädagogisch-didaktische Kon-zeption und den zugrunde liegenden Kompetenzenkatalog dieses Lehrgangs.

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BERUFSBEZOGENE FREMDSPRACHE ENGLISCH Christian Lutsch

ASPEKTE DER LEHRERiNNENBILDUNG

gelegte Kompetenzbegriff beinhaltet Hand-lungsorientierung als zentrales Element:

„Der [im GERS] gewählte Ansatz ist im Gro-ßen und Ganzen ‚handlungsorientiert‘, weil er Sprachverwendende und Sprachen-lernende vor allem als ‚sozial Handelnde‘ betrachtet, d.h. als Mitglieder einer Gesell-schaft, die unter bestimmten Umständen und in spezifischen Umgebungen und Hand-lungsfeldern kommunikative Aufgaben be-wältigen müssen, […]“ (http://www.goethe.de/Z/50/commeuro/201.htm)

Die Methodenkompetenz im Bereich All-gemeinwissen (vgl Domänen „Privat“ und „Öffentlich“ in Tabelle 5 GERS), erfährt keine berufsbezogene Ausdifferenzierung

Im Bereich BFE, jenem Bereich, der in Tabelle 5 des GERS den Domänen „Beruflich“ und „Bildung“ entspricht, erfährt die Handlungs-orientierung eine deutlich berufsspezifische Prägung

Die kommunikative Kompetenz in der Fremd-sprache ist Teil der beruflichen Handlungs-kompetenz: Berufliche Handlungskompetenz in der Fremdsprache bedeutet, dass Spre-cherInnen über das Wissen, die Einstellungen sowie Kompetenzen verfügen, die sie befähi-gen, in berufsspezifischen Umgebungen und berufsbezogenen Handlungsfeldern kom-munikative Aufgaben zu bewältigen

Das bedeutet für die Sprachendidaktik eine berufsbezogene Ausdifferenzierung der Me-thodenkompetenz in den Kompetenzbe-reichen Sprechen/mündliche Interaktion, Schreiben/schriftliche Interaktion, Hören, Le-sen, Grammatik, Vokabeln und Kultur in Rich-tung Fachsprachendidaktik und Fremdspra-che als Arbeitssprache (FAA) bzw Content and Language Integrated Learning (CLIL)

Diese berufsbezogene Ausdifferenzierung basiert auf zwei Säulen: der oben beschrie-benen Handlungsorientiertheit gemäß GERS

und der Bedarfsanalyse, die in der Folge nä-her erläutert wird

Bedarfsanalyse

Die Bedarfsanalyse (engl needs analysis) dient dazu, herauszufinden, in welchen be-ruflichen Handlungsfeldern und zu welchem Zweck die Zielsprache gebraucht wird

„An ESP approach to language teaching is an approach which bases content and method on the learners’ reason for learning.“(Hutchinson and Waters 1987: 19)

In der Fachsprachendidaktik und in CLIL geht es letztlich um die Vermittlung der Me-thodenkompetenz, um die Sprachlehrenden zu befähigen, berufsspezifische Bedarfsana-lysen durchzuführen und davon abzuleiten, welche sprachlichen Mittel und Kompeten-zen und welche Methoden zu deren Ver-mittlung im BFE-Unterricht benötigt werden

„A core element of ESP language teaching is a needs analysis of the learner. […]ESP is defined to meet specific needs of the lear-ner. ESP makes use of the underlying me-thodology and activities of the discipline it serves. ESP is centred on the language, skills, discourse and genres appropriate to these activities.“ (Dudley-Evans 1997: 5 ff.)

Eine Bedarfsanalyse resultiert in der Regel in den sprachlichen Produktions- sowie Inter-aktionsanlässen und dem berufsspezifischen Fachwissen, die für die Handlungsfelder ei-nes bestimmten Berufes gebraucht werden Konkrete Anleitungen zu Bedarfsanalysen finden sich in Gaderer (2009: 31 ff )

Eine berufsbezogene Ausdifferenzierung der Sprachendidaktik erfordert von den Lehren-den fundiertes berufliches Sach- und Fach-wissen sowie fundierte methodologische und didaktische Kompetenzen Der Kom-petenzenkatalog des Lehrgangs BFE unter-scheidet dabei sieben Kompetenzbereiche:

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Christian Lutsch BERUFSBEZOGENE FREMDSPRACHE ENGLISCH

ASPEKTE DER LEHRERiNNENBILDUNG

Kompetenzenkatalog für das Curricu-lum Lehrgang BFE

� Berufliche Handlungskompetenz � Sprachkompetenz und Sprachverwen-dungskompetenz � Kulturelle und interkulturelle Kompetenz � Methodenkompetenz � Planungskompetenz � Evaluationskompetenz � Personale Kompetenz

Berufliche Handlungskompetenz1 Berufliche Handlungskompetenz beschreibt die Gesamtheit des Wissens, der Fertigkeiten und der Einstellungen, die zur erfolgreichen Ausübung eines Berufs nötig sind Für die Stu-dierenden der Weiterbildung im Lehrgang BFE ist eine zertifizierte Berufsausbildung An-stellungserfordernis an einer BS und somit auch Zugangsvoraussetzung zum Studien-gang Lehramt Berufsschulpädagogik

Sprachkompetenz und Sprachverwen-2 dungskompetenz

Sprachkompetenz und Sprachverwendungs-kompetenz umfasst das Wissen, die Fertig-keit und die Bereitschaft, die eigene Sprach-kompetenz laufend zu pflegen und zu verbessern Dazu gehört, den GERS und das Europäische Sprachenportfolio zur Selbstbe-wertung als Instrument zur Messung der per-sönlichen Sprachkompetenz einsetzen zu können und Strategien für autonomes Spra-chenlernen zu entwickeln

Kulturelle und interkulturelle Kompetenz3 Kulturelle und interkulturelle Kompetenz um-fasst das Wissen, die Fertigkeit und die Bereit-schaft, Begrifflichkeiten im Zusammenhang mit interkultureller und multikultureller Um-gebung zu kennen und in der Lage zu sein, interkulturelles Verständnis im beruflichen sowie persönlichen Kontext zu entwickeln Dazu gehört, über die Verbindungen zwi-schen Lehren und Lernen von Sprachen und der Vermittlung sozialer und kultureller Werte Bescheid zu wissen und im Klassenmanage-

ment entsprechend agieren zu können Da-bei können Sprachen und Kulturen in ihrer Unterschiedlichkeit in Bezug auf Lernende und Zielsprache betrachtet werden

Darunter werden auch das Wissen, die Fer-tigkeit und die Bereitschaft verstanden, Möglichkeiten zu kennen und anzuwenden, um Kontakte zu PartnerInnen im Ausland (einschließlich Besuche, Austausche oder IKT-Verbindungen) aufzubauen Dazu ge-hört auch, über Möglichkeiten eines Arbeits- oder Studienaufenthalts in einem Land oder in Ländern, in denen die Fremdsprache als Muttersprache gesprochen wird sowie über bilaterale Austauschvereinbarungen zwi-schen Einrichtungen Bescheid zu wissen (z B Europäische Förderprogramme) Dazu zäh-len auch Möglichkeiten und Initiativen, die es erleichtern, in mehr als einem Land den Unterricht zu beobachten oder daran teilzu-nehmen sowie der Aufbau von Kontakten zu Bildungseinrichtungen in den entsprechen-den Ländern

Methodenkompetenz4 Methodenkompetenz umfasst das Wissen, die Fertigkeit und die Bereitschaft mehrere methodische Ansätze, Unterrichtstheorien so-wie Unterrichtstechniken kritisch und kreativ im Sprachunterricht anzuwenden Dazu ge-hört, Lernziele in den Kompetenzbereichen Sprechen/mündliche Interaktion, Schreiben/schriftliche Interaktion, Hören, Lesen, Gram-matik, Vokabeln und Kultur in Unterrichts-abläufe umsetzen zu können Hierzu zählen insbesondere das Wissen, die Fertigkeit und die Bereitschaft, methodische Ansätze und Strategien in den Bereichen Fachsprache und Fremdsprache als Arbeitssprache/CLIL im Sprachenunterricht anzuwenden

Dazu gehören auch das Wissen, die Fertig-keit und die Bereitschaft, Informations- und Kommunikationstechnologien im Unterricht methodisch-didaktisch angemessen einzu-setzen und Methoden und Strategien des autonomen Sprachenlernens anzuwenden

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BERUFSBEZOGENE FREMDSPRACHE ENGLISCH Christian Lutsch

ASPEKTE DER LEHRERiNNENBILDUNG

und diese Methoden und Strategien weiter-zuvermitteln

Planungskompetenz5 Planungskompetenz umfasst das Wissen, die Fertigkeit und die Bereitschaft, nationa-le oder regionale Lehrpläne im Hinblick auf Ziele, Zielsetzung und Ergebnisse kritisch zu evaluieren und bei der praktischen Umset-zung der Lehrpläne den Unterricht an den Bildungskontext und die individuellen Be-dürfnisse der Lernenden anzupassen Hierbei werden im Rahmen der Unterrichtsplanung die Lernziele formuliert, die Unterrichtsinhalte festgelegt und die Unterrichtsorganisation geplant, um diese dann im Rahmen von Un-terrichtsstunden praktisch umzusetzen

Dazu gehören ebenso das Wissen, die Fertig-keit und die Bereitschaft, Informations- und Kommunikationstechnologien in der per-sönlichen Planung, Organisation und beim Recherchieren von Ressourcen einzusetzen sowie Unterrichtsmaterialien und –ressour-cen kritisch zu evaluieren, zu entwickeln und praktisch anzuwenden

Evaluationskompetenz6 Evaluationskompetenz umfasst das Wissen, die Fertigkeit und die Bereitschaft, unter-schiedliche Formen der Beurteilung und Aufzeichnung von Lernfortschritten auf Basis des GERS und der gültigen nationalen sowie institutionellen Benotungssysteme zu ken-nen und anzuwenden sowie Fehleranalysen durchzuführen und konstruktives Feedback zu geben

Personale Kompetenz7 Personale Kompetenz umfasst das Wissen, die Fertigkeit und die Bereitschaft, Lehren und Lernen als kontinuierlichen Prozess zu se-hen und das eigene Lehren im Sinne der re-flexiven Praxis und Selbstbeurteilung kritisch zu hinterfragen Diese Kompetenz beinhaltet auch, Aktionsforschung und Integration von Forschung in den Unterricht passend einzu-bauen und Peer-Beobachtung und Peer Re-

view gezielt durchzuführen Dazu zählt eben-so das Wissen um das Europäische Portfolio für Sprachlehrende in Ausbildung (EPOSA) und die Fertigkeit sowie die Bereitschaft, die-ses passend als Instrument zur Reflexion der Unterrichtspraxis anzuwenden

Der oben beschriebene Kompetenzenka-talog wurde vom Autor dieses Artikels auf der Grundlage von GERS, Profil und EPOSA ausgearbeitet Dieser Kompetenzenkatalog wurde im Rahmen der Tagung der Arbeits-gruppe Berufsbezogene Fremdsprache Eng-lisch in Baden bei Wien im März 2010 vom Autor dieses Artikels vorgestellt und fand Eingang in das vom zuständigen Ministerium österreichweit empfohlene Rahmen- bzw Mustercurriculum für Lehrgänge für eine wei-tere Lehrbefähigung für den Gegenstand Berufsbezogene Fremdsprache Englisch an Berufsschulen

Literatur

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Gaderer, Heinz (2009): Communication at Work Teaching and Learning English for Specific Purposes Wien: htp

Hutchinson, T & Waters, A (1987): English for specific purposes Cambridge: Cambridge University Press

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Rauner, Felix (2004): Praktisches Wissen und berufliche Handlungskom-petenz Universität Bremen: ITB-Forschungsberichte 14/2004 URL: http://www itb uni-bremen de/downloads/Publikationen/Forschungsberichte/fb_14_04 pdf [Stand: 07 12 2010]

Rauner, Felix (2009): Berufliche Kompetenzen messen: Das Projekt KOMET der Bundesländer Bremen und Hessen Zwischenbericht der wissenschaft-lichen Begleitung (2009) Universität Bremen URL: http://www ibb uni-bremen de/fileadmin/user/Kompetenzentwicklung/Zwischenbericht_KO-MET_Final pdf [Stand: 07 12 2010]

Trim, John, u a (2001): Europarat Gemeinsamer europäischer Referenzrah-men für Sprachen: lernen, lehren, beurteilen Berlin: Langenscheidt bzw URL: http://www goethe de/Z/50/commeuro/i4 htm [Stand: 01 02 2011]

Glossar

BS Berufsschule

BFE Berufsbezogene Fremdsprache Englisch

EPOSA Europäisches Portfolio für Sprachlehrende in Ausbildung

FAA Fremdsprache als Arbeitssprache

CLIL Content and Language Integrated Learning

GERS Gemeinsamer Europäischer Referenzrahmen für Sprachen

|19BEITRÄGE AUS WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG

Angelika McMahon HETEROGENITÄT IN DER NEUEN MITTELSCHULE

Für die Schulen bedeutet das Arbeiten in heterogenen Gruppen in allen Unterrichtsfä-chern vermehrtes Arbeiten und Unterrichten im Team und damit verbunden eine stän-dige Auseinandersetzung mit Planung und Gestaltung von Unterricht und förderlichen Formen der Leistungsbeurteilung

Im „Haus der NMS“ finden sich alle Schwer-punkte der Neuen Mittelschule unter einem Dach Sinnvolle Differenzierung als tragende Säule verbindet die lernseitige Orientierung und den Umgang mit Differenz Rückwär-tiges Lerndesign, auf das in Punkt 3 näher eingegangen wird, und förderliche Leis-tungsbeurteilung sind zwei weitere wichtige Säulen des Kompetenzlernens und der lern-seitigen Orientierung

1 Umgang mit Differenz

Seit Mitte der 1990er Jahre ist die Frage des Umgangs mit Differenz verstärkt in den Fokus der Pädagogik gerückt Begriffe wie Differenz, Pluralität und Heterogenität und ihre zunehmende Bedeutung weisen dar-auf hin, dass das pädagogische Bewusstsein um gesellschaftliche Diversität zunimmt, was für die Arbeit in der Schule bedeutet, dass nicht mehr von einer „irgendwie selbstver-ständlich gegebenen Gleichheit“ (Mecheril und Arens 2010: 9) ausgegangen werden kann, sondern dass SchülerInnen auf unter-schiedliche Weise in sehr unterschiedliche Lebenszusammenhänge eingebunden sind Unter dem Motto „Jede/r ist anders anders“ geht es für Paul Mecheril und Susanne Arens um die Frage, wie Schule im Kontext gesell-schaftlicher Pluralität angemessen handelt, ohne „das Andere“ im Sinn stereotyper Zu-schreibungen als störend zu betrachten

Von entscheidender Bedeutung ist dabei eine reflexive Haltung, die es ermöglicht, die Vielfalt im Klassenzimmer ohne Festschrei-bungen als Grundverfassung schulischer Wirklichkeit zu verstehen Das erfordert von LehrerInnen unter anderem, eigene Deu-tungs- und Erklärungsmuster von Differenz zu beobachten und zu verändern, ihr päd-agogisches Handeln danach auszurichten und die Verschiedenheit systematisch ins Unterrichtsgeschehen einzubeziehen (Vgl Mecheril und Arens, 2010: 9-11)

Heterogenität in der Neuen MittelschuleAngelika McMahon

Die Neue Mittelschule (NMS) ist als gemeinsame Schule der Zehn- bis Vierzehnjährigen konzi-piert und setzt sich zum Ziel, auf persönliche Begabungen einzelner SchülerInnen einzugehen und Freude am Lernen zu vermitteln. Der Hauptfokus liegt auf einer starken inneren Differenzierung in allen Gegenständen mit der Absicht, alle SchülerInnen an ihre persönlichen Leistungsgrenzen heranzuführen und ihnen durch innovativen Unterricht für eine Vielfalt von Begabungen und Interessen in flexiblen Lerngruppen Spitzenleistungen zu ermöglichen. (Vgl. http://www.bmukk.gv.at/schulen/bw/nms/index.xml)

Abb.1: „Haus der Neuen Mittelschule“ (Westfall, Tanja

2010: Powerpointpräsentation im Rahmen des 4. Regi-

onalen Lernateliers – G2. Salzburg. 9. März 2011)

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HETEROGENITÄT IN DER NEUEN MITTELSCHULE Angelika McMahon

BEITRÄGE AUS WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG

2 Lernen und lernseitige Orientierung

Um lernseitige Orientierung im Unterricht um-zusetzen und Lernen zu ermöglichen bzw wie Käthe Meyer-Drawe es formuliert „Lernen zu verwahrscheinlichen“ (Meyer-Drawe 2008), ein ausdrückliches Ziel der Neuen Mittelschu-le, erfolgt im Rahmen der Unterrichtsentwick-lung in den NMS eine intensive Auseinander-setzung mit dem Begriff „Lernen“und seiner Bedeutung Michael Göhlich und Jörg Zirfas formulieren ihre Überlegungen zu einem Ar-beitsbegriff des Lernens folgendermaßen:

„Lernen bezeichnet die Veränderungen von Selbst- und Weltverhältnissen sowie Verhält-nissen zu anderen, die nicht aufgrund von angeborenen Dispositionen, sondern auf-grund von zumindest basal reflektierten Er-fahrungen erfolgen und die als dementspre-chend begründbare Veränderungen von Handlungs- und Verhaltensmöglichkeiten, von Deutungs- und Interpretationsmustern und von Geschmacks- und Wertstrukturen vom Lernenden in seiner leiblichen Gesamt-heit erlebbar sind; kurz gesagt: Lernen ist die erfahrungsreflexive, auf den Lernenden sich auswirkende Gewinnung von spezifi-schem Wissen und Können “ (Göhlich & Zir-fas 2007:17)

Lernen ist demnach ein kontinuierlicher Pro-zess, der uns zunehmend wissend handeln lässt Käthe Meyer-Drawe geht davon aus, dass Lernen Erfahrung bedeutet Sie sagt über das Lernen:

„Lernen ist nicht nur Erkennen Es hat viele Fa-cetten, welche den Menschen als leibliches Wesen betreffen Etwas in Zweifel zu ziehen, um den Grad an Gewissheit der Erkenntnis zu steigern, ist etwas anderes, als in eine Aus-weglosigkeit zu geraten, weil alles Gewohn-te versagt Lernen beginnt in dieser Hinsicht dort und dann, wo und wenn das Vertraute seinen Dienst versagt und das Neue noch nicht zur Verfügung steht…“(Meyer-Drawe 2008: 15) und John Holt ist der Überzeu-

gung: „Lehren erzeugt kein Lernen Lerner erzeugen Lernen Lerner erschaffen Lernen “ (Holt 2009: 94)

Michael Schratz bezeichnet das Erschaffen von Lernen durch die Lernenden selbst mit dem Begriff „lernseits von Unterricht“ (Schratz 2009: 19) Wenn man davon ausgeht, dass Lehren kein Lernen erzeugt, bedeutet das für die Schule, alte Muster zu verlassen und die Aufgaben einer Schule für morgen zu erarbeiten Das Ziel ist eine lernende Schu-le, „in der die Menschen kontinuierlich die Fähigkeiten entwickeln, ihre wahren Ziele zu verwirklichen, in denen neue Denkfor-men gefördert und gemeinsame Hoffnun-gen freigesetzt werden, in denen Menschen lernen, miteinander zu lernen “ (Senge 1996:11) Michael Schratz sieht in den Be-griffen „Leadership“ und „Lernen“, die aus seiner Sicht in einer starken Wechselwirkung stehen, Schlüsselworte für eine lernseitige Orientierung Im Rahmen des internationa-len Projekts „Leadership for Learning“(vgl McBeath u a 2006), in dem der Frage nach-gegangen wurde, wie „lernende Organisa-tionen“ arbeiten, wurde herausgearbeitet, „dass es drei Ebenen im Systembezug zu verbinden gilt: das Lernen der SchülerIn-nen, das Lernen der LehrerInnen sowie das Systemlernen “(Schratz 2009:18) Für alle Sys-temebenen ist eine starke Lernumgebung notwendig Damit sind Voraussetzungen ge-meint, die Lernen unterstützen Dazu wurden im Projekt „Leadership for Learning“ fünf Schlüsselaspekte formuliert, die im Entwick-lungsprozess Beachtung finden müssen:

� Fokus auf das Lernen auf allen 3 Ebenen � förderliche Bedingungen, die als Ziel des Unterrichts das Lernen der SchülerInnen in den Mittelpunkt stellen (nicht was der/die LehrerIn unterrichtet) � ein wirksamer Dialog als das konstitutive Element von Bildungsprozessen � shared Leadership im Sinne eines ge-meinsamen Bemühens, komplexe He-rausforderungen zu bewältigen und

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Angelika McMahon HETEROGENITÄT IN DER NEUEN MITTELSCHULE

BEITRÄGE AUS WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG

� Verantwortungsübernahme jedes/jeder Einzelnen (vgl Schratz 2007: 18-19)

Joachim Bauer meint zu den Bedingungen für gelingende Bildung, dass die wichtigste Voraussetzung „konstruktive, das Lernen be-fördernde Beziehungen“ seien und dass es Schulen über weite Strecken nicht gelingt, Unterrichtssituationen herzustellen, die Ler-nen ermöglichen (Vgl Bauer, 2007, 11-12)

3 Rückwärtiges Design

Grant Wiggins sieht LehrerInnen als De-signerInnen Ein wesentlicher Aspekt des Lehrberufs ist seiner Meinung nach das „Bereitstellen“ von Curricula im Sinn von „Lernlaufwegen“ und das Bereitstellen von Lernerfahrungen, um gewisse Absichten und Ziele zu erreichen Er sieht LehrerInnen auch als DesignerInnen von Leistungsbewertung, um Lernstand und Lernbedürfnisse von Ler-nenden zu diagnostizieren und damit Schü-lerInnen, LehrerInnen und Eltern die Beur-teilung zu ermöglichen, ob bzw inwieweit Lernziele erreicht wurden Nationale Stan-dards und Curricula, die festlegen, welche Kompetenzen SchülerInnen an bestimmten Punkten ihrer Bildungslaufbahn erworben haben, sollen helfen Prioritäten des Leh-rens und Lernens zu identifizieren und sind Grundlage der Unterrichtsplanung und der Leistungsbeurteilung Zu den Vorgaben von außen gilt es, in der Unterichtsplanung die Unterschiedlichkeit der SchülerInnen und ihrer Interessen genauso zu bedenken wie das Prinzip, dass der funktionale Aspekt dem formalen Aspekt übergeordnet ist Wiggins legt den Fokus der Unterrichtsplanung auf die Ergebnisse, die erzielt werden sollen, und darauf, woran festgemacht werden kann, dass diese Ergebnisse tatsächlich erzielt wur-den, d h , er geht bei seinen Planungen nicht von Methoden, Schulbüchern und „beque-men“ Aktivitäten aus Er nennt seinen Ansatz der Unterrichtsplanung „rückwärtiges De-sign“ und unterteilt diesen in drei Schritte: Im ersten Schritt ermittelt er die gewünsch-

ten Lern ergebnisse, indem er überlegt, was SchülerInnen am Ende einer Unterrichtsein-heit wissen, verstehen und tun können sol-len Er verschafft sich auf der Grundlage von Curricula und Standards Klarheit über Prio-ritäten, um aus der vorhandenen Fülle von Inhalten eine entsprechende Wahl zu tref-fen Im zweiten Schritt stellt er sich die Frage, woran erkennbar ist, dass die SchülerInnen die erwünschten Ergebnisse erzielt haben, bevor er im dritten Schritt auf der Basis von klar definierten Ergebnissen und adäqua-ten Belegen für das erreichte Ziel über die geeigneten Aktivitäten im Unterricht nach-denkt (Vgl Wiggins & McTighe 2005: 13-18)

4 Differenzierung

Binnendifferenzierung bedingt eine schü-lerorientierte Didaktik und erfordert eine Unterrichtspraxis, die eine Strategie für ziel-orientiertes Lernen anbietet Das bedeutet, unterschiedliche Lerntempi zu erlauben und damit unterschiedlich viel Zeit für Zielerrei-chung zu geben, für den jeweiligen Lernfort-schritt die benötigten Lernmaterialien und methodischen Hilfen anzubieten und bei Bedarf – wenn auf eine Weise kein Lernfort-schritt erzielt werden kann - durch andere Lernmaterialien zu ersetzen sowie SchülerIn-nen entsprechend zu belohnen oder zu er-mutigen (Vgl Bönsch 2009: 118)

Grundlage für die Differenzierung im Rah-men der Neuen Mittelschule ist das Theorie-modell der US-amerikanischen Wissenschaft-lerin Carol Ann Tomlinson

Sie geht davon aus, dass differenzierter Un-terricht unterschiedliche Zugangsweisen zum Lernen bedeutet und hat ihr Differen-zierungsmodell aus der Erkenntnis entwi-ckelt, dass LehrerInnen Konzepte brauchen, die es ihnen ermöglichen, mit der gesamten Lerngruppe, mit Kleingruppen und mit Indi-viduen zu arbeiten, wobei hier nicht homo-gene Kleingruppen gemeint sind, in denen SchülerInnen mit ähnlichen Leistungsniveaus

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HETEROGENITÄT IN DER NEUEN MITTELSCHULE Angelika McMahon

BEITRÄGE AUS WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG

zusammenarbeiten, sondern flexible Grup-pen, in denen SchülerInnen mit unterschied-lichen Stärken voneinander profitieren kön-nen (Vgl Tomlinson 2001: 2-4) Das Konzept von Tomlinson berücksichtigt im Rahmen der Differenzierung drei Ebenen (vgl Abb 2)

LehrerInnen, die mit Erfolg differenzieren, dif-ferenzieren einen Teil ihres Unterrichts in ei-nem Teil der Unterrichtszeit Damit werden nicht alle Lerninhalte, Lernprodukte, Lernum-felder und Lernprozesse grundsätzlich diffe-renziert und auch nicht immer, sondern dort, wo es sinnvoll und notwendig erscheint Um festzustellen, wo, wann und wie differenziert werden muss, ist die ständige Lernstandsbe-obachtung eine wichtige Grundlage Daraus beziehen die LehrerInnen die Daten, die ih-nen Auskunft über die Lernbereitschaft, die Interessen und die Lernprofile ihrer SchülerIn-nen geben Leistungsfeststellung dient nicht in erster Linie dazu, die Ergebnisse am Ende einer Unterrichtseinheit einzuschätzen, son-dern als Grundlage für die Gestaltung der nächsten Schritte des Unterrichtshandelns LehrerInnen erhalten so Einblick darin, inwie-weit und in welchem Ausmaß Kern ideen ver-standen wurden, wer von den Lernenden die erzielten Fähigkeiten tatsächlich erworben hat und welcher Grad an Interesse vorliegt In differenzierten Lernumgebungen dient die Leistungsfeststellung als Messinstrument für den Lernzuwachs (Vgl Tomlinson, 2005:10-11)

Im Gegensatz zu vorherrschenden Definitio-nen, die unter Lernbereitschaft in erster Linie Motivation verstehen, meint Tomlinson mit Lernbereitschaft den Ausgangspunkt der SchülerInnen in Relation zum Erwerb einer gewissen Fähigkeit im Sinn von Vorwissen und Vorerfahrungen, also im Sinn der fachlichen Lernbereitschaft Dieser Ausgangspunkt gibt Aufschluss darüber, welche Herangehens-weisen für die einzelnen Lernenden zielfüh-rend sein können

Während die einen vielleicht daran arbeiten müssen, Lücken in ihren Vorkenntnissen zu schließen, brauchen andere unterschiedlich komplexe Aufgaben, mehr oder weniger Unterstützung der LehrerInnen, verschiede-ne Lerntempi bzw differenzierte Stufen der Abstraktion, um einige Beispiele zu nennen (Vgl Tomlinson 2005: 11)

Die Interessen beziehen sich auf die Affinität, die Neugier und Wissbegierde oder auch die Leidenschaft, mit der SchülerInnen an besondere Themen herangehen Lernprofile geben Auskunft darüber, wie Einzelne lernen Sie setzen sich aus Präferenzen hinsichtlich unterschiedlicher Intelligenzen, Geschlecht, Kultur und Lernstilen zusammen (Vgl Tomlin-son, 2005: 11)

Unter Berücksichtigung dieser drei Charak-teristika auf Schülerseite ist es Aufgabe der

Abb. 2: Differenzierungsmo-

dell nach C. A. Tomlinson

(vgl. Tomlinson, 2005: 15)

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Angelika McMahon HETEROGENITÄT IN DER NEUEN MITTELSCHULE

BEITRÄGE AUS WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG

LehrerInnen, den Unterricht hinsichtlich der Lerninhalte, der Lernprozesse, der Lernpro-dukte und des Lernumfelds zu gestalten Es ist dabei nicht notwendig, alle vier Elemente zu jeder Zeit zu differenzieren In wirksamen differenzierenden Lernumgebungen ist die Arbeit mit der Gesamtgruppe ein ebenso wichtiger Teil des Unterrichts Differenzieren sollte man dann, wenn man erkennt, dass es besondere Bedürfnisse seitens der Ler-nenden gibt bzw wenn dadurch die Wahr-scheinlichkeit steigt, dass Lernende zu bes-seren Lernergebnissen kommen

Grundprinzipien der Differenzierung nach den oben genannten Elementen sind aus der Sicht Tomlinsons respektvolle Aufgaben, die einzelnen Lernenden Lernoptionen bie-ten, die für sie passend sind, ständige Lern-standsbeobachtung und flexible Gruppen (Vgl Tomlinson 2005: 12-14)

Differenzierung ist eine wichtige Vorausset-zung dafür, dass SchülerInnen ihr Lernen personalisieren – das heißt ihr Lernen ihren persönlichen Lernstilen, ihrer Lernbereit-schaft und ihren Interessen anpassen - kön-nen, indem sie als einzigartiger Mensch anerkannt werden und die Möglichkeit ha-ben, das eigene Lernen mit entsprechender Unterstützung selbst zu gestalten und Urhe-berschaft darüber zu erleben Ausgehend von der persönlichen Identität werden in der persönlichen Auseinandersetzung und der Auseinandersetzung mit dem sozialen Umfeld im bewertungsfreien Raum einzig-artige Ergebnisse durch persönliche Aktivi-täten erzielt (Vgl Schratz / Westfall-Greiter 2010: 26)

„Personalisierung erfolgt durch Selbstge-staltung und im Dialog über die Aneignung von Wissen, Fähigkeiten und Haltungen mit sich selbst und mit anderen während Refle-xionsphasen und im Gespräch, in dem Aus-tausch und gemeinsame Deutung (making meaning) stattfindet “ (Schratz & Westfall-Greiter 2010: 26)

5 Leistungsbeurteilung

Differenzierter Unterricht schließt die Leis-tungsbeurteilung ebenso ein wie die Unter-richtsplanung Demnach ist der Umgang mit Differenzen nicht nur ein wichtiger Teil der Unterrichtsarbeit, sondern ein ebenfalls zen-traler Faktor in der Leistungsfeststellung im Hinblick darauf, den Anspruch der lernseiti-gen Orientierung zu erfüllen

Im Rahmen der Neuen Mittelschule erfolgt eine Auseinandersetzung mit Leistungsbeur-teilung in differenzierten Lernumgebungen unter dem Aspekt der Fairness, die nicht gleichbedeutend mit Gleichbehandlung ist

Rick Wormeli formuliert Prinzipien für erfolg-reiche Leistungsbewertung in differenzier-ten Lernumgebungen Als erstes Prinzip für erfolgreiche Leistungsbeurteilung nennt er „Begin with the End in Mind“, also den Blick darauf richtend, was am Ende einer Lerneinheit an Lernertrag herauskommen soll Es sieht es als eine mögliche Herange-hensweise, den Lernenden am Beginn einer Lerneinheit den Test vorzulegen, den sie am Ende absolvieren sollen, und räumt gleich-zeitig ein, dass der Vorschlag etwas radikal wirken mag Diese Vorgangsweise trage je-doch zur Transparenz der Lernziele bei und gebe den Lernenden eine klare Vorstellung darüber, worauf sie sich in ihrem Lernprozess konzentrieren sollten Je klarer die Arbeits-aufträge seien, desto wahrscheinlicher sei es, dass sich Lernende ernsthaft um Ergeb-nisse bemühen, weil sie ein klares Bild von den erwarteten Produkten hätten Nichts sei so frustrierend für Lernende wie die Arbeit an einer Aufgabe, die viel Zeit in Anspruch nimmt und am Ende nur zu der Erkenntnis führt, dass sie nicht entsprechend gelöst wurde (Vgl Wormeli 2006: 21-22)

Ein weiterer Aspekt ist der Blick darauf, was SchülerInnen am Ende einer Lerneinheit wissen, verstehen und tun können sollen Ebenso wichtig ist laut Wormeli die Lernbe-

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BEITRÄGE AUS WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG

reitschaft der Lernenden Es gilt herauszufin-den, welche Kenntnisse und Kompetenzen Lernende in Relation zu den erwünschten Lernergebnissen einer Lerneinheit bereits mitbringen Um das herauszufinden, ist eine Lernstandserhebung zielführend, die unter der Prämisse mit dem „Ende vor Augen“ zu beginnen von dem abschließenden Test einer Lerneinheit ausgeht Bei der Erstellung einer solchen Lernstandserhebung gilt es fol-gende Fragen zu beachten:

� Welches sind die wesentlichen und nach-haltig verfügbaren Fertigkeiten und Inhal-te, die beurteilt werden sollen? � Wie können die Lernenden im Rahmen der Leistungsbeurteilung ihre Meister-schaft zeigen? � Sind alle Bestandteile der Lernziele in der Leistungsbeurteilung berücksichtigt? � Gibt es andere Wege für die Lernenden, zu zeigen, dass sie entsprechende Lernin-halte gemeistert haben? � Ist die Leistungsfeststellung eine Feststel-lung hinsichtlich des Lernprozesses oder des Lernprodukts und ist das der Absicht der Leistungsfeststellung entsprechend?

