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„ich schReibe übeR Themen, die mich bewegen” aygen-sibel Çelik über schönheitswahn, Vorurteile und nervige integrationsdebatten Marion rana 101 Çelik/Rana SchönheitSwahn, Vorurteile und integrationSdebatten Frau Çelik, Sie haben in Frankfurt am Institut für Ju- gendbuchforschung studiert. Hat Sie die theoretische Auseinandersetzung mit der Kinder- und Jugendlitera- turforschung in ihrem Schreiben beeinflusst? Meine Magisterarbeit befasste sich mit dem Türkei- bild in der deutschsprachigen Kinder- und Jugend- literatur. Die Darstellung von Fremdheit und von jungen „türkischen“ Mädchen und jungen Frauen hat mich damals sehr frustriert, weil dabei oft Kli- schees konstruiert wurden, die Protagonistinnen wurden sehr einseitig dargestellt. Nach der Magis- terarbeit wollte ich mich erst mal gar nicht mehr mit diesem Thema befassen. Aber als ich dann beinahe ein Jahrzehnt später selbst anfing, Kinderliteratur zu schreiben, musste ich feststellen, dass sich an diesen Bildern gar nicht so viel verändert hatte. Aus dieser Motivation heraus habe ich dann auch Seidenhaar und Sinan und Felix geschrieben. Ihre erste Motivation war also, für Kinder zu schreiben – dass Migration darin vor- kommt, war nur ein zweiter Schritt? Natürlich. Ich schreibe über Themen, die mich bewegen. Bei Sinan und Felix ist das zum Beispiel Mehrsprachigkeit, bei Seidenhaar sind es Vorurteile – nicht, weil ich unbedingt über Kopftücher schreiben wollte, sondern weil ich sehe, dass heute Frauen und Mädchen mit Kopftuch ganz besonders von Vorurteilen be- troffen sind. Im gerade erschienenen Makellos ab Mitternacht geht es um das

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„ich schReibe übeR Themen, die mich

bewegen”

aygen-sibel Çelik über schönheitswahn, Vorurteile

und nervige integrationsdebatten

Marion rana

101

Çelik/Rana SchönheitSwahn, Vorurteile und integrationSdebatten

Frau Çelik, Sie haben in Frankfurt am Institut für Ju-gendbuchforschung studiert. Hat Sie die theoretischeAuseinandersetzung mit der Kinder- und Jugendlitera-turforschung in ihrem Schreiben beeinflusst?Meine Magisterarbeit befasste sich mit dem Türkei-bild in der deutschsprachigen Kinder- und Jugend-literatur. Die Darstellung von Fremdheit und vonjungen „türkischen“ Mädchen und jungen Frauenhat mich damals sehr frustriert, weil dabei oft Kli-schees konstruiert wurden, die Protagonistinnenwurden sehr einseitig dargestellt. Nach der Magis-terarbeit wollte ich mich erst mal gar nicht mehrmit diesem Thema befassen. Aber als ich dann beinahe ein Jahrzehnt späterselbst anfing, Kinderliteratur zu schreiben, musste ich feststellen, dass sich andiesen Bildern gar nicht so viel verändert hatte. Aus dieser Motivation heraushabe ich dann auch Seidenhaar und Sinan und Felix geschrieben.

Ihre erste Motivation war also, für Kinder zu schreiben – dass Migration darin vor-kommt, war nur ein zweiter Schritt?Natürlich. Ich schreibe über Themen, die mich bewegen. Bei Sinan und Felix istdas zum Beispiel Mehrsprachigkeit, bei Seidenhaar sind es Vorurteile – nicht, weilich unbedingt über Kopftücher schreiben wollte, sondern weil ich sehe, dassheute Frauen und Mädchen mit Kopftuch ganz besonders von Vorurteilen be-troffen sind. Im gerade erschienenen Makellos ab Mitternacht geht es um das

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Thema Schönheitswahn. Die Eltern der Protagonistin kommen aus der Türkei,aber das wird gar nicht thematisiert. Das ist eigentlich auch mein Ziel: Dass mannicht immer nach der Herkunft fragt, sondern den Hintergrund auch mal ganznatürlich darstellt und zeigt, dass diese Kinder ganz andere Probleme habenkönnen als lediglich durch ihre Herkunft bedingte.

