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Julia Scheidegger Radikale Hermeneutik VERLAG KARL ALBER A

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Julia Scheidegger

Radikale Hermeneutik

VERLAG KARL ALBER A

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Die vorliegende Arbeit versucht, die Lebensphänomenologie MichelHenrys als eine spezifische Variante der hermeneutischen Phänomeno-logie zu deuten, welche aufzeigen kann, dass eine volle Phänomen-beschreibung des Verstehens auch die unmittelbaren Verstehens-momente subjektiven Lebens einbeziehen sollte. Im Zentrum derLebensphänomenologie als einer hermeneutischen Theorie steht dietranszendentale Leiblichkeit, welche besagt, dass das Subjekt sich un-mittelbar affektiv in seiner Vermögensausübung versteht. Jedes ver-mittelte Verstehen zeigt sich fundiert in einem unmittelbaren, auf dieleiblichen und geistigen Vermögen bezogenen Selbstverstehen. DieseThese wird in den Themenbereichen der Sprache, der Ontologie unddes Verhältnisses von Ästhetik und Ethik expliziert. Nicht zuletzt hilfteine Neuinterpretation des ästhetischen Individualismus Oscar Wildes,den lebensphänomenologischen Ansatz zur Konstitution eines his-torisch variablen Begriffs menschlichen Lebens zu vervollständigen.Es zeigt sich so, dass sowohl die Lebensphänomenologie als auch dieHermeneutik für die Notwendigkeit der Formung bzw. der sinnhaftenGestaltung des individuellen, menschlichen Lebens plädieren, währenddie Gefahr der Form- und Sinnlosigkeit gebannt werden muss.

Die Autorin:

Julia Scheidegger studierte Philosophie und Geschichte in Basel undpromovierte über die Hermeneutik und Phänomenologie des Lebens.Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Pro*Doc-Programm»Menschliches Leben« des Schweizerischen Nationalfonds und Mit-arbeiterin am Philosophischen Seminar der Universität Basel.

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Seele, Existenz und LebenBand 20:

Julia Scheidegger

Radikale Hermeneutik

Michel HenrysPhänomenologie des Lebens

Verlag Karl Alber Freiburg/München

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Seele, Existenz und LebenHerausgegeben vonGünter Funke und Rolf Kühn

in Zusammenarbeit mit demInstitut für Existenzanalyse und Lebensphänomenologie Berlin(www.guenterfunkeberlin.de)

sowie demForschungskreis Lebensphänomenologie, Freiburg i. Br.(www.lebensphaenomenologie.de)

Originalausgabe

© VERLAG KARL ALBERin der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2012Alle Rechte vorbehaltenwww.verlag-alber.de

Satz: SatzWeise, FöhrenHerstellung: AZ Druck und Datentechnik, Kempten

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei)Printed on acid-free paperPrinted in Germany

ISBN 978-3-495-48519-4

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Für meine MutterBeatrix Scheidegger-Kindhauser

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Dank

Dieses Buch entstand als Dissertationsschrift im Rahmen des dreijäh-rigen Doktorandenkollegs (Pro*Doc) ›Menschliches Leben‹ des schwei-zerischen Nationalfonds. Die Dissertation wurde von Prof. Dr. EmilAngehrn am Philosophischen Seminar der Universität Basel betreut.Ich möchte Professor Emil Angehrn für seine Unterstützung herzlichdanken. Er hat mir unter anderem die Bedeutung des Verstehens fürdas menschliche Leben nahe gebracht. Dank gebührt ebenso PD Dr.Rolf Kühn, den deutschsprachigen Henry-Kenner, der von der erstenMinute meiner Interessebekundung an Michel Henrys Lebensphäno-menologie bereit war, meine Forschung zu unterstützen. Danken willich zudem meinem Vater Christoph Scheidegger für seine Bereitschaft,das Manuskript zu lesen und zu diskutieren.

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Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13I. Die Frage nach dem Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . 13II. Zwei Methoden: Verstehen und Erklären . . . . . . . . . . 15III. Die Objektivierung des Subjekts . . . . . . . . . . . . . . 18IV. Ausblick auf den Argumentationsgang . . . . . . . . . . . 25

1. Kapitel: Methodische und begriffliche Voruntersuchungen . 301.1 Wilhelm Diltheys Hermeneutik des Lebens . . . . . . . . . 30

1.1.1 Das Selbstverstehen und die Dialektik vonAllgemeinheit und Besonderheit . . . . . . . . . . 32

1.1.2 Diltheys Begriff des Lebens . . . . . . . . . . . . . 351.2 Der Begriff ›Leben‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37

1.2.1 Immanuel Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371.2.2 Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39

1.3 Phänomenale Genese des Lebensbegriffs:Husserl und Heidegger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451.3.1 Edmund Husserl . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451.3.2 Martin Heidegger . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48

1.4 Unmittelbares Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511.5 Phänomenologie des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . 53

1.5.1 Kritik am zweiten und dritten Grundprinzip . . . . 551.5.2 Die Ontologie des Individuums und die Fundierung

der Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 591.5.3 Theologische Aspekte des Henryschen Werkes . . . 601.5.4 Kritik an der Substantivierung des Lebens . . . . . 611.5.5 Henrys Spinozismus . . . . . . . . . . . . . . . . 63

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2. Kapitel: Die hermeneutische Phänomenologie . . . . . . . 672.1 Martin Heidegger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67

2.1.1 Das Dasein als ein Seiendes . . . . . . . . . . . . . 692.1.2 Unmittelbares Seinsverständnis . . . . . . . . . . . 722.1.3 Existentialität: Das Allgemeine der Existenz . . . . 742.1.4 Dasein und Zeitlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . 762.1.5 Phänomenologie und Hermeneutik . . . . . . . . . 782.1.6 Verstehen als Existenzial . . . . . . . . . . . . . . 802.1.7 Existenzialität und Selbst . . . . . . . . . . . . . . 81

2.2 Paul Ricœur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 832.2.1 Das Ich und das Selbst . . . . . . . . . . . . . . . 842.2.2 Das Cogito . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 852.2.3 Personale Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . 882.2.4 Narrative Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . 892.2.5 Die Ontologie der Hermeneutik des Selbst . . . . . 922.2.6 Kritik und Überleitung . . . . . . . . . . . . . . . 95