Für die Entwicklung von Leistungsfeststellung ist es zielführend, drei Arten zu unterschei-den: (vgl Wormeli 2006:22 - 27)

Lernstandserhebungen (Preassessment), 1 die die Lernbereitschaft und Vorkenntnis-se der Lernenden bewerten und damit eine wichtige Entscheidungsgrundlage für das Planungshandeln und den Verlauf des Unterrichts bilden Formative Leistungsfeststellung: Diese 2 Form der Leistungsfeststellung wird wäh-rend des Lernprozesses häufig angewen-det Das Feedback unterstützt sowohl Ler-nende als auch Lehrende in der weiteren Gestaltung der Lernprozesse Summative Leistungsfeststellung: Das ist 3 jene Leistungsfeststellung, die am Ende einer Lerneinheit der Leistungsbeurtei-lung dient

Wenn man davon ausgeht, dass formative Leistungsfeststellung eine Feststellung des Lernstands ist, deren Ergebnisse zur Anpas-sung weiterer Lernprozesse führen und damit durch wiederholtes Feedback zum Lerner-trag beitragen, ist es zielführend, zwischen Lernaufgaben und Leistungsaufgaben zu differenzieren Während Lernaufgaben und die Rückmeldung darüber weitgehend der Steuerung des Lernprozesses dienen, erzeugt die summative Beurteilung im Rahmen einer Leistungsaufgabe durch Benotung ein spe-zifisches Leistungsbild zu einem bestimmten Zeitpunkt

Im englischen Sprachraum werden diese For-men der Leistungsfeststellung als Beurteilung für Lernen (formativ) und Beurteilung von Lernen (summativ) bezeichnet Eine dritte Ebene ist Beurteilung als Lernen (konstitutiv) Die konstitutive Leistungsfeststellung fordert die Lernenden heraus, Leistungsbeurteilung als Teil ihres eigenen Lernens zu erleben und mit Methoden der Selbsteinschätzung, des Peer-Feedback und der Selbstkontrolle zur Lernautonomie zu gelangen (Vgl Earl 2003: 21 – 28)

Zentrale Prinzipien guter Leistungsfeststellung (vgl Wormeli, 2006: 39 – 41):

� Gute Leistungsfeststellung dokumentiert nicht nur, sondern bringt Lernen voran und ist ein integraler Bestandteil des Un-terrichts � Leistungsfeststellung konzentriert sich auf grundlegendes und nachhaltiges Ver-ständnis sowie damit verbundene Fertig-keiten � Gute Leistungsfeststellung gibt dem Leh-rer/der Lehrerin Informationen über den Unterrichtsverlauf und steht niemals iso-liert am Ende einer Einheit � Gute Leistungsfeststellung ist transparent, beginnt mit „dem Ende vor Augen“ und ermöglicht den Schülerinnen und Schü-lern von Anfang an ein klares Bild, welche Leistungen von ihnen erwartet werden

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� Gute Leistungsfeststellung ist authentisch und der Lebenswelt der Lernenden ent-sprechend Sie bildet Anforderungen ab, mit denen die Lernenden im späteren Leben konfrontiert sein werden � Gute Leistungsfeststellung ist ein valider Indikator, was Lernende tun können, ent-hält oft mehr als eine Disziplin und ver-langt nach unterschiedlichen Herange-hensweisen und Lösungsstrategien

6 Die Rolle der LehrerInnen

SchülerInnen suchen Bestärkung, die Mög-lichkeit der Beteiligung, Herausforderungen, Ziele und Macht über ihren eigenen Lern-prozess (Vgl Marzano 2003: 2-4/Tomlinson 2005: 12) Die Aufgabe der LehrerInnen ist es, eine Fülle von Lerngelegenheiten zu bieten, in Lernprozesse zu investieren, zum Lernen einzuladen, Lernprozesse zu reflektieren und Beharrlichkeit zu zeigen Das Curriculum soll in diesem Prozess eine Herausforderung bie-ten, zielgerichtet, bedeutend, ansprechend und mit passenden Unterstützungsstrukturen versehen sein

LehrerInnen haben einen sehr hohen Anteil am Lernerfolg der SchülerInnen Kompeten-te LehrerInnen erfüllen dabei mehrere Funk-tionen, die sich in drei Hauptaufgaben un-terteilen lassen Sie treffen Entscheidungen über die effizientesten Unterrichtsstrategien, gestalten die Lernwege in einer Weise, die den Lernenden Lernen ermöglicht und sie haben ein effektives „Classroom Manage-ment“ (Marzano 2003: 3)

Welche Bedeutung LehrerInnen für den Lernerfolg ihrer SchülerInnen haben, geht aus einer Studie hervor, die 1997 von S Paul Wright, Sandra Horn und William Sanders mit einer Population von 60 000 Schülerin-nen und Schülern durchgeführt wurde (vgl Marzano 2003:1) Die Studie belegt, dass der wichtigste Faktor für Lernen der Lehrer/die Lehrerin ist Kompetente LehrerInnen schei-nen mit Lernenden aller Leistungsniveaus

ungeachtet des Grads der Heterogenität in ihren Klassen erfolgreich zu sein (Vgl Marza-no 2003:1) Vergleiche zeigten, dass Lernen-de, die ein Jahr von LehrerInnen unterrichtet wurden, die als höchst kompetent eingestuft wurden, ihre Leistung um 52 Prozentpunkte steigerten, während SchülerInnen in Klassen, deren LehrerInnen als wenig kompetent ein-gestuft wurden, ihre Leistung lediglich um 14 Prozentpunkte steigerten Der Unterschied wird umso deutlicher, wenn die Schätzung der ForscherInnen berücksichtigt wird, dass ein Leistungszuwachs von sechs Prozent-punkten allein dadurch bedingt war, dass die Lernenden während der Durchführung der Studie ein Jahr älter geworden waren und entsprechende Erfahrungen gemacht hatten

Was macht eine/n kompetente/n Lehrer/in aus?Kompetente LehrerIinnen haben ein großes Instrumentarium an Unterrichtsstrategien zur Verfügung Sie sind fähig, Methoden des kooperativen Lernens einzusetzen, können Abläufe graphisch darstellen, können Haus-übungen, Fragen, Lernpläne und dgl so ein-setzen, dass der Lernprozess damit gefördert wird Zudem wissen sie, welche Strategien in Zusammenhang mit spezifischen Schüler-Innen und spezifischen Inhalten förderlich sind

Ihre zweite Stärke liegt im Curriculumdesign (Anm Curriculum wird hier nicht im Sinn von Lehrplan verwendet, sondern meint die Ge-staltung der Lernwege) Die Abfolge der Inhalte und das Tempo stehen hier im Mit-telpunkt Anstatt auf die Sequenzen des Lehrwerks zu vertrauen, ziehen LehrerInnen die Bedürfnisse der Lernenden in Betracht und planen dementsprechend Zudem be-sitzen sie die Fähigkeit, Lernaufgaben und neue Inhalte in unterschiedlichen Formaten, wie zum Beispiel Geschichten, Erklärungen, und anderen Demonstrationsformen, zu prä-sentieren und sich dabei unterschiedlicher Medien zu bedienen

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BEITRÄGE AUS WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG

Zudem verfügen erfolgreiche LehrerInnen über gutes Management der Lernumge-bung Regeln im Klassenzimmer sind oft leh-rerabhängig und unterteilen sich in diverse Kategorien wie Erwartungen an Verhalten, Routinen für den Anfang und das Ende des Unterrichts, Übergänge und Unterbrechun-gen, den Gebrauch von Materialien und Ausstattung, Gruppenarbeit und lehrerzen-trierte Aktivitäten In allen Bereichen ist es wichtig, SchülerInnen in die Erarbeitung ei-nes Regelwerks einzubeziehen (Vgl Marza-no 2003: 4-26, Helmke 2009: 173 )

Die LehrerInnen an den österreichweit mitt-lerweile 320 Standorten der Modellversuche Neue Mittelschule setzen sich in intensiven schulinternen und schulübergreifenden Pro-zessen mit den Herausforderungen ausei-nander, die mit dem Anspruch der Neuen Mittelschule, kein Kind zurückzulassen und möglichst alle an ihre persönlichen Leis-tungsgrenzen heranzuführen, verbunden sind Sie arbeiten daran, Schule und Unter-richt im Sinne des im vorliegenden Beitrag Skizzierten „neu zu denken“

Literatur:

Arens, Susanne & Paul Mecheril (2010): Schule – Vielfalt – Gerechtigkeit Schlaglichter auf ein Spannungsverhältnis, das die politische und erzie-hungswissenschaftliche Diskussion in Bewegung gebracht hat In: Die Ler-nende Schule 49 9 – 11)

Bönsch, Manfred (2009): Intelligente Unterrichtsstrukturen Eine Einführung in die Differenzierung Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren

Earl, Lorna M (2003) Assessment as Learning Using Classroom Assessment to Maximize Student Learning G Thousand Oaks, California: Corwin Press

Göhlich, Michael & Jörg Zirfas (2007) Lernen Ein pädagogischer Grund-begriff Stuttgart: Kohlhammer

Helmke, Andreas (2009): Unterrichtsqualität und Lehrerprofessionalität Diagnose, Evaluation und Verbesserung des Unterrichts 2 Auflage Seelze-Velber: Kallmeyer

Holt, John (2009): In jeder wachen Stunde In: John Holt (Hg ): Das Freiler-ner-Buch Winsen (Luhe): Anahita Verlag 93-96

Marzano, Robert J (2009) Classroom Management that works Research-Based Strategies for Every Teacher New Jersey Pearson Education

Meyer – Drawe, Käthe (2008) Diskurse des Lernens München Wilhelm Fink Verlag

Schratz, Michael & Tanja Westfall – Greiter (2010): Das Dilemma der Indivi-dualisierungsdidaktik Plädoyer für personalisiertes Lernen in der Schule In: Journal für Schulentwicklung 1 18 – 31

Schratz, Michael et al (2007): Domänen von Lehrer/innenprofessionalität im internationalen Kontext In: Journal für Lehrerinnen- und Lehrerbildung 7, 2 70 – 79

Schratz, Michael (2009): „Lernseits“ von Unterricht Alte Muster, neue Le-benswelten – was für Schulen? In: Lernende Schule 46-47 16-21

Senge, Peter (1999): Die Fünfte Disziplin Kunst und Praxis der lernenden Organisation 2 Auflage Stuttgart Klett-Cotta

Tomlinson, Carol Ann (2005): The Differentiated Classroom Responding to the needs of all Learners New Jersey: Pearson

Wormeli, Rick (2006): Fair Isn’t Always Equal Portland, Maine: Stenhouse Publishers

http://www bmukk gv at/schulen/bw/nms/index xml (Stand: 1 März 2011)

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Hans Peter Gottein ES WAR EINMAL ... EINE HOMOGENE LERNGRUPPE

Ausgangsvoraussetzungen

Unsere Welt verändert sich derzeit in einer Geschwindigkeit und Radikalität, wie es in der Geschichte der Menschheit noch nie festzustellen war (beispielsweise die immer schneller werdende Entwicklung der Kom-munikationstechnologie oder die abneh-mende Halbwertszeit des Wissens – siehe dazu weiter unten) Nicht umsonst fordert Ehlers (2008) die Ausrufung des Antropozäns, des Zeitalters des Menschen Diese – und an-dere – Entwicklungen bedingen auch eine Veränderung bzw Anpassung schulischen Unterrichts

Viele Schulsysteme stellen sich nur langsam und zögerlich auf Anforderungen hinsichtlich einer Individualisierung und Differenzierung des Unterrichts ein Der fragend-entwickeln-de Unterricht ist immer noch die dominan-te Unterrichtsform (vgl Astleitner 2007: 137) Chen (2008: 5) spricht in diesem Zusammen-hang von einem „Dominanzparadigma“ Bastian (2007: 104) spricht von der Domi-nanz eines spezifischen Unterrichtsskripts, das er als „instruierendes Unterrichtsgespräch“ bezeichnet Auf der anderen Seite geraten SchülerInnen durch diese Unterrichtsme-thodik in Gefahr, schulische Inhalte lediglich oberflächlich aufzunehmen Klippert (2008: 17) spricht in diesem Zusammenhang von vordergründigem, nicht nachhaltigem Ler-nen und „Konsumismus“

Der Veränderungsbedarf von Schulsystemen wird häufig u a durch die abnehmende Halbwertszeit des Wissens begründet Derzeit entstehen täglich ca 20 000 neue wissen-schaftliche Publikationen (vgl Wiater 2007: 40) Im Jahr 1900 waren 95 % aller Arbeits-plätze mit keinen oder geringen, in kurzer Zeit anlernbaren Qualifikationen bewältig-bar (vgl Darling-Hammond 2008), ein Groß-teil der Arbeitsplätze heute verlangt jedoch weitaus anspruchsvollere Kompetenzen und Qualifikationen, wie z B Selbstmanagement, Kommunikations- und Teamkompetenz, An-wendung von Wissen und Kompetenzen in veränderten Situationen usw Darling-Ham-mond argumentiert, dass unsere SchülerIn-nen auf Jobs vorbereitet werden, die zum Zeitpunkt des Schulbesuchs noch gar nicht existieren Prensky (2001: 1) drückt dies so aus: „Our students have changed radically To-day’s students are no longer the people our educational system was designed to teach ”

Homogenität vs Heterogenität

Der Versuch, Lerngruppen weitestgehend zu homogenisieren, hat insbesondere im deutschsprachigen Raum (im Gegensatz zum englischsprachigen Raum, vgl dazu z B Ratzki 2004, Rüttimann 2009) eine lange Tradition Schon im 18 Jh schlug Ernst Chris-tian Trapp - der erste Pädagogikprofessor Deutschlands - vor, den Unterricht an den so-genannten „Mittelköpfen“ auszurichten, d h

Es war einmal... eine homogene LerngruppeVom Mythos der Homogenität und dem Umgang mit Heterogenität

Hans Peter Gottein

Begriffe wie Individualisierung, Differenzierung oder Heterogenität sind in der pädagogischen Fachliteratur der letzten Jahre sehr prominent vertreten. Es stellt sich die Frage nach dem Wa-rum: pädagogische Notwendigkeit oder vorübergehender Hype? Im folgenden Beitrag wird auf Heterogenität im schulischen Umfeld eingegangen. Im Anschluss daran wird der Einfluss von LehrerInnen-Persönlichkeitsmerkmalen auf deren Einstellung zu einem positiven Umgang mit Heterogenität im Sinne der Binnendifferenzierung dargestellt und durch eine aktuelle Untersu-chung belegt.

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ES WAR EINMAL ... EINE HOMOGENE LERNGRUPPE Hans Peter Gottein

BEITRÄGE AUS WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG

den imaginären DurchschnittsschülerInnen (vgl Helmke 2009: 245) Die Geschichte der Pädagogik im deutschsprachigen Raum ist folglich geprägt vom Bestreben, Lernende in homogene Lerngruppen einzuteilen (äußere Differenzierung) Dies ist in mehrfacher Hin-sicht problematisch Die zu Grunde geleg-ten Leistungskriterien sind normativ, d h , sie unterliegen den in einer Gesellschaft zu ei-nem bestimmten Zeitpunkt gültigen Normen, und sie sind selektiv, d h , sie teilen Personen in auf ein bestimmtes Merkmal gerichtete Gruppen ein (vgl Grubich 2005: 485-486) Das vordergründige Einteilungsmerkmal ist die Lernleistung im jeweiligen Fachbereich Zahlreiche Untersuchungen belegen je-doch, dass viele andere Kriterien einfließen, wie z B der sozioökonomische Status des Kindes oder das Schulangebot in Wohnort-nähe (ebda : 486) Aber auch das Kriterium der Leistung ist kritisch zu betrachten Viele Untersuchungen weisen nach, dass Leistun-gen offensichtlich nicht an einer Sachnorm (Lehrplan) gemessen werden, sondern sich an Normalverteilungen annähern, d h , das Leistungsniveau der jeweiligen Lerngruppe hat erheblichen Einfluss auf die Einschätzung der Leistung (vgl z B Eder, Neuweg & Thon-hauser 2009: 256-259)

Viele Untersuchungen belegen es eindeu-tig: Eine homogene Lerngruppe gibt es nicht! Auch wenn es noch so unpraktisch erscheint, LehrerInnen sind aufgefordert, die Tatsache der Heterogenität anzuerkennen Scheunpflug bezeichnet die zunehmende Heterogenität insofern als große pädago-gische Herausforderung, da „heterogene Lerngruppen auf eine Lehrerschaft stoßen, die eine homogene schulische Gruppe er-wartet“ (Scheunpflug 2008: 66) Kampshoff und Walther (2010: 401) verweisen auf den Grundtenor vieler Studien und formulieren vorsichtig, indem sie feststellen, dass eine „adäquate Reaktion der Lehrerschaft auf heterogene Lerngruppen [… ] in der empi-rischen Schul- und Unterrichtsforschung in Zweifel gezogen“ wird

Wie bereits weiter oben angedeutet, deu-ten trotz aller Forderungen nach homo-genen Lerngruppen aktuelle Forschungs-ergebnisse darauf hin, dass „Lernzuwachs und Lernergebnisse aller Schülerinnen und Schüler unter Bedingungen von Heteroge-nität besser sind“ (Klauer & Leutner, 2007, zit n Kiper 2008) Ähnliche Forschungsergeb-nisse belegen Stierle und Wagner (2004) Die Autoren berichten, dass vor allem bei Gruppenaufgaben heterogene Gruppen kreativere und qualitativ hochwertigere Er-gebnisse zuwege bringen als homogene Gruppen Rüttimann (2009) fasst Ergebnisse aus der Integrationsforschung zusammen und stellt u a fest, dass im integrativen Un-terricht von lernbehinderten und nicht lern-behinderten SchülerInnen letztere keine Leistungsminderungen aufweisen, dass ge-mischte Lerngruppen kognitiv gute Effekte zeigen sowie dass lernbehinderte SchülerIn-nen in gemischten Gruppen deutlich bes-sere Schulleistungen zeigen, allerdings auch ein leicht niedrigeres Selbstwertgefühl (Vgl Rüttimann 2009)

Voraussetzungen auf Seiten der Lehrer-Innen für einen erfolgreichen Umgang mit Heterogenität

Best-practice Beispiele, wie z B die in Rein-hard Kahls Film „Treibhäuser der Zukunft“ vorgestellten Schulen oder die sog „Leucht-turmschulen“ (vgl Fauser et al 2007), sind mittlerweile sehr bekannt Doch was sind Vo-raussetzungen auf Seiten der Lehrerschaft, um erfolgreich mit einer heterogenen Lern-gruppe umgehen zu können? Viele AutorIn-nen haben sich mit dieser Frage beschäftigt, dementsprechend gibt es unterschiedliche Anforderungskataloge Einen umfangrei-chen Katalog legt Helmke (2009: 253-255) vor und nennt als Erfolgsfaktoren u a den nötigen Einstellungswandel, diagnostische Kompetenz, Professionswissen und didakti-sche Expertise, passendes Lehr- und Diagno-sematerial sowie den bewussten Einbezug außerschulischer Faktoren

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Hans Peter Gottein ES WAR EINMAL ... EINE HOMOGENE LERNGRUPPE

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Beliefs und Persönlichkeitsmerkmale

Eine professionelle Lehrperson wird von ver-schiedenen AutorInnen unterschiedlich de-finiert Beispielsweise nennen Kampshoff und Walther (2010: 402) in Anlehnung an Baumert und Kunter (2006) als Elemente der LehrerIn-nen-Professionalität u a Professionswissen (Fachwissen, fachdidaktisches Wissen) und die sog ‚beliefs‘ Dabei handelt es sich um „Überzeugungen, Werthaltungen, motivati-onale Orientierungen und selbstregulative Fähigkeiten“ (ebda ) Über den Einfluss von „beliefs“ auf das Verhalten von LehrerInnen im Unterricht ist in einer Studie bei Kampshoff und Walter (2010: 402) nachzulesen In die-sem Aufsatz liegt der Fokus auf zwei ausge-wählten Persönlichkeitsmerkmalen, dem Ori-entierungsstil und der Motivationsstrategie Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, ob diese beiden Persönlichkeits-merkmale einen Einfluss auf eine positive Ein-stellung gegenüber Heterogenität im Sinne der Binnendifferenzierung haben Dazu wer-den die theoretischen Konstrukte dargestellt und mit empirischen Daten belegt Die Aus-wahl hinsichtlich des Orientierungsstils be-gründet sich u a durch empirische Erkennt-nisse von z B Kempas (1995) oder Huber und Roth (1999), die einen Zusammenhang zwischen der Bereitschaft zur Umsetzung be-stimmter didaktischer Konzepte und der Un-gewissheitsorientierung feststellen konnten Das Konstrukt der Autonomieförderung steht auch bereits bei oberflächlicher Betrach-tung offensichtlich im Zusammenhang mit der Bereitschaft zur Binnendifferenzierung

Orientierungsstil von LehrerInnen

Untersuchungen zum Orientierungsstil von LehrerInnen sind im deutschsprachigen Raum bislang nicht sehr häufig Huber und Roth (1999) stellen fest, dass jede Situation einen Informationswert und einen affektiven Wert besitzt Je weniger tatsächliche Infor-mationen verfügbar sind, desto unsicherer ist die Situation bzw deren Ausgang Hier setzt

die Untersuchung des Persönlichkeitsmerk-mals an Die zentrale Fragestellung ist dabei der Umgang mit der Unsicherheit

Besonders intensiv haben sich Richard Sor-rentino und Christopher Roney (vgl z B Sorrentino & Roney, 2000) mit dieser Frage auseinandergesetzt Sie definieren den Ori-entierungsstil als bereichsübergreifendes Persönlichkeitsmerkmal, d h ein Merkmal, das in praktisch allen Lebenssituationen zum Tragen kommt Weiters stellen sie fest, dass es sich um ein überdauerndes Merkmal han-delt, d h einmal gebildet, ist es nur schwer veränderbar Die Autoren unterscheiden in ihrer Theorie zwischen Gewissheits- und Ungewissheitsorientierung Ungewissheits-orientierte Menschen (UOs) sehen in unbe-kannten Situationen mit Lernpotential etwas Anregendes, etwas Spannendes Sie nut-zen diese Situationen nicht nur, sie suchen sie sogar aktiv auf (vgl Sorrentino & Roney, 2000 4-5) Im Gegensatz dazu versuchen gewissheitsorientierte Menschen (GOs), ge-nau diese Situationen zu vermeiden Sie füh-len sich in vertrauten Situationen besonders wohl, was jedoch nicht bedeutet, dass die-se Menschen Neuem gegenüber nicht auf-geschlossen sind Sorrentino und Roney (vgl ebda : 7) konnten jedoch nachweisen, dass Misserfolgserlebnisse in ungewissen Situati-onen von solchen Menschen als besonders negativ empfunden werden UOs und GOs bilden die beiden Enden eines Kontinuums

Zunächst stellt sich die Frage, wie sich dieses Merkmal bildet Huber und Roth (1999: 96) merken hinsichtlich der Aus gangslage an: „Wir können davon ausgehen, dass Men-schen nicht gewissheitsorientiert auf die Welt kommen “ Im Laufe der Sozialisation mit Erwachsenen wird jedoch der Orientie-rungsstil geprägt Wie schon angemerkt, ist er bereichsübergreifend und wirkt somit bei Leh-rerInnen auch im Unterricht Allerdings konnte nachgewiesen werden, dass gezielte Inter-ventionen bei UOs und GOs Veränderungen herbeiführen können (vgl Kempas 1994)

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ES WAR EINMAL ... EINE HOMOGENE LERNGRUPPE Hans Peter Gottein

BEITRÄGE AUS WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG

Aufgrund obiger Ausführungen kann ver-mutet werden, dass GOs das unterrichtliche Geschehen stärker strukturieren und planen wollen als ihre KollegInnen mit eindeutiger Tendenz zur Ungewissheitsorientierung Es soll der Frage nachgegangen werden, ob GOs eine weniger positive Einstellung zum Umgang mit Heterogenität im Sinne von Maßnahmen der Binnendifferenzierung ha-ben als UOs Verschiedene Maßnahmen der Binnendifferenzierung, die zwangsläufig vermehrt mit Formen offenen Unterrichts im weitesten Sinne einhergehen, bedingen Un-sicherheit bzw mangelnde Vorhersagbar-keit unterrichtlichen Geschehens, was GOs Unbehagen bereitet Huber und Roth (vgl 1999: 34-37 bzw 86-90) konnten dies in ei-ner Fallstudie nachweisen, ebenso Kempas (1994) und Dalbert (1999) In einer kürzlich durchgeführten Untersuchung (vgl Gottein, 2010: 131-132) konnte dieser Zusammen-hang ebenfalls belegt werden 19,4 % der Befragten (N = 150) konnten eindeutig einer Gruppe (UO oder GO) zugewiesen werden Eine Korrelation nach Pearson erbrachte ein signifikantes Ergebnis (r = 199, p = 015) Somit kann festgestellt werden, dass Orien-tierungsstil und Individualisierung signifikant positiv miteinander korrelieren, allerdings ist der Zusammenhang nicht allzu hoch Es kann demnach angenommen werden, dass ungewissheitsorientierte Personen eine po-sitivere Einstellung zur Binnendifferenzierung haben als Personen, die eher gewissheitsori-entiert sind Dieses Ergebnis stimmt auch mit den Ergebnissen von Huber und Roth (1999: 34 bzw 86) überein Das Autorenteam be-richtet, dass gewissheitsorientierte LehrerIn-nen ihren Unterricht stärker strukturieren und weniger sozialen Austausch zulassen als ihre ungewissheitsorientierten KollegInnen

Motivationsstrategie von LehrerInnen

Die Selbstbestimmungstheorie der Motivati-on nach Deci und Ryan (vgl z B Reeve, Deci & Ryan 2004; Deci & Ryan 2003) versucht – vereinfacht gesagt – den Zusammenhang

zwischen Motivation und Lernen auf Ba-sis einer Theorie des Selbst darzustellen Es handelt sich dabei um eine Makrotheorie menschlicher Motivation, die bis dato im deutschsprachigen Raum wenig Eingang in die wissenschaftliche Diskussion bzw For-schung gefunden hat Motivationen lassen sich demnach im Wesentlichen auf drei Quellen zurückführen, und zwar auf physio-logische Bedürfnisse, psychologische Bedürf-nisse sowie Emotionen (vgl Deci & Ryan 2003) Edward Deci und Richard Ryan (2002) unterscheiden in ihrer Selbstbestimmungs-theorie vier Komponenten Im Zusammen-hang mit Schule und Unterricht besonders interessant erscheint die Causality Orien-tations Theory (COT) Es geht dabei insbe-sondere um die Zusammenhänge zwischen Autonomieförderung, Struktur und Kontrol-le Die Theorie beschreibt dabei vor allem Tendenzen zu selbstbestimmtem Verhalten Dabei werden drei mögliche Orientierungs-varianten unterschieden: Autonomieorien-tierung, Kontroll orientierung sowie unper-sönliche Orientierung (führt zu amotiviertem Verhalten) Demzufolge wird Unterricht von SchülerInnen nur dann als autonomieför-dernd erlebt, wenn er wenig kontrollierend und gleichzeitig auch sehr strukturiert ab-läuft Autonomiefördernder Unterricht hat demnach nichts mit einem niedrigen Struk-turierungsgrad zu tun, im Gegenteil: Nur durch eine klare Struktur können LehrerInnen nötige Schritte zum Erreichen der Ziele auf-zeigen (vgl Reeve, Deci & Ryan 2004: 51)

Die Selbstbestimmungstheorie räumt dem Bereich der intrinsischen Motivation einen zentralen Stellenwert ein Dass die Förderung und Beachtung der intrinsischen Motivation im schulischen Umfeld – realistisch betrach-tet - nicht im Mittelpunkt steht, muss weitge-hend akzeptiert werden Es scheint jedoch möglich, durch gezielte Fort- und Weiterbil-dungsmaßnahmen LehrerInnen zumindest soweit für diesen wichtigen Themenbereich zu sensibilisieren, dass durch eine entspre-chende Unterrichtsplanung und –gestaltung

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BEITRÄGE AUS WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG

vorhandene intrinsische Motivation zumin-dest nicht unterdrückt bzw zerstört wird (vgl Reeve, Deci & Ryan 2004) Dabei ist die Be-achtung der weiter oben bereits angespro-chenen grundlegenden psychologischen Bedürfnisse von großer Wichtigkeit Von Druck und Kontrollverhalten geprägter Unterricht ist wesentlich ineffektiver als solcher, der in ei-ner positiven Atmosphäre unter Berücksichti-gung der Interessen abläuft Deci und Ryan bezeichnen dies als das Paradoxon der Leis-tung, indem sie feststellen: „The harder you push the less you get“ (Deci & Ryan 2002, zit n Martinek 2007: 58)

SchülerInnen, die ihre LehrerInnen als au-tonomiefördernd erleben, entwickeln eher ein intrinsisch motiviertes Verhalten Martinek (2007) fasst die diesbezüglichen Forschungs-ergebnisse aus verschiedenen Studien von Deci und Ryan bzw Hardre und Reeve wie folgt zusammen (gekürzt):

� Autonomiefördernde Lernumgebungen korrelieren positiv mit Lerninteresse und schulischer Kompetenz � Intrinsische Motivation fördert effektives Lernen � Kontrollierende Motivationsformen (z B extrinsische Motivation) führen öfter zu Schulabbruch als autonome Motivations-formen (z B intrinsische Motivation) � Selbstbestimmte Motivationsformen brin-gen häufiger qualitativ hochwertigere Lernergebnisse hervor � Autonomieförderung führt zu besserer Tie-fenverarbeitung des Lernstoffes Dies be-dingt integriertes (vernetztes) und somit intelligentes Wissen (vgl Martinek 2007)

Auf der anderen Seite fördert kontrollieren-des Verhalten die externe Motivation Dies wiederum löst negative Emotionen aus, die sich in vielfältigster Weise individuell unter-schiedlich manifestieren können

In diesem Zusammenhang stellt sich die Fra-ge nach den Ursachen für kontrollierende

Verhaltensweisen Lehrerinnen und Lehrer fühlen sich vielfach von mehreren Seiten unter Druck gesetzt Einerseits wird immer wieder der Druck nach Erfüllung der Lehr-pläne genannt Nicht zu unterschätzen ist auch Anpassungsdruck an KollegInnen, an bestimmte althergebrachte Arbeits- und Be-urteilungsweisen an bestimmten Schulstand-orten, Vorgaben durch Vorgesetzte, Fach-bereichsleiterInnen und Ähnliches Dazu kommt sicherlich noch, dass die Wichtigkeit autonomiefördernder Maßnahmen in der Ausbildung zukünftiger Lehrerinnen und Leh-rer kaum thematisiert wird (vgl Reeve 2002) Martinek (2007) berichtet über eine israeli-sche Studie von Assor und Kollegen Darin konnte nachgewiesen werden, dass regel-mäßige Leistungstests bei LehrerInnen ver-stärkt kontrollorientiertes Verhalten bewirken können (Vgl Martinek 2007)

In oben angesprochener Untersuchung (vgl Gottein 2010) waren von insgesamt 143 Personen 39 eindeutig kontrollorientiert, 28 eindeutig autonomieorientiert, 76 Personen wiesen keine eindeutige Tendenz auf Die Prüfung von Zusammenhängen zwischen Kontroll- bzw Autonomieorientierung einer-seits und der Einstellung zu Maßnahmen der Binnendifferenzierung andererseits ergab beidseitig hoch signifikante Zusammenhän-ge Autonomiefördernde LehrerInnen haben eine positive Einstellung zu Maßnahmen der Binnendifferenzierung (r = 264, p = ≤ 05), je kontrollorientierter eine Person ist, desto skeptischer ist die Einstellung gegenüber Bin-nendifferenzierung (r = - 221, p ≤ 05)

Praxisbezug

Die oben dargestellten Ergebnisse weisen nach, dass Personen mit Tendenz zur Unge-wissheitsorientierung auch eine Tendenz zu bzw positivere Einstellung gegenüber Indivi-dualisierungsmaßnahmen und Maßnahmen der Binnendifferenzierung haben Dies bestä-tigen u a die Erkenntnisse von Kempas (1994) oder Dalbert (1999) Dieses Ergebnis mag auf

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BEITRÄGE AUS WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG

den ersten Blick erfreulich erscheinen: Per-sonen, die ungewisse Situationen aufsuchen bzw sich in solchen wohlfühlen, sind auch in der Lage bzw willig, Individualisierungsmaß-nahmen zu setzen Allerdings stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage nach der Anzahl der ungewissheitsorientieren LehrerIn-nen im beruflichen Umfeld Betrachtet man die berufliche Situation von LehrerInnen nä-her, so muss man feststellen, dass diese nicht gerade förderliche Bedingungen für unge-wissheitsorientierte Personen bietet Eine Ent-scheidung für den Lehrberuf bringt in der Re-gel eine klar vorgezeichnete Berufsbiografie mit sich Hat man erst die ‚Unsicherheiten‘ der ersten Berufsjahre (Dienstvertragsver-längerung, Versetzungen und andere Unsi-cherheiten im Dasein von JunglehrerInnen) überwunden, bewegt man sich in meist klar vorgezeichneten Bahnen Aufstiegs- und Weiterentwicklungsmöglichkeiten sind im Schuldienst eher dünn gesät, allerdings fällt auch die Unsicherheit hinsichtlich eines mög-lichen Arbeitsplatzverlustes oder unklarer Ein-kommensverhältnisse weg

Für die Praxis in Aus-, Fort- und Weiterbildung ergibt dies die Forderung, in der Konzeption von Unterricht und Seminaren auf die ver-schiedenen Ausprägungen von Orientie-rungsstil und Motivationsstrategie so weit wie möglich Rücksicht zu nehmen Die Untersu-chungen von Kempas (1994) sowie Huber und Roth (1999) bieten dazu gute Erkennt-nisse Dabei werden Rahmenbedingungen beschrieben, die die Bedürfnisse aller drei Gruppen miteinander vereinen können So brauchen beispielsweise gewissheitsorientier-te Lernende (also auch LehrerInnen in Aus-bildung bzw in der Fort- und Weiterbildung) individuelle Lernformen, während ungewiss-heitsorientierte Lernende vermehrt koope-rative Lernformen bevorzugen UOs fühlen sich in Situationen wohl, in denen ein hohes Informationsangebot dargeboten wird und in denen sie sich mit diesem Informations-angebot inhaltlich aktiv auseinandersetzen können, z B durch Diskussionen oder Rollen-

spiele Im Gegensatz dazu brauchen GOs einen klar strukturierten Handlungsspielraum Die Kenntnis dieser Bedürfnisse ermöglicht es LeiterInnen von Seminaren, eine ausgewo-gene Balance von Inhalten und Vorgangs-weisen zu finden, um den Personengruppen hinsichtlich des Orientierungsstils zumindest ansatzweise gerecht werden zu können

Abschließend muss noch betont werden, dass ungewissheits- bzw gewissheitsorien-tierte LehrerInnen in ihren Klassen sowohl un-gewissheits- als auch gewissheitsorientierte SchülerInnen vorfinden Je nach Kombination können sich SchülerInnen von Lehrpersonen hinsichtlich ihres Orientierungsstils mehr oder weniger angesprochen bzw verstanden füh-len Die Erkenntnisse von Huber & Roth (1999), Dalbert (1999) und Sorrentino & Roney (2000) belegen, dass der Orientierungsstil ein über-dauerndes Persönlichkeitsmerkmal darstellt, das sich – einmal gebildet – nur mehr sehr schwer verändern lässt Gerade jedoch LehrerInnen von jüngeren Schüler Innen (insbesondere in der Grundschule, aber auch noch in der Sekundarstufe I) treffen auf SchülerInnen, die in ihrer Persönlichkeit noch nicht gefestigt sind, bei denen sich der Orientierungsstil erst herausbildet Sicherlich wird der wesentliche Einfluss aus dem Eltern-haus stammen, der Einfluss des schulischen Umfeldes darf in diesem Zusammenhang je-doch keinesfalls unterschätzt werden

Individualisierung und Binnendifferenzierung wurden vor allem in den letzten Jahren in-tensiv erforscht Es gibt mittlerweile viele Be-lege für die positive Wirkung von Individua-lisierungs- und Differenzierungsmaßnahmen In der Umsetzung solcher unterrichtlicher Maßnahmen kommen jedoch insbesondere Personen mit Tendenz zur Gewissheitsorien-tierung und/oder Tendenz zur Kontrollorientie-rung in eine Konfliktsituation, denn vermehrte Binnendifferenzierung bringt es zwangsläufig mit sich, dass man einen Teil der Kontrolle im Klassenzimmer aufgeben muss und dass die Planbarkeit – und somit Gewissheit – von un-

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BEITRÄGE AUS WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG

terrichtlichen Situationen ebenfalls nicht im gewünschten Ausmaß gegeben ist bzw ge-geben sein kann Binnendifferenzierung kann dadurch zum Problem werden, sowohl für SchülerInnen als auch für LehrerInnen: Eine „Pseudo-Differenzierung“ durch die Lehrper-son kann nicht gelingen, wenn SchülerInnen durch die Lehrperson wieder stark kontrolliert werden, sozusagen durch die ‚Hintertür‘ So wäre es etwa vorstellbar, dass eine Lehrper-son SchülerInnen während Phasen des of-fenen Lernens individuell an Sachverhalten arbeiten lässt, die dabei erzielten Ergebnisse jedoch nicht beachtet und am Ende dieser Phase den SchülerInnen genau vorgibt, wel-cher Lehrstoff wichtig war, was bis wann zu lernen ist etc Ein auf diese Weise scheindif-ferenzierter Unterricht wird aller Wahrschein-lichkeit nach auch den SchülerInnen als un-glaubwürdig erscheinen

Es stellt sich auch die Frage – und dies wäre ein äußerst interessanter und hochaktueller Forschungsanlass – wie sich die Einführung der Bildungsstandards im Jahr 2009 und der teilzentralen Reifeprüfung ab 2012 auf die Motivationsstrategie von LehrerInnen aus-wirkt Diese Instrumente wurden als Instru-mente der Qualitätssicherung eingeführt Sollte es nicht gelingen, LehrerInnen zu ver-mitteln, dass diese Instrumente eine Hilfestel-lung für den Unterricht darstellen, werden sie aller Wahrscheinlichkeit nach als Kontrollin-strumente verstanden werden Schon 1982 konnten Deci und Mitarbeiter nachweisen, dass Lehrerinnen und Lehrer, die unter Druck bzw Erklärungsbedarf hinsichtlich des Leis-tungsstandes ihrer SchülerInnen standen, si-gnifikant kontrollorientierter agierten als ihre Kolleginnen und Kollegen, die diesen Druck nicht verspürten

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DIALOG DER ESSKULTUREN Ursula Buchner

BEITRÄGE AUS WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG

Die Ernährung des Menschen: physiolo-gisches Grundbedürfnis und kulturelles Regelwerk

So vielfältig wie Menschen und ihre Lebens-umstände sind, so vielfältig sind auch die Esskulturen, die sich in den verschiedenen Lebenszusammenhängen entwickelt haben Esskultur soll hier verstanden werden als jede konkrete Ausgestaltung der naturgegebe-nen Notwendigkeit der Nahrungszufuhr und somit prinzipiell jede Ernährungweise (vgl Barlösius 1999) Das Verständnis von Kultur als „Summe aller materiellen und immateri-ellen Errungenschaften“ (Methfessel 2005: 7) des Menschen macht deutlich, dass Ernäh-rung sowohl als naturwissenschaftliches als auch kultur- und gesellschaftliches Lernfeld verstanden werden muss und Ernährungs-pädagogInnen sich deshalb einem integ-rativen Wissenschaftsverständnis verpflich-tet fühlen, das einem Bildungsanspruch im Sinne von Differenzfähigkeit und Mündigkeit Rechnung trägt

Ein Hunger – viele Möglichkeiten satt zu werden

Alle Menschen der Welt teilen sich die Sor-ge ums tägliche Sattwerden Wir benöti-gen (sauberes) Wasser und Nährstoffe, die als Inhaltsstoffe unserer Nahrung zu körper-eigenen Stoffen und Energie umgewandelt werden („Stoff-Wechsel“) Der Mensch zählt zu den Omnivoren, die das gesamte Nah-rungsspektrum für sich nutzen, und kann sich dadurch an die unterschiedlichsten Nah-

rungsangebote der Regionen anpassen Das sichert das Überleben Anders als Tie-ren fehlen dem Menschen jedoch instinkt-gebundene, angeborene Ernährungswei-sen Die damit verbundene Unsicherheit bezüglich des „richtigen“ Handelns macht Orientierungswissen (Essbar, nicht essbar? Roh oder gekocht genießbar?) nötig Dieses erwerben Menschenkinder im Zuge ihrer Er-nährungssozialisation

Ernährungssozialisation ist der Prozess der Aneignung von Handlungsmustern, Werten und Normen in Bezug auf Essen und Ernäh-rung, Nahrungsbeschaffung, Kostzusammen-stellung und -zubereitung, Essverhalten und Gestaltung des Ernährungsumfeldes.(REVIS, Glossar)

In der öffentlichen Ernährungskommunika-tion hat sich eingebürgert, Empfehlungen für eine „gesunde Ernährung“ in Form von Essenskreisen und Ernährungspyramiden zu visualisieren Abgesehen davon, dass in sol-chen Visualisierungsmodellen ein arg redu-ziertes Verständnis von Gesundheit bemüht wird, mutet angesichts des Ungleichge-wichts von Hunger und Sattsein die jüngst in Österreich ausgetragene Diskussion über die „richtige“ Anordnung der Lebensmittel in ei-ner „österreichischen“ Ernährungspyramide grotesk an, da sie den Blick auf Ernährung als fundamentales Problem der Menschheit verstellt:

Basis für Nahrungsversorgung und Schutz 1 vor Krankheit bildet die Sicherstellung der

Dialog der EsskulturenUrsula Buchner

Die Ernährung des Menschen ist in aller Munde, täglich berichten Medien über verschiedene Ernährungsthemen, und dank unzähliger Kochshows zu Connaisseurs und Gourmets gebildet, wissen wir: über Geschmack lässt sich allenfalls „fachsimpeln“, aber nicht streiten. „Chacun à son goût“: Jeder nach seinem Geschmack. Ist damit nicht schon alles gesagt? Um dem Paradigma der Vielfalt zu folgen, werden die Dimensionen und Zugänge zu Esskulturen aus mehreren Perspektiven heraus erschlossen und im Sinne von Diversity Management Orientie-rungen für mögliche Dialoge der Esskulturen aufgezeigt.