Trotzdem schreiben Sie Bücher, die Integrationsdebattenbewusst aufgreifen.Ich glaube, das muss eine Weile parallel laufen: Ei-nerseits brauchen wir Bücher, die tatsächlich einwenig aufklärerisch sind, andererseits aber auch Li-teratur, die zeigt, dass sich die Probleme und The-men aller Kinder dieser Gesellschaft ähneln – egalwelchen Hintergrund sie haben. Wir brauchen Bü-cher, in denen Kinder ganz normal als die Mitglie-der unserer Gesellschaft auftreten, die sie auchsind. Es ist ja nicht so, dass Kinder ständig herum-laufen und an ihren Migrationshintergrund den-

ken, wenn man sie nicht von außen immer wieder damit konfrontiert. Das be-schäftigt sie eigentlich gar nicht.

auch bei „den anderen“ ist nicht alles schwarz-weiß.

Der Berliner Arzt Guido Pliska sagt in der Süddeutschen, dass junge Mädchen undFrauen mit Migrationshintergrund ein um fünfzig Prozent höheres Risiko haben, aneiner Essstörung zu erkranken. Nun ist auch das Verhältnis Ihrer Protagonistin Seçilzum Essen in Makellos ab Mitternacht nicht ganz unproblematisch. Unterliegen Mäd-chen mit Migrationshintergrund anderen Schönheitsidealen, die von der Idee des Exo-tischen beeinflusst sind?Ich kann das nicht bestätigen, aber erklären könnte ich mir eine solche Feststel-lung, falls sie denn stimmen sollte, nur so: Wenn man in einer Gesellschaft lebt,in der man gewisse Rollen zugewiesen bekommt, in der man eher am Randsteht, nimmt man das als Jugendlicher und als Kind sehr stark wahr. Vielleichtversucht man dann, diese negativen Fremdbilder in anderen Bereichen

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auszugleichen. Ich kann mir vorstellen, dass Schönheitsideale oder auch Modeund bestimmte Trends dann mehr von Bedeutung sind.

Makellos ab Mitternacht ist offensichtlich vom aktu-ellen Topmodeltrend beeinflusst. Haben Sie den Ein-druck, der Druck auf junge Mädchen, schön zu seinund gängigen Verhaltens- und Schönheitsidealen zuentsprechen, hat sich in den letzten Jahren verstärkt?Oder war das vorher genauso, nur eben unterschwelligvorhanden?In den gängigen Sendungen merkt man ja durch-aus, dass die Mädchen immer jünger werden.Und ich denke mit Entsetzen an die Berichte übereine Mutter, die ihre achtjährige Tochter mit Botoxbehandelt, um deren „Falten“ verschwinden zulassen. Bestimmte Grenzen sind einfach ver-schwunden. Die Bilder, die diese Schönheitsideale schaffen, sind immer prä-sent, in den Modelsendungen, in Musikvideos. Je jünger die Kinder sind, wennsie diesen Bildern ausgesetzt werden, desto stärker werden sie auch davon be-einflusst.

Viele Kinder mit Migrationshintergrund finden sich in Kinderbüchern nicht wieder.Sind Ihre Bücher primär an diese Kinder gerichtet oder schreiben Sie mehr aufklärerischin Richtung der Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft?Ich schreibe die Bücher für alle. Und ich möchte die Kinder auch nicht trennen.In Seidenhaar zum Beispiel war es mir wichtig, dass alle angesprochen sind undjeder etwas mitnehmen kann: Jugendliche, die in strengeren Familien aufwach-sen, sehen eine andere, aber trotzdem legitime Art, gläubig zu sein. Jugendlichemit einem liberalen Bezug zur Religion fühlen ihre Vorstellungen ebenso ver-treten, und Jugendliche aus der Mehrheitsgesellschaft merken, dass auch bei„den Anderen“ nicht alles schwarz-weiß ist, sondern vielschichtig und indivi-duell verschieden.

Diese Trennung ärgert Sie, dass immer noch von diesen Kindern und jenen Kindern dieRede ist, anstatt einfach von Kindern ganz allgemein zu sprechen.