3. Kapitel: Verstehen und Sprache bei Michel Henry . . . . . 973.1 Selbstverstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98

3.1.1 Ontologische Kenntnis . . . . . . . . . . . . . . . 1013.1.2 Die zweifache Determination . . . . . . . . . . . . 1023.1.3 Ur-Intelligibilität des reinen Lebensvollzugs . . . . 104

3.2 Fremdverstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1053.3 Probleme mit der Fremderfahrung . . . . . . . . . . . . . 110

3.3.1 Konkrete Fremderfahrung . . . . . . . . . . . . . 1133.4 Die Differenz des individuellen Lebens zu seinem Wesen . . 1153.5 Phänomenologie der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . 117

3.5.1 Die transzendentale Genese der Sprache . . . . . . 1183.5.2 Die zweifache Verwendung der Zeichen nach Henry 1203.5.3 Der Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1223.5.4 Die Funktion der Sprache der Welt . . . . . . . . . 1233.5.5 Sprache des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . 1263.5.6 Allgemeines Wesen und besondere Instanz . . . . . 127

3.6 Der Stil nach Merleau-Ponty . . . . . . . . . . . . . . . . 1293.6.1 Die Produktion des Stils . . . . . . . . . . . . . . 1313.6.2 Die Rezeption des Stils . . . . . . . . . . . . . . . 1333.6.3 Resultat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134

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4. Kapitel: Das Allgemeine als ontologisches Prinzip desindividuellen Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136

4.1 Die Lebensphänomenologie Michel Henrys . . . . . . . . . 1364.1.1 Darstellung der Henryschen Lebensphänomenologie 1374.1.2 Kritik an der historischen Phänomenologie . . . . . 1374.1.3 Die phänomenologische Methode . . . . . . . . . . 1384.1.4 Singularität und Allgemeinheit . . . . . . . . . . . 1424.1.5 Henrys Kritik an der Husserlschen Eidetik . . . . . 1444.1.6 Die Realität der cogitationes und die Methode der

Gegen-Reduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1464.2 Darstellung der ontologischen Struktur des individuellen

Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1484.2.1 Die eidetische Struktur des Ego in

L’essence de la manifestation . . . . . . . . . . . . 1484.2.2 Zwei Phänomenalisierungsweisen:

Sein des Ego – Sein der Welt . . . . . . . . . . . . 1504.2.3 Phänomenalisierung oder Phänomenalität? . . . . . 1524.2.4 Wesensanalyse des Seins des Ego:

Erstes Grundprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . 1544.2.5 Zweites Grundprinzip: Pathos . . . . . . . . . . . . 1564.2.6 Pathos und Vermögen . . . . . . . . . . . . . . . 1604.2.7 Drittes Grundprinzip: Steigerung . . . . . . . . . . 1634.2.8 Michel Henrys spinozistische Denkmotive . . . . . 165

4.3 »Ich bin die Wahrheit« philosophisch gelesen . . . . . . . . . 1684.3.1 Das begriffliche Wesen des Lebens . . . . . . . . . 1694.3.2 Die sprachliche Darstellbarkeit . . . . . . . . . . . 172

5. Kapitel: Die Marxschen Frühschriften und dasWesen des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175

5.1 Marx als Philosoph gelesen . . . . . . . . . . . . . . . . . 1755.1.1 Hermeneutische Vorbemerkung zu Michel Henrys

Marx-Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1795.1.2 Michel Henrys Begriff subjektiver Praxis . . . . . . 1815.1.3 Praxis als Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . 186

5.2 Allgemeinheit und Besonderheit . . . . . . . . . . . . . . 1885.2.1 Das Allgemeine in den Marxschen Frühschriften . . 1885.2.2 Ideologiekritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191

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5.2.3 Henrys Marx-Lektüre: Kritik der Ideologie und dieVorschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193

5.3 Die Teleologie des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . 1955.3.1 Die Gemeinschaft und die Normativität des Begriffs 199

5.4 Die Normativität des Begriffs und dessengehaltvolle Offenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201

6. Kapitel: Oscar Wildes ästhetischer Individualismus . . . . 2036.1 Michel Henrys lebensphänomenologische Ästhetik . . . . . 206

6.1.1 Einbildungskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2106.1.2 Form und Leiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212

6.2 Oscar Wildes ästhetischer Individualismus . . . . . . . . . 2186.2.1 Leben und Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2216.2.2 Kollektiver Individualismus . . . . . . . . . . . . . 2256.2.3 Die Synthese von innerem und äußerem Gesetz:

De Profundis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2296.2.4 Ethik und Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . 2336.2.5 Die dialektische Einheit des Verstehens . . . . . . . 235

7. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238

Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243

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Inhalt

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Einleitung

I. Die Frage nach dem Leben

Was heißt es, das Leben zu verstehen? Inwiefern kann die Philosophieuns ein Verständnis des Lebens vermitteln? Ist das Leben nicht vorallem der Gegenstand anderer Wissenschaften, zum Beispiel der Biolo-gie und der Soziologie? Um die besondere Weise aufzuzeigen, in wel-cher die Philosophie auf die Frage nach dem Leben eine Antwort zugeben vermag, sei kontrastierend auf letztere beiden wissenschaftli-chen Zugänge zum Leben kurz eingegangen.

Biologie und Soziologie bemühen sich um ein verbessertes Ver-ständnis des Lebens in zwei verschiedenen Hinsichten. In der Biologiegeht es um ein Verständnis der allgemeinen Gesetzmäßigkeiten desLebendigen und um die systematische Ordnung der diversen Gestaltenund strukturellen Ähnlichkeiten des Lebendigen. Mit der Genetik ge-winnt die Molekularbiologie gar im Genom ein Vergleichsmaß allenLebens. Nicht umsonst hat sich im deutschsprachigen Raum langsamder aus dem Englischen stammende Begriff der Lebenswissenschaften(Life Sciences) für die mit naturwissenschaftlichen Methoden vor-gehenden biologischen Wissenschaften eingebürgert. Die sciences hu-maines bzw. die Humanwissenschaften auf der anderen Seite, unterihnen die Soziologie, sind das Gesamt jener Wissenschaften, die einenAspekt spezifisch menschlichen Lebens zum Gegenstand haben. DieSoziologie interessiert sich für menschliche Lebewesen nun nicht so-fern sie lebendig sind, sondern sofern sie als menschliche Wesen gesell-schaftsbildend sind. Sie interessiert sich für die Funktionszusammen-hänge, in welchen und durch welche soziale und nicht biologischeSysteme entstehen und sich erhalten.