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Ursula Buchner DIALOG DER ESSKULTUREN

BEITRÄGE AUS WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG

Wasserversorgung Trotz vorhandenen Wissens und trotz verfügbarer Technolo-gien ist der Zugang zu (sauberem) Trink-wasser weltweit nach wie vor nicht zufrie-denstellend gelöst Getreide, Hülsenfrüchte, Knollen und Wur-2 zeln sind welternährungswirtschaftlich ge-sehen die wichtigsten Energielieferanten und sichern gemeinsam mit Gemüsen, Früchten und Samen die Nährstoffversor-gung und somit das Überleben Tierische Lebensmittel (Milchprodukte, 3 Fleisch, Fisch, Ei) reduzieren das zur Ener-giebedarfsdeckung notwendige Nah-rungsvolumen, da schon kleine Mengen gut resorbierbare biologisch hochwerti-ge Inhaltsstoffe zur Verfügung stellen (vgl Koerber, Männle & Leitzmann 2004 und Schlieper 2004)

Schiebt man die Dimension Nahrung auf die Seite, so eröffnet die „nationale“ Ernährungs-pyramide dann auch den Blick auf die kultu-relle Dimension von Ernährung: In allen Ge-sellschaften wird nicht alles, was poten tiell Nährstoff- und Energielieferant ist, gegessen Das gilt vor allem für tierische Lebensmittel, für die es auch in fast jeder Esskultur Nah-rungstabus gibt Ein Vergleich der Pyramiden und Essenskreise in österreichischen und z B japanischen Schulbüchern verdeutlicht:

„Es ist biologisch festgelegt, dass Menschen sich ernähren müssen und dass ihre Nah-rung gewissen physiologischen Anforderun-gen genügen muss, (...) aber es ist nicht bio-logisch festgelegt, wie er dieses natürliche Bedürfnis befriedigt, sondern es ist Gegen-stand kultureller Gestaltungen und sozialer Auseinandersetzungen.“ (Barlösius 1999: 37)

Esskultur lernen

Essen ist naturgemäß ein egoistischer Akt: Was ich hinunterschlucke, bleibt anderen für immer verwehrt Die daran geknüpfte bange Frage: „Ist genug für alle da“? wird seit alters her mit einem differenzierten Re-

gelwerk gelöst, das in seiner Gesamtheit als Esskultur bezeichnet werden kann

„Ernährungskultur soll heißen die Gesamt-heit der mit der Erzeugung, Verarbeitung, Verteilung und dem Verzehr von Nahrung in Zusammenhang stehenden Konfigurationen des Denkens, Wahrnehmens, Fühlens, Verhal-tens und Handelns innerhalb einer Gesell-schaft, die durch Symbole vermittelt, in Wert-vorstellungen und Normen ausgedrückt und durch soziale Institutionen auf Dauer gestellt werden sowie in Waren, Werkzeugen etc. materielle Gestalt annehmen.“ (Setzwein, 2003: 67f.)

Im sogenannten Drei-Komponenten-Modell beschreiben Pudel/ Westenhöfer (1991) die das Essverhalten beeinflussenden Fakto-ren: Spielt für den Säugling noch die Hun-ger- und Sättigungswahrnehmung und die Dringlichkeit, Spannung (Hunger) raschest zu befriedigen, die größte Rolle, so wird mit zunehmendem Alter die körperliche Befind-lichkeitswahrnehmung überlagert von sozi-alen Einflüssen (Peers u a soziale Modelle) bis dann im höheren Lebensalter Kognitio-nen (z B subjektive Gesundheitstheorien) selbst grundlegende Bedürfnisse wie Hun-ger oder soziale Zugehörigkeit überlagern können

Menschen sind fähig, die unterschiedlichen Sinnesqualitäten der aufgenommenen Nahrung wahrzunehmen und zu bewerten Dabei gibt es zwar genetische Dispositionen (z B die Vorliebe für den Geschmack „süß“ als auch die Abneigung gegen Bitteres, bei-des wird als „Sicherheitsgeschmack“ der Na-tur interpretiert), aber „guter“ Geschmack ist in erster Linie durch Wiederholung und „learning by tasting“ herausgebildete Ge-wohnheit Die Gewöhnung an den „guten“ Geschmack - das als „mere exposure ef-fect“ bezeichnete Phänomen - umschreibt die Tatsache, dass wir lieben, was wir essen, und nicht, dass wir essen, was wir lieben (vgl Ellrott 2009 und Klotter 2007)

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DIALOG DER ESSKULTUREN Ursula Buchner

BEITRÄGE AUS WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG

Über die Art der Ernährungsweise kann ge-sellschaftliche Zugehörigkeit oder Abgren-zung demonstriert werden Distinktion - nach der Theorie von Bourdieu - eignet sich be-sonders gut „zur Erfüllung einer gesellschaft-lichen Funktion der Legitimierung sozialer Unterschiede “ (Bourdieu 1982: 27) Esskul-turlernen ist Diskriminierungslernen und das Stilmittel der Distinktion dient gleichzeitig als Mittel der Identifikation Das Wort identisch bedeutet zwar ‚dasselbe‘, ‚das Gleiche‘, das Nomen Identität drückt jedoch gleich-zeitig eine gelungene Individualität und da-mit Einzigartigkeit aus Menschen entwickeln ihre individuelle und soziale Identität im Spie-gel der Anderen Der Begriff der „normati-ven Inversion“ beschreibt, dass Kulturen sich immer als Gegenkultur zur jeweils geltenden Herrschaftskultur entwerfen Im Gegenent-wurf findet sich zwar grundsätzlich noch die ursprüngliche Kultur, gleichzeitig wird sie je-doch vollständig enttabuisiert (vgl Leitner 2011: 94)

„Eine jede soziale Lage ist mithin bestimmt durch die Gesamtheit dessen, was sie nicht ist, insbesondere jedoch durch das ihr Ge-gensätzliche: soziale Identität gewinnt Kon-tur und bestätigt sich in der Differenz.“ (Bour-dieu 1982: 279)

Essen ist individuelles und situatives Verhal-ten, das von Emotionen, Kognitionen und Motiven gesteuert wird, die mit Ernährung im Sinne physischer Bedarfsdeckung nichts zu tun haben müssen Physische, psychische und soziale Wahrnehmungen und Befindlich-keiten stehen in wechselseitigen Abhängig-keiten zueinander und bedingen und beein-flussen Essverhalten und Ernährungshandeln Allzu häufig werden jedoch psychische und soziokulturelle Einflüsse auf das Gesundheits- bzw Ernährungsverhalten im Lernfeld Ernäh-rung nur als „Barrieren“ wahrgenommen, die es zu überwinden gelte In interkulturel-len Debatten werden Unterschiede, wie sie z B in Nahrungstabus sichtbar werden, oft stellvertretend für die eigentliche Esskultur

behandelt und in vielfältigen Erklärungs-versuchen gedeutet, rational, dogmatisch, funktional, hedonistisch oder populistisch ar-gumentiert

An dieser Stelle können wir den ersten Di-alog der Esskulturen eröffnen und uns über das, was nach außen sichtbar Esskulturen klassifiziert, austauschen: Nahrungsauswahl und Würzmittel, Techniken der Nahrungszu-bereitung und Tischgeräte, Mahlzeitenrhyth-men und Tischordnungen … erzählen und zuhören, artikulieren und respektieren, nach-fragen und verstehen: „Was tust du da, und wie kommst du dazu, das … so zu verstehen, wie du es tust?“ Die biografische Methode bietet sich an

Das Lernfeld Ernährung: Vielfalt statt Einfalt!

Das über Bildung vermittelte Orientie-rungswissen erfolgt nach Baumert (in Klieme 2003: 67f ) durch Erschließung der Phänomene der Welt über vier mögliche Modi der Weltbegegnung: der kognitiv-instrumentellen Modellierung der Welt, der ästhetisch-expressiven Begegnung und Gestaltung, der normativ-evaluativen Aus-einandersetzung und ultimaten Fragestel-lungen Jeder Modus erschließt die Welt auf andere Weise, jeder Modus ist für sich alleine aber unvollständig Jeder Modus hat seine eigenen Wahrnehmungsmuster (Methoden) und die damit verbundenen Erkenntnisräume, aber eben auch Gren-zen (Vgl Dressler 2006)

„Aus naturwissenschaftlicher Perspekti-ve sieht die Welt anders aus als aus ästhe-tischer oder religiöser Perspektive. Keine dieser Perspektiven hat einen prinzipiellen Geltungsvorrang, keine erschließt die Welt „besser“ als die andere, sondern immer nur „anders“. Relativ besser ist eine Welterschlie-ßungsperspektive nur jeweils in bestimmten Frage- oder Handlungskontexten.“ (Dressler 2006: 5)

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Ursula Buchner DIALOG DER ESSKULTUREN

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Menschen nähern sich ihrer eigenen Ernäh-rung sinnlich wahrnehmend und emotional bewertend: sehen, riechen, schmecken, spüren,… wir empfinden Wohlbefinden und Freude oder Abscheu und Ekel Die Ausstat-tung des Körpers mit Rezeptoren gestattet uns einen Zugang zur Nahrung über un-sere Sinne Anlässlich einer gemeinsamen Mahlzeit eröffnet sich die Möglichkeit eines täglich neuen Dialogs über das subjektive Erleben und Empfinden und in diesem Sinn kommt dem gemeinsamen Essen auch als Mittel zur Beziehungspflege in Familien mit Kindern eine bedeutsame Rolle zu

„Sind genügend Omega-3-Fettsäuren drin-nen?“ Funktionale Überlegungen beginnen vom sinnlichen Vergnügen abzulenken Aus der Zusammensetzung des menschlichen Körpers und Erforschung der Stoffwech-selabläufe wird auf den Bedarf von zufuhr-pflichtigen Inhaltsstoffen geschlossen Ein mechanistisches Körperverständnis ist weit verbreitet: Gegen Muskelkrämpfe Magne-sium, Schokolade als Stimmungsaufheller, Vi tamin C bei Erkältungen Fragen nach dem Energie- und Nährstoffgehalt, nach dem Bedarf und der Bedarfsdeckung über die Kost werden diskutiert, Essen und Trinken sind ja grundsätzlich existentielle Lebens-erfahrungen, wenngleich die darin tief ver-wurzelte Sorge ums Überleben in den Wohl-standsgesellschaften auch zu paradoxen Artefakten führt und der herbeigeredete Mangel der Ernährungswirtschaft zu satten Gewinnen verhilft Die Kunst der Dialogfüh-rung im kognitiv-instrumentellen Paradigma in Zusammenhang mit Ernährungskommuni-kation besteht darin, interessensgebundene Manipulationsstrategien zu erkennen und die buchstäbliche Bevormundung der Er-nährungsindustrie zu erkennen

„Muss/kann/darf/soll ich (etwas) essen/nicht essen?“ Die normativ-evaluative Aus-einandersetzung mit dem Phänomen „Er-nährung des Menschen“ bezieht sich auf Werte und die daraus abgeleiteten Normen

und konkreten Handlungsanweisungen, die unterschiedliche Verbindlichkeitsgrade ha-ben Normen klären die Beziehungen zwi-schen Mensch zu Gott (Religion), Mensch zu Mensch (Gesellschaft und Wirtschaft), Mensch zu Körper (Medizin) und Mensch zu Natur (Ökologie):

Eine Kost wird ‚kosher‘ oder ‚halal‘ ge-nannt, wenn sie den religiösen Dogmen entsprechend kultisch rein ist Soziokultu-relle Regelwerke regeln die Verteilung der Nahrung in den Dimensionen Zeit, Raum und soziale Gruppe: wer isst was, wann, wie viel, wo und mit wem? Sie können der Vergangenheit verpflichtet sein („gut ist, weil es bis jetzt immer schon so war“) oder in die Zukunft weisen (Food Trends) Der gesamte Produktionskreislauf von der Herstellung (z B Codex Alimentarius) über Verarbeitung (z B HACCP-Konzept) und Handel (z B Marktgesetze) bis zur Wer-bung (z B Health Claims VO) ist mit vielen Rechtsnormen unterlegt Die ADI-Werte normieren Empfehlungen zur Nährstoff-zufuhr, die EU-Bio-Verordnungen 834/2007 und 889/2008 sind für Herstellung von Bio-Lebensmitteln verpflichtend

In pluralistischen Systemen resultieren da-raus zwangsläufig Wertekonflikte Wer „Recht hat“ und was „wahr ist“, lässt sich – auch wenn diese Simplifizierung gerne gemacht und gewünscht wird – inhaltlich nicht für alle Bereiche gemeinsam gültig definieren Die Möglichkeit und Notwendigkeit, täglich aufs Neue Entscheidungen über die eige-ne Ernährungsweise fällen zu müssen, zwingt uns Wertehierarchien zu bilden um den Preis der Verantwortung für die Folgen des Ernäh-rungshandelns Ist der Gesundheitswert der Nahrung (Mensch-Körper) oder sind der Ge-nusswert und die Beziehungspflege im gege-benen Kontext (Mensch-Mensch) vorrangig? Was tun, wenn ökonomische Zwänge ernäh-rungsökologische Ideale (Mensch-Natur) tor-pedieren? Dialoge, die nach der Dilemma-Methode geführt werden, bieten sich an

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DIALOG DER ESSKULTUREN Ursula Buchner

BEITRÄGE AUS WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG

„Essen wir, um zu leben, oder leben wir, um zu essen?“ Das Lernfeld Ernährung lässt sich auch über ultimate Fragen nach dem Sinn des Seins erschließen, die Fragen des „Wo-her? – Wohin? - Wozu?“ des menschlichen Daseins greifen Philosophie und Religion auf

Nach Dressler befähigt Bildung, Phänomene der Welt aus unterschiedlichen Perspektiven zu erschließen und zu erkennen, dass damit auch Grenzen (blinde Flecke) verbunden sind Bildung ist nicht einheitswissenschaftli-che Weltsicht, sondern Differenzfähigkeit: die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel und dem damit verbundenen Unterscheidungsvermö-gen der Weltwahrnehmung in beruflichen, gesellschaftlichen oder privaten Systemzu-sammenhängen (Vgl Dressler 2006: 7)

„...[Allgemeinbildung bedeutet] die Fähig-keit, die Probleme eines verantwortlichen Weltumgangs ökonomisch, ethisch, päda-gogisch, politisch, ästhetisch und religiös zu reflektieren und zu begreifen, dass zwischen diesen unterschiedlichen Deutungsmustern kein harmonisches Verhältnis herstellbar ist.“ (Dressler 2006: 8)

Regelwerke zur Gestaltung eines „guten Lebens“ gehören seit der Antike zur Philo-sophie Die Diätetik - die Lehre vom „rech-ten und guten Leben“ - ist eine Teildisziplin der Ethik Regelwerke zu kennen ist gerade heute in einer Zeit des Wegfalls traditionel-ler Autoritäten eine Orientierungshilfe in der schier unübersichtlich gewordenen Vielfalt der Ansprüche an Ernährungsentscheidun-gen, an Begründungen für unser Handeln und Wählen in Bezug auf Lebensmittel und Lebensgestaltung

„Unter dem Begriff Ernährungserziehung werden alle Lernprozesse, die im Zuge der Ernährungssozialisation (der Übernahmen von Werten und Normen) im familiären, schulischen, beruflichen oder freizeitlichen Kontext ablaufen, subsummiert. Diese Lern-prozesse können gezielt auf die Beeinflus-

sung des Ernährungsverhaltens gerichtet sein oder andere Lernprozesse begleiten (z.B. Gemeinschaftserziehung: Erziehung zu regelkonformem Verhalten auch bei Tisch)“.(Thematisches Netzwerk Ernährung 2009: 3)

Bildungsbedarf wird evident, wenn es da-rum geht, Orientierungen im Ernährungs-handeln nicht nur zu kennen und anwen-den zu können, sondern auch zu erkennen, ob die gewählte Perspektive der jeweiligen Situation angemessen ist Ernährungsbildung erschließt im Unterschied zu Ernährungser-ziehung das Lernfeld Ernährung mehrper-spektivisch, umfasst alle Dimensionen des Lernfeldes und Modi der Weltbegegnung, nicht nur das normative Paradigma:

„Mit dem Begriff ‘Ernährungsbildung‘ wird der Anspruch auf eine ganzheitliche Persön-lichkeitsbildung erhoben. Ausgehend von einem Menschenbild, das auf der Fähigkeit zur Reflexion des Handelns aufbaut, soll die Fähigkeit und Bereitschaft, sich für eine be-darfsgerechte und nachhaltige Ernährung entscheiden zu können, gefördert werden. Bildung stellt den Menschen, der isst und trinkt, in den Mittelpunkt, nicht die Nahrung als solche. Sie nimmt für sich in Anspruch, dem Menschen jene Sach-, Handlungs- und Entscheidungskompetenzen zu vermitteln, damit dieser selbstverantwortlich das Pro-blem Ernährung in den einzelnen Lebens-bereichen und Lebensphasen zufrieden stellend lösen kann. Das Problem Ernährung wird dabei umfassend im gesamtgesell-schaftlichen und welternährungswirtschaft-lichen Kontext gesehen“. (Thematisches Netzwerk Ernährung 2008: 5)

Der Zugang über die vier Modi der Weltbe-gegnung soll zum Verständnis der erfrischen-den Meinungsvielfalt beitragen, die es im Lernfeld Ernährung gibt Wenn wir uns Esskul-turen über ästhetisch-expressive, kognitiv-ins-trumentelle, normativ-evaluative als auch ul-timate Fragestellungen nähern, eröffnet sich ein weites Feld für intra-, inter- und transkultu-

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Ursula Buchner DIALOG DER ESSKULTUREN

BEITRÄGE AUS WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG

relle Dialoge Dialoge der Esskulturen können innerhalb eines Modus geführt werden oder das Spannungsfeld zwischen unterschied-lichen normativen Kontexten beleuchten Ein so verstandener Dialog der Esskulturen leistet einen Beitrag zur Allgemeinbildung, fördert Reflexivität (Selbst-Bewusstsein) und Differenzfähigkeit (Mündigkeit) im Umgang mit Vielfalt

Thesen zum Umgang mit Vielfalt im Lernfeld Ernährung

Durch Bildungsarbeit im Lernbereich Ernäh-rung sollen „Schülerinnen und Schüler be-fähigt werden, sich für eine der Gesundheit dienliche Ernährungsweise entscheiden zu können“ Im Beitrag des Faches Ernährung und Haushalt zu den Aufgaben der Schu-le heißt es weiter: „Verantwortungsvolles Verbraucherverhalten durch nachhaltige Nutzung von Ressourcen; Kultur des Zusam-menlebens und partnerschaftliche Arbeits-teilung in Fragen der Alltagsgestaltung; Ori-entierungen für die Entwicklung sozial- und gesundheitsverträglicher Lebensstilkonzep-te“ (BMUKK Fachlehrplan Ernährung und Haushalt 2000)

These 1: Dialoge zur Esskultur sind fair zu führen

Der Dialog der Esskulturen beginnt als intra-schulischer Dialog Er stellt sicher, dass die Bil-dungsanliegen im Lernfeld Ernährung nicht durch die Art und Weise des Verpflegungs-angebots in der Schule konterkariert wer-den

Ernährungssozialisation findet auch in der Schule durch das Nahrungsangebot am Schulbüffet und die Gestaltung von Essenssi-tuationen in der Schule statt Es ist unfair, Un-mündige für ihre „falsche“ Lebensmittelaus-wahl zu verantworten und dies auch noch als Legitimation für ein nicht-nachhaltiges Nahrungsangebot innerhalb der Schule zu verwenden!

Die Verantwortung für eine bedarfsgerechte, gesundheitsförderliche Ernährung des Kin-des und nachhaltige Angebotsgestaltung liegt bei den Erwachsenen Ein Kind muss sich verlassen können, dass die Nahrung, die es angeboten bekommt, zu seinem Wohl beiträgt Wie in anderen Lebensbereichen, in denen Erwachsene für Kinder Entschei-dungen fällen, muss hier der Vertrauens-grundsatz herrschen Erwachsenen ist zuzu-muten, dass sie über die zugrundeliegenden Entscheidungskriterien Bescheid wissen und auch Konfliktentscheidungen (z B Preis ver-sus Gesundheitswert) dem Kindeswohl ent-sprechend lösen Kindgerechte Ernährungs-entscheidungen eröffnen dem Kind die Freiheit der Wahl zwischen zwei grundsätz-lich gesundheitsfördernden Produkten (Vgl Thematisches Netzwerk Ernährung 2009: 4)

These 2: Dialoge legen Orientierungen offen

Das im Paradigma der Vielfalt enthaltene Prinzip für Diversity Management lautet: Die Suche nach Gemeinsamkeiten steht dabei im Vordergrund

Wie „gesunde“ Ernährung in den Übungen zur Nahrungszubereitung im Unterricht ver-anschaulicht wird, ist im Lehrplan nicht wei-ter geregelt Die Lehrkraft wird bestimmte Lebensmittel auswählen, um ein sachlich relevantes Zubereitungskriterium zu demons-trieren und zu üben, wie z B das Dampfga-ren Der Aushandlungsprozess „Was kochen wir heute?“ innerhalb der Lerngruppe kann aber auch als beispielhafter Lernanlass für soziales Lernen dienen Das Aushandeln un-ter Berücksichtigung von sach- und situati-onsgerechten Kritierien erfordert Zeit, die mit der notwendigen Übungszeit zur Nahrungszu-bereitung konkurriert, sich aber als wertvolle Lernzeit für sozialintegratives Lernen im Unter-richt in Ernährung und Haushalt legitimiert

Wo Menschen miteinander leben und arbei-ten, gibt es unterschiedliche Gestaltungs-

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BEITRÄGE AUS WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG

wünsche, wobei die zugrundeliegenden normativen Modelle dazu selten bewusst sind, da die eigenen kulturellen Handlungs-muster als „normal“ und „natürlich“ ange-sehen werden Es ist nicht nur in der Ernäh-rungspädagogik eine Herausforderung, mit Blick durch die eigene kulturelle Brille inter-kulturelles Verständnis zu fördern

„Um den unterschiedlichen Wert- und Norm-vorstellungen zur Lebensgestaltung gerecht zu werden, sind unterschiedliche Lösungstra-tegien zuzulassen.“ (BMUKK 2000)

These 3: Verantwortlichkeitskonzepte erfordern die Auseinandersetzung mit Dilemmata

Dialoge über Esskultur und Ernährung in der Schule greifen einen sehr persönlichen und familiär (vor)gestalteten Lebensbereich des Menschen auf SchülerInnen stehen im Spannungsfeld zwischen der gelebten Ess-kultur in der Familie und den in der Schule thematisierten Entscheidungsgrundlagen wie Gesundheit und Nachhaltigkeit Je kon-kreter die Bildungsarbeit in der Schule sich mit Essen beschäftigt und damit den sozio-kulturellen Kontext, religiöse Überzeugungen, bewährte familiäre Gewohnheiten und po-puläre Meinungen über Tatsachen berührt, desto offensichtlicher werden Divergenzen Man könnte fast geneigt sein zu behaupten, dass ein abstrakt gehaltener, naturwissen-schaftlich-technisch orientierter Ernährungs-unterricht eine Form der Konfliktvermeidung ist, da er Distanz und Hierarchie gegenüber dem Elternhaus aufrechterhält

Kaum ein Konsumfeld ist so ressourcenauf-wändig und trägt so offensichtlich zum Un-gleichgewicht von Wohlstand und Hunger bei wie die Ernährung des Menschen Jeder Ernährungsentscheidung wohnen Ziel- und Interessenskonflikte inne, die schwer zu be-wältigen sind, wollte man sich täglich neu einer bewussten Entscheidungsfindung wid-men Es bilden sich Routinen aus, die kogni-

tive Dissonanzen ausblenden und vor Über-forderung schützen Es braucht Dialoge, die sich nicht in moralisierender Weise einer Ka-tastrophenpädagogik bedienen, sondern die Urteilsfähigkeit und die Bildung von Ver-antwortlichkeitskonzepten unter dem Para-digma der Nachhaltigkeit unterstützen

These 4: Wissen über Kulturtechniken ist (noch) nicht interkulturelle Kompetenz

Das kulturelle Erforschen von Nahrungsmit-telbeschaffung, -erzeugung, -zubereitung und -konsum in den unterschiedlichen Re-gionen der Welt bietet auf allen Bildungs-stufen - vom Kindergarten bis zur Universität - die Möglichkeit, Gesundheitswissen und Bil-dung für nachhaltige Entwicklung zu vermit-teln Besonders im Kulturvergleich (z B Brot-kulturen, Gartechniken) wird Wissen über Kulturtechniken sichtbarer, lassen sich Ge-meinsamkeiten und Unterschiede (z B Würz-mittel) erkennen Kulinarische Weltreisen mit der damit verbundenen Küchenpraxis werden von SchülerInnen in der Regel „ge-liebt“, entsprechen diese doch dem „na-türlichsten“ Zugang zu Ernährung über die sinnästhetische Begegnung und expressive Gestaltung

Die Gefahr, dass mit der folkloristischen Zu-bereitung von regionalen „Länderküchen“ die Andersartigkeit des Anderen als quasi natürlich verabsolutiert wird, ist gegeben Ob der Bildungsanspruch kulturelle Kompe-tenz durch einen solcherart verstandenen Aktionismus erfüllt wird, ist fraglich

These 5: Die Gefahr des Kulturalismus ist gegeben

Das Phänomen „Kultur“ wird für vielerlei so-ziale Probleme (politische, ökonomische, soziale) und die Festschreibung von Un-terschieden in kulturellen Differenzen (vgl Gürses 2010) verwendet Damit wird die Andersartigkeit des Anderen als natürliche Erscheinung verabsolutiert und bestenfalls

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Ursula Buchner DIALOG DER ESSKULTUREN

BEITRÄGE AUS WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG

im politisch korrekten Diskurs als „Diversität“ erkannt, im schlimmeren Fall als Kulturalismus verstanden (Vgl Leitner 2011: 99)

„Versuche, Kultur zum Gegenstand von Lern-, Kompetenzerwerbs und Bildungsmaß-nahmen zu machen, führen demnach zur weiteren Kulturalisierung, zur Reproduktion von kulturellen Klischees, zur Verschleierung von Machtbeziehungen sowie von gesell-schaftlichen Strukturen der Ungleichheit.“ (Gürses 2010: 285).

Eine Überforderung der Heranwachsenden, deren lokale Umgebung von nationalen Perspektiven geprägt wird, mag nicht ver-wundern Jugendliche auf dem Weg zur Identitätsfindung sind, auch wenn sie Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund sind, nicht vorrangig Kulturträger, sondern pubertierende Jugendliche auf der Suche nach einem Selbstkonzept, die möglicher-weise als eine Strategie zur Abgrenzung und Identitätsfindung kulturelle Stereotype eben-so wie ihre Lehrkräfte benutzen Das Konzept „Interkulturelle Bildung“ und die Theorien zur „interkulturellen Kompetenz“ sind kritisch zu hinterfragen, weil sie womöglich manifestie-ren, was sie zu lockern vorhatten

„Kulturalität soll auf eine jeweils besondere Konstellation von Geschichte, Machtverhält-nissen, Wissen und Handlungsmöglichkei-ten hindeuten. Diese Konstellation ist nicht überall und zu jeder Zeit gleich. Ein solches Konzept will die Aufmerksamkeit gegenüber dieser Differenz (Kulturalität) zum Prinzip er-heben.“ (Gürses 2009: 294)

These 6: Mädchen essen anders, Bur-schen auch

Ein weiterer Ansatz für die Wahrnehmung und Erklärung von Heterogenität lenkt die Aufmerksamkeit auf die gesellschaftliche Konstruktion von Geschlechterrollen Eine im Sinne des Gender Mainstreaming gefor-derte geschlechtersensible Pädagogik ist

im Unterricht in Ernährung und Haushalt in mehrfacher Weise bedeutsam Zum einen haben Mädchen und Jungen mit Beginn des Wachstumsschubs in der Pubertät tat-sächlich unterschiedliche Bedarfe an Ener-gie und Nährstoffen Zum anderen stellen Männer und Frauen – und damit auch Mäd-chen und Burschen - jeweils unterschiedli-che Erwartungen an Ernährung und damit verbundene Körpermodellierung Das spie-gelt sich auch in den Ernährungsberichten und Daten zum Lebensmittelverzehr wider Drittens kommen im Ernährungsunterricht noch mögliche Schwierigkeiten mit der ei-genen Rollenfindung im Haushalt zum Tra-gen, die sich auch in der Verweigerung der Mitarbeit in der Schulküche oder dem „Ver-gessen“ der Arbeitsschürze - als Attribut ei-ner weiblichen Rolle - äußern können

Dialoge der Esskulturen unterstützen die Mei-nungsbildung zu Themen, die geschlechter-sensibel bearbeitet werden müssen, wie z B Ernährung und Körpermodellierung oder Fragen der Zuständigkeit von Männern und Frauen für Ernährung und damit verbunde-ner Hausarbeit im Privathaushalt Wichtig er-scheint, dass diese Themen nicht nur in ge-schlechtshomogenen Gruppen bearbeitet werden, sondern eben auch gemischtge-schlechtlich thematisiert werden So können Geschlechterstereotype in der Wahrneh-mung (z B Werbung, Models) auch hinter-fragt werden Wird die soziale Arbeit, die in der familiären Ernährungsfürsorge steckt, sichtbar gemacht, kann die damit verbun-dene Rolle auch Wertschätzung erfahren

These 7: Grenzen überschreiten - Kom-petenzen abgeben

Im Idealfall schafft Ernährung und Essen in der Schule Platz für Sinnlichkeit und Sinnes-erfahrung, Genuss und Wohlbefinden Kin-der und Jugendliche erleben jedoch auch Essensmarotten, „geschmackliche“ Mutpro-ben und andere extrem anmutende Expe-rimente wie z B Wettessen und Saufgelage

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DIALOG DER ESSKULTUREN Ursula Buchner

BEITRÄGE AUS WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG

Wie in jedem Verhaltensbereich des Men-schen finden auch in Bezug auf Essen Über-treibungen statt und die Grenzen zu Bulimie und Anorexie, Orthorexia Nervosa oder Bin-ge Eating Disorder können überschritten werden

Dialoge der Esskulturen führen bedeutet hier: über Wahrnehmungen reden können, ohne gleich jede extrem anmutende Vari-ante der Esskultur zu pathologisieren und zu pädagogisieren Die Grenzen zwischen er-nährungspädagogischen und ernährungs-therapeutischen Interventionen sind zwar fließend, die Grenzen der eigenen Kompe-tenz im Lehrberuf sollten jedoch klar sein

Hauptsache, es schmeckt!

