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B KULTURWISSENSCHAFTEN BA PHILOSOPHIE Phänomenologie Frankreich Rezeption AUFSATZSAMMLUNG 11-2 Neue Phänomenologie in Frankreich / Hans-Dieter Gondek ; László Tengélyi. - 1. Aufl. - Berlin : Suhrkamp, 2011. - 708 S. ; 18 cm. - (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft ; 1974). - ISBN 978-3-518-29574-8 : EUR 20.00 [#1774] Dieser umfangreiche Band bietet eine Bestandsaufnahme wichtiger Positionen der sogenannten Neuen Phänomenologie im französischen Kontext. Das Buch ergänzt die frühere Darstellung der phänomeno- logischen Klassiker des französischen Denkens, die Bernhard Waldenfels vorgelegt hat und die parallel zu diesem Band in einem Nachdruck erschienen ist. 1 Die Darstellung gliedert sich in vier Teile, abgesehen von einer Einleitung, die auf den Umstand hinweist, daß es der neuen Phänomenologie um eine Erfassung der „Sinnereignisse“ gehe (S. 40). Es handele sich dabei um eine Umwandlung des Phänomens gegenüber früheren Phänomenologien, indem das Phänomen als Ereignis bestimmt werde, in dem etwas Neues ins Bewußtsein einbreche (S. 39). Der Wandel im Begriff des Phänomens, als grundlegender Teil dieser Denkbewegung, muß daher als erstes betrachtet werden. Dazu wird auf drei Denker im besonderen eingegangen, Marc Richir, Michel Henry und Jean- Luc Marion. Im zweiten Teil wird dann auf die Differenzierung des verwandelten Phänomenbegriffs nach neuen Forschungsfeldern hingewie- sen, teils mit Bezug auf die bereits genannten Denker, aber auch unter Einbeziehung von Autoren wie Paul Ricoeur, 2 Lacan oder Janicaud. Phäno- menologie kommt hier zur Geltung als eine „andere Erste Philosophie“. Dies 1 Phänomenologie in Frankreich / Bernhard Waldenfels. - [Nachdr.] - Berlin : Suhrkamp, 2010. - 588 S. ; 18 cm. - (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft ; 644). - ISBN 978-3-518-28244-1 : EUR 18.00 [#1773]. - Rez.: IFB 11-2 http://ifb.bsz-bw.de/bsz333710525rez-1.pdf 2 Vgl. die Auswahlausgabe seiner wichtigsten Schriften: Der Konflikt der Interpretationen : ausgewählte Aufsätze (1960 - 1969) / Paul Ricoeur. Ausgew., hrsg. und eingel. von Daniel Creutz und Hans-Helmuth Gander. - Freiburg im Breisgau [u.a.] : Alber, 2010. - 271 S. ; 22 cm. - ISBN 978-3-495-48367-1 : EUR 29.00 [#1373]. - Rez.: IFB 11-2 http://ifb.bsz-bw.de/bsz31042495Xrez-1.pdf

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B KULTURWISSENSCHAFTEN BA PHILOSOPHIE Phänomenologie Frankreich Rezeption AUFSATZSAMMLUNG 11-2 Neue Phänomenologie in Frankreich / Hans-Dieter Gondek ;

László Tengélyi. - 1. Aufl. - Berlin : Suhrkamp, 2011. - 708 S. ; 18 cm. - (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft ; 1974). - ISBN 978-3-518-29574-8 : EUR 20.00 [#1774]

Dieser umfangreiche Band bietet eine Bestandsaufnahme wichtiger Positionen der sogenannten Neuen Phänomenologie im französischen Kontext. Das Buch ergänzt die frühere Darstellung der phänomeno-logischen Klassiker des französischen Denkens, die Bernhard Waldenfels vorgelegt hat und die parallel zu diesem Band in einem Nachdruck erschienen ist.1 Die Darstellung gliedert sich in vier Teile, abgesehen von einer Einleitung, die auf den Umstand hinweist, daß es der neuen Phänomenologie um eine Erfassung der „Sinnereignisse“ gehe (S. 40). Es handele sich dabei um eine Umwandlung des Phänomens gegenüber früheren Phänomenologien, indem das Phänomen als Ereignis bestimmt werde, in dem etwas Neues ins Bewußtsein einbreche (S. 39). Der Wandel im Begriff des Phänomens, als grundlegender Teil dieser Denkbewegung, muß daher als erstes betrachtet werden. Dazu wird auf drei Denker im besonderen eingegangen, Marc Richir, Michel Henry und Jean-Luc Marion. Im zweiten Teil wird dann auf die Differenzierung des verwandelten Phänomenbegriffs nach neuen Forschungsfeldern hingewie-sen, teils mit Bezug auf die bereits genannten Denker, aber auch unter Einbeziehung von Autoren wie Paul Ricoeur,2 Lacan oder Janicaud. Phäno-menologie kommt hier zur Geltung als eine „andere Erste Philosophie“. Dies