Nun zeigen diese beiden exemplarisch herausgegriffenen Wissen-schaften, die Biologie und die Soziologie, trotz ihrer unterschiedlichenInteressenlage eine Strukturähnlichkeit. Für beide ist das Leben derGegenstand ihrer wissenschaftlichen Bemühungen. Jede Wissenschaft

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besitzt ihren spezifischen Gegenstand; dieser selbst sowie der metho-dische Zugang zu ihm bestimmen die Differenzen zwischen den ver-schiedenen Wissenschaften. Unter ›Gegenstand‹ ist hier der jeweiligeObjektbereich einer Wissenschaft gemeint. Ein einziger Objektbereichkann durchaus der Gegenstand verschiedener Wissenschaften sein, wiedies beim Leben als wissenschaftlicher Gegenstand offenbar der Fall ist.

Doch was heißt es, das Leben zum Gegenstand einer Wissenschaftzu machen? Es heißt genau dies: das Leben zu einem Gegenstand zumachen. Nun ist aber zu fragen, ob dasjenige, was uns interessiert,wenn wir das Leben verstehen wollen, notwendig das Leben als einGegenstand ist, dem wir uns zuwenden. Wollen wir das Leben nichtauch verstehen, sofern wir selbst lebendig sind? Zwar ist es durchausnicht zu bezweifeln, dass das Leben der Gegenstand der Natur- undSozialwissenschaften sein kann, doch es ist fraglich, ob wir tatsächlichnach demselben fragen, je nachdem, ob wir uns dem Leben als einemObjekt zuwenden, oder ob wir vielmehr wissen wollen, was es für unsselbst heißt, lebendig zu sein. Es soll im Folgenden gezeigt werden, dassdie Philosophie auf beide Fragen zu antworten weiß. Sie besitzt zwarebenfalls den Gegenstand ›Leben‹ als einen ihrer Gegenstände, aber sieeröffnet uns zudem einen Weg zur Thematisierung des Lebens so, wiewir es in uns selbst erfahren.

Der zweifachen Zugangsweise zum Leben, zum einen objektiv,zum andern subjektiv, entspricht eine zweifache Bedeutung des Wortes›Leben‹.1 Einerseits meinen wir mit dem Wort ›Leben‹ den Prozess, dersich an den Lebewesen beobachten lässt, anderseits meinen wir damitdas subjektive Erleben desselben, d. h. das eigene Erleben dieses Pro-zesses, welches im Folgenden auch als ›subjektives Leben‹ oder als ›Le-bensvollzug‹ bezeichnet wird. Wenn wir von jemandem zum einen sa-gen: »Er ist mit dem Leben davongekommen« und zum andern sagen:»Er ist mit seinem Leben zufrieden«, dann meinen wir im ersten Fall,dass jemand weiterhin durch den Prozess des Lebendigseins bestimmtist. Im zweiten Fall meinen wir vielmehr, dass jemand sein eigenesLeben in einer gewissen Weise erfährt. Um diese beiden Aspekte desLebensbegriffs genauer fassen zu können, wenden wir uns einer kur-zen Reflexion über die Methode zu, mittels welcher uns das Leben indiesen beiden Hinsichten zugänglich wird.

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Einleitung

1 Vgl. Renaud Barbaras, Introduction à une phénoménologie de la vie, Paris 2008,S. 19 ff.

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II. Zwei Methoden: Verstehen und Erkl�ren

Auf den ersten Blick könnte man vermuten, das Leben sei nur einereinzigen Methode zugänglich, nämlich einer naturwissenschaftlichenMethode. Demnach wäre ›Leben‹ eine Eigenschaft von bestimmtenDingen in der Welt, nämlich der Lebewesen. Doch indem wir spezifischdanach fragen, wie das Leben zu verstehen sei, haben wir eine Nuanceeingeführt, die nun genauer zu klären ist. Wir sprechen nämlich in derAufteilung der Wissenschaften nicht nur von Natur- und Humanwis-senschaften, sondern ebenso vom Dualismus zwischen Natur- undGeisteswissenschaften. Seit dem 19. Jahrhundert wird im Zuge derSelbstklärung der akademischen Wissenschaften zwischen zwei unter-schiedlichen Wissenschaftsbereichen und zwei verschiedenen metho-dischen Zugängen zum jeweiligen Objekt des Wissens unterschieden:Die Natur ist der Gegenstand der Naturwissenschaften; der mensch-liche Geist ist der Gegenstand der Geisteswissenschaften. Die Geistes-wissenschaften bezeichnen ihre Methode als Verstehen, die Naturwis-senschaften hingegen nennen ihre Methode das Erklären.2 Dies istprimär eine terminologische Festlegung, die erst in der Gegenüberstel-lung der beiden Methoden sinnvoll wird, denn in der Alltagsspracheunterscheiden wir oft nicht zwischen ›erklären‹ und ›verstehen‹. ImFalle des Erklärens als einer wissenschaftlichen Methode wird etwasbegriffen, indem es mittels Induktion unter ein Gesetz gestellt wird.Das leitende Forschungsinteresse ist nicht die Erkenntnis des Einzelnenals solchen, sondern die Erkenntnis des allgemeinen Gesetzes, unterwelches das Einzelne fällt. Im Falle des Verstehens hingegen wird einEinzelnes begriffen, indem es in bestimmte Relationen zu anderemgestellt und beschrieben wird. Diese Unterscheidung pflegt man auchals Gegenüberstellung von nomothetischer, abstrahierender versusideographischer, beschreibender Methode zu fassen.3

Die dem Verstehen zugeordneten Zusammenhänge, in welchenein Einzelnes steht, sind keine vom Subjekt unabhängigen Zusammen-hänge, d. h. sie sind nicht von der einzelnen Forscherin, welche dieseMethode anwendet, unabhängig, während die Gesetze der Naturwis-

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Zwei Methoden: Verstehen und Erkl�ren

2 Wilhelm Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften [1883], in: GesammelteSchriften, Band I, Leipzig/Berlin 1923.3 Unterscheidung nach Wilhelm Windelbrand, Geschichte und Naturwissenschaft[1894], Straßburg 19043 .