Esskultur lernen ist ein unterschätzter Bil-dungsauftrag Neben der Sicherung der demokratischen Grund- und Freiheitsrech-te bleibt die nachhaltige Sicherung der Lebensgrundlagen eine permanente Le-bensfrage der Menschheit Dennoch ist die grundlegendste kulturelle Errungenschaft des Menschen – Ernährungssouveränität – kein selbstverständliches Bildungsgut

In einer „Grundstruktur der Allgemeinbil-dung“ hat Jürgen Baumert (zitiert in: Klieme 2003: 68) die vier Modi der Weltbegegnung den Unterrichtsgegenständen des Fächer-kanons der allgemein bildenden Schulen zugeordnet Ein Unterrichtsfach Ernährung kommt in dieser Grundstruktur der Allge-meinbildung nicht vor – das Fehlen lässt sich aus der Geschichte des Schulwesens zwar erklären – angesichts der ungelösten Schlüs-selprobleme der Welt (vgl Klafki 1994) in Be-zug auf Zugang zu und gerechte Verteilung von Ressourcen ist die Fortschreibung des Mangels an Ernährungsbildung heutzutage aber unverständlich

Literatur

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Hannes Tropper, Josef Schlömicher-Thier DIE BERUFSSTIMME AM STIMMARBEITSPLATZ SCHULE

BEITRÄGE AUS WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG

Die Anzahl an Berufen mit hohen stimmlichen Anforderungen nimmt stetig zu Heute sind 80 bis 90 Prozent aller ArbeitnehmerInnen beruflich auf ihre Stimme angewiesen Eine Begleiterscheinung dieser Entwicklung ist die steigende Zahl von Stimm- und Sprechstö-rungen Besonders davon betroffen sind Leh-rerInnen (Vgl Medical Tribune 2008)

Abb. 1: Berufliche Stimmbelastung (Gaipl 2010: 61)

PädagogInnen sind am Stimmarbeitsplatz Schule einer Sprech-Dauerbelastung aus-gesetzt Kaum ein anderer Beruf zeigt eine zeitlich vergleichbare Sprechdauer von vier bis acht und auch mehr Stunden und das durchgehend Die Lehrperson hat etwa pro Unterrichtsstunde zwei- bis dreihundert wechselnde Kommunikationssituationen bzw PartnerInnen, d h , sie wechselt zwei- bis dreihundert Mal die Kommunikationspartne-rInnen Wenn man sich einen leeren Klassen-raum vorstellt, in dem sich noch kein einziger Mensch aufhält, herrscht dort eine Lärm-belastung von etwa 35 bis 54 dB Befinden sich in diesem Klassenraum SchülerInnen, kommt man auf eine Sprechlärm-Belastung

von etwa 80dB, die sich in bestimmten Un-terrichtssituationen, wie z B dem Sportunter-richt bis auf 115dB erhöhen kann

Abb. 2: Der Alltag der Lehrerstimme (Hammann

2004:163)

Trockene, staubige Luft infolge ungenü-gender Raumklimatisierung erhöht zudem die stimmliche Belastung Moderne Pä-dagogik fordert zusätzliche Stimmaktivitä-ten außerhalb des regulären Unterrichts: bei Exkursionen, Sport- und Kulturwochen, Schulschikursen, Sportfesten, im Pausenhof u a PägagogInnen suchen aus allen Be-rufsgruppen mit Abstand am häufigsten Stimmfachärzte wegen ihrer Stimmproble-me auf Sie sorgen sich mehr als alle ande-ren, ob sie ihre Berufskarriere durchhalten können, und erleben ihre Stimmprobleme stärker als Beeinträchtigung ihrer Tätigkeit (Vgl Amon 2009,9) Etwa die Häfte hält ihr Stimmproblem für eine Quelle von Frustra-tion und Stress und gesteht auch eine

Die Berufsstimme am Stimmarbeitsplatz SchuleDas Stimmbetreuungsprojekt der Pädagogischen Hochschule Salzburg

Hannes Tropper, Josef Schlömicher-Thier

Die Expertengruppe LehrerInnenbildung Neu des Unterrichsministeriums richtet in ihren Aus-gangsüberlegungen den Fokus auf die PädagogInnen-Persönlichkeit, ihre Kompetenzen, ihre Ein-stellungen und ihre Fähigkeiten. Betrachtet man das Anforderungsprofil für LehrerInnen, weisen wissenschaftliche Arbeiten das Berufsprofil als überaus kommunikations-, stimmintensiv und stimmbelastend aus. Daher stellt die stimmliche Konstitution und die Fähigkeit, mit seiner Stim-me richtig umzugehen zweifellos eine Grundkompetenz für dieses Berufsfeld dar.

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DIE BERUFSSTIMME AM STIMMARBEITSPLATZ SCHULE Hannes Tropper, Josef Schlömicher-Thier

BEITRÄGE AUS WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG

effektive Unterrichtsverschlechterung ein, die damit einhergeht

Abb.3: Gesundheitliche Beschwerden bei LehrerInnen

(LehrerIn 2000: 167)

Jede neunte Lehrerperson hat ständig Pro-bleme mit dem Hals oder der Stimme, wei-tere 61% geben an, zeitweise unter diesen Beschwerden zu leiden Das bedeutet, fast drei Viertel der LehrerInnen verspüren in die-ser Hinsicht Beschwerden Das am weitesten verbreitete Gesundheitsproblem der Lehre-rInnen geht nach Meinung der Befragten zum größten Teil auf den Lehrberuf zurück (Vgl LehrerIn 2000: 167/168)

Die in Österreich bislang unbeachtete volks-wirtschaftliche Dimension von Stimmproble-men hat inzwischen international beträcht-liche Ausmaße erreicht Man spricht von einem teuren Massenproblem In Großbri-tannien sind rund fünf Millionen Arbeitneh-merInnen von regelmäßigem Stimmverlust betroffen In den USA betragen die Folge-kosten von Stimm- und Sprechstörungen be-reits 2,5% bis 3% des BIP (Vgl Medical Tribune 2008) Auch Österreich ist davon betroffen Bereits 1997 beschäftigte sich das Austrian Voice Institute unter der Leitung des Salzbur-ger Stimmarztes Josef Schlömicher-Thier mit diesem Problem Eine Studie zeigte schon damals, dass LehrerInnen das Fortbildungs-angebot einer Stimmtrainingswoche in den Sommerferien einerseits liebend gerne an-nahmen und andererseits eine stimmliche Problematik aufwiesen, die denjenigen Leh-rerInnen entsprach, die bereits mit entspre-

chenden massiven Diagnosen in der Praxis eines HNO-Arztes bzw Phoniaters in Behand-lung waren (Vgl Schlömicher u a AVI, Stu-die 1997/1998) Es wurden daraufhin in der Steiermark in Zusammenarbeit mit dem Landesschulrat und dem Pädagogischen Institut Fortbildungsseminare eingerichtet und in Zusammenarbeit mit der Beamten-versicherung und der Kur- und Thermen-AG ein Stimmkurmodell für Bad Gleichen-berg entwickelt und erfolgreich erprobt Bis zum Jahr 2000 nahmen rund 300 steirische PädagogInnen an Veranstaltungen dieser Programme teil, die danach wieder abge-setzt wurden Die neueste österreichische wissenschaftliche Arbeit zu dieser Thematik zeigt, dass die Problematik unverändert vor-zufinden ist Von insgesamt 484 AHS-Lehre-rInnen in Kärnten waren 245 (51%) Personen aufgrund von Stimmstörungen auch bereits im Krankenstand, davon drei Viertel Frauen (183, 75%) und ein Viertel Männer (62, 25%), wie die folgende Statistik zeigt

Abb. 4: Leistungseinschränkung bzw. Krankenstand

aufgrund von Stimmstörungen (Kutej 2011,91)

Kosten durch allgemeine Arztbehandlungen bzw Medikamente, Kosten durch Behand-lungen in Rehabilitationskliniken (16-20% aller PatientInnen sind LehrerInnen), Kosten durch Unterrichtsausfall / Supplierungen und Kos-ten durch Frühpensionierungen entstehen, wurden jedoch nicht hochgerechnet (vgl Hammann 2004: 167) Die gestörte Lehrer-stimme hat Auswirkungen auf die SchülerIn-nen Diese imitieren nämlich auch unphysio-logische Verhaltensweisen Schüler nehmen Inhalte signifikant schlechter auf, die von

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einer stimmgestörten Person vermittelt wer-den (Vgl Hammann 2004: 164) Die Unter-suchung von Schahnaz macht deutlich, dass ca 45% stimmgestörte Lehrerstuden-tInnen unter den ProbandInnen zu finden waren Damit gleichen die Zahlen älteren Daten Pathologische Stimmbefunde soll-ten früh diagnostiziert und behandelt wer-den, möglichst bevor es zur Aufnahme eines sprechintensiven Berufes kommt Prophylak-tische Maßnahmen zur Stimmbeurteilung sind deshalb von Seiten der PhoniaterInnen unbedingt zu fordern Eine Stimmüberprü-fung vor Berufsbeginn in einem Sprechberuf wäre eine denkbare Umsetzung dieser For-derung, wobei neben den üblichen subjek-tiven Untersuchungen auch objektive Tests in die Tauglichkeitsuntersuchung einbezo-gen werden sollten (Vgl Schahnaz 2004: 56) Schneider-Stickler betont diesbezüglich: „Man kann konstitutionell schwache Stim-men trainieren Unser Ziel muss sein, unter den zukünftigen Stimmberuflern diejenigen herauszufinden, die eine konstitutionelle Stimmschwäche haben “ (Schneider-Stick-ler 2008: 16) Im Jahr 2002 begann die Päda-gogische Hochschule Salzburg auf Initiative des damaligen Vizerektors Gottfried Nieder-müller im Bewusstsein der Verantwortung der Ausbildungsinstitution, sich der Proble-matik ernsthaft anzunehmen und installierte gemeinsam mit Josef Schlömicher-Thier das Stimmenscanning und den Freigegenstand „Stimmtraining“ Neben der stimm- und ar-beitsmedizinischen Betreuung durch den Arzt wurde die stimm- und sprechpädagogi-sche Betreuung des Projektes einem Stimm-pädagogen übertragen, der selbst aus der Berufsgruppe kommt und daher über die dafür wichtige Einsicht verfügt, sich in die Probleme der LehrerInnen einfühlen kann und die Faktoren der Stimmbelastung im Un-terricht aus eigener Erfahrung kennt

Im Stimmenscanning werden alle Studieren-den des 1 Semsters erfasst Der Ablauf wur-de im Laufe der Jahre so optimiert, dass pro Probanden ein Zeitrahmen von 20 Minuten

ausreichend ist Grundlage für die wissen-schaftliche Gestaltung des Testablaufes sind das Stimmdiagnostik-Protokoll der European Laryngological Society (ELS) und der Voice Handycap Index (VHI/SSI) nach Nawka in der deutschen Fassung Das Stimmenscan-ning, bestehend aus Perzeption, akustischen und aerodynamischen Messungen und sub-jektiver Selbstevaluation, wird durch zwei Personen, den Stimmpädagogen und den Stimmarzt oder seine Assistentin durchge-führt Das einzig relevante Messinstrument in der Perzeption ist das geschulte Ohr des Un-tersuchers, des Stimmpädagogen und des Stimmarztes EDV-unterstützt wird das Stim-menscanning durch das Ling Waves digital System for Speech and Voice / Stimmfeld VDC 2007, das die PH-Salzburg 2010 dafür angekauft hat Die Ergebnisse des Tests wer-den auf einem eigens dafür entwickelten Stimmstatusblatt eingetragen Perzeptiv er-folgt die Funktionsanalyse der Sprechstimme (Stimmeinsatz, Stimmansatz, Resonanz, Trag-fähigkeit, Prosodie, Artikulation, Sprechtem-po, Nasalität) während des Lesens des im deutschsprachigen Raum eingeführten Testtextes: „Der Nordwind und die Sonne“ in Verbindung mit einer Tonaufnahme, gespei-chert in Ling Waves und dem Probanden als Feedback vorgespielt Im Rahmen der akustischen Messung werden die Rufton-lautstärke (mind : 91dB w, 96dB m) und der Tonumfang (mind : 24 Halbtöne) gemessen sowie die Indifferenzlage mit dem Messpro-gramm und ohrenakustisch überprüft Die

Abb. 5: Stimmenscanning / PH-Salzburg / Testanord-

nung / technische Einrichtung

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Stimmqualität wird nach dem Dysphonia Severity Index (DSI Referenzwert: ≥ 4,4) in Verbindung mit der perzeptiven ohrenakusti-schen Beurteilung nach der RBH-Skala nach Seidner-Wendler beurteilt Aerodynamisch wird die Tonhaltedauer in Sekunden gemes-sen und in Ling Waves gespeichert (m = ≥ 20 sec , w = ≥ 15 sec) Die subjektive Selbst-evaluation erfolgt mit dem VHI-Fragebogen durch den Probanden selbst Am Ende des Testablaufes bekommen die Probanden ein mündliches und schriftliches Feedback in Form des doppelseitigen Feedback-Blattes der PH-Salzburg, das einerseits den Studie-renden persönlich mitgegeben und ande-rerseits im Studienakt zur Dokumentation abgelegt wird Die Studierenden werden vier Gruppen/Klassen zugeteilt, je nachdem,

wie sich ihre Stimmbeschaffenheit bzw ihre Basiswerte konstituierten

Gruppe/Klasse I: In die erste Gruppe wer-den Studierende aufgenommen, die außer-ordentlich gute Basiswerte, sowohl in der stimmphysiologischen als auch in der stimm-pädagogischen Beurteilung bei der gesam-ten Stimmuntersuchung erzielten Gruppe/Klasse II: In der zweiten Gruppe werden diejenigen angesiedelt, die keine pathologisch auffälligen Werte zeigten und gute Basiswerte aufwiesen Gruppe/Klasse III: Der dritten Gruppe wer-den Personen zugeteilt, die einen Sprech-stimm- und/oder Sing-Förderbedarf erken-nen lassen Diese Personen weisen explizit keine pathologisch auffälligen Werte auf, je-

Abb. 6a und 6b: Klasse I - Stimmfeld Abb. 7a und 7b: Klasse II - Stimmfeld

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doch zeigen sie einen physiologisch auffälli-gen Stimm- und Sprechbefund Der Besuch des Freigegenstandes Stimmtraining wird dringend empfohlen Gruppe/Klasse IV: Die Personen, die der vierten Gruppe zugeteilt werden, erzielen schlechte Basiswerte Es wird ihnen nahe-gelegt, sich einer stimmärztlichen Untersu-chung zu unterziehen Auch wird ein Stimm-training dringend empfohlen Personen der Gruppe/Klasse IV wiesen nach einer phoni-atrischen Untersuchung folgende Diagno-sen auf: Stimmlippenödem, Stimmlippenpo-lyp, Allergie, Zyste, beginnende Knötchen, Refluxlaryngitis, Hyperfunktion, Hypofunktion, Asthma, psychogene Stimmstörung, Pseudo-zyste, Bulimia, Hypernasylität, Pansinusitis

Eine von A Pichler von 2002 bis 2005 durch-geführte Untersuchung an 644 Studieren-den, davon 520 einer Gruppe zugeordnet (Gruppe I - 2,3% / 12 Pers , Gruppe II - 35,6% / 185 Pers , Gruppe III – 49,9% / 244 Perso-nen, Gruppe IV – 14% / 73 Pers , und damals noch Gruppe V (deutliche, pathologische Befunde): 1,2 % / 6 Personen) führte dazu, dass das Rektorat der PH-Salzburg dem Stimmenscanning und Stimmtraining mehr Aufmerksamkeit und die Zuteilung von Res-sourcen schenkte Die Situation in Bezug auf die Stimmkonstitution der Studierenden am Beginn des Studiums zeigte sich von 2002 bis dato beinahe unverändert Rund die Hälfte der Studierenden zeigen einen deutlichen Betreuungsbedarf

Abb. 8a und 8b: Klasse III - Stimmfeld Abb. 9a und 9b: Klasse IV – Stimmfeld

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Für die Studierenden der Feedback Klasse III und Klasse IV wurden im Sommersmester 2011 erstmals 8 Unterrichtseinheiten für ein Stimmtraining in einer ersten Interventions-phase bereitgestellt

Resümee

“Ich glaube fest daran, dass man eine Stim-me durch kontinuierliche Ausbildung und Pflege vor den ganzen Stimmproblemen schützen kann “, meint Berit Schneider-Stickler (2008: 16) Das Stimmenscanning ist als ein wissenschaftliches Testverfahren ge-eignet, um die stimmliche Konstitution der Studierenden zu beurteilen und stellt ein Instrument der gesundheitlichen Vorsorge dar, nämlich „kranke“ und konstitutionell schwache Stimmen frühzeitig zu entdecken Der Begriff Screening „als ein[en] Prozess zur Erkennung einer bestimmten Krankheit bei anscheinend gesunden Menschen mit Hil-fe von Reihenuntersuchungen“ (Kutej 2011: 127) böte sich dafür auch an

Für die Studierenden an den Pädagogi-schen Hochschulen und Universitäten, die sich für den Schuldienst entschieden haben, ist eine derartige Stimmeignungsprüfung leider noch nicht flächendeckend in Ös-

terreich eingeführt Gerade für die Berufs-gruppe der LehrerInnen ist diese Eignungs-prüfung zu Beginn des Studiums dringend geboten, nicht nur für den persönlichen und pädagogischen Erfolg der Studierenden, sondern auch aus arbeitsmedizinischen und rententechnischen Gründen, denn ein zu frühes Ausscheiden aus dem Lehrbe-ruf wegen berufsbedingter Stimmstörung und damit häufig einhergehendem Burn-out mit erforderlicher Berufsunfähigkeits-rente oder Umschulung bringt ein hohes Maß an Kosten, Zeitaufwand und Stress für ArbeitnehmerInnen und ArbeitgeberInnen Die Stimmkonstitution und die Stimm- bzw Sprechkompetenz mancher Studierenden bei Eintritt in das Studium ist kritisch Es gibt Überlegungen, ob mangelnde Stimmkons-titution, Stimm- und Sprechkompetenz wie in vergleichbaren Studiengängen in den stimmintensiven Fächern der Kunstuniver-sitäten nicht ein Drop Out darstellen könn-te Das aktuelle Curriculum in der LehrerIn-nenbildung sieht noch keine kontinuierliche Stimm- und Sprechausbildung in Vorberei-tung auf den stimmintensiven Beruf vor Das Bewusstsein für die Thematik ist jedoch nur zu einem äußerst kleinen Teil vorhanden, denn die Stimme findet in der üblichen Er-ziehung und Schulbildung der Menschen

Abb. 10: Ergebnisse im

Vergleich 2002-2005,

2009/10 und 2010/11

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derzeit so gut wie keine Beachtung, obwohl sie in der Kommunikation eine nicht zu un-terschätzende Wirkung ausübt „Stimmen“ sind erlernbar und willkürlich veränderbar: Jeder Mensch wählt sich (wenn auch oft unbewusst) seine Stimme selber (Vgl Eckert/Laver 1994: 9) D h , Bewusstseinsbildung und Training in Aus- und Fortbildung wären not-wendig, wie zum Beispiel Information über die Stimmbelastung im Sprechberuf Leh-rerIn, über Anatomie und Biomechanik der Stimme, Stimmtrainingslehre, Methoden der Sprecherziehung, Stimmhygiene (Vgl Lehre-rInn 2000: 195 u Amon 2009: 137) Auch die Umsetzung der Lehrplaninhalte (Sprecher-ziehung/Standardsprache) ist sicherzustel-len, z B „Individuelle Hilfen für das richtige Bilden von Lauten anbieten können “ (VS-Lehrplan 2008: 48)

Die Ergebnisse des an der PH-Salzburg im Sommersemester 2011 vorgesehenen Stimmbelastungstests werden voraussicht-lich weitere deutliche Hinweise über die Stimmtauglicheit und Stimmkompetenz der Studierenden bringen Diese können eine Grundlage sein für die Entscheidungsfin-dung, in welchem Maß einer kuntinuierlichen Stimm- und Sprechausbildung in Zukunft Ressourcen zustehen sollen Der richtige Umgang mit der Stimme und deren Vorbild-wirkung auf die SchülerInnen gehört zu den Kernkompetenzen der LehrerInnen in einer qualitätsvollen, zukunftsorientierten LehrerIn-nenbildung Der Bedarf an Sprecherziehe-rInnen bzw StimmtrainerInnen, die aus der Berufsgruppe der LehrerInnen kommen und daher über die nötige Empathie verfügen, ist deutlich gegeben

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MEHRSPRACHIGE GESELLSCHAFT - ZWEIPSRACHIGE SCHULEN Rudolf de Cillia

GASTBEITRAG

1 „Einsprachigkeit ist heilbar“

„Einsprachigkeit ist heilbar – Überlegungen zur neuen Mehrsprachigkeit Europas. Mono-lingualism is curable - Reflections on the new multilingualism in Europe. Le monolinguisme est curable - Réflections sur le nouveau plu-rilinguisme en Europe”. (Ammon/ Mattheier/ Nelde 1997)

So betitelten die Herausgeber die Nr 11 der einmal im Jahr erscheinenden Zeitschrift „Sociolinguistica“ Sie brachten damit mit einer etwas drastischen Metapher Erkennt-nisse der Wissenschaft in den Jahrzehnten davor auf den Punkt, die zu einem völligen Umdenken im Umgang mit MS geführt hat-ten, und zwar sowohl mit individueller als auch mit gesellschaftlicher MS Bis in die 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts war die Auffassung vorherrschend, dass indivi-duelle Einsprachigkeit die Regel sei, zu frühe MS sogar gefährlich, wie folgendes Zitat des angesehenen Germanisten Leo Weisgerber in einem Artikel der ebenso angesehenen germanistischen Zeitschrift „Wirkendes Wort“ zeigt: „Dort, wo Anlagen, Familienverhält-nisse, Lebensschicksale und unablässiges Mühen zusammenkommen, wird es unter Tausenden von Fällen einmal gelingen, die ideale Form der Zweisprachigkeit zu gewin-nen: die Stufe der souveränen Beherrschung zweier Sprachen, [ ] Für die große Menge behält es Geltung, daß der Mensch im Grun-

de einsprachig ist. [...] Vor allem aber gehen corruption du langage und corruption des moeurs Hand in Hand [...] Das geht von ei-ner Störung der geistigen Entfaltung zu einer Einbuße der Geistesschärfe selbst; geistige Mittelmäßigkeit ist die Folge, [… ] Die Trü-bung des sprachlichen Gewissens führt nur zu leicht zum Erschlaffen des Gewissens ins-gesamt “ (Weisgerber, 1966: 73, Hervorhe-bung von mir)

Die sich seit den 1970er Jahren rasant entwi-ckelnde (Zweit)Spracherwerbsforschung, die sich im letzten Jahrzehnt zu einer „Mehrspra-chigkeitsforschung“ weiterentwickelt hat, hat schlüssig nachgewiesen, dass individuelle MS die Regel ist, und Befürchtungen widerlegt, dass frühe MS schädlich sei, ja sogar bis zur moralischen Verderbnis führen könne Die Spracherwerbsforschung weist nach, dass der menschliche Spracherwerbsmechanis-mus ein mächtiges Instrument ist, das durch-aus in der Lage ist, schon in frühem Alter und in bestimmten Fällen von klein auf simultan zwei Sprachen gleichzeitig im so genannten ungesteuerten, natürlichen Spracherwerb zu erwerben Das passiert in komplexen So-zialisationsverläufen, v a dort, wo drei Spra-chen involviert sind, für die es noch keine un-umstrittenen theoretischen Modellierungen gibt – aber so viel ist man sich klar: Zweispra-chigkeit/ Mehrsprachigkeit ist nicht nur eine Addition von L1 + L2 + L3, und die Spracher-werbsfähigkeit ist ein unteilbares kognitives

Mehrsprachige Gesellschaft – zweisprachige Schulen?Anmerkungen zum Umgang mit sprachlicher Vielfalt an den Schulen

Rudolf de Cillia

Der folgende Beitrag geht, sich auf Erkenntnisse der Soziolinguistik und Spracherwerbsforschung berufend, davon aus, dass gesellschaftliche und individuelle Mehrsprachigkeit (MS) die Regel sind, was sich in unterschiedlichen Formen von MS in den Schulen manifestiert. Schulischer Sprachunterricht konzentriert sich aber in erster Linie auf die Entwicklung fremdsprachlicher Zweisprachigkeit in der lingua franca Englisch. An den kritischen Befund schließen sich Vorschlä-ge für eine bessere Förderung der Sprachenvielfalt an den Schulen an.

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Rudolf de Cillia MEHRSPRACHIGE GESELLSCHAFT - ZWEIPSRACHIGE SCHULEN

GASTBEITRAG

Modul, in dem die je vorher schon gemach-ten Sprachlernerfahrungen die weiteren Sprachlernprozesse beeinflussen Wie positiv sich Zweisprachigkeit durch natürlichen, un-gesteuerten Sprach erwerb entwickelt, z B in der Situation der Migration, hängt jedenfalls von einer Reihe von Faktoren ab, wie z B den Einstellungen zur MS und zur eigenen Sprache: Sprachliches Selbstbewusstein ist wichtig – Minderwertigkeitsgefühle und Ab-lehnung der eigenen Sprache – in der Situ-ation der Migration eine mögliche Reaktion - wirken sich negativ aus Angst versus Selbst-vertrauen in die eigene sprachliche Identität und in die MS sind ganz wichtige Variablen, die auch im schulischen Spracherwerb eine zentrale Rolle spielen

Aber nicht nur individuelle, auch gesellschaft-liche MS ist die Regel: Hier haben die Sozio-linguistik und die Sprachenpolitikforschung gezeigt, dass das Konzept des europäischen Nationalstaats „ein Staat = eine Sprache“ nicht die gesellschaftliche Realität trifft und dass es auch nicht sinnvoll ist, das anzustre-ben Bei den Mitteln, sprachliche Minderhei-ten zu unterdrücken, war man vom begin-nenden 19 Jahrhundert bis in die jüngste Vergangenheit nicht zimperlich, und die Schule spielte dabei eine zentrale Rolle: Um eine einheitliche Nationalsprache durchzu-setzen, wurde Kindern verboten, in der Schu-le ihre Erstsprache zu sprechen, z B in der Bretagne Wer dabei erwischt wurde, musste Eselsohren aufsetzen Noch vor nicht allzu langer Zeit konnte man im früheren Bahnhof von St Brieuc auf einer Tafel lesen: „Défense de cracher par terre et de parler breton.“1 – ein besonders krasser Ausdruck für die Ver-achtung der anderen Sprache Trotz all die-ser Versuche kam die MS durch die Hintertür wieder herein, in Form der neuen, im Zug von Migrationsbewegungen entstandenen neu-en Minderheiten Lenkt man den Blick weg von Europa, ist ohnehin sehr schnell klar, dass eben die gesellschaftliche MS die Regel ist,

nicht die Einsprachigkeit Länder wie Indien oder Kenia, in denen kleinräumige regiona-le Sprachen neben Verkehrssprachen wie Hindi bzw Kisuaheli und der ehemaligen Ko-lonialsprache Englisch ko-existieren und der gesellschaftlichen Kommunikation dienen, zeigen das Und den geschätzten 2500 – 8000 Sprachen auf der Erde stehen ca 200 Staaten gegenüber Sogar in Europa, wo die-ses nationalstaatliche Modell am weitesten umgesetzt wurde, werden, schätzt man, 230 Sprachen gesprochen – der Europarat hat 47 Mitgliedstaaten Und in Österreich hat die letzte Volkszählung von 2001 an die 60 unter-schiedliche Umgangssprachen dokumen-tiert Nur ca 88,6% der Wohnbevölkerung gaben damals an, ausschließlich Deutsch zu sprechen (Statistik Austria 2002)

2 „Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule“

So hat die Hamburger Erziehungswissen-schafterin Ingrid Gogolin ihr 1994 erschiene-nes Buch genannt, in dem sie sich mit dem Umgang der Schule mit MS befasst hat Sie drückt damit aus, dass in unseren Schu-len vielfach noch die im obigen Zitat von Weisgerber ausgedrückte Vorstellung vor-herrscht: dass nämlich Einsprachigkeit als natürlicher Normalzustand wahrgenommen wird, obwohl es sich um ein gesellschaftli-ches Phänomen handelt – eben einen Ha-bitus im Bourdieu‘schen Sinn Schulen gehen oft noch davon aus, Individuen seien ein-sprachig, obwohl die Realität in den Klassen dem nicht entspricht

Viel anschaulicher als alle Statistiken drü-cken die von Hans-Jürgen Krumm gesam-melten Sprachenporträts diese Tatsache aus Er hat Kindern die Silhouette eines menschlichen Körpers vorgelegt und sie wurden gebeten, „alle ’ihre Sprachen’ dort hineinzumalen und dabei für jede Sprache eine andere Farbe zu benutzen “ (Krumm

1 „Es ist verboten, auf den Boden zu spucken und Bretonisch zu sprechen“

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MEHRSPRACHIGE GESELLSCHAFT - ZWEIPSRACHIGE SCHULEN Rudolf de Cillia

GASTBEITRAG

2001: 5f) Die Ergebnisse zeigen, dass be-reits in der dritten Klasse Kinder, die nur mit einer Sprache Kontakt hatten bzw für de-ren sprachliche Identität nur eine Sprache relevant ist, die große Ausnahme sind In der Regel entstanden bunte, vielsprachige Porträts, in denen Erst-, Zweit-, Fremdspra-chen in ganz unterschiedlichen Kombinati-onen genannt werden wie etwa bei einem Mädchen, das „Kurdisch, Deutsch, Österrei-chisch, Russland, Oberösterreichisch, Unga-risch, Turkish und English“ (a a O 47) angibt und dessen Porträt vielleicht die Geschichte einer Familienmigration erzählt

Diese Porträts dokumentieren auch eine moderne, zeitgemäße Auffassung von Zwei- und MS Diese erfasst nämlich nicht nur die perfekte Beherrschung zweier Sprachen, sondern ein Kontinuum von sprachlichen Kompetenzen, ausgehend von der schuli-schen Beherrschung von zwei oder meh-reren Sprachen, die durch den Fremdspra-chenunterricht gelernt wurden, über durch ungesteuerten Spracherwerb im Sprach-kontakt erworbene Fertigkeiten bis hin zum ausgewogenen Bilinguismus von Menschen, die in Familien mit unterschiedlichsprachi-gen Eltern aufwachsen

3 Formen schulischer Mehrsprachigkeit

MS an den Schulen zeigt sich also nicht nur in den durch den Fremdsprachenunterricht erworbenen Kenntnissen, sondern auch in der so genannten lebensweltlichen MS (der autochthonen Minderheiten, der Zuwande-rungsminderheiten, der Gebärdensprach-minderheiten, z T sind wohl auch Englisch-kenntnisse schon Teil dieser lebensweltlichen MS) und auch der „innersprachlichen“ MS Im Folgenden sollen diese drei Formen der MS kurz charakterisiert werden:

3 1 Innersprachliche MS

Kompetente SprecherInnen einer Sprache verfügen über unterschiedliche Varietäten

dieser Sprache – und gerade im deutsch-sprachigen Raum spielt diese innersprachli-che MS im schulischen Kontext eine gewis-se Rolle Gemeint ist damit z B die Diglossie zwischen Dialekt und Standardsprache bzw die sprachliche Variation innerhalb der plu-rizentrischen deutschen Standardsprache, die über zumindest drei Varietäten - das Schweizer Hochdeutsch, das österreichische Deutsch und das deutschländische Deutsch – verfügt Im schulischen Kontext spielt hier die Einstellung der Lehrpersonen zur eigenen Varietät, z B zum österreichischen Deutsch, eine wichtige Rolle, etwa im Korrekturver-halten Befunde aus der Forschung deuten darauf hin, dass österreichische Deutschleh-rerInnen eher geringe Sprachloyalität der eigenen Varietät gegenüber aufweisen und sich an bundesdeutschen Normen orientie-ren, also dazu tendieren, Austriazismen als fehlerhaft zu markieren (vgl Ammon 1995: 423-445)

Die Diglossie zwischen Dialekt und Hoch-sprache wiederum, die in den 1970er Jahren unter dem Vorzeichen „Dialekt und Sprach-barrieren“ diskutiert wurde, ist heute in der Sprachdidaktik völlig zu Unrecht kaum ein Thema, obwohl sie regional in der Praxis mit Sicherheit von Bedeutung ist Zahlen zu Ös-terreich liegen allerdings keine vor Aber Er-fahrungen in der Lehrerfortbildung in Vorarl-berg zeigen, dass Lehrpersonen dort immer wieder damit konfrontiert sind, dass Schüle-rInnen Referate im Dialekt halten wollen In der Schweiz ist die Verwendung des Dialekts im Unterricht selbstverständlich: nur 7,5 % der SchülerInnen verwenden regelmäßig ausschließlich Hochdeutsch in der Schule, 52,7 % Schweizerdeutsch und Hochdeutsch und immerhin 39% nur Schweizerdeutsch (Vgl Lüdi /Werlen 2005: 83)

Wenn wir mit MS die Beherrschung nicht nur von Varietäten, sondern von mehr als einer Sprache meinen, so unterscheidet man ei-nerseits fremdsprachliche MS - andererseits lebensweltliche MS

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Rudolf de Cillia MEHRSPRACHIGE GESELLSCHAFT - ZWEIPSRACHIGE SCHULEN

GASTBEITRAG

3 2 Fremdsprachliche Zwei-/ Mehrspra-chigkeit und Fremdsprachenunterricht

Die zahlenmäßig wohl wichtigste Form der MS in den europäischen Schulen wird im Fremdsprachenunterricht erworben - in der Regel in Sprachen, die zu den fünf großen internationalen Sprachen gehören Dabei spielt die Schulsprachenpolitik eine zen-trale Rolle für die gesamte europäische Sprachenpolitik, denn Fremdsprachenkom-petenzen werden in erster Linie in den schu-lischen Bildungsinstitutionen erworben: 59% der EuropäerInnen erwerben ihre Fremd-sprachenkenntnisse in einer weiterführen-den Schule – nur 24% in der Grundschule (vgl Eurobarometer spezial 2006: 22)

Im Jahr 2005 verfügte übrigens etwas we-niger als die Hälfte der Bevölkerung EU-weit über überhaupt keine Fremdspra-chenkenntnisse (44% Durchschnitt EU-25, 62% in UK, 1 % Luxemburg, D 33%, AT 38%; a a o : 10)2 Die wichtigste Fremdsprache (FS) ist Englisch (38 %) vor Deutsch (14 %) und Französisch (14%), Spanisch (6 %) und Russisch (6%) (a a o ; 13) Zwei Fremdspra-chen sprechen 28% der EuropäerInnen, drei Fremdsprachen 11% (a a O 9) Diese Sprachenkenntnisse hängen wohl unmittel-bar mit den in den Schulen unterrichteten Fremdsprachen zusammen: 2005/06 lernten in den EU-27 Ländern auf der Sekundarstufe I (ISCED 2)3 86,4% der SchülerInnen in den Schulen Englisch (E), 24,5% Französisch (F), 11,4% Deutsch (D), 7,6 Spanisch (ES) und 2,7% Russisch (RU) Im Primarschulbereich (ISCED 1) lernten 73,2 % der SchülerInnen mindestens 1 FS, dabei 59,0% E (Tendenz steigend), 6,1% F, 4,0% D (Eurydice 2008, 62) Auf der Sekundarstufe II (ISCED 3) waren es 84,1% für E, 24 3 % für D, 22,2 für F, 15,4 % ES und 4,0% RU (Eurydice 2008, 71)

Ein wesentliches Merkmal dieser europä-ischen Schulsprachenpolitik ist übrigens, dass nach wie vor noch nicht in allen Län-dern zwei Fremdsprachen im Laufe der Schulpflicht gelernt werden, wie es die EU empfiehlt (Barcelona-Ziele): 45,6% der Schü-lerInnen lernen auf der Sekundarstufe I nur eine Fremdsprache, auf der Sekundarstufe II sind es 37,0% (Eurydice 2008: 58) Ein zweites Merkmal europäischer Fremdsprachenpo-litik ist die geringe Diversifizierung, d h die Beschränkung auf einige wenige Sprachen, wie die obigen Zahlen zeigen Die Tenden-zen gehen eindeutig in die Richtung Förde-rung von Zweisprachigkeit in der jeweiligen Staatssprache und der Globalsprache Eng-lisch

Der Befund zur fremdsprachlichen MS in Ös-terreich zeigt: Es hat in den letzten Jahrzehn-ten zwar eine wesentliche Entwicklung zur Verbesserung der Fremdsprachen-Kenntnis-se gegeben – jedeR SchulabgängerIn – bis hin zum allgemeinen Sonderschüler – hat, nach Abgang von der Schule zumindest eine Fremdsprache gelernt Aber das öster-reichische Schulwesen ist noch stärker auf fremdsprachliche Zweisprachigkeit ausge-legt, und nicht auf MS:

Das zeigen die Zahlen, die für den österrei-chischen Länderbericht im Zuge des Lan-guage Education Policy Profile-Prozesss erhoben wurden 4 Der Großteil der SchülerIn-nen lernt nur Englisch als FS, da die österrei-chische Schule bis zum Pflichtschulabschluss nur eine verpflichtende lebende Fremdspra-che vorsieht 2004/05 lernten in der vierten Schulstufe 98,61% der SchülerInnen EN, 1,76% FR, 1,44% IT, 0,19% RU und 0,10% ES In der 8 Schulstufe haben wir in der Hauptschule 99,76% für EN, 3,72% FR, 3,49% IT – alle an-deren Sprachen bewegen sich unter 1% - ,