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Eben. Es ist ganz schwierig, immer diese Unterscheidung zu machen – Kindermit diesem Hintergrund, Kinder mit jenem Hintergrund. Ich hoffe, dass wir esirgendwann schaffen, alle Kinder gleich, nämlich als Kinder dieser Gesellschaftzu betrachten.

kopftuch – na und? sie bleibt trotzdem meine Freundin.

In der aktuellen politischen Debatte, aber auch in vielen Jugendromanen werden vorallem Probleme von und mit Jugendlichen mit Migrationshintergrund thematisiert. Ichdenke da z.B. an Arab Queen und Arab Boy von Güner Balci oder an das gerade er-schienene Blutsbrüder von Michael Wildenhain, in denen vor allem Themen wie Ghet-toisierung, Zwansverheiratung und Jugendkriminalität zur Sprache kommen. ÄrgernSie solche Darstellungen?Wenn es nur noch um diese Probleme geht und nur noch Klischees bedient wer-den, dann ärgert mich das sehr. Oder wenn solche Themen nur aufgegriffenwerden, weil es in den Medien gerade aktuell ist. Das Thema Zwangsverheira-tung zum Beispiel wird ja so diskutiert, als träfe man das beinahe in jeder Fami-lie an – so ist das aber natürlich nicht. Wenn solche Aussagen außerdem vonAutoren getroffen werden, die den gleichen Migrationshintergrund haben, wirddas von vielen Integrationsskeptikern als Bestätigung erfahren.

Wenn es „einer von denen“ sagt, dann muss es wirklich stimmen.Ganz genau. Auch ich werde bei meinen Lesungen oft gefragt, wie das dennjetzt sei: Muss man nun ein Kopftuch tragen? Ich soll mit ja oder nein antwortenund dann ist das allgemeingültig für alle. Meine Aufgabe ist es – und nicht zu-letzt bin ich deshalb auch so viel auf Lesereisen unterwegs – zu erklären, dasses eine Glaubensfrage ist. Dass man das nicht mit ja oder nein beantworten kann.Auch bei Christen ist das ja so: Manche feiern Weihnachten, aber ohne religiösenHintergrund, manche gehen sonntags in die Kirche, andere nicht. Das hat etwasmit dem persönlichen Glauben zu tun. So ist das bei Muslimen auch.

Welche Reaktionen bekommen Sie bei Ihren Lesungen?Die Kinder sind meistens viel offener als die Erwachsenen: Wenn jemand einKopftuch tragen möchte, dann tut sie das eben – sie bleibt trotzdem meineFreundin. Erwachsene hingegen halten sich an den Klischees fest und lassen

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weniger zu, dass man individuelle Motive erklärt. Natürlich gibt es auch Mäd-chen, die von zu Hause unter Druck gesetzt werden, aber selbst das ist ja nichtimmer ein geradliniger Weg. Es gibt so viele verschiedene Facetten und Hinter-gründe, die man beachten muss. Gerade vielen Erwachsenen fällt es aber schwer,diese Vielfalt und Individualität zu akzeptieren. Klischees machen es nun maleinfacher, die Welt zu verstehen – aber sie helfen niemandem weiter.

wissen allein schafft keine akzeptanz.

In Seidenhaar wird das Bild eines sehr progressiven Islams gezeichnet, die Kopftuch-debatte erscheint vor allem als Problem der Mehrheitsgesellschaft, die sich von falschenStereotypen leiten lässt. Birgt diese fast gänzlich positive Darstellung von emanzipiertenKopftuchträgerinnen nicht die Gefahr, misogynistische Tendenzen im Islam und vorallem in islamisch geprägten Kulturen und Subkulturen zu verharmlosen?Ich möchte in keinster Weise verschleiern, dass es Menschen gibt, die den Islamso interpretieren und leben, sondern ich benenne sie ja ganz klar: Eines der Mäd-chen findet zum Beispiel die progressive Interpretation des Islams durch dieKorankurslehrerin sehr problematisch und kann sie für sich nicht annehmen.Ich zeige sehr konservative Familien und eine männliche Figur, die sehr radikalist. Aber die Mädchen und Frauen, die in dem Buch auftauchen, sind Indivi-duen. Sie haben ihre eigenen Vorstellungen von Glauben und Religiosität und

Eine schulische Lesung vonAygen-Sibel Çelik, hier inVattenfall(Bild: Christian Kalnbach)

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gehen ihren eigenen Weg. Diese Individualitätgeht in den aktuellen Diskussionen unter.