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senschaften (im Idealfall) nicht von der Individualität und geschicht-lichen Situiertheit des Wissenschaftlers abhängen. Im methodischenVerstehen aber ist die Forscherin selbst in den von ihr aufgespanntenZusammenhang eingebunden.4 Plausibel wird dies an einem Beispiel:Wer eine Pflanzenart erklären will, muss sie in die Systematik derPflanzen einordnen. Wer hingegen ein historisches Ereignis verstehenwill, muss es nicht nur in eine Folge anderer Ereignisse einordnen,sondern diese Folge von dem bestimmt sein lassen, was ihm derzeit anMaterial zugänglich ist und was ihn an diesem besonderen Ereignisinteressiert.

Bekanntlich war es in der Neuzeit Giambattista Vico, welcher be-hauptete, dass dem Menschen vor allem jene Dinge verständlich sind,die er selbst geschaffen hat.5 Nicht nur für die Geschichts- und Kultur-reflexion gewinnt dieses Motto in der Moderne eine zentrale Bedeu-tung, sondern auch für die Erkenntnistheorie. Selbst für den Kritizis-mus Immanuel Kants besitzt das Erkennen nur relativ zur Ausübungdes menschlichen Verstandes seine Geltung. »Nur durch das was derVerstand selbst macht versteht das Subject seinen Gegenstand«, so dass»wir nichts einsehen als was wir selbst machen können«.6 In dieserPerspektive sind selbst naturwissenschaftliche Theorien von uns »Ge-machtes« und daher ist auch deren Erkenntnis eine spezifisch mensch-liche.

Doch ein derart universal gefasster Verstehensbegriff untermi-niert die zentrale Methodendifferenz, die den Natur- und den Geistes-wissenschaften zugrunde liegt. Was dabei zu unterscheiden ist, istnicht so sehr die Selbstbezüglichkeit, die beide Methoden in letzterInstanz bestimmt, sofern sie Tätigkeiten des Menschen sind, sondernvielmehr das Ziel dieser Selbstbezüglichkeit. Im Falle der Naturwissen-schaften ist es die Naturerkenntnis, die der Verstand sich zum Zielsetzt; im Falle der Geisteswissenschaften ist es der Geist, der sich selbst

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Einleitung

4 Nicht zuletzt ist dasjenige, was Hans-Georg Gadamer das »Einrücken in ein Überlie-ferungsgeschehen« genannt hatte, ein Ausdruck dieser unhintergehbaren Einbettungdes verstehenden Individuums in das historisch situierte Ausdrucksgeschehen eines an-deren Menschen (H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philoso-phischen Hermeneutik, Tübingen 1960, S. 274/275).5 Giambattista Vico, Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völ-ker, Übers. E. Auerbach, Berlin/New York 2000.6 Immanuel Kant, Opus postumum, in: Akademie-Ausgabe, Band 21, Berlin/Leipzig1936, S. 578; Ebd., Band 22, Berlin/Leipzig 1938, S. 353.

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erkennen will in dem, was er der Welt hinzugefügt hat wie zum Bei-spiel kulturelle Gebilde wie Artefakte und Institutionen. Der hier ge-troffene Unterschied zwischen Verstand und Geist will besagen, dassder Verstand als universales Werkzeug des Menschen immer die for-male Ursache der Erkenntnis ist. Der Begriff des Geistes hingegen zieltnicht so sehr auf das Vermögen der Erkenntnis der Welt ab als vielmehrauf einen Begriff dessen, was der Mensch qua Mensch in der Welt her-vorbringen und sich aneignen kann. Im Selbst-Verstehen des Geistesist der Verstand daher nicht nur formal auf sich selbst, sondern zudemund notwendig material auf das bezogen, was er selbst einst hervor-gebracht hatte.

Diese materiale Selbstbezüglichkeit heißt für das Verstehen, dassder Gegenstand, auf den sich eine konkrete, individuelle Person be-zieht, nicht von ihr als einer Verstehenden zu trennen ist. Dies führtzur zweifachen Korrelation: Die Art und Weise, wie man sich selbstversteht, beeinflusst die Art und Weise, wie man Dinge in der Weltversteht – und wie man Dinge in der Welt versteht, bestimmt wieder-um das Selbstverstehen.

In der Trias von Natur-, Human- und Geisteswissenschaften ha-ben nun die Humanwissenschaften im Gegensatz zu den Geisteswis-senschaften die besondere Eigenschaft, zwar einen Gegenstandsbereichzu erschließen, welcher traditionell dem Verstehen zugeordnet wurde,nämlich die menschlichen, geistigen Lebensäußerungen. Diesen Ge-genstand aber wollen sie mit den von der Naturwissenschaft übernom-menen Methoden erfassen. Es werden objektiv überprüfbare Parame-ter aufgestellt, an welchen sich ein Aspekt menschlichen Lebensmessen lassen soll. Generell muss in jeder Art von Wissenschaft eineKorrelation von Gegenstand und Methode postuliert werden. Damitdie Methode ihren Gegenstand erfassen kann, muss der Gegenstandselbst der Methode entsprechen. Dies führt jedoch in den Humanwis-senschaften dazu, das Humane als einen Gegenstand zu verstehen,welcher nicht mit dem erkennenden Subjekt identisch ist. Nicht daseigene Menschsein wird betrachtet, sondern das statistisch gewonneneMenschliche. Das menschliche Leben, welches das Objekt der Sozial-wissenschaften ist, ist nicht das erkennende Subjekt selbst, sondern derDritte, den man beobachtet und über den man spricht. Das Leben deserkennenden Subjekts kann darum nicht Gegenstand der Humanwis-senschaften sein, weil das erkennende Subjekt nicht zugleich auch seineigener Gegenstand sein kann. Was menschliches Leben ist, kann daher

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Zwei Methoden: Verstehen und Erkl�ren

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in den Naturwissenschaften wie auch in den Humanwissenschaftennur repräsentativ am Anderen als dem Dritten als etwas Objektivesabgelesen werden.