2 Fragestellung: „Einmal abgesehen von Ihrer Muttersprache: Welche Sprachen können Sie gut genug sprechen, um sich darin zu unterhalten?3 ISCED = International Standard Classification for Education 4 In den Jahren 2006 – 2008 wurde in Zusammenarbeit mit dem Europarat ein sogenanntes „Profil der Sprach- und Sprachunterrichtspolitik“ (Language Edu-cation Policy Profile/Profil de politiques linguistiques éducatives, kurz LEPP genannt) für Österreich entwickelt Dabei handelt es sich um folgendes Verfahren: Die sprachenpolitische Abteilung des Europarats bietet den Mitgliedsländern Unterstützung bei der Entwicklung der (Schul)Sprachenpolitik an Ziel: nach bestimmten Richtlinien eine Selbst-Evaluation der Bildungssprachenpolitik eines Landes in Zusammenarbeit mit ExpertInnen des Europarats durchzuführen Im Rahmen dieses Verfahrens wird u a auch eine Bestandsaufnahme der Sprachunterrichtspolitik in Form eines Länderberichts erstellt (S http://www oesz at/download/publikationen/lepp_dt pdf)

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MEHRSPRACHIGE GESELLSCHAFT - ZWEIPSRACHIGE SCHULEN Rudolf de Cillia

GASTBEITRAG

in der AHS 99,78% für EN, 20,69% FR, 3,37% IT 1,17% RU, 3,96% SP 5

Erst auf der Sekundarstufe II diversifiziert der Sprachunterricht in einem nennenswerten Ausmaß Als Beispiel sei hier die AHS/ 10 Schulstufe genannt: 98,95% EN, 56,48% FR, 23,62% IT, 16,23% SP und 2,26% RU (bmukk/ bmwf 2007: 137f) Aber 92, 85% der Schüle-rInnen in der Volksschule lernten nur eine FS und 89,81 in der Sekundarstufe I Und auch auf der Sekundarstufe II sind es immer noch 59,6%, die nur eine FS lernen (Vgl Haller 2007)

Eine derartige Sprachausbildung entspricht im Übrigen nicht dem gesellschaftlichen Sprachbedarf: Eine Untersuchung des ibw zum Sprachbedarf in österreichischen Be-trieben zeigt zwar eine hohe Nachfrage nach Englisch (81%), aber auch eine ge-wisse Nachfrage (zwischen 8 und 30%) nach Französisch und den Nachbarspra-chen, die durch das öffentliche Schulsys-tem nicht gedeckt wird (vgl Archan/ Dorn-mayr 2006) In vielen gesellschaftlichen Bereichen gibt es im Übrigen weiteren Be-darf an qualifizierter MS in den Migrations-sprachen, in den medizinischen Berufen, in Pflegeberufen, bei der Exekutive und nicht zuletzt in den Kindergärten und Schulen

3 3 Lebensweltliche Mehrsprachigkeit

3 3 1 Schulische Mehrsprachigkeit und autochthone Minderheitensprachen

In allen europäischen Staaten gibt es au-tochthone, seit langem auf dem jeweiligen Siedlungsgebiet ansässige Sprachminder-heiten, die häufig durch gesetzliche Maß-nahmen geschützt sind und für die es mit der 1998 in Kraft getretenen „Europäischen Charta für Regional- und Minderheitenspra-

chen“ auch ein Instrument gibt, das die ra-tifizierenden Staaten zu aktivem Minderhei-tenschutz verpflichtet (vgl de Cillia/ Busch 2005) – zumindest was die lautsprachlichen Minderheiten betrifft

In Österreich leben sechs offiziell anerkann-te lautsprachliche Minderheiten6, deren Kin-der in der Regel zweisprachig aufwachsen, schon zweisprachig in die Schule kommen und so zur MS der Schule beitragen Und es gibt eigene Minderheitenschulgesetze für Kärnten und das Burgenland, in denen Regelungen für Slowenisch, Burgenland-kroatisch und Ungarisch festgeschrieben sind Diese sehen im Prinzip bilingualen Un-terricht in der VS vor - dieser Unterricht hat trotz des minderheitenfeindlichen Klimas in diesem Bundesland eine große Akzeptanz und 2/3 der zweisprachigen Schüler kom-men aus deutschsprachigen Familien –, ein sehr mangelhaftes Angebot an den HS (mit Ausnahme einer bilingualen HS in Großwa-radorf/ Veliki Boriostof) und bilinguale An-gebote an einzelnen Gymnasien und HAKs (in Klagenfurt/Celovec bzw Oberwart/ /Felsöör/Borta) Für Tschechisch und Slowa-kischsprachige gibt es die private Komens-ky-Schule in Wien, die alle Schulformen an-bietet

Die schulische Ausbildung von Gehörlosen/ Hörbehinderten erfolgt im Rahmen des Be-hindertenschulwesens, und sie werden in den Schulen „oralistisch“ erzogen, d h , man bringt ihnen Sprechen bei, ohne ihnen die genuine Sprachform, die Gebärdenspra-che, verpflichtend zu vermitteln Und das, obwohl im Language Education Policy Pro-file ausdrückliche Empfehlungen für bilin-guale Schulformen enthalten sind, wonach die Österreichische Gebärdensprache und Deutsch als Unterrichtssprachen zu verwen-den sind – und obwohl gerade erst ein neu-er Lehrplan erlassen wurde

5 Mehr als doppelt so viele SchülerInnen wie die AHS besuchen in Österreich die HS: 25 358 gegenüber 69 163, z B im Schuljahr 2004/2005 6 Die wichtigsten Minderheitenschutzbestimmungen finden sich im Artikel 8, Abs 2 der Österreichischen Bundesverfassung, im Artikel 7 des Staatsvertrags von 1955 und im Volksgruppengesetz 1976

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Rudolf de Cillia MEHRSPRACHIGE GESELLSCHAFT - ZWEIPSRACHIGE SCHULEN

GASTBEITRAG

3 3 2 Schulische Mehrsprachigkeit und SchülerInnen mit Migrationshintergrund

Die zahlenmäßig weitaus gewichtigere Form lebensweltlicher MS in unseren Schu-len bringen SchülerInnen aus Familien mit Migrationshintergrund mit Der Prozentsatz der „SchülerInnen mit einer anderen Erst-sprache als Deutsch“, wie der offizielle Ter-minus heißt, macht gesamtösterreichisch 21,7% der PflichtschülerInnen aus (Zahlen aus 2008/2009), in der Metropole Wien ist der Prozentsatz mit ca 54,2% besonders hoch, Salzburg liegt mit 19,73 % etwas un-ter dem Durchschnitt Am geringsten ist er in den Bundesländern Steiermark (11,6%) und Kärnten (10,8%) Die Verteilung auf die unter-schiedlichen Schultypen zeigt eine klare Bil-dungsbenachteiligung dieser SchülerInnen mit Migrationshintergrund: In der Sekundar-stufe sind sie in Hauptschulen (20,5%) und Sonderschulen 27,8%!) überrepräsentiert und in den Gymnasien (AHS, 13,3%, bzw BHS, 11,0%) deutlich unterrepräsentiert Und es gibt die völlig unberechtigte Tendenz, die-se SchülerInnen mit sonderpädagogischen Maßnahmen zu versorgen

Die schulischen Regelungen für diese Min-derheitensprachen ruhen in Österreich, wie in den meisten europäischen Ländern, auf den drei Säulen: 1 Zweitsprachenunterricht (in unserem Fall DaZ-Unterricht) im Ausmaß von bis zu 12 Wochenstunden (integrativ oder unterrichtsparallel); 2 Interkulturelles Lernen als Unterrichtsprinzip – d h der An-spruch, die MS und kulturelle Vielfalt in allen Unterrichtsfächern zu berücksichtigen; 3 Muttersprachlicher Unterricht und Förde-rung der jeweiligen Muttersprachen und Fa-miliensprachen als Muttersprache als freiwil-liges Angebot (3-6 Wochenstunden, ca ein Fünftel der SchülerInnen nehmen das Ange-bot auch wahr)

Diese SchülerInnen stellen im Übrigen eine große Sprachenvielfalt dar Im Schuljahr 2007/08 wurden im Rahmen des mutter-

sprachlichen Unterrichts insgesamt 19 Spra-chen von 316 muttersprachlichen Lehre-rInnen unterrichtet: Albanisch, Arabisch, Bosnisch/Kroatisch/Serbisch (BKS), Bulga-risch, Chinesisch, Italienisch, Makedonisch, Persisch, Polnisch, Romanes, Rumänisch, Rus-sisch, Slowakisch, Spanisch, Tschetschenisch, Türkisch und Ungarisch, wobei österreichweit der weitaus größte Teil auf Serbokroatisch (Bosnisch/Kroatisch/Serbisch) und Türkisch entfällt Zumindest diese Sprachen waren also in einem so großen Ausmaß als Mutter-sprachen neben Deutsch vorhanden, dass eigene Sprachkurse für sie eröffnet werden konnten

Ein Problem im Zusammenhang mit den neuen Minderheitensprachen stellt die Ausbildung der LehrerInnen dar: Es gibt für Deutsch als Zweitsprache keine formelle LehrerInnenausbildung an PHs - nur an we-nigen PHs ist DaZ Pflichtfach (z B an der KPH Wien) – es gibt nur Zusatzstudien auf freiwil-liger Basis Es existieren auch keine Lehramts-studien für die Migrationssprachen in der Pflichtschullehrerausbildung an den PHs Lediglich an den Universitäten gibt es ein Lehramt für Bosnisch/ Kroatisch/ Serbisch in Wien und Graz, allerdings keines für Türkisch Und an der Universität Wien ist ein Studien-element Deutsch als Zweitsprache Pflicht-fach im Lehramtsstudium Deutsch

4 Umgang mit Sprachenvielfalt an den Schulen

Die derzeitige Situation des Sprachunter-richts an den Schulen – und damit komme ich zu meinem Titel „Mehrsprachige Gesell-schaft – zweisprachige Schulen?“ zurück – ist dadurch gekennzeichnet, dass die vorhan-dene Sprachenvielfalt zu wenig gefördert wird: Das ist u a zurückzuführen auf einen ineffizienten Fremdsprachen“unterricht“ in den Volksschulen (vier Jahre Schnuppern), der den früheren Beginn einer zweiten FS blockiert, auf eine zu geringe Diversifizierung, die unmittelbar damit zusammenhängt, und

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MEHRSPRACHIGE GESELLSCHAFT - ZWEIPSRACHIGE SCHULEN Rudolf de Cillia

GASTBEITRAG

auf eine zu geringe Förderung der Ressour-ce lebensweltliche MS, v a in den Migrations-sprachen, aber auch der verfassungsmäßig anerkannten Österreichischen Gebärden-sprache Die Schule konzentriert sich v a auf die Förderung von sprachlicher „Zweifalt“ statt Vielfalt im Fremdsprachenunterricht, und das gegen die schon seit 15 Jahren vor-liegenden Empfehlungen der EU, wonach im Rahmen der Pflichtschulausbildung L1 + L2 erworben werden sollen Die große Mehr-heit der SchülerInnen in Österreich lernt ne-ben der Unterrichts- und Bildungssprache Deutsch nur eine FS, die lingua franca Eng-lisch Die Vielfalt möglicher Fremdsprachen (im Angebot alle Nachbar- und Minderhei-tensprachen, Französisch, Spanisch, Russisch, BKS, Türkisch … ) wird zu wenig genutzt, und das entspricht auch nicht dem gesellschaft-lichen Sprachbedarf Die Förderung lebens-weltlicher MS wiederum lässt sehr zu wün-schen übrig

Um eine Förderung sprachlicher Vielfalt zu ermöglichen, die nicht nur den Fremdspra-chenunterricht, und da wiederum in erster Linie den Englischunterricht, fördert, wäre ein integrativer Zugang des Sprachenler-nens notwendig, der alle Formen des Spra-chenlernens umfasst, den Unterricht in der Bildungssprache Deutsch (Entwicklung „ge-nereller Sprachkompetenzen“, Unterricht in Erstsprache, Zweit- oder Drittsprache), die le-bensweltliche MS unterschiedlicher Formen und den „klassischen“ Fremdsprachenun-terricht Rahmenbedingungen, Vorgaben, Richtlinien für einen derartigen Sprachenun-terricht könnten durch ein Gesamtkonzept sprachlicher Bildung vorgegeben werden, wie es etwa die Schweiz schon 1998 ausge-arbeitet hat und wie es derzeit in Österreich im Auftrag des bmukk entwickelt wird Eine Reihe von anderen, jetzt schon umsetzba-ren Möglichkeiten, die sprachliche Vielfalt an den Schulen zu fördern, seien im Folgen-den angeführt: Zunächst gilt es schlicht und einfach, die MS an den Schulen, die häufig versteckt und verdrängt wird, sichtbar zu

machen Das kann in den Klassen durch das Anfertigen und Besprechen von Spra-chenporträts, wie sie oben gezeigt wurden, erfolgen oder durch den Einsatz des euro-päischen Sprachenportfolios, durch Erstellen von Schulsprachenprofilen oder sprachli-chen Landkarten Durch solche Maßnahmen wird allen Beteiligten schlagartig klar, dass die MS die Regel ist, auch in den Klassenzim-mern, und es werden vorhandene sprachli-che Ressourcen auf Seiten der SchülerInnen, aber auch der LehrerInnen sichtbar

Die Erstellung eines Sprachenprofils kann als Maßnahme der Schulentwicklung gesetzt werden: Durch eine Bestandsaufnahme aller Sprachen, die an einer Einzelschule als Res-sourcen vorhanden sind, können die Stärken eines bestimmten Standorts weiterentwickelt werden Dabei stellen sich Fragen wie: Wie sieht die sprachliche Situation an unserer Schule aus? Über welche Sprachkenntnis-se verfügen SchülerInnen und LehrerInnen? Wie, wo ist man mit lebensweltlicher MS, mit anderen Erstsprachen als Deutsch an un-serer Schule konfrontiert? Welche positiven Aspekte hat das? Welche negativen As-pekte hat das? Welche Probleme ergeben sich daraus? Was brauchen wir an unserer Schule, um die Ressourcen der MS optimal nutzen zu können? Welche Unterstützung wünschen wir uns, z B durch Maßnahmen der schulinternen Lehrerfortbildung?

Die Einbeziehung aller Sprachen in den Schulalltag heißt auch, für eine möglichst große symbolische Präsenz aller tatsächlich gesprochenen Sprachen in den Schulen zu sorgen, z B durch Einladungen in den Mut-tersprachen der Kinder an die Eltern für El-ternabende, durch den Ankauf von Lektüre in allen Sprachen in den Schulbibliotheken, dadurch, dass man, wenn möglich und nö-tig, für Dolmetscher bei Elterngesprächen und Elternsprechtagen sorgt Vorarlberg hat z B hier mit den „BrückenbauerInnen“ des Vereins „okay zusammen leben“ eine Struk-tur geschaffen, die es ermöglicht, bei Be-

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Rudolf de Cillia MEHRSPRACHIGE GESELLSCHAFT - ZWEIPSRACHIGE SCHULEN

GASTBEITRAG

darf ausgebildete LaiendolmetscherInnen anzufordern 7

Der Einsatz von Programmen zur Sprach-sensibilisierung, wie sie in den EU-Projekten EVLANG und JA-LING8 entwickelt wurden – in Österreich heißen die Materialien KIESEL und sind über das Österreichische Sprachen Kompetenzzentrum ÖSZ zu beziehen - , kann ein Weiteres zur Sichtbarmachung von und Sensibilisierung für MS beitragen 9 Ein ver-stärktes Angebot muttersprachlichen Unter-richts bzw von Migrationssprachen als Schul-fremdsprachen wären weitere Maßnahmen in diesem Sinn, die v a bei Angehörigen der Minderheitensprachen zu einer Stärkung der sprachlichen Identität und damit des Selbst-bewusstseins insgesamt führen können

Weitere Anregungen für Maßnahmen zur Förderung von innovativen Konzepten im Sprachenunterricht geben die Projekte, die beim Bewerb für das ESIS - Europasiegel für innovative Sprachprojekte - eingereicht wurden Ergebnisse einer Studie, die die Ein-reichungen der ersten Jahre des Europasie-gels in Österreich ausgewertet hat (de Cil-lia/ Kettemann / Haller 2005) haben etwa folgende Maßnahmen als innovativ erfasst: Ein breiteres Sprachenangebot im Unter-richt einer Fremdsprache als Arbeitssprache (nicht nur EAA); ein breiteres Sprachenan-gebot durch Förderung bilingualer Schulen bzw bilingualer Zweige; die Einführung von Intensivphasen bzw Intensivkursen im Regel-schulwesen ; die Umsetzung von Modellen der Interkomprehension, wie sie in Deutsch-land schon erprobt werden: Bei EuroCom-Rom etwa werden – ausgehend vom Fran-zösischen – rezeptive Kenntnisse in anderen romanischen Sprachen vermittelt

Für die LehrerInnenaus- und -weiterbildung schließlich sollte aus der Tatsache, dass le-

bensweltliche MS letztlich die Regel ist, fol-gen, dass SprachlehrerInnen zu „ExpertInnen für MS“ ausgebildet werden, nicht nur für eine bestimmte Sprache, und dass MS the-matisierende Module in die Ausbildung ei-nes jeden Unterrichtsfachs integriert werden sollten, nicht nur der Sprachfächer Denn letztlich ist jeder Unterricht Sprachunterricht und MS geht alle Unterrichtsfächer an, nicht nur Deutsch und die Sprachfächer

Literaturhinweise

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Archan, Sabine/ Dornmayr, Helmut (2006): Fremdsprachenbedarf und -kompetenzen (=ibw Schriftenreihe 131 Wien: ibw)

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Gogolin, Ingrid (1994): Der monolinguale Habitus der multilingualen Schu-le Münster/ New York: Waxmann

Haller, Michaela (2007): Der schulische Fremdsprachenunterricht in Öster-reich - Erste Ergebnisse einer Studie zum Schuljahr 2004/05 Graz: ÖSZ

Krausneker, Verena (2006): Taubstumm bis gebärdensprachig Die österrei-chische Gebärdensprachgemeinschaft aus soziolinguistischer Perspekti-ve Alfa e Beta: Bozen

Krumm, Hans-Jürgen (2001): Kinder und ihre Sprachen – lebendige Mehr-sprachigkeit Sprachenporträts – gesammelt und kommentiert von Hans-Jürgen Krumm Wien: eviva

Statistik Austria (2002): Volkszählung 2001 Hauptergebnisse I - Österreich Wien

Lüdi, Georges/ Werlen, Iwar (2005): Eidgenössische Volkszählung 2000 Sprachenlandschaft in der Schweiz Neuchâtel: Bundesamt für Statistik

Weisgerber, Leo (1966): Vorteile und Gefahren der Zweisprachigkeit In: Wirkendes Wort 16/2--1966: 273-289

7 http://www okay-line at/deutsch/okay zusammen-leben/okay zusammen-leben/, 3 3 2011 8 Informationen über das Socrates / Lingua-Projekt „Éveil aux langues“ (1997-2001) und das am Europäischen Fremdsprachenzentrum in Graz durchgeführte Projekt « Janua Linguarum“ finden sich unter folgender Adresse: http://jaling ecml at/default htm, eingesehen am 3 3 2011 9 Der österreichische Beitrag zu EVLANG waren unter dem Namen KIESEL entwickelte Unterrichtsmaterialien, s http://www oesz at/sub_main php?page=bereich php?bereich=8-tree=24, eingesehen am 3 3 2011

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CORA KOCHT UND BERNHARD BAUT Heike Niederreiter, Silvia Nowy-Rummel

PROJEKTE

Geschlechterordnung

Barabara Rendtorff (vgl 2003: 24), die u a einen ihrer Forschungsschwerpunkte auf die Entwicklung von Geschlechterbildern legt, beschreibt die in unserer Gesellschaft etablierte Geschlechterordnung als eine Ordnung, die aufgrund einer Spaltung in zwei Geschlechter entstand Diesen „zwei“, Frau und Mann, werden oftmals Seienswei-sen, Charaktere, Interessen zugeschrieben, die als naturgegeben gehandelt werden Rentdorff sieht in dieser Geschlechterord-nung eine auf der Kultur und Geschichte eines Volkes basierende Übereinkunft, die die so zialen Beziehungen untereinander regelt und als Orientierungshilfe für jede/n Einzelne/n dient

Das wesentliche Ordnungselement ist die Trennung und Entgegensetzung von Öffent-lichkeit und Privatsphäre Frauen wird dabei der private Raum zugeordnet, was wiede-rum zur typischen geschlechtlichen Arbeits-teilung beiträgt Die Arbeiten im Haus und alle „naturnahen“ Aufgaben (dazu gehö-ren u a die körperliche Versorgung, Kochen, Reinigungsarbeiten etc ) sind weiblich kon-notiert, während der öffentliche Raum dem Mann zugewiesen wird Bereits 1802 schreibt der Mediziner Cabanis, dass der Mann kühn, stark und unternehmend sein muss, das Weib hingegen schwach, furchtsam und verschlagen (vgl Rendtorff 2003: 26f) Sol-

che Vorstellungen und Zuteilungen übertru-gen sich auf die gesellschaftlichen Normen, Strukturen und Organisationen, sie entfalten heute noch ihre Wirksamkeit und machen auch vor der Bildungsinstitution Schule nicht halt

Geschlechterstereotype

Noch wirksamer als die oben erwähnten Ordnungselemente sind Geschlechter-stereotypen „Stereotype stellen verbreitete und allgemeine Annahmen über die rele-vanten Eigenschaften einer Personengrup-pe dar “ (Alfermann 1996: 9) Mit Hilfe dieser Stereotypen werden Annahmen von Frauen und Männern und ihren personalen Eigen-schaften festgemacht, deren Grundlage ein Kategorisierungsprozess ist, der dazu dient, Personen in bestimmte Kategorien einzutei-len Diese Kategorien lassen sich nicht nur kognitiv erklären, sondern erfüllen laut dem Begründer des Kategorienansatzes in der Sozialpsychologie, Henri Tajfel (1969), auch eine motivationale Funktion - nämlich die Rechtfertigung der bestehenden Rang- und Wertordnung und deren Aufrechterhaltung einer jeweiligen Gesellschaft

In einer kulturvergleichenden Studie, die in dieser Art bislang nicht wiederholt wur-de, ließen Williams & Best (1990) Männern und Frauen aus 25 Nationen weibliche und männliche Eigenschaften zuordnen Die in

„Cora kocht und Bernhard baut – Oder doch nicht?“Geschlechtersensible Atelierangebote an der PraxisvolksschuleHeike Niederreiter/ Silvia Nowy-Rummel

Bereits Vorschulkinder haben stereotype Bilder von „weiblich“ und „männlich“ erworben. So werden von ihnen z.B. „schwach, sanft“ als Eigenschaften für Frauen und „stark, laut“ als Eigen-schaften für Männer genannt. Diese Zuordnungen entsprechen im Wesentlichen bereits denen, die Erwachsene treffen, wenn sie Eigenschaften die „typisch weiblich“ und „typisch männlich“ sein sollen, benennen (vgl. Alfermann 1996: 13). Atelierangebote der Praxisvolksschule zum Thema „Gender Mainstreaming“ bieten eine Möglichkeit, in diesem sensiblen Bereich anzusetzen.

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Heike Niederreiter, Silvia Nowy-Rummel CORA KOCHT UND BERNHARD BAUT

PROJEKTE

Tabelle 1 angeführten Eigenschaften wur-den übereinstimmend in allen (25) oder fast allen (24) Staaten* als typisch männlich bzw weiblich bezeichnet

Stereotype maskuline Eigenschaften

abenteuerlustig �aggressiv �dominant �kräftig �kühn �maskulin �robust �selbstherrlich �stark �unabhängig �unternehmungslustig �

Stereotype feminine Eigenschaften

einfühlsam �gefühlvoll � liebevoll �träumerisch �unterwürfig �

(Alfermann 1996: 16f )

Das Thema Geschlechterrollen- übernahme im Bereich der Schule

In der Organisation Schule ist es unumgäng-lich sich mit dem Phänomen der rollenspezifi-schen Geschlechtsidentifikation zu beschäf-tigen, was durch den gesetzlichen Auftrag in Form des Unterrichtsprinzips „Erziehung zur Gleichstellung von Frauen und Männern“ im österreichischen Lehrplan verankert ist (vgl bm:ukk 1996) Dieses Unterrichtsprinzip ent-spricht dem Grundsatz des Gender Main-streams, zu dem sich auch die österreichi-sche Regierung und die Euro päische Union bekennen „Gender Mainstream is the (re)organisation, improvement, development and evaluation of policy processes, so that a gender equality perspective is incorporated

in all policies at all levels and at all stages, by the actors normally involved in policy-making“ (Council of Europe 1998: 1)

Allerdings kommt es innerhalb des „heimli-chen Lehrplans“, wie ihn die koedukations-kritische Forschung (vgl Löw 2006: 69) be-zeichnet, implizit und explizit immer wieder zu alltagstheoretisch geleiteten Aussagen von Lehrpersonen über die Geschlechter und deren Platzzuweisungen „Kinder durch-laufen in Schulen geschlechtsspezifische Sozialisationsprozesse, in denen sie sich ne-ben dem offiziell vermittelten Lehrstoff auch Wissen über als angemessen geltendes ge-schlechtsspezifisches Handeln aneignen “ (Löw 2006: 69) Neben dem starken Einfluss der Printmedien, dem Fernsehen, der Spiel-zeugindustrie und natürlich dem familiären und sozialen Umfeld, trägt die Schule dazu bei, dass Mädchen wie Buben langsam ler-nen eine bestimmte Position einzunehmen, die sowohl von ihnen selbst, von der Peer-group, sowie von der Gesamtgesellschaft ihrer Kultur als allgemein gültig und akzepta-bel hingenommen wird

Sie lernen sich “typisch weiblich“ bzw „ty-pisch männlich“ zu verhalten, zu agieren, sich zu kleiden, die Haare so zu tragen, wie es erwartet wird, einen Sprachstil zu entwi-ckeln, der angemessen erscheint und sich für das zu interessieren, was zum jeweiligen Geschlecht „passt“, nicht zuletzt um sich der „eigenen“ Gruppe zugehörig zu fühlen

Atelierangebote in der Praxisvolksschule zum Thema „Gender Mainstreaming“

Astrid Kaiser (Kaiser 2003: 18ff) belegt an-hand einer ganzen Reihe empirischer Unter-suchungen der pädagogischen Frauenfor-schung, dass Schule bislang ihrem Auftrag, gendergerechten Unterricht zu gestalten, nicht ausreichend nachkommt und somit zur Reproduktion der hierarchischen Ge-

(* Australien, Bolivien, Brasilien, Kanada, England, Finnland, Frankreich, Deutschland, Irland, Indien, Italien, Israel, Japan, Malaysia, Niederlande, Neuseeland, Nigeria, Norwegen, Pakistan, Peru, Schottland, Südafrika, Trinidad, USA, Venezuela)

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CORA KOCHT UND BERNHARD BAUT Heike Niederreiter, Silvia Nowy-Rummel

PROJEKTE

schlechterverhältnisse beiträgt „Die bishe-rige Praxis an Schulen erfolgt weitgehend ohne eine bewusste Fokussierung von Ge-schlechterdifferenzen im didaktischen Den-ken “ (Kaiser 2003: 20)

Um einer geschlechterbewussten Bildung Rechnung zu tragen, werden in der Praxis-volksschule Atelierangebote (siehe dazu Pelzmann 2010: 52ff) initiiert, die auf die nachfolgenden sieben „Theorien zur Er-klärung der Geschlechterungleichheit“ aufbauen, welche (neben der Theorie der Erwartungshaltung, die hier nicht explizit ausgeführt wird) als Diskussionsgrundlage in seriösen Debatten herangezogen werden (vgl Kaiser 2003: 24):

Theorie 1: Vorbilder sind entscheidend, da Kinder durch die erwachsenen Vorbilder ihrer Umwelt lernen, was männlich und weiblich sein soll

Theorie 2: Lassen wir Mädchen nur mit Puppen spielen und Jungen nur mit technischem Spielzeug, dann lernen sie entsprechende Verhaltensweisen Die Übung ist entschei-dend

Theorie 3: Mädchen identifizieren sich mit ihren Müttern, während Jungen sich von ihnen abgrenzen, weil sie merken, dass sie zum anderen Geschlecht gehören

Theorie 4: Erwachsene haben Bilder von Weiblich-keit und Männlichkeit im Kopf und geben diese unbewusst an Kinder weiter Kinder lernen somit das, was Erwachsene von Ihnen erwarten

Theorie 5: Die Arbeitsteilung der Geschlechter in einer Gesellschaft prägt Mädchen und Jungen in ihrer Persönlichkeit

Theorie 6: Das Selbstbild von Kindern wird dadurch gebildet, dass Mädchen und Jungen ständig sehen und hören, was von ihnen verlangt wird

Theorie 7: Jede Gesellschaft hat bestimmte Rollen für Männer und Frauen vorgesehen Mit heimlichen und offenen Vorschriften und Begrenzungen wird bei Kindern allmählich das typisch männliche bzw weibliche Rol-lenbild herausgebildet (vgl Kaiser 2003: 24)

Ausgehend und aufbauend auf diese „Theorien zur Erklärung der Geschlech-terungleichheit“ wurden (und werden) folgende Inhalte in der Ateliersarbeit der Praxisvolksschule Salzburg angeboten:

Zu Theorie 1) Erfinderinnen und berühmte Frauen Der Schwerpunkt lag auf weiblichen Vorbil-dern Speziell für Mädchen, aber auch für interessierte Buben wurden Lebensbiogra-phien namhafter aber auch völlig unbe-kannter Erfinderinnen und Entdeckerinnen vorgestellt Um eine Realbegegnung zu schaffen, wurde die Dirigentin Elisabeth Fuchs eingeladen

Zu Theorie 2) Bauen und Konstruieren nur für Mäd-chen (Lego Mind Storm) Mädchen wurde in diesem Atelier die Ge-legenheit gegeben, sich mit technischen

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Heike Niederreiter, Silvia Nowy-Rummel CORA KOCHT UND BERNHARD BAUT

PROJEKTE

Anforderungen auseinander zu setzen Sie konnten mit unterschiedlichen Materialien frei bauen und nach Bauplänen Roboter konstruieren und programmieren

Parallel dazu wurden Garten- und Koch ateliers für Jungen angeboten, mit dem Ziel der praktischen Anwendung und dem Erleben eines verantwortungsvollen Um-gangs mit der Natur

Zu Theorie 3) Um speziell den Buben, aber auch inter-essierten Mädchen, männliche Identifika-tionspersonen aus dem sozialen Bereich näher zu bringen, wurden ein Kindergar-tenpädagoge und ein Hausmann ein-geladen, die aus ihrer täglichen Arbeit berichteten und eindrucksvoll die Arbeit mit Kleinkindern präsentierten

Zu Theorie 4) Nicht als eigenes Atelier zu werten, aber ein wesentlicher Punkt einer Pädagogik der Gleichberechtigung, ist die im Rahmen der Atelierarbeit ständig stattfindende Re-flektierung der eigenen Erwartungen der Lehrkräfte an Mädchen und Jungen Dies passiert u a im Rahmen von kollegialen Gesprächen

Zu Theorie 5) Zukunftsträume-Berufe In Zusammenarbeit mit dem Projekt MUT (Mädchen und Technik) wurden u a durch Selbst- und Fremdeinschätzungs-übungen SchülerInnen bestärkt, unge-wöhnliche Berufsvorstellungen zu äußern und als durchaus realisierbar anzusehen

Zu Theorie 6 und 7) Mädchen und Buben Themenschwerpunkt war hier die Aus-einandersetzung mit der eigenen Rolle und dem anderen Geschlecht Dies geschah in Rollenspielen und sorgfältig ausgewählten Arbeitsmaterialien

Dass ein Meinungsumbildungsprozess bei Schülerinnen und Schülern tatsächlich statt-finden kann, untersuchte eine der beiden Autorinnen bereits 2001, indem sie ihren geschlechtssensiblen Unterricht evaluierte (Nowy-Rummel, 2001)

In einer nicht-repräsentativen Fragerunde am Ende der Arbeitsphasen der Ateliers war ebenfalls deutlich eine Meinungs- und Be-wusstseinsänderung erkennbar In diesem Sin-ne und im Sinne des Gender mainstreaming ist es wichtig, dass auch in den kommenden Jahren wieder Ateliers mit geschlechtersen-siblen Themen angeboten werden Es bleibt aber abschließend anzumerken: „…nur in dem Maße, wie sich bei den Lehrkräften die starren Grenzen stereotyper Bilder von Männlichkeit und Weiblichkeit lösen, können auch bei Kindern Entwicklungen fortgeführt werden “ (Kaiser 2003: 29)

Literatur:

Alfermann, Dorothee (1996): Geschlechterrollen und geschlechtstypi-sches Verhalten Stuttgart, Berlin, Köln: Kohlhammer

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Council of Europe (1998): Directorate General of Human Rights and Legal Affairs Gender Equality Division ; Gender mainstreaming: Action underta-ken by the Council of Europe URL: http://www coe int/t/dghl/standard-setting/equality/03themes/gender-mainstreaming/Factsheet-GMainstr_en pdf [Stand: 4 4 2011]

Kaiser, Astrid (2003): Projekt geschlechtergerechte Grundschule Erfah-rungsberichte aus der Praxis Opladen: Leske und Budrich

Löw, Martina (2006): Einführung in die Soziologie der Bildung und Erzie-hung 2 durchgesehene Auflage Opladen & Farmington Hills: Barbar Bud-rich

Nowy-Rummel, Silvia (2001): Mögliche Auswirkungen eines geschlechts-sensiblen Unterrichts Diplomarbeit Rosa Mayreder College Wien

Pelzmann, Deborah (2010): Unterricht in Ateliers Aus dem Schulalltag er-zählt… In: ph script Pädagogische Hochschule Salzburg Beiträge aus Wis-senschaft und Lehre 2010 Heft Nr 02 52ff

Rendtorff, Barbara (2003): Kindheit, Jugend und Geschlecht Einführung in die Psychologie der Geschlechter Weinheim, Basel, Berlin: Beltz

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AUS ANDERER SICHT Christian Treweller

PROJEKTE

Um Menschen mit Behinderungen eine uneingeschränkte und gleichberechtigte Teilnahme und Mitgestaltung an der Ge-sellschaft zu ermöglichen, ist eine Schule notwendig, welche diese Teilhabe fördert Dazu gehören vor allem qualifizierte Lehre-rInnen, die nicht nur aufgrund theoretischer Grundlagen in der Ausbildung mit ihren Hal-tungen und Einstellungen den Lebensraum Schule prägen Einen praxisrelevanten Teil der LehrerInnenbildung an der Pädagogi-schen Hochschule Salzburg stellt hierbei das Projekt „Aus anderer Sicht“ dar

Ursprung und Entwicklung des Projektes

Aufgrund unterschiedlicher regionaler, na-tionaler und interessensbedingter Gege-benheiten existiert keine allgemeine De-finition des Begriffes „Behinderung“ Den unterschiedlichen Definitionen gemein-sam ist die zumindest sechs Monate dau-ernde Beeinträchtigung der Teilhabe am wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben aufgrund ungünstiger Umweltfak-toren und persönlicher Eigenschaften (vgl International Classification of , Bundesbe-hindertenbericht 2008, Bundesbehinderten-einstellungsgesetz 1970/2011, Salzburger Be-hindertengesetz)

„Barrierefreiheit“ meint generelle Zugäng-lichkeit und Benützbarkeit von Angeboten, Dienstleistungen, Information etc für alle,

egal ob mit oder ohne Behinderungen (vgl Integration:Österreich 2003 und Bundesbe-hindertengleichstellungsgesetz 1970/2011)

Das Projekt „Aus anderer Sicht“ wurde 1998 im Behindertenbeirat der Stadt Salzburg ent-wickelt Intention der im Behindertenbeirat vertretenen Interessensverbände war eine nachhaltige Sensibilisierung und der Ab-bau von Barrieren für Menschen mit Behin-derungen Zu dieser Zeit gab es so gut wie keine vergleichbaren Initiativen (in der Re-cherchearbeit wurde der Behindertenbei-rat im deutschsprachigen Raum nur in Bern, Schweiz, fündig; vgl AKBS 81 1981) Die Kon-zeptentwicklung betrat damit Neuland und bezog die theoretischen Grundlagen vor allem aus der Auswertung von qualitativen Interviews (vgl Lamnek 1995) mit VertreterIn-nen von Interessensverbänden der Salzbur-ger Behindertenorganisationen, Jugendein-richtungen und LehrerInnen