Problemliteratur aus den 70ern und 80ern, die ja oftauch Migration zum Thema hatte, wurde häufig vor-geworfen, dass sie zu platt und didaktisch sei – wasunterscheidet Ihre Bücher von dieser problemorien-tierten Literatur?Meine Bücher sind vom Facettenreichtum undder Vielschichtigkeit der Figuren geprägt. Frühergab es eine einzige Figur, die alle Klischees ver-körperte, und da hörte die Darstellung schonauf. Ich möchte zeigen, dass nicht alle Menschenmit Migrationshintergrund gleich sind. DerVater von Sinem in Seidenhaar zum Beispiel ist beinahe schon atheistisch, dieMutter betet und fastet ganz unregelmäßig. Die Familie von Canan hingegenwürde von außen als sehr religiös und konservativ wahrgenommen werden –aber für dieses Traditionelle wird sie von Canan kritisiert. Canan hinterfragt dietraditionelle Lebensweise ihrer Familie, sie kritisiert, dass ihre Eltern nur anihren Ritualen hängen und gar nicht prüfen, ob diese Rituale überhaupt aus demGlauben begründet sind. In meinen Büchern stehen die Menschen selbst im Vor-dergrund, mit ihren Gefühlen und Konflikten, mit ihrem Innenleben.

Ihre Bücher haben häufig ein Glossar, in dem nicht geläufige sprachliche und kulturelleVokabeln erklärt werden. Was glauben Sie: Kann Bildung den Bruch in der Gesellschaftkitten? Schafft Wissen Toleranz?Toleranz ist ein ganz falscher Begriff: Toleranz bedeutet ja, jemanden hinzuneh-men, ihn zu dulden. Aber das Ziel sollte es doch sein, sich gegenseitig zu ak-zeptieren! Toleranz ist immer von oben herab, das dient dem Miteinander garnicht. Wissen kann durchaus Akzeptanz schaffen, aber es kann keine Wunder bewir-ken: Man muss auch die Absicht haben, einen anderen wirklich zu verstehen undzu akzeptieren. Viele Menschen nutzen ihr Wissen, um zu trennen. Ob man seinAugenmerk auf das Gemeinsame oder das Trennende legt, hat also immer mitder eigenen Absicht zu tun. Wissen allein kann keine Akzeptanz hervorrufen.

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Eine Grundbereitschaft zum Miteinander muss da sein.Genau. Aber es ist eben wichtig, auch faktisch wichtiges Wissen zu haben. Inder Islamdebatte wird ja häufig nur kopiert. Am Begriff des Dschihad zum Bei-spiel, der ja auch in Seidenhaar erläutert wird, kann man das sehr schön sehen:In den Medien wird das immer mit „Heiliger Krieg“ übersetzt und dann überallso übernommen. Aber das ist nur eine Interpretation des Begriffs, eigentlich be-deutet er: Anstrengung im Glauben, gegen das eigene Ego. Ich lege beim Schrei-ben immer großen Wert darauf, ganz exakt zu recherchieren und darzustellen.Man muss sehr genau hingucken, um falsches Wissen nicht immer wieder zureproduzieren.

will die gesellschaft, dass alle unauffällig gleich sind?

Wer ist gefährlicher für die Muslime in Deutschland: politische Polemiker wie ThiloSarrazin oder radikale Prediger wie Pierre Vogel?Beides kann sehr gefährlich werden. Aber die Frage ist auch immer, was die Me-dien daraus machen. Ich finde es problematisch, dass diese Leute eine so großePlattform geboten bekommen und man sie so ernst nimmt. Thesen wie die vonder erblichen intellektuellen Unterlegenheit türkischstämmiger Kinder werdenzur Diskussionsgrundlage gemacht, statt einfach zu sagen: Diese Aussage istidiotisch, darüber brauchen wir gar nicht zu diskutieren.