Wenn wir hingegen erforschen wollen, wie wir unser eigenes,subjektives Leben verstehen, müssen wir uns vielmehr den Geisteswis-senschaften zuwenden, um einen dennoch methodisch angeleitetenZugang dazu zu gewinnen. Wenn es um das subjektive Leben geht,dann besitzen wir die herausragende Möglichkeit eines im Sinne derGeisteswissenschaften verstehenden Zugangs. So wie wir Geist sindund daher Geist verstehen können, so sind wir Leben und sollten daherdas Leben verstehen können. Doch ist dem wirklich so?

III. Die Objektivierung des Subjekts

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir sehen, was die Hermeneu-tik als die Lehre von der Methode des Verstehens, unter dem Begriff›Leben‹ fasst. Die Hermeneutik hat ihren Ursprung in der Text-auslegung. Seit dem 19. Jahrhundert wurde das Anwendungsfeld desVerstehens jedoch immer stärker auf alle vom Menschen hervor-gebrachten Ausdrucksformen ausgeweitet, bis in der hermeneutischenPhänomenologie des 20. Jahrhunderts die Seinsweise des Menschenüberhaupt als verstehend begriffen wurde.

In der Konzeptualisierung der Hermeneutik als Methodologie derGeisteswissenschaften seit Wilhelm Dilthey wird der Begriff ›Leben‹nicht naturalistisch gefasst, d. h. das Leben nicht als Charakteristikvon Gegenständen angesehen. ›Leben‹ wird vielmehr in den Geist-begriff der Geisteswissenschaften integriert. Menschliches Leben istgeistiges Leben, sofern das Leben, welches sich objektiv ausdrückt, mitdem sich objektivierenden Geist identifiziert werden kann. Genau ausdiesem Grund besitzt der hermeneutische Zugang zum Leben aber denNachteil, dass er zwischen dem Leben als subjektiv erlebtem Lebens-vollzug und dem Leben als sich in der Welt objektivierendem Geistnicht zu unterscheiden vermag. Dieses Problem ist so zu beschreiben:Für die philosophische Hermeneutik ist das Leben sowohl deren Objektals auch deren Subjekt, sodass sich das Leben zu verdoppeln scheint inein Leben, welches erkannt wird und in ein Leben, welches sich erken-nen will. Es ist dies eine Dualität, die zugleich im Anspruch auf Selbst-verstehen aufgehoben wird und in der Realisierung dieses Anspruchs

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Einleitung

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bestehen bleibt. Dies heißt, dass in der Relation von Gegenstand undMethode der Geisteswissenschaften ein innerer Widerspruch enthaltenist. Für dessen Lösung wird in den Geisteswissenschaften generell wie-derum auf eine Methode zurückgegriffen, die eigentlich der Naturwis-senschaft zugehört, sofern in letzterer der Erkenntnisgegenstand einvom Subjekt unabhängiges Objekt ist, auch wenn er im Gegensatz zuden Naturwissenschaften keinen allgemeinen Gesetzen untergeordnetwird.

Der Unterschied zwischen Verstehen und Erklären verdeckt so dieGemeinsamkeit des objektivierenden Bezugs zum Gegenstand in denGeistes- und Naturwissenschaften. Vor allem zwei methodische Ver-stehensansätze sind hier zu nennen: die beschreibende Auslegung vonobjektiven Gebilden und die Introspektion. Der zu verstehende Gegen-stand ist entweder ein weiterer Objektbereich in der Welt, den manbeschreibend auslegt, oder er ist ein quasi-objektiver Bereich im Innerndes Subjekts, den man mittels Introspektion erfasst. Der individuelle,eigene Lebensvollzug, um den es in dieser Arbeit gehen wird, kannaber derart nicht erfasst werden, weil er zwar der Ausgangspunkt desVerstehens, aber nicht zugleich auch der objektive Gegenstand des-selben sein kann.

Doch damit ist die Methode des Verstehens nicht gescheitert. Wirmüssen vielmehr lediglich einsehen, dass ihr Gegenstandsbereich dasverstehende Subjekt selbst nicht einschließt, während ein objektivie-rendes Selbstverstehen und das Verstehen anderer Menschen durchausmittels Verstehen möglich sind. Wenn wir uns selbst aber mit der Fragenach dem subjektiven Leben nicht nur als Objekt, sondern als Subjektverstehen möchten, müssen wir einen anderen methodischen Weg fin-den. Dieser Weg muss zwei Schwierigkeiten überwinden können:

1. Wir müssen erklären, wie das erkennende Individuum sowohlSubjekt als auch Objekt seines Lebensverstehens sein kann.

2. Wir müssen versuchen, dies zu leisten, ohne in eine quasi-naturwissenschaftliche Wiederholung der Vergegenständlichung, ent-weder als eine Objektivierung des Subjekts in der Welt oder im Innerndes Subjekts, zurück zu fallen.