Im Juni 2001 konnten auf Initiative von An-gela Faber erstmalig Studierende der „Pä-dagogischen Akademie Salzburg“ das Pro-jekt erleben Aufgrund des positiven Echos setzte sich der Direktor der damaligen „Pä-dagogischen Akademie“, Josef Sampl, für eine kontinuierliche Einbettung der Projektin-halte ein und das Projekt wurde als Bestand-teil der LehrerInnenausbildung in Salzburg institutionalisiert Mittlerweile ist das Projekt im Seminar „Integration und Inklusion“ für

„Aus anderer Sicht“Ein Projekt an der Pädagogischen Hochschule Salzburg

Christian Treweller

Gesellschaft als Ganzes besteht aus vielen unterschiedlichen Teilen, erst die Summe aller Teile gibt der Gesellschaft ihren gesamten Wert. Zu diesen Teilen gehören auch Menschen mit Behinderun-gen, mit voller Teilnahme an gesellschaftlicher Mitgestaltung in allen Bereichen. Bildung stellt auch und gerade bei Menschen mit Behinderungen nicht nur einen von mehreren Lebensberei-chen dar, sondern legt elementare Grundvoraussetzungen für viele andere gesellschaftliche Berei-che, wie etwa Erwerbsleben, kulturelle Teilhabe und gesellschaftspolitisches Engagement, in denen Menschen mit Behinderungen nach wie vor Diskriminierung erfahren. (Vgl. Behindertenbericht, Diskriminierung von Gehörlosen, Essl Social Index)

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Christian Treweller AUS ANDERER SICHT

PROJEKTE

alle Studiengänge im 3 Semester der Aus-bildung an der Pädagogischen Hochschule fest verankert

Nach wie vor stehen die Mitgliedsorganisa-tionen des Behindertenbeirates der Stadt Salzburg einhellig mit bereitgestellten Perso-nalressourcen zu diesem Projekt und zudem ist dieses Projekt in Österreich nach wie vor einzigartig mit dem umfassenden Anspruch, alle Behinderungsformen einzubinden und so eine entsprechende Vielfalt zu bieten

Intention

Das Projekt „Aus anderer Sicht“ soll durch Kennenlernen, Selbsterfahrung und Reflexi-on zu einem nachhaltigen Barriereabbau beitragen und die unterschiedlichen Le-bensrealitäten von Menschen mit Behinde-rungen vermitteln

Inhaltlicher Ablauf

In Blöcken zu je vier Unterrichtseinheiten tref-fen sich die Studierenden des 3 Semesters mit betroffenen ExpertInnen in Gruppengrö-ßen von durchschnittlich 10 bis 15 Personen Die Thematik in den Gruppen ergibt sich aus den unterschiedlichen Formen von Be-hinderungen (Mobilitätsbeeinträchtigung, Sehbehinderung, Gehörlosigkeit, Psychische Krankheit und Lernbeeinträchtigung)

Orte der Umsetzung sind einerseits das den Studierenden vertraute Umfeld an der Pä-dagogische Hochschule und andererseits die Niederlassungen der Behinderteninte-ressensverbände bzw alltägliche Orte von Menschen mit Behinderungen

Beteiligte Partnerorganisationen stammen aus dem Behindertenbeirat der Stadt Salz-burg und stellen die wesentlichen Vertreter aller Menschen mit Behinderungen in Salz-burg dar (Gehörlosenverband, Blinden- und Sehbehindertenverband, Zivilinvalidenver-band, Pro Mente, Laube, Lebenshilfe )

Die Aktivitäten in den Gruppenphasen glie-dern sich in drei Bereiche: Kennenlernen bzw Information - Selbsterfahrung - Reflexi-on

Kennenlernen bzw Information: Durch den persönlichen Kontakt mit Menschen mit Behinderungen entsteht ein vertrauteres Verhältnis, welches beitragen soll, Berüh-rungsängste, Unsicherheiten und Vorurteile abzubauen In direktem Dialog erfahren Stu-dierende mehr über den Alltag, bestehende Barrieren und mögliche Chancen von Men-schen mit Behinderungen

Selbsterfahrung: Soweit wie möglich erleben Studierende die Lebensrealitäten von Men-schen mit Behinderungen durch Ausprobie-ren, z B durch Ertasten der sonst vertrauten Umgebung mit Blindenbrille und Langstock, durch eine Tour im Rollstuhl, durch Lippenle-sen und Kommunikation in Gebärdenspra-che

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AUS ANDERER SICHT Christian Treweller

PROJEKTE

Diese veränderte Perspektive lädt ein, bisher bewusste, aber auch unbewusste Denkmus-ter zu hinterfragen und in der Folge neue Sichtweisen zu entwickeln

Reflexion: Die Information und durch Selbst-erfahrung getätigte Erlebnisse werden in Begleitung der ExpertInnen aufgearbeitet, in Frage und Antwort können noch offene Punkte besprochen werden Die Studieren-den erstellen nachfolgend einen Bericht, in dem ihre Erfahrungen aufgearbeitet und zu-sammengefasst werden

Neben Fachkompetenz durch Wissenszu-wachs über unterschiedlichste Formen von Behinderung und den damit einhergehen-den Barrieren und Möglichkeiten, stellt die Erlangung von vor allem sozialen Kompeten-zen und Selbstkompetenzen die Zielsetzung des Projektes dar In einem erweiterten Ver-ständnis für grundlegende Begriffe wie „Be-hinderung“ und „Barrierefreiheit“ können Einstellungen und Haltungen der Studieren-den nachhaltig verändert werden und kön-nen somit in die spätere Unterrichtspraxis mit einfließen

Inklusion als Perspektive

Der lebendige Praxisbezug, die Berührtheit durch den persönlichen Kontakt und die Erweiterung des eigenen Horizontes wird von den Studierenden selbst immer wieder als bereichernder Nutzen geschildert In der Folge sollten aber auch die SchülerInnen dieser angehenden LehrerInnen von einer durch Verständnis für „Inklusion“ geprägten Haltung profitieren

Den Begriff „Inklusion“ erklärt Andreas Hinz im schulischen Kontext wie folgt: „Das Ein-bezogensein als vollwertiges Mitglied der Gemeinschaft ist zentral (‚full membership‘, LIPSKY/GARTNER 1999, 13), unabhängig von Fähigkeiten und Unfähigkeiten Es ist kei-ne Qualifikation nötig für die Zugehörigkeit zum gemeinsamen Unterricht, die über eine

Diagnose von Mindestfähigkeiten erfolgen müsste, ein Kind muss sich nicht erst sein Recht auf Inklusion verdienen oder kämpfen es zu erhalten‘ - ‚a child does not have to earn his or her right to be included or strugg-le to maintain it‘ (SAPON-SHEVIN 2000, 4) “ (Hinz 2002)

„Inklusion“ insgesamt geht von der Grund-annahme aus, dass alle Menschen gleich-berechtigten Zugang und Mitwirkungsmög-lichkeiten besitzen sollten Schließen etwa Regelungen und Strukturen bestimmte Teile der Gesellschaft hiervon aus, so sind diese Regelungen und Strukturen zu ändern, so-dass in der Folge strukturelle Förderung wirk-sam werden kann - und nicht die dadurch ausgeschlossenen Personen oder Gruppen gänzlich außerhalb bleiben

Rückmeldungen der Studierenden

Im Wintersemester 2010/11 wurden den Stu-dierenden im Rahmen einer abschließen-den Evaluation zum Seminar „Integration und Inklusion“ folgende Fragen zur Evaluati-on vorgelegt:

Welche Barrieren entstehen für Men-1 schen mit Behinderungen in unserer Ge-sellschaft/ in unserem Bildungssystem?Welche Angebote, Assistenzleistungen 2 und Unterstützungsmöglichkeiten gibt es für Menschen mit Behinderungen?Wie hat sich durch das Projekt meine per-3 sönliche Sichtweise verändert?Welche Auswirkungen hat das Projekt auf 4 meine berufliche Praxis?

Von den 250 Studierenden im 3 Semester im Studienjahr 2010/11 konnten anhand der zur Verfügung gestellten schriftlichen Aufzeich-nungen von drei Seminargruppen insgesamt 97 Rückmeldungen ausgewertet werden:

Vorab: Die Fragen 1 und 2 wurden zum Teil sehr ausführlich beantwortet und gaben den individuellen, kognitiven Lernzuwachs

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Christian Treweller AUS ANDERER SICHT

PROJEKTE

wieder Hier erfolgte eine beinahe durch-gängige Wiedergabe der von den Exper-tInnen erläuterten Problemstellungen, Mög-lichkeiten und Angebote

Besonders relevant für eine Evaluation des Projektes war die Auswertung zu den Fragen 3 und 4 Eine klare und detaillierte Auswer-tung ist hier allerdings nicht möglich, da die schriftlichen Rückmeldungen der Studieren-den formal sehr indifferent gestaltet sind, von der kurzen Schilderung persönlicher Eindrü-cke bis hin zu umfassenderen Beschreibun-gen bzw einem konkreten Eingehen auf die Fragestellungen Die folgende Auswertung kann daher nur Tendenzen in den Rückmel-dungen aufzeigen, die sich an der inhaltli-chen, qualitativ orientierten Auswertung der Texte orientiert

ad 3: Grundsätzlich war festzustellen, dass der persönliche Profit umso höher lag, je weniger Vorerfahrung im Umgang mit Men-schen mit Behinderungen die Studierenden hatten Aussagen wie „Es war mir nicht be-wusst, dass “ belegen, dass sich ein großer Teil der Studierenden in der bisherigen Le-benspraxis wenig Kompetenzen in der Ar-beit mit Menschen/SchülerInnen mit Behin-derungen aneignen konnte

Unter Aussagen wie etwa „war mir neu“, „ich wusste nicht, dass “ und „das Projekt hat mir neue Sichtweisen eröffnet “ fand sich folgender Anteil von Studierenden:

hat neue Sichtweisen eröffnet: 82% �war bereits bekannt 12,5% �ohne Angaben 5,5% �

Beinahe durchgängig wurde als entschei-dender Faktor für die Veränderung der per-sönlichen Sichtweise der direkte Kontakt zu betroffenen ExpertInnen (Menschen mit Behinderungen) genannt Der unmittelbare Kontakt und der zum Teil sehr intime Einblick in den Alltag von Menschen mit Behinderun-gen berührte, wie in Beiträgen von Studie-

renden zu lesen war: „ich war beeindruckt von der Lebensfreude “, „ war begeistert, wie Frau/Herr XY ihr/sein Leben meistert “ Immer wieder überraschend für Studieren-de war, wie ein praktisch „normales“ Leben trotz Behinderung geführt werden kann Die prozentuelle Auswertung der Rückmeldun-gen ergibt folgendes Bild:

Von ExpertInnen beeindruckt und be- �rührt: 48,5%aufgrund beruflicher Erfahrungen bereits �sehr vertraut: 3%ohne Angaben 48,5% �

Der Selbsterfahrungsanteil beim Projekt wird als sehr bereichernd beschrieben, jedoch im Rahmen der Möglichkeiten der jeweili-gen Veranstaltung vereinzelt als zeitlich zu kurz empfunden:

Selbsterfahrung war wichtig und berei- �chernd: 36%ohne Angaben: 64% �

ad 4: Hier war zu beobachten, dass der von den Studierenden selbst eingeschätzte Profit durch das Projekt mehr auf der Berei-cherung der persönlichen Haltungen und Einstellungen lag als auf der direkten Ver-wertbarkeit für die berufliche Praxis:

für Beruf Neues gewonnen: 41% �derzeit keine Transfermöglichkeiten: 6% �ohne Angabe: 53% �

Manche Studierende (aus der Volks- und HauptschullehrerInnenausbildung) berich-teten zum Teil sehr kompetent, wie sie sich einen Unterricht in Integrationsklassen vor-stellen können und welche Voraussetzungen dafür erforderlich sind:

kann mir nun gut vorstellen mit SchülerIn- �nen mit Behinderungen bzw in Integrati-onsklassen zu unterrichten: 19%kann ich mir nicht vorstellen: 1% �ohne Angabe: 80% �

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AUS ANDERER SICHT Christian Treweller

PROJEKTE

Schlussbemerkung

Um inklusiven Unterricht zu gewährleisten, ist nicht nur die selbstverständliche Teilnahme von SchülerInnen mit unterschiedlichen Be-hinderungen als Teil einer Lerngemeinschaft Voraussetzung Die Einbindung der Kompe-tenz von Menschen mit Behinderungen in die LehrerInnenausbildung und im schuli-schen Alltag bewährt sich, um der Zielset-zung eines Verständnisses von „normalem“ Miteinander auf allen Ebenen näher zu kommen

Ein Anliegen ist sicherlich die Entwicklung weg von einem Modellprojekt hin zu einem selbstverständlichen Bestandteil in der Leh-rerInnenausbildung, über die Grenzen Salz-burgs hinaus

„Ich hoffe, dass sich dieses System mithilfe der Inklusionsansätze ändern wird, denn alle haben ein gleiches Recht auf Bildung und Anerkennung“, so eine Studierende der Pä-dagogischen Hochschule im Studienjahr 2010/11

Nachtrag

Im Projekt „Teacher Education for Inclusion“ der “European Agency for Development in Special Needs Education” (siehe Seite 72 in der aktuellen Ausgabe) wurde das Projekt „Aus anderer Sicht“ bereits als Modellprojekt aufgenommen ExpertInnen aus allen Län-dern Europas haben die Möglichkeit, von diesen Erfahrungen zu lernen Im Rahmen einer nationalen RektorInnen-Konferenz im Frühjahr 2011 mit internationaler Beteiligung werden im Kontext der LehrerInnenbildung NEU Modelle vorzeigenswerter Praxis auch anderen Pädagogischen Hochschulen in Österreich nähergebracht (Siehe http://www european-agency org/agency-pro-jects/teacher-education-for-inclusion/coun-try-info)

Literatur:

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Abrufbar unter der Webseite: http://bidok uibk ac at/library/hinz-inklusion html#id3229796 (25 März 2011)

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Links zum Projekt und den dabei enga-gierten Organisationen:

http://www sisal at/aas (Soziale Initiative �Salzburg)http://www gehoerlose-salzburg at (Salz- �burger Gehörlosenverband)http://www sbsv at (Salzburger Blinden- �und Sehbehindertenverband)http://www promentesalzburg at (Pro �Mente Salzburg)http://laube at (Laube) �http://www oeziv org (Zivilinvalidenver- �band)http://www lebenshilfe-salzburg at (Le- �benshilfe Salzburg)http://bundessozialamt gv at (Bundesso- �zialamt)http://www stadt-salzburg at/internet/ �salzburg_fuer/menschen_m_behinderu/p2_93658 htm (Behindertenbeauftragte der Stadt Salzburg)

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Christine Schober DAS LESETAGEBUCH ALS BEITRAG ZUR INDIVIDUELLEN LESEFÖRDERUNG

PROJEKTE

Das Thema Lesen, dem immer dann ver-merkte Aufmerksamkeit geschenkt wird, wenn PISA-Ergebnisse veröffentlicht und in den Medien präsentiert werden, ist für Leh-rerInnen täglich präsent SchülerInnen wei-sen sehr unterschiedliche Lesekompetenzen auf und die Förderung bzw Forderung aller SchülerInnen sollte eine Selbstverständlich-keit darstellen Es gilt also, den individuellen Leistungsstand zu berücksichtigen und die Motivation zum Lesen im Allgemeinen zu för-dern Im vorliegenden Beitrag soll dargelegt werden, wie mithilfe eines Lesetagebuches ein ganzheitlicher Lesebegriff und die Be-rücksichtigung von Interessen in einem In-strument zusammenfließen und wie damit der Leseunterricht für alle zu einem befrie-digenden und förderlichen Unternehmen werden kann Dazu wird vorerst der mehrdi-mensionale Lesebegriff und das Konzept der Basic Needs kurz vorgestellt Im Anschluss folgt der Entwurf des Lesetagebuches, der zu eigenen Konzeptionen anregen soll

Lesen in kulturwissenschaftlicher Perspektive

Hurrelmann (2002) plädiert für einen Lese-begriff, der neben der kognitiven auch mo-tivationale, emotionale und interaktive Kom-ponenten inkludiert Erstere betreffen das umfassende Verstehen von Texten, das beim Ermitteln von Informationen beginnt, den Bo-gen über die Interpretation spannt und mit

Reflexion von Inhalt und Form endet Dieser Lesekompetenzbegriff, der auch die Grund-lage für PISA stellt, wird bei Hurrelmann (vgl 2002: 8) um weitere wichtige Aspekte zur Anwendung in der Lesedidaktik erweitert:

� Die motivationale Dimension umfasst die positive Hinwendung zu Texten und das Verständnis, etwas Wertvolles darin ent-decken zu können Darüber hinaus ist auch eine gewisse Beharrlichkeit erfor-derlich, wenn es gilt, das Ziel des Textver-ständnisses nicht aus den Augen zu ver-lieren und die Wertigkeit hochzuhalten � Der emotionale Aspekt ermöglicht das Verbinden eigener Erfahrungen und er-lebter Gefühle mit der Lektüre genauso, wie die individuell richtige Wahl des Le-sestoffes Auch das Ertragen vorüberge-hender Unlustgefühle einerseits und der Genuss literarischer Ästhetik andererseits werden hier inkludiert � Der soziale bzw interaktive Faktor schließ-lich betrifft die Möglichkeit, sich über die gelesenen Inhalte auszutauschen Hier werden Interpretationsvarianten disku-tiert und gleichzeitig Verständnis gebildet für die soziale Konstruktion unterschiedli-cher Meinungen

Diese neben der Kognition so wichtigen As-pekte der Motivation, der Emotion und der Interaktion sollen im Folgenden in einem theo retischen Hintergrund verankert werden

Das Lesetagebuch als Beitrag zur individuellen Leseförderung1 Christine Schober

Den Leselernprozess erfolgreich zu begleiten stellt für VolksschullehrerInnen immer wieder eine Herausforderung dar. Besonders die Heterogenität der Leseleistungen versetzt PädagogInnen in die schwierige Lage, den individuellen Entwicklungsstand zu berücksichtigen und gleichzeitig Arbeitstechniken zu vermitteln, die das Fortkommen aller Kinder einer Klasse garantieren. In diesem Beitrag soll durch das Konzept des Lesetagebuches eine Möglichkeit aufgezeigt werden, wie sich beides vereinen lässt.

1 Die in diesem Artikel dargestellten Gedanken sind in einer umfangreichen empirischen Studie bereits erschienen in: Schober, Christine (2009): Leseverhalten von Grundschulkindern Eine empirische Studie unter den Aspekten Geschlecht und Interesse Saarbrücken: VDM Verlag Dr Müller

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DAS LESETAGEBUCH ALS BEITRAG ZUR INDIVIDUELLEN LESEFÖRDERUNG Christine Schober

PROJEKTE

Das Konzept der Basic Needs

Der Mensch steht in wechselseitiger Bezie-hung mit seiner Umwelt Dadurch befindet sich das Individuum in einem permanenten Veränderungsprozess, bei dem persönliche Entwicklung nicht selbstverständlich, son-dern von der sozialen Umgebung abhän-gig ist (vgl Deci & Ryan 2002, Krapp 2005a) Trotz dieses gegenseitigen Lernprozesses zwischen einer Person und den Interaktions-partnerInnen des sozialen Umfelds bleibt der Mensch als individuelle Einheit in Form einer „guten Gestalt“ (vgl Krapp 1992: 301) erhalten Dieser lebenslang wirksame Ent-wicklungsprozess, bei dem gewisse Inhalte in das Persönlichkeitskonzept übernommen, andere aber abgelehnt werden, steuert die Balance zwischen individuellem Wachstum und sozialer Bindung (vgl Krapp 2005a) In diesem Zusammenhang spricht Krapp (1992: 300) von einem ‚inneren Kern‘ oder dem ‚in-dividuellen Selbst‘ eines Individuums Dieses Zentrum der Persönlichkeit wird durch die permanente Auseinandersetzung mit dem Umfeld und der damit einhergehenden An-passung geformt Welche Inhalte integriert werden und welche nur marginale Bedeu-tung haben, bestimmen neben einem kog-nitiven Regulativ vor allem auch die grund-legenden psychologischen Bedürfnisse (vgl Deci & Ryan 2002, Krapp 1992, 2005a):

� Das Bedürfnis nach Kompetenz und Wirksamkeit (competence) betrifft das Kompetenzerleben eines Menschen Da-runter versteht man seine grundsätzliche Handlungsfähigkeit und den Wunsch, den gestellten Aufgaben gewachsen zu sein sowie diese durch eigenes Bemühen bewältigen zu können (vgl Deci & Ryan 2002, Krapp 1992, 2005a) � Das Streben nach Autonomie und Selbst-bestimmung (autonomy) stellt eine wich-tige Voraussetzung für das Kompetenz-erleben dar Skinner und Edge (2002: 301) definieren dies als „the desire to act according to their genuine desires and

preferences“, Krapp (2005a) spricht vom Wunsch nach Selbstständigkeit, der be-reits von früher Kindheit an besteht � Der Wunsch nach sozialer Eingebunden-heit (social relatedness) gilt als drittes Grundbedürfnis und betrifft den Wunsch nach zufriedenstellenden Sozialkon-takten Jeder Mensch braucht die Inte-gration in ein soziales System, wofür er/sie auch bereit ist, Handlungsmuster und Wertesysteme bestimmter Gruppierun-gen zu übernehmen (vgl Krapp 2005a)

Dieses „primär emotionsgesteuerte Rück-melde- und Gratifikationssystem“ (Krapp 2005a: 634) gilt als Ausgangspunkt von Ener-gie und Richtung für Motive und Zielsetzun-gen Nachfolgende Grafik wurde zur Ver-deutlichung erstellt

Grafik 1: Darstellung der Funktionsweise der Basic

Needs als Grundlage für Richtung und Energie (un-

terbrochene Pfeile) von motivationalen Handlungen.

Die Verbindung zur Person (P), die mit der Umwelt (U)

in ständigem Austausch steht, fungiert mittels einer Art

Regulationssystem, das über die Passung des Verhal-

tens Rückmeldungen an die Basis liefert.

Die Basis der Bedürfnisse, die in den Ba-sic Needs individuell festgelegt ist, steht in

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Christine Schober DAS LESETAGEBUCH ALS BEITRAG ZUR INDIVIDUELLEN LESEFÖRDERUNG

PROJEKTE

permanentem Austausch mit dem Indivi-duum und dessen Bezug zur Umwelt Da-bei wird eine Art Regulationssystem durch-laufen, das abklärt, inwieweit das Handeln der Person mit den drei psychologischen Grundanliegen kompatibel ist Ein motiva-tionales Antriebssystem (unterbrochene Linie) ermöglicht die Entwicklung bestimm-ter zielgerichteter Handlungspläne So ent-faltet sich ein Regelkreis, durch den Rück-meldungen an die Person erfolgen, ob die aktuellen Handlungen den grundsätzlichen Erfordernissen entsprechen oder einer Kor-rektur bedürfen Folglich ist es von diesem Regelsystem abhängig, den Bezug zu ei-nem bestimmten Gegenstand2 aufzubau-en bzw weiter zu pflegen und daraus unter bestimmten Umständen Interesse zu entwi-ckeln (vgl Krapp 1992) Im Individuum äu-ßert sich diese Rückmeldung in unterschied-lichen Graden von Wohlbefinden Herrscht hohe Übereinstimmung zwischen den Per-son-Umwelt-Interaktionen und den Zielen von optimalem Wachstum, stellt sich Zufrie-denheit und wohltuendes Empfinden ein, bei geringer Kongruenz ist die Gefühlslage irritiert (vgl Krapp 2005a: 631) In diesem Zu-sammenhang weisen Deci und Ryan (2002) darauf hin, dass Erfahrung von Kompetenz und Autonomie die intrinsische Motivation ansteigen lassen, was höchst förderlich für sämtliche Lernprozesse ist

Es gilt als erwiesen, dass Interessen eine positive Komponente im motivationalen Geschehen darstellen Das Einbinden von neuen Lerninhalten in bereits bestehende Schemata erfolgt schneller und erfolgrei-cher Auch Lösen komplexer Inhalte und Ermitteln unkonventioneller Lösungsopti-onen gelingt bei vorhandenem Interesse wesentlich besser (vgl Krapp 2005b) Wie sollen nun die unterschiedlichen Interessen Berücksichtigung im Leseunterricht erfah-ren? Wie können neben den kognitiven auch die motivationalen, emotionalen und

interaktiven Aspekte des Lesekompetenz-modells verwirklicht werden? Dazu wird nachfolgend das interessengeleitete Lese-tagebuch vorgestellt

Lesetagebuch

Dieses Instrument stellt kein Tagebuch im herkömmlichen Sinne dar (vgl Block 2004), sondern der Einsatz ist sowohl für offenen als auch für gebundenen Unterricht verstan-den Da nach Krapp (2005b: 635) eine Per-son sich nur dort Handlungsfreiheit wünscht, „wo sie glaubt, anstehende Aufgaben mit hinreichender Wahrscheinlichkeit erfolgreich bewältigen zu können“ (Krapp 2005b: 635), werden die Aufträge vorstrukturiert Damit soll sichergestellt werden, dass alle Schüle-rInnen Kompetenz im Sinne der grundlegen-den psychologischen Bedürfnisse erleben können Das Autonomieerleben ist durch die Wahlmöglichkeit von Aufgaben gege-ben Ein während der Bearbeitung oder im Anschluss erfolgender Austausch über die Ergebnisse entspricht der interaktiven Komponente Die Ausführung erfolgt in Ein-zel- oder auch in Gruppenarbeit und kann sowohl für kurze Texte als auch für Bücher konzipiert werden Die Eintragungen können in einem Heft oder auf Blättern erfolgen, die in einer Mappe gesammelt werden Somit schaffen SchülerInnen eine Art Journal zu den bearbeiteten Texten, was die Wertigkeit von Lesen wiederum erhöht Die Aufgaben-stellungen müssen drei Typen enthalten, die auch in der Komplexität unterschiedliche Dimensionen aufweisen:

� Kognitive Aufgaben, wie beispielsweise Fragen zur inhaltlichen Erfassung � Aufträge affektiver Art, die die unter-schiedlichen Gefühlslagen aufgreifen und � Angebote zur freien Gestaltung, bei de-nen der Phantasie keine Grenzen gesetzt sind

2 Als ‚Gegenstand‘ werden in diesem Verständnis alle kognitiven Schemata bezeichnet, die im Repräsentationssystem eines Menschen als strukturierte Einheit abgebildet sind (vgl Krapp 1992: 305)

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DAS LESETAGEBUCH ALS BEITRAG ZUR INDIVIDUELLEN LESEFÖRDERUNG Christine Schober

PROJEKTE

Bei der Bearbeitung von Texten in dieser Weise ist auch die Rückmeldung der Lehr-person besonders wichtig Diese darf kei-neswegs wertend oder in Form einer Noten-beurteilung stattfinden, sondern muss direkt auf den Inhalt Bezug nehmen und eventuell dadurch noch zum Weiterarbeiten anregen Tabelle 1 zeigt eine Auswahl an möglichen Arbeitsaufträgen, die auf die jeweilige Lek-türe und die Entwicklungsstufe der Schüle-rInnen zugeschnitten und erweitert werden kann und soll (vgl Schober 2009: 87ff)

Der Einsatz dieses Lesetagebuches wurde an der Volksschule Faistenau im Schuljahr 2006/2007 im Rahmen einer Masterarbeit er-probt und lieferte sehr erfreuliche Ergebnisse Es ist in hohem Maße gelungen, unterschied-liche Interessen und Kompetenzniveaus in einem Instrument zu vereinen und Arbeitsan-gebote fern von geschlechtstypischen Zu-schreibungen zu stellen Der erfolgreiche Einsatz dieses Tagebuches hängt wesentlich von der Auswahl der Geschichten ab, inwie-weit sich die Kinder mit den ProtagonistInnen identifizieren und/oder phantastische Ele-mente aufgreifen und als reizvoll erachten Konstant hoch fielen die Werte für positive Emotionen und Kompetenzerleben aus

Zusammenfassend soll festgehalten werden, dass die Beachtung von Motivation, Emoti-on und Interaktion möglichst in allen Unter-richtssituationen stattfinden soll Besondere Bedeutung erhalten diese Komponenten jedoch im Leseunterricht Dabei kann dieser Beitrag möglicherweise als Anregung die-nen, das interessengeleitete Lesetagebuch selbst zu erproben

Literatur:

Block Iris (2004): Lesetagebücher im 2 Schuljahr In: Grundschulzeitschrift 51 11 27-34

Deci Edward & Ryan Richard (1993): Die Selbstbestimmungstheorie der Motivation und ihre Bedeutung für die Pädagogik In: Zeitschrift für Päd-agogik 39 2 223-238

Deci Edward & Ryan Richard (2002): Overview of Self-Determination The-ory: An Organismic Dialectical Perspective In: Edward Deci & Richard Ryan (Hg ): Handbook of Self-Determination Research Rochester: Univer-sity Press 3-33

Hurrelmann, Bettina (2002): Leseleistung – Lesekompetenz Folgerungen aus PISA, mit einem Plädoyer für ein didaktisches Konzept des Lesens als kultureller Praxis In: Praxis Deutsch 176 6–18

Kluge, Friedrich (2002): Etymologisches Wörterbuch der Deutschen Spra-che 24 Auflage [CD-ROM] Berlin: Schneider

Krapp, Andreas (1992): Das Interessenkonstrukt Bestimmungsmerkmale der Interessenhandlung und des individuellen Interesses aus der Sicht ei-ner Person-Gegentands-Konzeption In: Andreas Krapp & Manfred Prenzel (Hg ): Interesse, Lernen, Leistung Neuere Ansätze der Pädagogisch-Psy-chologischen Interessenforschung Münster: Aschendorff 297-329

Krapp Andreas (2005a): Das Konzept der grundlegenden psychologi-schen Bedürfnisse In: Zeitschrift für Pädagogik 51 5 626-641

Krapp Andreas (2005b): Die Bedeutung von Interesse für den Grundschul-unterricht In: Grundschulunterricht 52 10 4-8

Schober, Christine (2009): Leseverhalten von Grundschulkindern Eine em-pirische Studie unter den Aspekten Geschlecht und Interesse Saarbrü-cken: VDM Verlag Dr Müller

Skinner Ellen & Edge Kathleen (2002): Self-Determination, Coping, and Development In: Edward Deci & Richard Ryan (Hg ): Handbook of Self-Determination Research Rochester: University Press 297-337

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Myriam Burtscher, Barbara Herzog DIFFERENZIERUNG DURCH KOMPLEXITÄT

PROJEKTE

Heterogenität als Normalität

Die Leistungsheterogenität in Schulklassen und Lerngruppen ist eine mittlerweile un-umstrittene Tatsache Largo (2009) zeigt in seinen Langzeitstudien zur kindlichen Ent-wicklung eindrucksvoll, wie stark Vielfalt ausgeprägt sein kann: So ergab etwa eine Untersuchung 20 Siebenjähriger ein Entwick-lungsalter von 5 5 bis 8 5 Jahren (vgl Largo 2009: 32) Um diese interindividuelle Hete-rogenität auszugleichen, sieht unser Schul-system verschiedenste Mechanismen vor Zurückstellung, Klassenwiederholung oder der Unterricht in Leistungsgruppen sollen ei-ner Homogenisierung dienen, wie Tillmann (2004: 6) in seinem Beitrag „Schule jagt Fik-tion – Die homogene Lerngruppe“ ausführt All diese Maßnahmen ändern jedoch nichts an der Tatsache, dass sich nach wie vor in allen Klassen SchülerInnen mit unterschied-lichsten Lernvoraussetzungen, Vorkenntnis-sen, Motivationslagen und Interessen fin-den, die sich trotz dieser Maßnahmen nicht homogenisieren lassen Der Umgang mit Heterogenität stellt demnach eine große Herausforderung – nicht nur an den Mathe-matikunterricht – dar

Differenzierung als Notwendigkeit im Umgang mit Heterogenität

Während das Schulsystem dieser Hetero-genität vor allem mit äußerer Differenzie-rung (wie oben ausgeführt) begegnet, ver-

suchen Lehrkräfte den unterschiedlichen Lernvoraussetzungen durch innere Differen-zierung gerecht zu werden Dies geschieht häufig durch Organisationsformen von of-fenem Unterricht, wie etwa der Wochen-plan- oder Werkstattarbeit Peschel (2009: 9ff ) sieht in diesen Unterrichtsformen Kri-terien wie etwa Eigenverantwortung oder auch Differenzierung jedoch nur bedingt umgesetzt Er verwendet hier die Bezeich-nung „geöffneter Unterricht“ als Vorstufe für offenen Unterricht Die Öffnung bezieht sich dabei auf den nach seinem Erachten we-niger wichtigen Aspekt der Unterrichtsorga-nisation (vgl Peschel 2009:88) Die Differen-zierung wird „von oben“ (vgl Peschel 2004: 21ff ) inszeniert, indem LehrerInnen den Lehr-stoff in von ihnen festgelegten „Portionen“ bzw Schwierigkeitsgraden und in Form von unterschiedlichen Arbeitsmaterialien und –mitteln anbieten Peschel (2004: 21ff ) be-zweifelt jedoch, dass den unterschiedlichen Bedürfnissen und Lernvoraussetzungen von SchülerInnen durch diese Differenzierung von oben entsprochen werden kann Er sieht hier nicht schülerzentrierten und damit differenzierten Unterricht realisiert, sondern vielmehr „materialzentrierten Unterricht“ (vgl Peschel 2009: 9ff)

Materialeinsatz im differenzierten (Ma-thematik-)Unterricht

Diese kritische Ansicht wird beispielsweise auch von Krauthausen & Scherer geteilt, die

Differenzierung durch KomplexitätHeterogenität im Mathematikunterricht begegnen

Myriam Burtscher, Barbara Herzog

Mit der Implementierung der Bildungsstandards in Österreich und der Entwicklung von Kompe-tenzmodellen, die diesen Standards zugrunde liegen, wurde die Forderung nach kompetenzori-entiertem Unterricht laut – einem Unterricht, der neben inhaltlichen auch methodische, soziale oder kommunikative Kompetenzen fördert. Gleichzeitig gilt es, den individuellen Bedürfnissen von SchülerInnen in sehr heterogenen Lerngruppen gerecht zu werden. Für den Mathematikun-terricht wurden in den letzten Jahren Modelle und Aufgabenformate entwickelt, die einerseits Differenzierung ganz „natürlich“ zulassen und dabei die Kompetenzentwicklung unterstützen.