Macht die Tatsache, dass viele Jugendliche mit Migrationshintergrund in unserer Ge-sellschaft einen schwierigeren Stand haben, sie anfälliger dafür, sich von Menschen wiePierre Vogel radikalisieren zu lassen? Sich von der Mehrheitsgesellschaft zu entfernenund stattdessen einer sehr konservativen Interpretation des Islams zuzuwenden?Kinder und Jugendliche kriegen sehr genau mit, dass sie nicht immer als Teil derGesellschaft akzeptiert werden. Das kann eine gewisse Ohnmacht hervorrufen.Je nach Persönlichkeit und Lebenshintergrund kann das dazu führen, dass sie zuOpfern dieser Prediger werden. Aber ich sehe das nicht als breite Gefahr. Ich be-obachte vielmehr die Tendenz, dass die Jugendlichen dieser ständigen Debattenund Rechtfertigungen überdrüssig werden und sich dann überlegen, dass sienoch andere Optionen haben – zum Beispiel in das Land der Eltern oder Groß-eltern zurückzugehen, wo sie sich dann eher akzeptiert fühlen als hier.

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Diese neokonservative Sehnsucht, die da mitschwingt, findet man ja auch in anderenBereichen – viele Menschen sehnen sich nach mehr Sicherheit und klaren Regeln.Nach stärkeren Strukturen, genau. Das ist überall zu beobachten und diese Ge-fahren existieren natürlich immer. Aber die Diskurse darüber werden ebenimmer eine Weile heiß gekocht in den Medien und dann kommt wieder ein an-deres Thema in die Schlagzeilen. So war das ja auch in den Neunzigern mit denRechtsradikalen. Die waren ständig Thema der Berichterstattung. Heute gibt essie immer noch, aber nun wird eben über gewaltbereite „ausländische“ Jugend-liche berichtet. Über die Wirklichkeit sagen diese Wellen der Berichterstattungwenig aus. Man muss immer ganz nah bei den Personen bleiben. Verallgemei-nern oder nach Klischees urteilen bringt überhaupt nichts.

Können Sie den Verdruss der Jugendlichen nachvollziehen?Ich lebe seit meinem zweiten Lebensjahr in Deutschland – mit einer Unterbre-chung in meiner Jugend. Und trotzdem muss ich mich immer rechtfertigen underklären. Es nervt, dass das gar nicht mehr aufhört. Irgendwann ist man frus-triert und möchte einfach in Ruhe gelassen werden. Wenn ich nicht mit Kindernarbeiten würde, weiß ich gar nicht, ob ich noch Kraft und Lust hätte, mich immerwieder mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Es wird ja immer über die Integration gesprochen. Aber die meisten Menschensind schon lange integriert und das, so scheint mir, möchte man gar nicht sehen.Von uns wird verlangt, dass wir unauffällig werden, dass man das, was man alsUnterschied wahrnimmt, nicht mehr sieht. Aber das kann sich eine Gesellschaft

Aygen-Sibel Çelik bei einer Lesung inVattenfall (Bild: Christian Kalnbach)

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ja nicht wünschen, dass alle unauffällig gleich sind, dass es keine Besonderheitenmehr gibt.

Wenn Sie Thilo Sarrazin oder Pierre Vogel auf einen Kaffee treffen könnten, was würdenSie ihnen sagen?Ich glaube gar nicht, dass ich mit ihnen Kaffee trinken wollte! Und ich bezweifle,dass irgendetwas von dem, was ich sagen würde, dort ankäme. Aber das sindja gar nicht meine Ansprechpartner – ich schreibe für Kinder und Jugendliche.Ich möchte sie darin stärken, weiterhin offen aufeinander zuzugehen.

Aygen-Sibel Çelik wurde in Istanbul geboren und lebt, mit einer sechsjährigen Un-terbrechung in ihrer Jugend, seit ihrem zweiten Lebensjahr in Deutschland. Sie studierteGermanistik am Institut für Jugendbuchforschung in Frankfurt und arbeitete als Jour-nalistin und Redakteurin, bevor sie selbst mit dem Schreiben von Kinder- und Jugend-literatur begann. Zu ihren ersten Büchern zählen das deutsch-türkische Sinan undFelix sowie das mittlerweile in dritter Auflage erschienene Seidenhaar, für dessen Fer-tigstellung sie ein Arbeitsstipendium des Hessischen Ministeriums für Wissenschaftund Kunst bekam. Mit dem Exposé für Geheimnisvolle Nachrichten war sie für denFeuergriffel 2006 nominiert. Gerade ist bei Ueberreuter der Jugendroman Makellos abMitternacht erschienen, der sich mit Schönheitswahn und erster Liebe beschäftigt.

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