1 Phänomenologie in Frankreich / Bernhard Waldenfels. - [Nachdr.] - Berlin : Suhrkamp, 2010. - 588 S. ; 18 cm. - (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft ; 644). - ISBN 978-3-518-28244-1 : EUR 18.00 [#1773]. - Rez.: IFB 11-2 http://ifb.bsz-bw.de/bsz333710525rez-1.pdf 2 Vgl. die Auswahlausgabe seiner wichtigsten Schriften: Der Konflikt der Interpretationen : ausgewählte Aufsätze (1960 - 1969) / Paul Ricoeur. Ausgew., hrsg. und eingel. von Daniel Creutz und Hans-Helmuth Gander. - Freiburg im Breisgau [u.a.] : Alber, 2010. - 271 S. ; 22 cm. - ISBN 978-3-495-48367-1 : EUR 29.00 [#1373]. - Rez.: IFB 11-2 http://ifb.bsz-bw.de/bsz31042495Xrez-1.pdf

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hängt mit dem nach Gondek und Tengelyi durchgängigen Gegensatz der Phänomenologie „zur gesamten Tradition der europäischen Metaphysik“ (S. 211) zusammen, der sich auch in den neuesten Strömungen der Phänomenologie durchhalte, die ähnlich wie Heidegger dazu neige, die Metaphysik sich selbst zu überlassen (S. 212). Da z.B. Janicaud diese Vorstellung, Phänomenologie könne als eine andere Erste Philosophie an die Stelle der Metaphysik treten, ablehnt, ist es besonders wertvoll, daß das vorliegende Buch diese Debatte dokumentiert und also das, was im Kontext der Neuen Phänomenologie vorgetragen wird, nicht als unstrittig vorgestellt wird. Weitere Aspekte, die hier zur Sprache kommen, sind solche der Anthropologie (Spielarten der Leiblichkeit) sowie der Ort der Phänomenologie an der Grenze von Philosophie und Theologie, was mit dem verstärkten Interesse an theologischen Fragen in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten zu tun hat (S. 318). Der Status von so etwas wie „Offenbarung“ steht hier zur Diskussion, zumal in einer Philosophie, die sich darum bemüht, die Transzendenz Gottes „auszuschalten und die - wohlverstandene - Theologie auf die Grundlage einer radikalen Immanenz-idee zu versetzen (S. 319). Erfreulich ist auch der Umstand zu nennen, daß der Band zusätzlich zu den „eigentlichen“ Vertretern der neuen Phänomenologie zwei „Randgänger“ derselben vorgestellt werden, nämlich Jacques Derrida und Paul Ricoeur. Das ist insofern zu begrüßen, als dadurch noch einmal ein anderer Akzent in die gängigen Lesarten Derridas hineingebracht wird, indem der Gedanke in den Raum geworfen wird, Derrida vielleicht als Postphänomenologen zu betrachten, da er einerseits unstreitig aus dem Kontext des phänomeno-logischen Denkens hervorgegangen ist (und keineswegs aus dem Strukturalismus), zwar auch im Spätwerk wieder zu phänomenologischen Problemen zurückkehrt, ohne aber doch deshalb in den Schoß der Phänomenologie zurückgekehrt zu sein (S. 432). Der letzte, vierte Teil des durchgängig informativen und gehaltvollen Buches stellt in sieben Kapiteln phänomenologische Denker in Portraits vor: Didier Franck, Françoise Dastur, Éliane Escoubas, Jean-Louis Chrétien, Renaud Barbaras, Natalie Debraz und Jocelyn Benoist. Diese Namen stellen eine Auswahl dar, die auch eine gewisse innere Differenzierung der neuen Phänomenologie spiegelt. Zugleich soll damit keinesfalls behauptet werden, alles französische Denken sei heute phänomenologisch (S. 489); es ist also die hier vorgelegte Darstellung keine Gesamtübersicht über das franzö-sische Denken.3 Der Band ist nicht zuletzt bibliographisch wichtig, weil er im Literatur-verzeichnis wertvolle Informationen für den Aufbau oder Ausbau einer Bibliothek mit Schriften der französischen Phänomenologen enthält. Wer immer sich mit dem französischen Denken des 20. Jahrhunderts und der 3 Vgl. dazu als wichtiges Hilfsmittel Die französische Philosophie im 20. Jahrhundert : ein Autorenhandbuch / Thomas Bedorf ; Kurt Röttgers (Hrsg.). - Darmstadt : Wissenschaftliche Buchgesellschaft, [Abt. Verlag], 2009. - 400 S. ; 25 cm. - ISBN 978-3-534-20551-6 : EUR 79.90, EUR 49.90 (für Mitglieder) [#0416]. - Rez. in IFB 09-1/2 http://ifb.bsz-bw.de/bsz302583882rez-1.pdf

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Gegenwart befassen muß oder will - was eigentlich, von den eigentlichen Phänomenologen einmal ohnehin abgesehen, auf alle Kulturwissenschaftler zutrifft, - wird dankbar für die Existenz dieses Bandes sein, der ein differenziertes Bild des phänomenologischen Denkens zeichnet und vielfältige Anregungen enthält, wie sich heute phänomenologisch denken läßt. Man ist nach der Lektüre des Buches bestens gerüstet, sich eigenständig an der einen oder anderen Stelle vertieft mit den Schriften der Phänomenologen auseinanderzusetzen.

Till Kinzel QUELLE Informationsmittel (IFB) : digitales Rezensionsorgan für Bibliothek und Wissenschaft http://ifb.bsz-bw.de/ http://ifb.bsz-bw.de/bsz325322422rez-1.pdf