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DIFFERENZIERUNG DURCH KOMPLEXITÄT Myriam Burtscher, Barbara Herzog

PROJEKTE

die Diskussion über den Umgang mit Hete-rogenität und Differenzierung sehr stark in organisatorisch-methodischer Hinsicht wahr-nehmen: „Praxisberichte und Fortbildungen machen Vorschläge zur Organisation von Lernstationen, Werkstattarbeit, Lerntheken und (letztlich) zur Vergrößerung der Material-flut “ (Krauthausen, Scherer 2010a: 3)

Große Mengen an Materialien (z B Arbeits-blätter, Lernspiele) sind in den letzten Jahren auch auf verschiedensten Internetplattfor-men einfach und häufig kostenlos erhältlich Durch diese einfache Zugänglichkeit besteht möglicherweise die Gefahr, dass Arbeitsblät-ter und Materialien unreflektiert übernom-men werden und die Differenzierung in erster Linie durch den Materialeinsatz stattfindet So werden beispielsweise den SchülerInnen Arbeitsblätter in unterschiedlichen Schwie-rigkeitsgraden angeboten Dabei – so die Kritik von Krauthausen & Scherer (2010a) – ist jedoch nicht gesichert, dass diese vordefi-nierten Schwierigkeitsgrade auch den Be-dürfnissen der SchülerInnen entsprechen

Darüber hinaus ist darauf zu achten, dass Kri-terien, die generell für Unterrichtsmaterialien gelten, nicht ins Hintertreffen geraten: Die Materialien und Veranschaulichungen im Mathematikunterricht sollen der Entwicklung und Festigung von Zahl- und Operationsver-ständnis dienen Ziel ist es, dass sich die Kin-der, ausgehend von konkreten Handlungen an Materialien letztlich von diesen lösen und die Aufgaben mit guten Strategien im Kopf bewältigen können (vgl Schipper 2009: 288) Materialien sollen den Kindern also als Hilfe beim Aufbau von leistungsfähigen menta-len Vorstellungen dienen und nicht nur dem Lösen einer bestimmten Aufgabenstellung Dafür ist es unter anderem notwendig, dass die an den Materialien vollzogenen Hand-lungen strukturell mit den angestrebten Operationen übereinstimmen und dass im Material an sich die grundlegenden mathe-matischen Strukturen repräsentiert sind (vgl Schipper: 302)

In den angeführten bzw empfohlenen Un-terrichtsformen und im materialgeleiteten Unterricht besteht also die Gefahr, dass die Differenzierung an Material festgemacht wird und die Bedürfnisse der SchülerInnen in den Hintergrund geraten (vgl Krauthausen, Scherer: 2010a)

Auf inhaltlicher Ebene findet die Differen-zierung häufig durch die Reduktion von Komplexität und damit einem reduzierten Lernangebot besonders für langsame oder schwache LernerInnen statt Bezogen auf mathematische Inhalte wird eine solche Reduktion zum Teil sehr kritisch bewertet, da die Gefahr besteht, dass damit ein inhalt-licher Verlust einhergeht (vgl Krauthausen, Scherer 2010: 5)

„Natürliche“ Differenzierung im Mathe-matikunterricht

Die bisher gängigen Formen innerer Diffe-renzierung werden v a in Bezug auf den Mathematikunterricht nun um das Modell der „natürlichen Differenzierung“ erweitert (vgl Krauthausen, Scherer 2010) Mathe-matikunterricht, der diesem Prinzip folgt, soll einerseits mathematisch angemessene Komplexität erhalten und gleichzeitig Diffe-renzierung ermöglichen Die Differenzierung findet dabei „von unten“ – also in der Art und Weise, in der SchülerInnen eine Aufga-be oder Lernumgebung bearbeiten, in der Wahl individueller Lernwege und Bearbei-tungsstrategien - statt

Lernumgebungen, die zum Ziel haben, alle Kinder zu fördern und nach dem Prinzip der natürlichen Differenzierung aufgebaut sind, unterscheiden sich demnach wesentlich von Aufgaben, die nach der inneren Diffe-renzierung vorgehen: Alle SchülerInnen ar-beiten an einem Arbeitsauftrag, der Wahl-möglichkeiten bietet und so die natürliche Differenzierung ermöglicht (vgl Wittmann, Müller 2004: 15) Scherer und Moser Opitz (2010: 57f) beschreiben solche Aufgaben

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Myriam Burtscher, Barbara Herzog DIFFERENZIERUNG DURCH KOMPLEXITÄT

PROJEKTE

als besonders geeignet für den fördernden Mathematikunterricht

Aufgabenstellungen, die diese natürliche Differenzierung ermöglichen sollen, müssen auch gewissen innermathematischen oder sachbezogenen Kriterien entsprechen So haben Hirt und Wälti den auf Kompetenz-erwerb und die mathematische Tätigkeit ausgerichteten Lernumgebungen folgende Kriterien zu Grunde gelegt:

� „Mathematische Substanz mit sicht-bar werdenden Strukturen und Mustern (fachliche Rahmung) � Orientierung an zentralen Inhalten � Hohes kognitives Aktivierungspotential � Orientierung der Tätigkeit an mathemati-schen und inhaltlichen Prozessen � Eigentätigkeit aller Lernenden � Förderung individueller Denk- und Lern-wege sowie eigener Darstellungsformen � Zugänglichkeit für alle: Ermöglichen ma-thematischer Tätigkeit auch auf elemen-tarer Ebene durch die Möglichkeit an Vorkenntnisse anknüpfen zu können � Herausforderungen für schnell Lernende mit anspruchsvollen Aufgaben � Ermöglichen des sozialen Austauschs und des Kommunizierens über Mathematik“ (Hirt, Wälti 2008: 14)

Bei Ulm (2008) wird deutlich, dass auch sol-che Aufgaben gut geeignet sind, die eine „Modellierung außermathematischer Situ-ation erfordern, um die Bedeutung der Ma-thematik für ein Verständnis der „Welt“ er-lebbar zu machen“ (Ulm 2008: 8)

Ein Unterrichtsbeispiel aus der Praxis

Nachfolgende Aufgabenstellung ist dem Buch „Gute Aufgaben Mathematik – Hete-rogenität nutzen“ (Ulm 2008: 37ff) entnom-men und wurde im Schuljahr 2009/10 im Rahmen der unverbindlichen Übung „Ma-thematik Begabungsförderung“ an einer Salzburger Volksschule ausprobiert

Thema und Intention:

Entsprechend den Kompetenzbereichen der österreichischen Bildungsstandards für Mathematik, lassen sich diesem Beispiel alle vier allgemeinen Kompetenzbereiche zuord-nen In der Erarbeitungsphase kommen vor allem das Modellieren (Entnahme relevanter Information aus einer Sachsituation, Finden passender Lösungswege), das Operieren (Durchführung arithmetischer Operationen und Verfahren) und das Problemlösen (Be-zug zu einem innermathematischen Problem, Anwendung geeigneter Lösungsaktivitäten und zielführender Denkstrategien) zum Tra-gen In der Phase der Partnerarbeit und der Präsentation spielt darüber hinaus auch das Kommunizieren (Beschreibung und Protokol-lierung der Vorgehensweise, Vergleich und Begründung von Lösungswegen) eine große Rolle (vgl Bifie 2009: 17) Bei Ulm (2008) wird zudem besonders der Aspekt des Problem-lösens hervorgehoben: Problemorientierte Aufgaben zeichnen sich dadurch aus, dass den Kindern zunächst kein Standardverfah-ren zur Bewältigung bekannt ist Ob eine Auf-gabenstellung zu einem Problem wird, hängt also stark vom Vorwissen der SchülerInnen ab, welches im Lösungsprozess neu struktu-riert, geordnet und kombiniert werden muss (vgl Ulm 2008: 37)

Durchführung:

Ausgehend von der dargestellten Aufgabe versuchten 18 Kinder (14 Buben, 4 Mädchen) einer sehr heterogenen Lerngruppe (2 bis 4

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DIFFERENZIERUNG DURCH KOMPLEXITÄT Myriam Burtscher, Barbara Herzog

PROJEKTE

Schulstufe) diese offene Knobelaufgabe zu lösen Um den Kindern eine eigenständige Auseinandersetzung mit der Problemstel-lung und ein Anknüpfen an das individuel-le Vorwissen zu ermöglichen, arbeiteten die SchülerInnen in der ersten Phase alleine Bereits hier zeigten sich sehr unterschiedli-che Denk- und Lösungsansätze Auch in ih-rer Herangehensweise unterschieden sich die SchülerInnen stark voneinander Die Art der Aufgabenstellung, die sich deutlich von den sonst üblichen Aufgaben im Unterricht unterschied, verunsicherte die SchülerInnen anfangs, vor allem hinsichtlich der Tatsache, dass es nicht den einen richtigen und zuvor erlernten Lösungsweg zu geben schien

In einer zweiten Phase tauschten sich die SchülerInnen mit einem bzw einer selbst ge-wählten PartnerIn aus und arbeiteten ge-meinsam am Lösungsweg weiter Dabei wur-den unterschiedliche Strategien sichtbar

Exemplarische Bearbeitungsansätze:

Von den 18 beteiligten SchülerInnen haben 10 ohne Hilfestellungen den gesamten Lö-sungsweg eigenständig bewältigt Bei wei-teren 4 SchülerInnen waren bis zu zwei Inter-ventionen der Lehrerin notwendig, um die Bearbeitung der Aufgabe abzuschließen 4 SchülerInnen haben darüber hinaus Hilfe-stellungen benötigt und 2 von ihnen waren zudem nicht in der Lage, am Ende des Be-arbeitungsprozesses ihre Lösungen richtig zu interpretieren

Zwei Schüler der zweiten Klasse näherten sich der Problemstellung zeichnerisch und malten auf ein Plakat immer wieder die drei unterschiedlichen Fahrzeuge, bis die gefor-derte Anzahl der Räder (52) erreicht war Al-lerdings mussten sie dazu öfter nachzählen, was zu einigen Fehlern führte

Ganz anders gingen zwei Schüler der dritten Klasse vor, die sich zunächst ihre unterschied-lichen Lösungsansätze gegenseitig erklärten

und offensichtlich in der Lage waren, den Denk- und Lösungsweg des Partners nach-zuvollziehen In dem von ihnen zur Präsenta-tion gewählten Lösungsweg multiplizierten sie die Anzahl der Autoreifen (4) mit einer angenommenen Größe (10) Die so erhalte-nen 40 Räder, zogen sie von der Ausgangs-zahl 52 ab Die restlichen 12 Räder teilten Sie auf die beiden verbleibenden Fahrzeugty-pen auf und kamen zu dem Ergebnis, dass 10 Autos, 2 Dreiräder und 3 Roller vor dem Kindergarten stehen könnten Anschließend berechneten sie noch 3 weitere Möglichkei-ten

Im Gegensatz dazu stand der Lösungsan-satz zweier Schüler der vierten Klasse: Diese hatten offenbar zuvor den Algorithmus der schriftlichen Division gelernt und waren sich darin einig, dass bei dieser Aufgabenstellung die Division anzuwenden sei (Wir interpretie-ren das als Ergebnis eines schulischen Lern-prozesses, in dem Sach- und Textaufgaben häufig in engem Zusammenhang mit direkt davor Erlerntem bearbeitet werden ) Sie zählten zunächst die Anzahl der Räder aller Fahrzeugtypen zusammen (7) und dividier-ten die Gesamtzahl der Räder (52) durch 7 Diese Division mit Rest stellte für die Kinder kein Problem dar Jedoch waren sie nicht in der Lage, den Zusammenhang zur Aufga-be herzustellen So konnten sie auch nach mehrmaliger Anregung ihr Ergebnis nicht in-terpretieren und waren sich nicht im Klaren darüber, was der Rest in Bezug auf die Auf-gabe zu bedeuten hatte

In einer dritten Phase stellten die SchülerIn-nen ihre Arbeitsergebnisse auf einem Plakat dar und präsentierten dieses der gesamten Gruppe Dadurch wurden erste Diskussionen und Gespräche über die unterschiedlichen Lösungswege angeregt Besonders jene Kinder, die ihre Lösungswege eigenständig gefunden hatten, waren sichtbar an denen der anderen SchülerInnen interessiert Letzt-lich konnten in dieser Phase alle SchülerIn-nen ein Plakat präsentieren, da alle zu ei-

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Myriam Burtscher, Barbara Herzog DIFFERENZIERUNG DURCH KOMPLEXITÄT

PROJEKTE

nem Ergebnis gekommen waren Durch die Diskussion und nach der Präsentation der jeweils anderen stellte sich sogar bei den beiden Viertklässlern, welche ihr Ergebnis zu-nächst nicht interpretieren hatten können, ein „Aha-Erlebnis“ ein: Sie verstanden nun, was der von ihnen errechnete „Rest“ in Be-zug auf die Aufgabenstellung zu bedeuten hatte

Resümee

Kompetenzorientierte Aufgaben und Lern-umgebungen eigenen sich dazu, Kindern in heterogenen Lerngruppen Mathematik auf „ihrem Niveau“ zu ermöglichen Aus-gehend von ihren Vorerfahrungen nähern sie sich den Aufgabenstellungen auf ganz individuelle Art und Weise Lernumgebun-gen und gute Aufgaben sollten daher als Lernanlässe gemeinsamen Mathematiktrei-bens andere Unterrichtsformen ergänzen Um die entsprechenden allgemeinen ma-thematischen Kompetenzen aufbauen zu können, ist es notwendig, dass SchülerInnen die Möglichkeiten bekommen, auch im Be-reich der Mathematik auf unterschiedliche Art und Weise tätig zu sein Zudem wird es

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Peschel, Falko (2009): Offener Unterricht Idee – Realität – Perspektive und ein praxiserprobtes Konzept zur Diskussion 5 Auflage Baltmannsweiler: Schneider (Basiswissen Grundschule)

Schipper, Wilhelm (2009): Handbuch für den Mathematikunterricht an Grundschulen Braunschweig: Westermann/Schrödel

Scherer, Petra; Moser Opitz, Elisabeth (2010): Fördern im Mathematikun-terricht der Primarstufe Heidelberg: Spektrum (Mathematik Primar- und Sekundarstufe)

Tillmann, Klaus-Jürgen (2004): System jagt Fiktion Die homogene Lerngrup-pe In: Friedrich-Jahresheft (2004) XXII 6ff

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http://www mathematik tu-dortmund de/ieem/cms/media/BzMU/BzMU2010/BzMU10_KRAUTHAUSEN_Guenter_Differenzierung pdf

entscheidend sein, dass LehrerInnen zuneh-mend unterschiedliche Denk- und Lösungs-ansätze nicht nur zulassen, sondern diese auch fördern und unterstützen

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INKLUSIVE PÄDAGOGIK Irene Moser

KOOPERATIONEN

1 Die Gründung und die Aufgaben der European Agency

Die eingangs angesprochenen HELIOS Pro-jekte wurden 1996 nicht mehr weitergeführt, weshalb eine Lücke geschlossen werden musste Innovative PädagogInnen und Bil-dungsverantwortliche gründeten deshalb in Zusammenarbeit mit den jeweiligen Mi-nisterien die Agentur „European Agency for Development in Special Needs Education“ (EA) Diese versteht sich als selbst verwaltete Einrichtung, die seitdem von den Mitglieds-staaten der Europäischen Union sowie Is-land, Norwegen und Schweiz als Plattform für die Zusammenarbeit im Bereich der son-derpädagogischen Förderung genutzt wird

Die Organisation ermöglicht und unterstützt den Wissenstransfer und bietet den Mit-gliedsländern verschiedene Möglichkeiten des Informations- und Erfahrungsaustau-sches im Rahmen von Tagungen und Semi-naren für ExpertInnen oder durch virtuelle Plattformen Auf der Website der EA sind Länderinformationen im Bereich der Sonder- bzw Integrationspädagogik genauso abruf-bar wie die Ergebnisse diverser Projekte im Bereich der Frühförderung, Aktivitäten im schulischen Bereich oder Maßnahmen zur Unterstützung für Studierende mit Behinde-rungen im tertiären Bildungsbereich (www european-agency org)

Nominierte Fachleute des Bildungsministe-riums (bmukk), der Pädagogischen Hoch-schulen und Sonderpädagogischen Zent-ren in Österreich arbeiteten von Beginn an aktiv in der EA mit und unterstützten diese Projektaktivitäten mit dem Ziel, die Lernbe-dingungen für Kinder und Jugendliche mit besonderen Bedürfnissen zu verbessern Die Leitprinzipien von Chancengleichheit, Par-tizipation und Inklusion orientieren sich an den europäischen Deklarationen zur son-derpädagogischen Förderung, welche die inklusive Bildung stark ins Zentrum des Inter-esses rücken

2 Internationale Deklarationen unterstützen den inklusiven Ansatz

Zu nennen wären beispielsweise die Sala-manca Deklaration, die sich für eine ge-meinsame, stärkenorientierte Bildung aller Kinder ausspricht, die Chancengleichheit fördert und individuelle Unterschiede wert-schätzt Wegweisend sind auch die zentralen Botschaften im Europäischen Jahr der Men-schen mit Behinderungen (2003): „Gleich-stellung durchsetzen, Selbstbestimmung ermöglichen und Teilhabe verwirklichen“ sowie die UN-Standardregeln (1993), welche besagen, dass allgemeine Bildungssysteme grundsätzlich für die Bildung jedes einzelnen Schülers/ jeder Schülerin verantwortlich sind In den Dokumenten, die sich auch auf die

Impulse der internationalen Zusammenarbeit für inklusive Pädagogik in ÖsterreichIrene Moser

Die internationale Zusammenarbeit im Bereich der Sonderpädagogik hat bereits eine lange Tra-dition. Schon vor dem Beitritt Österreichs zur Europäischen Union haben österreichische Vertre-terInnen an HELIOS Programmen (Bildungsprogramme der EU mit dem Schwerpunkt Sonder-pädagogik) teilgenommen und den Wert der europäischen Vernetzung erkannt (vgl. Bürli 2010). Der folgende Beitrag soll exemplarisch zeigen, welche Impulse von internationalen Projekten und Deklarationen ausgegangen sind und wie sie die sonderpädagogische Förderung in Österreich beeinflusst haben.

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Irene Moser INKLUSIVE PÄDAGOGIK

KOOPERATIONEN

Menschenrechtskonvention von 1949 bezie-hen, finden sich Empfehlungen zur Weiter-entwicklung von demokratischen Grundsät-zen, zum Abbau von Bar rieren für Menschen mit Behinderungen, zur Wertschätzung der Vielfalt als Chance für multikulturelle Ge-meinschaften und zur Entwicklung von in-klusiven Kulturen Sie betonen die Wertigkeit der inklusiven Bildung als eine Grundlage für ein friedliches soziales Miteinander, das vor allem als normatives Konzept verstanden wird (Vgl Meijer 2010)

3 Von der Integration zur Inklusion

Die Bedeutung von Inklusion geht in die-sem Kontext gesellschaftspolitisch und im pädagogischen Sinne weiter als der Begriff Integration Hinz beschreibt Integration als Hereinnehmen eines „nicht Gleichwertigen“ (Hinz 2002a) unter den Bedingungen einer sozialen Gruppe, welche die Norm vorgibt Diejenigen, die außerhalb der Norm stehen, benötigen Unterstützung bei der Anpassung Festgestellte Defizite Einzelner sollen verbes-sert werden, um ihnen den Verbleib in der Gruppe zu ermöglichen, wie es die Integrati-on von Kindern mit Förderbedarf vorsieht

Inklusion meint das selbstverständliche und gleichwertige Recht aller, Teil der sozialen Gruppe zu sein und gleiche Bildungschan-cen vorzufinden Für die österreichische Schule würde das bedeuten, dass auch Kin-der und Jugendliche mit schweren Behinde-rungen oder mit schweren Verhaltensauffäl-ligkeiten, mit Migrationshintergrund oder aus bildungsfernen Haushalten selbstverständ-lich in der Regelschule unterrichtet werden können und die notwendigen Maßnahmen zur Integration bereit gestellt werden Dazu müssen sich auch die schulischen Strukturen ändern Das ist eine Vision, die auch von al-len getragen wird, die hinter einer Pädago-gik der Vielfalt stehen (Vgl Prengel 1995)

Zudem wäre es nicht nur Aufgabe der Schu-le, für eine optimale Inklusion zu sorgen, auch

die Gemeinden und deren Mitglieder sollten dafür verantwortlich zeichnen Dass dies kei-ne leichte Aufgabe ist und es eines immer-währenden Entwicklungsprozesses bedarf, konnte ich als Schulentwicklungsberaterin in mehreren Prozessen von Schulen und als na-tionale Koordinatorin der European Agency in den oben genannten Projekten erfahren

3 1 Projekte vorzeigenswerter Praxis

Reutte in Tirol ist in den „sonderpädagogi-schen Communities“ als ein Bezirk bekannt, in dem bereits in den 1990er Jahren alle Son-derschulen aufgelöst worden sind, um die Kinder mit sonderpädagogischem Förder-bedarf in den Regelschulen zu unterrichten Seitdem wurden noch weit mehr Initiativen gesetzt Die Region Außerfern z B hat ein Inklusionsleitbild erstellt, in dem es um mehr soziale Integration von Menschen geht, die tendenziell eher am Rande der Gesellschaft stehen, wie alte Menschen, psychisch Kran-ke und Drogenabhängige, Menschen mit Migrationshintergrund und mit Behinderun-gen Die European Agency hat in einem dreijährigen Projekt (2006-2009) zum Thema Assessment mit den Lehrkräften der Region zusammengearbeitet, um deren Know-how an andere ExpertInnen weitergeben zu kön-nen und Impulse zur Qualitätsentwicklung der Integration von Kindern und Jugendli-chen mit schweren Behinderungen in den Volks- und Hauptschulen in Reutte zu geben (Vgl Moser 2009: 48)

Ebenfalls zum europäischen Vorzeigeprojekt hat sich Wiener Neudorf entwickelt Ausge-hend von einer Schulentwicklungsinitiative mit dem Ziel einer verbesserten Integration der Kinder und Jugendlichen in Kindergär-ten, Volks- und Hauptschulen erweiterte sich das Projekt auf die Gemeindeebene mit der wissenschaftlichen Begleitung der Pä-dagogischen Hochschule Niederösterreich Die MitarbeiterInnen haben sich am „In-dex für Inklusion“ (vgl Booth/Ainscow 2003) orientiert Das ist ein Analyse- bzw Reflexi-

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INKLUSIVE PÄDAGOGIK Irene Moser

KOOPERATIONEN

onsinstrument, um über die verschiedenen Arbeitsfelder der integrativen Pädagogik in Schulentwicklungsprozessen strukturiert reflektieren zu können Nachzulesen ist der derzeitige Stand der Entwicklung auf der Website: http://www wiener-neudorf gv at/system/web/zusatzseite aspx?menuonr=218605890&detailonr=218608690

Die EA hat in Zusammenarbeit mit der UNESCO die Wiener Neudorfer Initiative im Projekt „Inklusive Bildung in Aktion“ aufgegrif-fen und mit anderen europäischen Projek-ten vorzeigenswerter Praxis publiziert (http://www inclusive-education-in-action org)

4 Das Projekt QSP

Das Zentrum für Schulentwicklung in Zusam-menarbeit mit der Pädagogischen Akade-mie der Diözese Graz- Seckau startete 2005 eine ExpertInnenstudie zum Thema „Qualität in der Sonderpädagogik“ (QSP) Auf Basis dieser Ergebnisse wurden unter der wissen-schaftlichen Leitung von Werner Specht ös-terreichweite Arbeitsgruppen eingerichtet, die sich über ein Jahr mit folgenden zentra-len Themen der Förderpädagogik befassten:

� Integrativer Unterricht als Leitform son-derpädagogischer Förderung � Flexibilisierung der Ressourcenvergabe � Sonderpädagogische Zentren als Quali-tätsagenturen � Objektiviertes Verfahren zur Feststellung von Fördernotwendigkeiten � Individuelle Förderpläne – Prozessstan-dards für die sonderpädagogische För-derung � Optimale Nutzung von Ressourcen und Förderpotentialen in voll ausgebauten In-tegrationsklassen � Mindeststandards für materielle und per-sonelle Ausstattung (Vgl Feyerer/Specht 2009: 39)

Die Entwicklung der Rahmenstandards in den Regelschulen führte in den sonderpä-

dagogischen Fachkreisen zu intensiven Dis-kussionen, ob für Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf Stan-dardtestungen durchgeführt werden sollten Problematisch erschien den österreichischen ForscherInnen und Bildungsverantwortlichen des bmukk vor allem der wissenschaftlich-methodische Zugang für Testungen von SchülerInnen mit Lernbehinderungen oder schweren geistigen Behinderungen (vgl Specht et al 2006: 69f ) Das bmukk hat sich in den Folgejahren deshalb für die Einführung der Prozess- und Rahmenstandards und die verpflichtende Einführung der individuellen Förderpläne ausgesprochen Im Rundschrei-ben Nr 18/2008 wird detailliert beschrieben, was unter Qualität verstanden werden soll (Nachzulesen unter: http://www cisonline at/fileadmin/kategorien/RS_18_2008_Quali-taetsstandards_5 8 08 pdf)

Internationale Entwicklungen und Projekte der EA, wie beispielsweise „Inclusive Edu-cation and Classroom Practise“ und „As-sessment in Inclusive Settings“, haben diese Qualitätsentwicklungsmaßnahmen sicher-lich beeinflusst

5 Die Auswirkungen der UN-Behinder-tenrechtskonvention im Bildungsbereich in Österreich

Die aktuell bedeutendste Grundlage zur Gewährleistung des Rechts auf Bildung für Menschen mit Behinderung, die UN- Behin-dertenrechtskonvention (2008: §24), haben fast alle europäischen Staaten ratifiziert Sie verpflichten sich damit, ihre Bildungs-politik auf die beschriebenen Grundsätze auszurichten und in Folge ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen zu entwi-ckeln „Praktisch gesehen bedeutet dies mittel- und langfristig eine deutliche Redu-zierung der Sonderschulen, die Umstrukturie-rung der Regelschulen und den Abbau von baulichen Barrieren, um Kindern mit Behin-derung eine hochwertige Bildung anbieten zu können “ (Hausotter 2009: 1) Laut Feyerer

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Irene Moser INKLUSIVE PÄDAGOGIK

KOOPERATIONEN

zielt die EU auf einen Integrationsgrad von 80 bis 90 %, „was bei einer SPF Quote von 5% einem Segregatinsquotienten von weniger als 1% entsprechen würde Dieses rein quan-titative Ziel wäre in drei Bundesländern (Stei-ermark, Burgenland, Oberösterreich) bereits erreicht, andere sind noch meilenweit da-von entfernt “ (Feyrer 2011: 2f )

Zur schrittweisen Verwirklichung dieser Kon-zepte geht das bmukk (Abteilung I/5: Diversi-täts- und Sprachenpolitik; Sonderpädagogik und inklusive Bildung; Begabungsförderung) derzeit den Weg der aktiven Teilhabe der VerantwortungsträgerInnen durch soge-nannte „Stakeholder Konferenzen“, um diese für die Thematik zu sensibilisieren und sie in Entscheidungsprozesse frühzeitig ein-zubinden Im Frühjahr 2011 wird im Rahmen eines Expertenmeetings der EA zum Thema „Teacher Education for Inclusion“ eine Ta-gung in der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich abgehalten, in die auch alle RektorInnen eingebunden sind

Internationale Fachleute aus Universitäten und lokalen Behörden (mit einer Vertreterin der OECD) werden mit den Hochschulver-antwortlichen darüber diskutieren, wie man in einer zukünftigen LehrerInnenbildung für alle LehrerInnen mehr inklusive Inhalte im-plementieren kann (http://www european-agency org/agency-projects/teacher-edu-cation-for-inclusion)

5 1 Qualitätsentwicklung der integrati-ven Angebote in Salzburg 2011

Die Unterzeichnung der UN-Behinderten-rechtskonvention ist auch an Salzburg nicht spurlos vorübergegangen Auf Basis des Landtagbeschlusses vom Juni 2010 werden derzeit unter der Leitung des Landeschul-inspektors für Sonderpädagogik Konferen-zen abgehalten, die bis Mitte Juni zu einem sogenannten „Masterplan“ führen sollen Dieses zu entwickelnde Konzept zielt auf die Qualitätsentwicklung der integrativen An-

gebote und deren quantitative Erhöhung Derzeit werden an Sonderschulen 1017 und in Volks- und Hauptschulen 994 SchülerInnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf unterrichtet Das ist eine Integrationsquote von 49,43% Sollte es gelingen, diese um ca 10 % zu erhöhen, würde man im Bundesland Salzburg für weitere 60 Integrationsklassen Strukturen bereitstellen müssen

Um festzustellen, um welche mengenmäßi-gen Dimensionen es sich handelt, soll eine Analyse der Bezirke erfolgen Die möglichen Auswirkungen einer Steigerung von Integra-tionszahlen, z B auf den Stellenplan, die Ad-aption von Schulbauten, die Rolle der Son-derschulen oder die Maßnahmen der Aus-, Fort- und Weiterbildung sollen von ExpertIn-nen in Arbeitsgruppen diskutiert werden

Parallel dazu soll für eine Reform der Son-derpädagogischen Zentren (SPZ) ein Pilot-versuch eingerichtet werden, indem die SPZ Leitung von der Sonderschulleitung getrennt wird Die Prüfung des Einsatzes von Pflege-personen ist ebenso ein Baustein in der son-derpädagogischen Entwicklungsarbeit wie die Unterstützung der Kinder und Jugend-lichen mit Autismus-Spektrumsstörungen durch ein Assistenzsystem

Ausblick

Die internationale Zusammenarbeit gewinnt im Bildungsbereich immer mehr an Bedeu-tung Bekannt sind die groß angelegten Stu-dien wie PISA, TIMMS und PIRLS Diese haben besonders in den deutschsprachigen Län-dern die politischen und medialen Bildungs-diskussionen angeheizt, denn im Gegensatz zu den skandinavischen Ländern gelingt es in den deutschsprachigen kaum, Kindern al-ler gesellschaftlichen Schichten annähernd gleiche Bildungschancen zu ermöglichen Diese Ergebnisse provozieren auch in Ös-terreich einen Reformdruck, der die Chan-cen für die Entwicklung einer Schule für alle Kinder erhöht Der deutsche Bildungsfor-

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INKLUSIVE PÄDAGOGIK Irene Moser

KOOPERATIONEN

scher Fischer weist darauf hin, dass derzeit „bildungspolitische, ökonomische, kulturelle und pädagogische Anstrengungen von er-heblicher Reichweite erforderlich“ (Fischer 2007: 7) sind, um die Reproduktion der der-zeitigen Klassenverhältnisse zu verändern Die bereits aufgebauten internationalen Kontakte, der Wissenstransfer über moderne Medien und die Erkenntnisse der Inklusions-pädagogik könnten diese Entwicklung posi-tiv unterstützen

Literatur:

Ainscow, Mel/Booth, Tony (2003): Der Index für Inklusion Lernen und Teilha-be in der Schule der Vielfalt entwickeln Übersetzt von Ines Boban & And-reas Hinz Luther Universität Halle/ Wittenberg URL: http://www inklusions-paedagogik de/content/blogcategory/19/58/lang,de/ (Stand 7 2 2011)

Bauer Lucie/ Moser, Irene (2009): Die European-Agency for Development in Special Needs Education – ein multinationales Netzwerk zur Verbesse-rung der sonderpädagogischen Förderung auf europäischer Ebene In: BMUKK (Hg ): Sonderpädagogik aus inklusiver Sicht Studientexte Wien: Jugend und Volk 45-52

Bürli, Alois (2010): Wie hast du’s, Europa, mit der Integration Behinderter? Inklusive Bildung in den nordischen Ländern im Kontext gesellschaftli-cher Entwicklungen In: Online-Zeitschrift für Inklusion, 2/2010 URL: http://www inklusion-online net/index php/inklusion/article/view/59/63 (Stand 15 11 2010)

Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur (2008): Rundschreiben Nr 18 (URL: http://www cisonline at/fileadmin/kategorien/RS_18_2008_Qualitaetsstandards_5 8 08 pdf (Stand 17 3 2011)

European Agency for Development in Special Needs Education: interna-tional approach to inclusive education URL: http://www european-agen-cy org/agency-projects/key-principles/a-european-and-international-ap-proach-to-inclusive-education/?searchterm=international declarations (Stand 7 2 2011)

Feyerer, Ewald/ Specht, Werner (2009): Evaluationsstudien zur Entwicklung der schulischen Integration In: BMUKK (Hg ): Sonderpädagogik aus inklusi-ver Sicht Studientexte Wien: Jugend und Volk 34-39

Feyerer, Ewald (2011): Inklusion als Chance für Sonderschulen In: Heilpäd-agogische Gesellschaft Österreich (Hg ): Sonderdruck aus der Zeitschrift für Heilpädagogik Höbersdorf: Kaiser 1-8

Specht, Werner et al (2006): ZSE Report 70 Qualität in der Sonderpädago-gik Ein Forschungs- und Entwicklungsprojekt Graz URL: bmukk http://qsp or at/downloads/ZSER70 pdf (Stand 17 3 2011)

Fischer, D (2007): Einleitung: Gerechtigkeit im Bildungssystem In: V Elsenbast/ D Fischer (Hg ): Zur Gerechtigkeit im Bildungssystem Münster:Waxmann 7-14

Hausotter, Anette (2009): UN-Konventionen – inklusive Bildung im europäi-schen Vergleich Unveröffentlichter Vortrag

Hinz, Andreas (2002a): Inklusion – mehr als nur ein neues Wort? URL: http://www gemeinsamleben-rheinlandpfalz de/Hinz__Inklusion_ pdf (Stand 6 2 2011)

Hinz, Andreas (2002b): Von der Integration zur Inklusion - terminologisches Spiel oder konzeptionelle Weiterentwicklung? In: Zeitschrift für Heilpäda-gogik 53 354-361

Meijer, Cor (2010): Inclusive Education: Facts and trends Speech at the Madrid conference European Agency

Prengel, Annedore (1995): Pädagogik der Vielfalt Opladen

Salamanca Statement (1994): http://www unesco org/education/pdf/SALAMA_E PDF (Stand 6 2 2011)

Soziales Leitbild Außerfern: URL: http://www allesausserfern at/servicebox/protokolle-zum-sozialen-leitbild (Stand 8 2 2011)

UN Behindertenrechtskonvention (2008): URL: http://www un org/disabili-ties/documents/maps/enablemap jpg (Stand 8 2 2011)

United Nations Standard Rules (1993): URL: www un org/esa/socdev/ena-ble/dissre00 htm (Stand 6 2 2011)

Eine Kooperation zwischen Pädagogischer Hochschule,

Universität und Fachhochschule Salzburg.Informationen:

[email protected]

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Bettina Lorenz MATHEMATIK MIT KINDERN, DIE SCHWERHÖRIG ODER GEHÖRLOS SIND

ARBEITEN VON STUDIERENDEN

Basis dieses Artikels ist die Überzeugung, dass der Gebrauch der jeweiligen Gebär-densprache für Kinder mit einer Hörbeein-trächtigung oder Gehörlosigkeit unabhän-gig von allen technischen Hörhilfen eine Be reicherung darstellt, Identität geben kann und Kommunikationsmöglichkeiten er-schließt, was, wie im Folgenden ausgeführt, auch Auswirkungen auf die mathemati-schen Fähigkeiten hat

Aus verschiedensten Forschungsarbeiten während der letzten 50 Jahre ergibt sich, dass schwerhörige und gehörlose Kinder mit ihren mathematischen Leistungen im Durchschnitt ca zweieinhalb Jahre hinter denen von hörenden Kindern liegen Die Ur-sachen dafür konnten bislang nicht eindeu-tig geklärt werden (vgl Iversen 2008: 87-88) Auch eine Untersuchung an der Josef-Rehrl-Schule Salzburg zeigt die Tendenz zu einem Entwicklungsrückstand im mathematischen Denken (Lorenz 2010: 68) Derartige Verzö-gerungen können jedoch nicht durch man-gelnde intellektuelle Fähigkeiten erklärt wer-den (vgl Nunes 2004: 9-11)

Nachgewiesen werden konnte ein Zusam-menhang der Rechenfertigkeiten Gehörlo-ser mit dem Hörstatus der Eltern: War ein El-ternteil gehörlos und der andere hörend, so zeigten deren Nachkommen im Schnitt die besten Rechenfertigkeiten Dieser Gruppe folgten Menschen mit zwei gehörlosen Eltern Am schlechtesten schnitten jene Hörgeschä-digten ab, deren Eltern beide hörend waren

Aus diesen Ergebnissen leitet Kramer ab, dass der bilinguale „Erziehungs- und Kommunika-tionsansatz“ (Kramer 2007: 178), der Kindern sowohl lautsprachliche als auch gebärden-sprachliche Kommunikation anbietet, den Kindern hilft, bessere Rechenleistunden zu erzielen (vgl Kramer 2007: 177-178)

Schwerhörige und gehörlose Menschen ha-ben beim Lernen spezielle Bedürfnisse, die unter anderem auf eine andere Abspei-cherung von Information im Gehirn zurück-zuführen sind Gehörlose Menschen kodie-ren Informationen visuell, während hörende Menschen dies phonologisch, also über die Lautsprache, tun Auf diesem Unterschied basieren auch die Typen von Irrtümern, die Menschen bei der Erinnerung machen Bei-spielsweise wird der Buchstabe X von Gehör-losen am ehesten mit Buchstaben wie K, M, N, deren Bild ähnlich ist, vertauscht Hören-de verwechseln dagegen Laute, die ähnlich sind Die beiden Kodierungen (phonologisch bzw visuell) scheinen auch einen Einfluss da-rauf zu haben, wie man sich an Dinge erin-nert Die phonologische Kodierung ist gün-stiger, um eine serielle Ordnung zu behalten; die visuelle Kodierung hilft dagegen besser, die räumliche Anordnung zu behalten Da-her gibt es Gedächtnisleistungen, in denen gehörlose Kinder besser bzw schlechter als Hörende abschneiden, je nachdem wie ih-nen die Information präsentiert wird – räum-lich oder seriell – und auf welche Weise sie wieder abgerufen wird In einer Studie von Todman und Seedhouse sollten Kinder als

Mathematik mit Kindern, die schwerhörig oder gehörlos sindBettina Lorenz

In den letzten Jahren setzte sich die Forschung intensiv mit Gebärdensprache und Sprach ent-wicklung gehörloser Menschen auseinander. Leider gibt es im deutschsprachigen Raum nur wenige Arbeiten, die sich mit der Ausbildung der mathematischen Fähigkeiten von Kindern, die schwer-hörig oder gehörlos sind, beschäftigen. Meine Bachelorarbeit widmete sich daher genau diesem Thema mit dem Ziel, Unterrichtsideen, die auf die speziellen Stärken und Schwächen dieser SchülerInnen eingehen, anbieten zu können.