Die Anziehung, welche das Objektivierungsparadigma ausübt, istso groß, dass es selbst in jene philosophischen Thematisierungen desLebens Eingang fand, die gerade das Leben von seinem Selbstverständ-nis her begreifen wollten. Ihr Problem war es, dass sie wegen der Un-möglichkeit der methodischen Erkenntnis des individuellen Lebens

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dieses entweder als undifferenzierte, physikalische Kraft, oder als einnicht-physikalisches, schöpferisches All-Leben zu fassen versuchten,wie sich dies exemplarisch in Bergsons Konzeption eines élan vital fin-det.7 Die Verbindung von Hermeneutik und Ontologie in der herme-neutischen Phänomenologie führte zu einer weiteren Variante, in wel-cher das Selbstverstehen sich objektiviert. Exemplarisch sei hier dieDaseinsanalytik Martin Heideggers genannt. Heideggers Diktum inSein und Zeit: »Das Leben ist eine bestimmte Seinsgattung, aber sieist nur vom Dasein her zugänglich«8 , verleitet dazu, das eigene Lebenals bestimmter Fall einer Seinsgattung zu verstehen, welche ihrerseitsnicht nur auf das eigene, sondern ebenso auf anderes individuelles Le-ben als Verstehensmuster anwendbar wäre. Dem widerspricht jedochunser Anspruch, das eigene, individuelle Leben und nicht lediglich eineallgemeine Struktur des je individuellen Lebens verstehen zu wollen.

Diese Überlegungen führen zur zweiten zentralen Frage, die hiereinführend gestellt werden soll: Gibt es überhaupt eine Methode, wel-che nicht verallgemeinernd wirkt? Mit anderen Worten: Kann es eineWissenschaft vom Individuellen, d.h. eine Wissenschaft vom subjektiverlebten, individuellen Leben überhaupt geben? Dem könnte man miteiner anderen Frage entgegnen: Hat die Wissenschaft denn überhauptden Anspruch, das subjektiv erlebte Leben zu verstehen? Im Falle derHermeneutik könnte man nämlich sagen, dass diese, deren Haupt-gegenstand das Verstehen anderer Menschen (Fremdverstehen) ist,tatsächlich nicht den Anspruch hat, das Leben in seinem subjektivenVollzug zu begreifen. Doch zumindest seit der Herausbildung derphänomenologischen und philosophischen Hermeneutik Anfang des20. Jahrhunderts steht gerade das Selbstverstehen des die Welt verste-henden und auslegenden Subjekts im Zentrum des Interesses. Damitfolgt die hermeneutische Phänomenologie allerdings einer in der Her-meneutik bereits enthaltenen Intention und bringt diese erst klar zurArtikulation. Es war die ausgewiesene Intention gerade der Geisteswis-senschaften, dem Besonderen, der Individualität und Singularität ihresGegenstandes gerecht zu werden. Was aber ist individueller und singu-lärer als das eigene Leben? Doch wenn wir zugestehen, dass das Ver-stehen tatsächlich die unhintergehbare Individualität des eigenen

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7 Henri Bergson, L’évolution créatrice [1907], Paris 1921.8 Martin Heidegger, Sein und Zeit [1927], Tübingen 199317 , S. 50.

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Lebens zu ihrem Gegenstand hat, könnte das Verstehen dann tatsäch-lich noch eine wissenschaftliche Methode sein?

Die Frage nach der Erkennbarkeit des Individuellen stand bereitsseit den Anfängen der Ausdifferenzierung von Geistes- und Naturwis-senschaften im Zentrum der Debatte um die Wissenschaftlichkeit derGeisteswissenschaften und um die Methodizität des Verstehens.9 Indiesem Umkreis stellt sich auch die Frage nach dem Allgemeinen, wel-che die folgende Arbeit leiten wird. Die Kategorie des Allgemeinengehört wesentlich zum Verstehen dazu und damit auch zur Hermeneu-tik als der Lehre des Verstehens. Dennoch hat das Allgemeine im Ver-stehensprozess eine unklare Stellung. Bereits bei Friedrich Schleierma-cher, dem Begründer der allgemeinen Hermeneutik zu Anfang des19. Jahrhunderts, wird die Unterscheidung zwischen dem Verstehendes Einzelnen und dem Verstehen des Allgemeinen als zwei verschie-dene, einander ergänzende Verstehensmomente thematisiert, dieSchleiermacher ›divinatorisch‹ und ›geschichtlich‹ nennt10 . Der Grunddafür, dass dem Verstehen eine Relation von Besonderheit und All-gemeinheit zugrunde liegen muss, liegt in der Form der Erkenntnisüberhaupt, nämlich in der Tatsache, dass jede Erkenntnis eine Erkennt-nis von etwas ist. Mit anderen Worten besteht jede Erkenntnisaussagenotwendig aus einem Satzsubjekt und einem Prädikat. Während dasSatzsubjekt ein je individuelles sein mag, kann das Prädikat keine reineBesonderheit ausdrücken, sondern es verbindet das Individuelle mitallgemeinen Eigenschaften, Tätigkeiten oder Bezügen.

Auf der Seite des Erkenntnissubjekts in Relation zu seinem Ob-jekt findet sich eine ähnliche Struktur, wenn Ersteres versucht, sichselbst zu verstehen. Der subjektive Geist kann sich nur auf sich bezie-hen, indem er zwischen sich als Erkennendem und als Erkanntem eineDistanz einführt. Er mag zwar sich selbst als Erkenntnisobjekt meinen,aber nur über allgemeine Prädikate kann von dieser gemeinten Singu-larität, die er selbst ist, etwas ausgesagt werden. Daher vermag dersubjektive Geist sich nicht unmittelbar selbst zu erkennen. Der subjek-

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9 Ein später Kritiker ist Hans-Georg Gadamer in Wahrheit und Methode, Tübingen1960. Dort zeigt Gadamer, dass das vermeintlich induktive Verfahren des geschicht-lichen Bewusstseins gerade den Fehlschluss zulässt, dass es im Verstehen um die Er-kenntnis von allgemeinen Gesetzen geht (Ebd., S. 228/9).10 Friedrich Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik. Mit einem Anhang sprachphi-losophischer Texte Schleiermachers, Hrsg. v. M. Frank, Frankfurt am Main 1977, S. 93/4.