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MATHEMATIK MIT KINDERN, DIE SCHWERHÖRIG ODER GEHÖRLOS SIND Bettina Lorenz

ARBEITEN VON STUDIERENDEN

Antwort auf ein willkürlich paarweise zusam-mengesetztes Signal mit einer Aktion antwor-ten, zum Beispiel auf ein Quadrat vor einem rosa Hintergrund den Mund öffnen Im ersten Schritt mussten sie eine große Anzahl dieser paarweise zusammengesetzten Signale und die dazu gehörenden Antworten lernen An-schließend konnte das Gedächtnis je nach Präsentation (räumlich oder seriell) getestet werden Bei der räumlichen Präsentation – hier wurde eine Matrix mit vier Mustern ge-zeigt, nach dem Zudecken mussten die vier Aktionen mit den Plätzen gepaart werden – schnitten die gehörlosen Kinder besser ab als die hörenden In der seriellen Präsenta-tion wurden die Figuren nacheinander ge-zeigt Mussten nun die Antwortaktionen in der richtigen Reihenfolge erfolgen, waren die hörenden Kinder besser Durften die Kin-der in diesem Test in einer freien Reihenfol-ge antworten, gab es keine Unterschiede zwischen den beiden Testgruppen Die Art der Präsentation und die Form der Abfrage beeinflussen also die Ergebnisse (vgl Nunes 2004: 25-26) Weitere internationale Studi-en bestätigen die besonderen Stärken bei der räumlichen Vorstellung sowie die spezi-fischen Schwächen Hörgeschädigter beim ‚serial recall’ (vgl Kramer 2007: 156-160)

Leider haben Studien gezeigt, dass schon gehörlose Vorschulkinder beim Erlernen der Zahlenreihe (sowohl der lautsprachlichen als auch der Zahlenreihe in der Gebärdenspra-che) einen Rückstand zeigen Das scheint nicht an den Regeln der Zahlbildung zu lie-gen, sondern dürfte einerseits damit zusam-menhängen, dass für das Einprägen und Erlernen der Zahlenreihe der ‚serial recall’ notwendig ist, was für gehörlose Kinder bei einer größeren Anzahl einfach schwieriger ist Dazu könnten auch noch äußere Um-stände, wie z B kleinere Klassen, einen Ein-fluss haben, da die Kinder dadurch weniger Möglichkeiten erhalten, höhere Zahlen ab-zuzählen Dieser Mangel an Erfahrung kann nur ausgeglichen werden, wenn LehrerInnen und BetreuerInnen schon in der Vorschulzeit

mehr Zeit für das Zählen aufwenden (vgl Nunes 2004: 33-34)

In einer weiteren Untersuchung beobach-teten Nunes und Moreno gehörlose Kinder beim Abzählen Für das Abzählen und damit das Erkennen der Anzahl der Objekte ist es notwendig, eine Eins-zu-eins-Korrespondenz der Gegenstände mit den Zahlwörtern her-zustellen Hörende Kinder benutzen dabei oft eine Hand, um auf einen Gegenstand zu zeigen, gleichzeitig sprechen sie das Zahl-wort Nunes und Moreno zeigten, dass das Hinweisen mit der einen Hand auf ein Ob-jekt und das gleichzeitige Gebärden mit der anderen Hand gehörlose Kinder verwirrte Sie waren sich oft nicht mehr sicher, ob sie ein Objekt bereits gezählt hatten oder nicht und fingen daher wieder von vorne an zu zählen Kinder, die die Gebärde mit dem Zeigen auf das Objekt kombinierten, waren erfolgreicher und konnten besser abzäh-len Es scheint daher für ein gehörloses Kind leichter zu sein, mit der zählenden Hand auf das Objekt hinzuweisen, d h , die zahlenge-bärdende Hand zeigt gleichzeitig auf den Gegenstand, als diese beiden Bewegungen zu trennen (vgl Nunes 2004: 35-36)

In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass Nunes und Moreno Kinder untersuch-ten, die British Sign Language verwenden In dieser Gebärdensprache wird einhändig gezählt In unserem Sprachraum wäre es gar nicht möglich, mit einer Hand auf den Gegenstand zu zeigen und mit der anderen Hand zu zählen, da für die jeweilige Gebär-de der Zahlen auch beide Hände benötigt werden Erfreulich ist, dass sich die zusam-mengezogene Gebärde – hier wird der Zei-gevorgang in die Zahlgebärde inkorporiert – als der erfolgreichere Weg herausgestellt hat, da diese Möglichkeit auch Gebärden-sprache verwendenden Kindern im deut-schen Sprachraum offen steht

Für Kinder, die schwerhörig oder gehörlos sind, sind Textaufgaben eine besondere He-

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Bettina Lorenz MATHEMATIK MIT KINDERN, DIE SCHWERHÖRIG ODER GEHÖRLOS SIND

ARBEITEN VON STUDIERENDEN

rausforderung Erstens einmal müssen sie den Text erfassen, zweitens soll dann eine richti-ge Lösung ermittelt werden Um die Proble-me dabei besser verstehen zu können, ist es notwendig, diverse Aufgaben bzw Gedan-kengänge genau zu analysieren, um im Sin-ne von Modellbildung mit den SchülerInnen Lösungswege erarbeiten zu können Als Bei-spiel seien hier Austauschprobleme, die der additiven Logik zuzuordnen sind, angeführt

Addition und Subtraktion werden auch bei Gehörlosen meistens als Hinzufügen zu bzw Wegnehmen von einem Ganzen unterrich-tet Dabei handelt es sich jedoch um Pro-zeduren, die nicht helfen, Aufgabenstellun-gen desselben Typs erkennen und lösen zu können Durch Modellbildung jedoch könn-te die Logik eines Systems verstanden, die einzelnen Aufgaben später dem jeweiligen Typ zugeordnet und alle damit zusammen-hängenden Probleme gelöst werden (vgl Nunes 2004: 51)

Austauschprobleme sind gekennzeichnet durch eine Anfangsgröße, eine Änderung der Größe und einen Endstatus Daraus las-sen sich unterschiedliche Textaufgaben mit unterschiedlichen Strukturen ableiten:

Anfangsgröße und Änderungsrate sind 1 bekannt, die Endgröße ist gesucht Anfangs- und Endgröße sind bekannt, die 2 Änderungsrate ist gesucht Änderungsrate und Endgröße sind be-3 kannt, die Anfangsgröße ist gesucht (in-verse Probleme)

Da die Änderungsrate jeweils steigend oder fallend sein kann, ergeben sich im Ganzen sechs verschiedenen Untergruppen:

a + b = x und a – b = x; c + x = d und c – x = d; x + e = f und x – e = f

Die Fälle a + b = x bzw a – b = x, die auch als direkte Probleme bezeichnet werden, sind für die Kinder die einfachsten Bei den

inversen Problemen, wie x + a = b und x – a = b, müssen jedoch gleichzeitig sowohl die Veränderung der Situation als auch die der Quantität der Mengen beachtet und da raus die Schlussfolgerungen gezogen werden Daher bedeuten sie für alle Kinder eine grö-ßere Herausforderung Trotzdem fällt auf, dass gehörlose und schwerhörige Kinder damit statistisch gesehen signifikant mehr Schwie-rigkeiten haben (vgl Nunes 2004: 55-56)

Um das Problemlöseverhalten dieser Kinder genauer zu untersuchen, wurden ihnen von Moreno Rechengeschichten wie: ‚Ein Bub hatte Spielsachen, sein Vater schenkte ihm noch welche dazu’, erzählt Zu derartigen Texten wurden den Kindern zwei Bilder ge-zeigt (ein Kind mit wenigen Spielsachen und dasselbe Kind mit mehr), die sie nun in die richtige Reihenfolge bringen mussten Für das Lösen der Aufgaben waren keine nu-merischen Angaben notwendig – die Kin-der mussten also nicht rechnen Sie sollten nur aus dem Zusammenhang erkennen, ob sich die Anzahl der Gegenstände ver größert oder verkleinert hätte In dieser Untersu-chung wurden ca achtjährigen SchülerIn-nen acht verschiedene, derartige Fragen gestellt Es zeigte sich, dass die gehörlosen Kinder bei direkten Problemen gleich gute Ergebnisse erzielten wie hörende Inver-se Probleme fielen allen Kindern schwerer Trotzdem schnitten hier die gehörlosen Kin-der signifikant schlechter ab als die hören-den Das Mittel der richtigen Antworten bei den Hörenden war 6,7; bei den Schwerhö-rigen und Gehörlosen lag es nur bei 3,0 Da keine numerische Antwort erwartet wurde, können die Probleme der Kinder mit einer Hörbeeinträchtigung allerdings nicht mit möglichen schlechteren Zählfähigkeiten er-klärt werden Dieser Typ von Textaufgaben beinhaltet jedoch eine zeitliche Abfolge (vorher – nachher), wodurch die Reihenfol-ge der Ereignisse nicht verändert werden darf; gleichzeitig muss erkannt werden, wie sich die Mengen verändert haben Für das Lösen dieser Aufgaben sind daher mehrere

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MATHEMATIK MIT KINDERN, DIE SCHWERHÖRIG ODER GEHÖRLOS SIND Bettina Lorenz

ARBEITEN VON STUDIERENDEN

aufeinanderfolgende Schritte notwendig Nunes folgert daraus, dass bei diesen Pro-blemen ein ‚serial recall’ notwendig ist, der eben Kindern mit einer Hörbehinderung sehr schwerfällt (vgl Nunes 2004: 53-56)

Bis zu dieser Untersuchung nahm man an, dass die Schwierigkeiten von gehörlosen Kindern, Probleme zu lösen, mit ihren Lese-schwierigkeiten erklärt werden könnten Mo-renos Versuche weisen nun darauf hin, dass zur Verbesserung des Problemlöseverhaltens der Fokus mehr auf Mathematik gelegt wer-den muss Es wird sogar vermutet, dass da-durch auch die sprachlichen Fähigkeiten der Kinder verbessert werden könnten (vgl Nunes 2004: 58-59)

Besonders bei inversen Problemen beeinflus-sen unterschiedliche Wege der Präsen tation der numerischen Information den Erfolg von gehörlosen Kindern Das formale Rechnen steht hier oft nicht im Zusammenhang mit der eigentlichen Aufgabe Um jedoch die grundsätzliche additive Logik verstehen und daraus Modelle bilden zu können, benöti-gen die Kinder praktische Erfahrungen und Kenntnisse (vgl Nunes 2004: 63) Daneben sollte versucht werden, das Potenzial der räumlichen Kodierfähigkeit von Kindern mit einer Hörbeeinträchtigung zu nutzen (vgl Nunes 2004: 82)

Aufgrund ihrer Erfahrungen entwickelten Nunes und Moreno ein Interventionspro-gramm, das das Problemlöseverhalten der Kinder verbessern und dafür geeignete Un-terrichtsmittel anbieten sollte In einer Lang-zeitstudie (Dauer ca ein halbes Jahr) wurde dieses Programm von sechs Lehrkräften bei 23 Kindern getestet und die Aufgaben sowie die logischen Prinzipien, die sie beinhalteten, im LehrerInnenkreis diskutiert Das Förderpro-gramm soll den Kindern helfen, informelle mathematische Konzepte kennenzulernen,

Literatur:

Iversen, Wiebke (2008): Keine Zahl ohne Zeichen Der Einfluss der medi-alen Eigenschaften der DGS-Zahlzeichen auf deren mentale Verarbei-tung Dissertation URL:http://darwin bth rwth-aachen de/opus3/volltex-te/2009/2654/pdf/Iversen_Wiebke pdf [Stand: 18 10 2009]

Kramer, Florian (2007): Kulturfaire Berufseignungsdiagnostik bei Gehörlosen und daraus abgeleitete Untersuchungen zu den Unterschieden der Re-chenfertigkeiten bei Gehörlosen und Hö-renden Dissertation URL: http://darwin bth rwth-aachen de/opus3/volltexte/2007/1929/pdf/Kramer_Flori-an pdf [Stand: 15 02 2011]

Lorenz, Bettina (2010): Mathematik mit Kindern, die schwerhörig oder ge-hörlos sind Bachelorarbeit an der Pädagogischen Hochschule Salzburg

Nunes, Terezinha (2004): Teaching Mathematics to Deaf Children London and Philadelphia: Whurr Publishers

Nunes, Terezinha / Constanza Moreno (1998): Addressing the Communi-cation Needs of Deaf children in the Mathematics Classroom: General instructions Per E-Mail am 19 2 2009 zur Verfügung gestellt

bzw Verbindungen zwischen informellen und formellen Konzepten schaffen zu kön-nen Außerdem sollen gehörlosen Kindern durch das Zeichnen von Diagrammen neue Zugänge zu Informationen eröffnet werden (vgl Nunes 2004: 67-68)

Das Material des Interventionsprogramms ist visuell aufgebaut; zusätzlich dürfen die SchülerInnen die Repräsentanten der Pro-bleme aufzeichnen Die Aufgaben sind nach den Themen ‚Aufgaben zu additiven Zusammensetzungen, Zahlen und Größen’, ‚Aufgaben zum additiven Verständnis’ und ‚Aufgaben zum multiplikativen Verständnis’ geordnet Innerhalb dieser Abschnitte sind die Aufgaben nach dem Grad der Schwie-rigkeit sortiert (vgl Nunes/Moreno 1998: 2)

Mittels eines Vor- und eines Nachtests konn-ten Nunes und Moreno nachweisen, dass sich die mathematischen Fähigkeiten der Kinder, die am Interventionsprogramm teil-nahmen, signifikant verbesserten (vgl Nunes 2004: 159-161)

Das Interventionsprogramm wurde von mir im Rahmen meiner Bachelorarbeit übersetzt und für den deutschen Sprachraum adap-tiert und kann dort nachgelesen und im Un-terricht eingesetzt werden

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Friedrich J. Drechsler KINDER BEI TOD UND TRAUER BEGLEITEN

REZENSIONEN

leihen und starke Zeichen der Hoffnung setzen können Sie bieten Halt und Orientierung, wenn der persönliche Gefühls-haushalt großen Schwankun-gen ausgesetzt ist Raimund Sagmeister befasst sich eingehend mit den al-tersabhängigen Todesvor-stellungen von Kindern und Jugendlichen, die sehr oft mit entsprechenden Ängsten und Phantasien verbunden sind Diese entwicklungspsycholo-gischen Kenntnisse sind für Pä-dagogInnen eine große Hilfe, um Kinder und Jugendliche

einfühlsam und verständnisvoll in ihren Trau-erprozessen begleiten zu können Abschließend werden die Voraussetzungen für die Begleitung von Kindern und Jugend-lichen bei Tod und Trauer durch die Schule und die im Umgang mit Tod und Trauer ver-bundenen Schwierigkeiten dargelegt Die Trauerbegleitung setzt ein bestimmtes An-forderungsprofi l voraus PädagogInnen sol-len sowohl ein Einfühlungsvermögen in die Gefühls- und Gedankenwelt als auch das Wissen um die Gesetzmäßigkeit innerpsychi-scher Prozesse, vor allem des Trauerprozesses, aufweisen Darüber hinaus sind Kenntnisse über Regeln der Gesprächsführung hilfreich Raimund Sagmeister spricht sehr ausführlich Aspekte konkreter Begleitung von trauern-den Kindern und Jugendlichen an und setzt sich sehr intensiv mit den spezifi schen Aufga-ben für eine Trauerbegleitung in der Schule auseinander

Anmerkung:Der Autor des Buches, Raimund Sagmeister, ist Professor für Religionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Salzburg

Der Schulalltag wird immer wieder von Tod und Trauer überschattet Diese grundle-genden Erfahrungen gehen an Kindern und Jugendlichen nicht spurlos vorüber Lehrer-Innen und Schulen sind her-ausgefordert, SchülerInnen in diesen prekären Situationen eine adäquate Unterstützung und Hilfestellung anzubieten Vielfach werden Tod und Trau-er in unserer Gesellschaft tabu-isiert und verdrängt Raimund Sagmeister hat eine sehr gute und praktische Handreichung für PädagogInnen verfasst, in der er sich diesem Problemfeld stellt Er geht dem Phänomen „Trauer“ sehr tiefgründig nach und legt in seinem Buch „Kinder bei Tod und Trauer begleiten – eine Aufgabe der Schule“ Grundlagen für eine adäquate Trauerbegleitung dar Nach einer differenzierten Darlegung des komplexen Phänomens der „Trauer“ werden verschiedene psychologische Konzepte des Trauerprozesses von renommierten Psycholo-gInnen ausführlich erörtert, wie z B das fünf-phasige Konzept von Kübler-Ross über den psychischen Prozess Sterbender, das sich auf den Trauerprozess und die Aufgaben der Trauerbewältigung übertragen lässt und als Grundlage neuerer Ansätze dient Erwäh-nung fi nden im Buch aber auch die Konzep-te von Y Spiegel, J Bowlby, M Schilbilsky, V Kast und anderen Rituale, vor allem Trauer-, Abschieds- und Beerdigungsrituale, dienen dem positiven Verlauf eines Trauerprozesses Licht, Kerzen, Blumen, Naturmaterialien, Musik und vieler-lei Formen gemeinschaftlicher Vollzüge un-terstreichen diese Rituale Sie spielen in der Trauerbegleitung eine sehr wichtige Rolle, da sie symbolhaft und kreativ, in gemeinschaftli-cher Verbundenheit und Anteilnahme, der Trauer Sprache, Ausdruck und Gestalt ver-

Kinder bei Tod und Trauer begleitenRaimund, Sagmeister - rezensiert von Friedrich J Drechsler

leihen und starke Zeichen der leihen und starke Zeichen der Hoffnung setzen können Sie Hoffnung setzen können Sie bieten Halt und Orientierung, bieten Halt und Orientierung, wenn der persönliche Gefühls-wenn der persönliche Gefühls-haushalt großen Schwankun-haushalt großen Schwankun-gen ausgesetzt ist gen ausgesetzt ist Raimund Sagmeister befasst Raimund Sagmeister befasst sich eingehend mit den al-sich eingehend mit den al-tersabhängigen Todesvor-tersabhängigen Todesvor-stellungen von Kindern und stellungen von Kindern und Jugendlichen, die sehr oft mit Jugendlichen, die sehr oft mit entsprechenden Ängsten und entsprechenden Ängsten und Phantasien verbunden sind Phantasien verbunden sind Diese entwicklungspsycholo-Diese entwicklungspsycholo-gischen Kenntnisse sind für Pä-gischen Kenntnisse sind für Pä-dagogInnen eine große Hilfe, dagogInnen eine große Hilfe, um Kinder und Jugendliche um Kinder und Jugendliche

Literatur:

Sagmeister, Raimund (2010): Kinder bei Tod und Trauer begleiten Eine Auf-gabe der Schule Saarbrücken: VDM

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KOMPETENTE BERATUNG IN DER SCHULE Ewald Moser

REZENSIONEN

zen in der Aus-, Fort- und Wei-terbildung von LehrerInnen dargestellt Besonders wertvoll erscheint mir das folgende Kapitel, in dem die Autorin eine theorie-geleitete schulische Beratungs-arbeit beschreibt, die Rolle und die Kompetenz von BeraterIn-nen klärt und hilfreiche theore-tische Modelle hinsichtlich ihrer Praxistauglichkeit benennt In einem anschließenden em-pirischen Teil untersucht Frau Magnus Fragen des theorieo-rientierten Handelns von Lehr-kräften: Theoriewissen, Einstel-

lungen zu Aus-, Fort- und Weiterbildung sowie Wissen um verfügbare außerschulische Bera-tungs- und Therapieeinrichtungen Dazu wird ein selbsterstellter Fragebogen mit statistischen Auswertungen vorgelegt Die genaue Ergebnisdarstellung erleichtert das Verstehen der zusammengefassten Ergebnis-se und deren Diskussion Die Schlussfolgerungen zeigen auf, „dass es in der Beratungskompetenz von Lehrkräften Verbesserungspotentiale gibt“ Dazu werden Seminarkonzepte und Ablaufplanungen an-geboten Abschließend gibt die Autorin einen Über-blick über außerschulische Beratungsan-gebote in Salzburg und verweist damit auf eine Reihe fachverwandter Einrichtungen in Ergänzung zu Schulpsychologie und Ju-gendamt Eine wichtige und fundierte Arbeit, besonders für LehrerInnen, die eine fachkun-dige Orientierung in ihrer persönlichen Fort- und Weiterbildungsplanung suchen

Anmerkung: Andrea Magnus, die Autorin des Buches, lehrt an der Praxishauptschule und an der Pädagogischen Hochschule

„Kompetente Beratung in der Schule“ von Andrea Ma-gnus ist ein wichtiges Buch in der Diskussion über die Fra-ge, welche Kompetenzen die Lehrerrolle in der heutigen Zeit umfassen sollte Die Auto-rin beschreibt auf Grundlage wesentlicher Literaturquellen hilfreiche theo retische Modelle und überprüft empirisch, inwie-weit ihnen im gegenwärtigen Schulalltag entsprochen wird Auch die Praxis der Koopera-tion mit außer schulischen Diensten wird hinterfragt und aufgezeigt, dass künftighin so-wohl in der theoriegeleiteten Beratungsar-beit als auch in der differenzierten Nutzung von Helferinstitutionen Verbesserungen not-wendig sind „Fachkompetenz allein genügt nicht, um die Herausforderungen zu bewältigen“, postuliert Andrea Anna Magnus, selbst Hauptschulleh-rerin, am Beginn des Einführungsteiles Was aber gehört noch dazu? Schon die Durch-sicht des Literaturverzeichnisses lässt fundier-te Aussagen erwarten, sind doch unter den AutorInnen auch die großen Namen Rogers, Watzlawick und Schulz von Thun prominent zitiert Tatsächlich gelingt es der Autorin darzustel-len, dass Beratung, wenn sie kompetent bei alltäglichen Schulproblemen und deren Bewältigung eingesetzt wird, die Professio-nalität von Lehrkräften wesentlich erweitert Dazu gehört auch das Erkennen der Grenze zu Störungen und Krankheitsbildern, die der Unterstützung externer Dienste bedürfen In einem weiteren Kapitel führt die Autorin kurz in die Entwicklungsgeschichte der pä-dagogisch-psychologischen Beratung ein und beschreibt schulische Konfl iktsituationen als besonders relevante Beratungsanlässe In weiterer Folge werden notwendige Schritte zum Erwerb der beschriebenen Kompeten-

Kompetente Beratung in der SchuleAndrea Magnus - rezensiert von Ewald Moser

zen in der Aus-, Fort- und Wei-zen in der Aus-, Fort- und Wei-terbildung von LehrerInnen terbildung von LehrerInnen dargestellt dargestellt Besonders wertvoll erscheint Besonders wertvoll erscheint mir das folgende Kapitel, in mir das folgende Kapitel, in dem die Autorin eine theorie-dem die Autorin eine theorie-geleitete schulische Beratungs-geleitete schulische Beratungs-arbeit beschreibt, die Rolle und arbeit beschreibt, die Rolle und die Kompetenz von BeraterIn-die Kompetenz von BeraterIn-nen klärt und hilfreiche theore-nen klärt und hilfreiche theore-tische Modelle hinsichtlich ihrer tische Modelle hinsichtlich ihrer Praxistauglichkeit benennt Praxistauglichkeit benennt In einem anschließenden em-In einem anschließenden em-pirischen Teil untersucht Frau pirischen Teil untersucht Frau Magnus Fragen des theorieo-Magnus Fragen des theorieo-rientierten Handelns von Lehr-rientierten Handelns von Lehr-kräften: Theoriewissen, Einstel-kräften: Theoriewissen, Einstel-

Literatur:

Magnus, Andrea (2010): Kompetente Beratung in der Schule Theorie-orientierung im Alltagshandeln von Lehrkräften Saarbrücken: VDM

|87AUTORINNEN / AUTOREN

Autorinnen und AutorenAusgabe 4/2011

Jürgen Bauer Bakk phil MA: Lehramt für HS (M, BU, GZ, BO) und PTS Studium der Erziehungswissenschaft an der Universität Salzburg,Koordinator des Projektbüros A-Z, Genderbeauftragter und Lehrender in der Aus-, Fort- und Weiterbildung an der PH Salzburg, externer Lehrbeauftragter an der Schu-le für Kinder- und Jugendlichenpflege Salzburg

Ursula BuchnerMaga Dipl Päd : Lehramt für den ernährungswirtschaftlichen und haushaltsökono-mischen Fachunterricht an berufsbildenden mittleren und höheren Schulen, Studi-um Psychologie und Pädagogik, Ausbildung in Gesprächspsychotherapie, Univer-sitätslehrgang für Fach- und Verhaltenstrainer Seit 1986 Lehrtätigkeit in der Aus-, Fort- und Weiterbildung im Fachbereich Ernährung und Haushalt an der Pädagogi-schen Akademie bzw Hochschule Salzburg

Myriam BurtscherMaga phil Dipl Päd : Lehramt für Volksschule, Studium der Erziehungswissenschaft an der Universität Salzburg, Mitarbeiterin an der PH Salzburg in der VS-Ausbildung Mathematik-Didaktik, Referentin in der Fort- und Weiterbildung Bildungsstandards Mathematik

Rudolf de CilliaProfessor für Angewandte Linguistik und Sprachlehrforschung am Institut für Sprach-wissenschaft der Universität Wien Forschungs- und Publikationstätigkeit zu folgen-den Gebieten: Sprachlehrforschung, Sprachenpolitik und Sprachplanung, Sprache und Politik, sprachliche Minderheiten, Migrationsforschung, kritische Diskursanalyse und linguistische Vorurteilsforschung

Friedrich J DrechslerMag: maturierte am Humanistischen Gymnasium der Herz Jesu Missionare, studierte Theologie an der Universität Salzburg Koordinator für die Allgemeine Pflichtschule am Institut für Religionspädagogische Bildung der KPH-Edith Stein in Salzburg

Hans-Peter GotteinProf Dipl Päd MA: Lehramt für Hauptschulen (E, GW) an der PÄDAK Salzburg, Stu-dium der Erziehungswissenschaften an der Universität Salzburg, Hochschullehrer an der PH Salzburg im Bereich der Aus-, Fort- und Weiterbildung

Maria HadererAkademische Lehrerin für Gesundheitsberufe: Nach 6-jähriger Berufstätigkeit als di-plomierte Kinderkrankenschwester 15 Jahre Lehrtätigkeit an einer Gesundheits- und Krankenpflegeschule, Leitung eines Bachelor-Studiengangs Gesundheits- und Kran-kenpflege Derzeit Studium der Soziologie an der Universität Salzburg

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Autorinnen und AutorenAusgabe 4/2011

Barbara HerzogDipl Päd Bakk phil : Lehramt für Volks- und Sonderschulen, Studium der Pädagogik an der Universität Salzburg, Mitarbeiterin an der PH Salzburg in Aus-, Fort- und Wei-terbildung, Referentin, Koordinatorin der Pädagogischen Werkstatt Pinzgau (PWP)

Bettina LorenzDipl Päd BEd: Lehramt für kath Religion und Mathematik, unterrichtet seit 2003 kath Religion an der Josef Rehrl Schule Salzburg (Volks- und Hauptschule für gehörlose und schwerhörige Kinder)

Lutsch, ChristianMag Dr : Lehramtsstudium für die Unterrichtsfächer Englisch und Französisch, Dok-torat in anglistischer Linguistik; Lehrer an den Tourismusschulen Salzburg Klessheim, Leiter der Arbeitsgruppe Englisch an humanberuflichen Schulen in Salzburg; Leh-rerInnen Fort- und Weiterbildung im Bereich Fremdsprachen an Berufsbildenden höheren und mittleren Schulen und im Lehrgang Berufsbezogene Fremdsprache Englisch an Berufsschulen an der Pädagogischen Hochschule Salzburg

Angelika McMahonDipl Päd : Pädagogische Hochschule Salzburg, Institut für Lebensbegleitendes Ler-nen APS (Lehrer/innenfort- und Weiterbildung für allgemeinbildende Pflichtschulen) Arbeitsbereiche: Schulmanagement, Schulentwicklung, Neue Mittelschule, Fachdi-daktik und Bildungsstandards Englisch

Ewald Wolfgang MoserDr phil : Studium Psychologie und Pädagogik an der Universität Salzburg Klinischer- und Gesundheitspsychologe Leitender Schulpsychologe beim Landesschulrat für Salzburg

Irene MoserDipl Pädin Bakk phil MA: Lehramt für Sonderpädagogik und Ergänzungsstudien, Stu-dium der Erziehungswissenschaften Lehrende in der Aus-, Fort- und Weiterbildung der PH Salzburg mit den Schwerpunkten Inklusionspädagogik und Schulenwicklung Nationale Koordinatorin der “European Agency for Development in Special Needs Education” von 1999-2010

Heike NiederreiterMaga : Lehramt für Volksschule, Studium der Erziehungswissenschaften an der Uni-versität Salzburg, Lehrtätigkeit in der Ausbildung der Pädagogischen Hochschule

|89AUTORINNEN / AUTOREN

Josef Sampl Mag Dr : Studium der Fachbereiche Deutsch, Psychologie, Philosophie und Päda-gogik an der Universität Salzburg, Lehrer an Volks-, Haupt- und Mittelschulen, Uni-versitätslektor in Klagenfurt (1976-1979) und Salzburg(1977-1995), Mitarbeit in zahl-reichen Fachgremien des Bildungsministeriums, Präsident des Landesschulrates für Salzburg von 1994 bis 1996, Rektor der Pädagogischen Hochschule Salzburg

Josef Schlömicher – ThierDr med FA-HNO: Gesangsstudium in Graz, Arzt für Arbeitsmedizin, Stimmarzt der Salzburger Festspiele, Ordination in Neumarkt a W , Vorsitzender des Austrian Voice Institutes, Europasekretär der internat Gesellschaft der Stimmärzte / COMED, Abge-ordneter zum Salzburger Landtag, seit 2002 Lehrbeauftragter der Pädagogischen Hochschule Salzburg: Stimmbetreuungsprojekt „Stimmenscanning-Stimmtraining“

Christine SchoberBakk phil MA: Volksschullehrerin und Volksschuldirektorin, Lehrbeauftragte an der Pädagogischen Hochschule Salzburg im Bereich Humanwissenschaften; Studium der Erziehungswissenschaften an der Universität Salzburg

Christian TrewellerDiplompädagoge (Lehramt für Volksschule), Diplomierter Sozialarbeiter, Studium der Erziehungswissenschaften im Diplomarbeitsstatus Lehrbeauftragter an der Pädagogischen Hochschule Salzburg,Leiter der Sozialen Initiative Salzburg, Mitglied im Behindertenbeirat der Stadt Salz-burg

Hannes Tropper (amtlich: Johann)Mag art Dipl -Päd : Lehramt für Hauptschulen, Studium an der Hochschule für Mu-sik und darstellende Kunst in Graz, Gesang und Sprecherziehung, Internat Zertifikat für Atemrhythmisch Angepasste Phonation (AAP) , stellv Vorsitzender des Austrian Voice Institute; Präsidium „stimme at“, Referent i d Erwachsenenbildung, Lehre-rInnenfort- und –weiterbildung, Lehrbeauftragter der Pädagogischen Hochschule Salzburg seit 2002 mit dem Projekt „Berufsstimmvorsorge“

Silvia Nowy-RummelMaga Dipl Päd : Lehrende an der Praxisvolksschule und Pädagogischen Hoch-schule Salzburg Studium der Erziehungswissenschaften an der Universität Salzburg und Feministisches Grundstudium am Rosa Mayreder College Schwerpunkte in der Frauen- und Mädchenarbeit im Gender Mainstreaming, sowie e-Learning in der VS Tätigkeit als Seminar- und Workshopleiterin, Gutachterin

Elfriede Windischbauer Profin Maga Drin : Studium der Geschichte und Deutschen Philologie an der Univ Salzburg, Lehramt für HS an der PÄDAK Lehrerin an verschiedenen HS, Fachdidakti-kerin für Geschichte und Politische Bildung an der PH Salzburg Seit 2008 Leiterin des Instituts für Didaktik und Unterrichtsentwicklung an der PH Salzburg, Mitarbeiterin der Zentralen Arbeitsstelle für Geschichtsdidaktik und Politische Bildung (Fachbereich Geschichte an der Universität Salzburg)

Autorinnen und AutorenAusgabe 4/2011

ph script Beiträge aus Wissenschaft und Lehre Pädagogische Hochschule Salzburg Ausgabe 04/2011 erscheint ein- bis zweimal jährlich

Impressum:

Medieninhaberin, Verlegerin: Pädagogische Hochschule Salzburg Akademiestraße 23 A- 5020 Salzburg

Herausgeber: Rektorat der Pädagogischen Hochschule Salzburg Rektor Dr Josef Sampl

Redaktion: Ursula Buchner, Peter Haudum, Christoph Kühberger, Hubert Mitter, Heike Niederreiter, Hans-Peter Priller, Dorothea Rucker, Elisabeth Seitlinger, Elfriede Windischbauer, Günter Wohlmuth

Chefredaktion: Elfriede Windischbauer

Layout/Satz: Hans-Peter Priller

Lektorat: Peter Haudum

Fotos: Günter Wohlmuth

Druck: Huttegger, Salzburg

Offenlegung gemäß § 25 Mediengesetz: ph script ist die Informationsschrift der Pädagogischen Hochschule Salzburg und enthält Beiträge aus Wissenschaft und Lehre Im Zentrum stehen Informationen über Aspekte der LehrerInnen-Bildung, wissenschaftliche Arbeiten, Projekte, Kooperationen und Publikationen von MitarbeiterInnen der Pädagogischen Hochschule Salzburg Die veröffentlichten Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Herausgebers wieder

Haftungsausschluss: Sämtliche Angaben in dieser Zeitschrift erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr Eine Haftung der AutorInnen, der Verlegerin und des Herausgebers ist ausgeschlossen

Nutzungsbedingungen: Nachdruck oder sonstige Wiedergabe und Veröffentlichung, elektronische Speicherung und kommerzielle Vervielfältigung, auch einzelner Beiträge, können nur mit schriftlicher Genehmi-gung der Medieninhaber erfolgen

Inhalt

Pädagogische Hochschule SalzburgBeiträge aus Wissenschaft und Lehre

Ausgabe 04 2011

Inhaltsverzeichnis 1 Heterogenität in Schule und Unterricht 2 Wohin die Reise geht 3 Berufswahl im Spannungsfeld von Geschlecht und Zeitgeist 7 Lehrgang „Berufsbezogene Fremdsprache Englisch“ 13 Heterogenität in der Neuen Mittelschule 17 Es war einmal ... eine homogene Lerngruppe 25 Dialog der Esskulturen 32 Die Berufsstimme am Stimmarbeitsplatz Schule 41 Mehrsprachige Gesellschaft - zweisprachige Schulen 48 „Cora kocht und Bernhard baut - Oder doch nicht?“ 56 Aus anderer Sicht - ein Projekt an der Pädagogischen Hochschule Salzburg 60 Das Lesetagebuch als Beitrag zur individuellen Leseförderung 65 Differenzierung durch Komplexität - Heterogenität im Mathematikunterricht begegnen 69 Impulse der internationalen Zusammenarbeit für inklusive Pädagogik in Österreich 74 Mathematik mit Kindern, die schwerhörig oder gehörlos sind 79 Rezensionen 83 Autorinnen und Autoren 85