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tive Geist kann sich nur erkennen, indem er sich selbst objektiviert,d. h. einen objektiven, über allgemeine Prädikate vermittelten Zugangzu sich gewinnt. Dennoch muss es im Verstehen eines Singulären – amstärksten in der reflexiven Wendung auf sich selbst – ein Wissen vonder Singularität geben, die sich darin zwar keinen Ausdruck zu gebenvermag, die aber mit höchster Wahrscheinlichkeit dem Wissen um dieeigene Subjektivität entstammt. Wenn der Hermeneutik als Methodo-logie der Geisteswissenschaften vorrangig daran gelegen war, andereMenschen bzw. deren kulturelle Produkte in ihrer Besonderheit zu ver-stehen, dann scheint sie gerade deswegen in dem auf das Besonderegerichteten Verstehensmoment auf ein unvermitteltes Selbstverstehendes Interpreten zu rekurrieren, das unthematisch im Verstehen immerschon enthalten, aber darin nicht explizit artikulierbar ist.

Dieses unthematische Selbstverstehen zu explizieren sollte, wiebereits oben erwähnt, mittels Introspektion möglich sein. Doch mittelsIntrospektion kann der subjektive Geist zwar eine Repräsentation sei-ner selbst als Gegenstand der Betrachtung gewinnen, doch ob der sub-jektive Geist tatsächlich identisch ist mit der mentalen Repräsentationseiner selbst, bleibt methodisch nicht überprüfbar. Dies ist der Grunddafür, warum die Introspektion weiter oben ebenfalls als eine quasi-naturwissenschaftliche Methode bezeichnet wurde. Auch die ersteoben erwähnte Methode hilft bei der Artikulation des unthematischenthaltenen, subjektiven Verstehens nicht weiter. Diese besagt, dassder subjektive Geist – sofern er sich nicht unmittelbar selbst betrachtenkann – der Gegenstände in der Welt bedarf, um sich, vermittelt überdiese Gegenstände, selbst zu verstehen. Mit anderen Worten bedarf esder Umdeutung des subjektiven Geistes in einen objektivierten, ver-gegenständlichten Geist. Doch haben wir dabei wirklich mehr gewon-nen? Ist nicht die Gefahr der Verfehlung dessen, was wir verstehenwollen, im Falle des Selbstverstehens über Objekte ebenso groß odergar noch größer als im Falle der Introspektion?

Hier ist es nun wichtig, eine Differenzierung einzuführen, welchezwischen dem, was jeweils auf dem Spiel steht, genauer zu unterschei-den erlaubt. Im Falle der Introspektion ist es nicht so sehr der subjekti-ve Geist, der sich selbst verstehen will; es ist vielmehr der subjektiveGeist, der sich als objektiver Geist verstehen möchte, indem es sichzum Objekt seines Verstehens macht. Die Introspektion gehört daherzwar zur Methode des Selbstverstehens dazu, aber sie ermöglicht keinunmittelbares Selbstverstehen. Das Verstehen eines anderen Men-

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schen hingegen geht aus von einem im Selbstverstehen geübten Indi-viduum, welches sich selbst bereits als objektiven Geist betrachtet undden Anderen als eine weitere Instanz dieses Geistes zu verstehen ver-sucht. Wir sollten daher zwischen dem Selbstverstehen und demFremdverstehen eine klare Unterscheidung treffen, indem wir einemittlere Verstehensfigur bestimmen, in welcher das Selbstverstehensich derart konstituiert, als wäre es ein Fremdverstehen. Ich möchtedieses Selbstverstehen ein objektivierendes Selbstverstehen nennen.Letzteres ist vom reinen Selbstverstehen, welches bisher noch nichtthematisch wurde, abzugrenzen.

Fremdverstehen und objektivierendes Selbstverstehen sind derartauf einander bezogen, dass beide einander bedingen. Es ist nicht nur so,dass das objektivierende Selbstverstehen das Fremdverstehen ermög-licht, es ist vielmehr zugleich so, dass dieses objektivierende Selbstver-stehen seinerseits schon eine Art von Fremdverstehen ist, sofern dasSubjekt sich gerade so versteht, als wäre es ein Objekt, d. h. als wäre esein ›fremdes Subjekt‹.

Wir haben gesehen, dass die Introspektion ebenfalls eine objekti-vierende Methode ist, sofern sie eine mentale Repräsentation des Sub-jekts zugänglich macht, sodass die Differenz zwischen der Introspekti-on und der Selbstauslegung über Weltobjekte im Falle desSelbstverstehens von der Identität ihres objektivierenden Bezugs über-schattet wird. Heißt dies nun entweder, dass es kein unvermitteltesSelbstverstehen gibt oder heißt es, dass wir die falsche Methode ange-wendet haben? Wie steht es mit dem reinen Selbstverstehen, welchesnicht vermittelt ist über die Auslegung innerer oder äußerer Objekte?

Einen ersten Anhaltspunkt gibt das introspektive und über äußereObjekte vermittelte Verstehen, sofern wir es als eine subjektiv erlebteTätigkeit betrachten. Was hier zu bedenken ist, wird für die weitereArgumentation entscheidend sein. Das Subjekt versteht sich nämlichnicht nur über den jeweiligen Gehalt seines Selbstverstehens, sondernes versteht sich zugleich über den Akt seiner Verstehensleistung.11 Aneinem Beispiel erläutert heißt dies: Das Subjekt des Verstehens ver-steht sich als Mitglied eines Buchclubs und zugleich begreift es sichdarin als ein verstehendes Subjekt. Es weiß darum, dass es sich verste-hend in der Welt betätigt, indem es sich als Mitglied eines Buchclubs

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11 Emil Angehrn, Interpretation und Dekonstruktion. Untersuchungen zur Hermeneu-tik, Velbrück 2003, S. 216f.

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versteht. Dies bedeutet aber nicht so sehr, dass ein Subjekt sich selbstals verstehendes Subjekt versteht, sondern viel mehr noch, dass es inder Tätigkeit des Verstehens von dieser Tätigkeit selbst weiß. Es weißnicht nur, dass es verstehend ist, sondern es weiß zugleich, wie es ist,verstehend zu sein. Nicht nur das Verstehen als praktisches Können isthier gemeint, sondern das Wissen um dieses praktische Können so, wiees erlebt wird. Ein solches Selbstverstehen ist nicht über ein Objektvermittelt, denn es geht darin weder um eine einzelne Verstehensleis-tung, noch um einen einzelnen Verstehensgehalt. Dieses Verstehen istvielmehr ein unmittelbares Verstehen des Verstehens selbst, ein Ver-stehen der Verstehenstätigkeit so, wie sie subjektiv erlebt wird.

Die Frage, die sich stellt, wenn man die Realität eines solchen un-vermittelten Selbstverstehens postuliert, ist folgende: Ist dieses Selbst-verstehen nur ein rein formales Element oder geht es auch in den Ge-halt des vermittelten, objektivierenden Verstehens ein? Zu Beginndieser Arbeit kann vorerst nur postuliert werden, dass das nicht-objek-tivierende Selbstverstehen nicht lediglich eine formale Bedingung al-len Verstehens ist, sondern dieses Verstehen auch material bestimmt.

Ein Hinweis darauf, dass das ›Verstehen des Verstehens‹ in denGehalt des Verstehens eingeht, ist die Tatsache, dass wir davon spre-chen, dass das Leben sich äußert bzw. dass es Lebensäußerungen gibt.Wenn wir sagen, dass gerade die kulturelle Welt aus Lebensäußerun-gen besteht, dann können wir dies nur deswegen wissen, weil wir nichtnur zu unseren objektiven Lebensäußerungen einen privilegierten Zu-gang haben, sondern weil wir nur von uns her wissen können, was inder Welt tatsächlich in einem Zusammenhang des Ausdrucks, der Ent-äußerung stehen kann. Nur weil für uns im Gegenstand, den wir in derWelt verstehen wollen, etwas von unserem subjektiven ›Verstehen desVerstehens‹ bzw. unseres Wissens um das Verstehen enthalten ist, kön-nen wir den kulturellen Gegenstand als Ausdruck eines Subjekts be-greifen. Dieses Wissen um das Verstehen ist das Wissen um den Voll-zug des Verstehens. Sofern der Vollzug genau die Weise ist, wie wirunser subjektives Leben erfahren, kann das Wissen um das Verstehenauch der subjektive Lebensvollzug genannt werden.

Aus dieser entworfenen Ausgangslage entstehen zwei Aufgaben:1. Es ist zu zeigen, dass der subjektive Lebensvollzug ein Selbstver-

stehen ist, welches sich nicht in der Objektivierung desselben er-schöpft, sondern ein Verstehen eigener Art ist. (1. Postulat: Dua-lismus der Verstehensweisen)

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2. Wir haben zu zeigen, dass alles Lebensverstehen, also auch dasVerstehen kultureller Gebilde und anderer Menschen, nur durchdieses vorgängige Verstehen des subjektiven Lebensvollzugsmöglich ist. (2. Postulat: Fundierungsrelation zwischen den bei-den Verstehensweisen).

IV. Ausblick auf den Argumentationsgang

Das objektivierende Verstehen des eigenen sowie des fremden Lebenssetzt ein subjektives Lebensverstehen in zwei Hinsichten voraus. Es isterstens die ontologische und erkenntnistheoretische Ermöglichungs-bedingung des objektivierenden Verstehens und es ist zweitens der un-thematische Gehalt dieses objektivierenden Verstehens. Das Wissen,dass etwas lebendig ist, ja selbst die Merkmale zu verstehen, die wirLebendigem zusprechen, wie zum Beispiel die Charakteristika ›organi-sche Einheit‹ oder ›Selbstbewegung‹, gründet in der Art und Weise, wiewir unsere eigene Lebendigkeit erfahren. Das Verstehen von Entitätenin der Welt, die wir Lebewesen nennen, ist aber nur ein kleiner Bereichder Anwendung des Verstehens. Ebenso heißt zu wissen, was als Aus-druck eines anderen Menschen zu verstehen ist (Fremdverstehen), indiesem Ausdruck selbst den eigenen Lebensvollzug zu erfahren. Wich-tig wird diese Überschneidung des Verstehens von Lebewesen in derWelt mit dem Ausdrucksverstehen menschlichen Lebens sein, wennes darum geht, andere Menschen erstens als Lebewesen und zweitensals Individuen, d. h. als menschliche Lebewesen zu verstehen. Es wirddaher im Weiteren nicht um die Frage nach dem Verstehen von Lebe-wesen im Allgemeinen gehen, sondern um das Verstehen dessen, wases bedeutet, als ein Mensch zu leben und andere Menschen qua Men-schen zu verstehen.

Die beiden Postulate des nicht-objektivierenden, rein subjektivenSelbstverstehens der eigenen Lebendigkeit und des Fundierungsver-hältnisses von subjektivem und objektivem Lebensverstehen liegennun der Lebensphänomenologie Michel Henrys zugrunde. Ich möchtemit Hilfe wichtiger Anregungen der Lebensphänomenologie MichelHenrys zu zeigen versuchen, dass das über Objekte vermittelte Selbst-verstehen des eigenen Lebens, wie es uns von der Hermeneutik herbekannt ist, nur möglich ist, weil es einem unmittelbaren Selbstverste-hen entspringt. Dies würde meine These sogleich in Gegenüberstel-

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lung zur oben erläuterten hermeneutischen Position bringen. In einemersten Schritt wird es auch die Absicht dieser Arbeit sein, eine solcheGegenüberstellung zu plausibilisieren. Um dies sinnvoll tun zu kön-nen, möchte ich aufzeigen, dass die bisherige phänomenologische Her-meneutik, die sich spezifisch um das Verstehen des eigenen Lebensbemüht hatte, von einem Verstehensbegriff ausgeht, welcher an einenSubjektbegriff geknüpft ist, der sich vom Drang zur Objektivierungnicht befreien konnte. Damit erfüllt dieser Verstehensbegriff die For-derung nicht, das Subjekt sich selbst qua Subjekt verständlich zu ma-chen. Weil das Subjekt sich in den Geisteswissenschaften mittels her-meneutischer Methode als Objekt repräsentiert, kann das Subjekt mitrückwirkender Notwendigkeit nicht umhin, seine eigene Seinsweise alsObjektivierung zu fassen. Damit verliert aber das Subjekt sein Be-wusstsein von jenem immer schon bestehenden unmittelbaren Selbst-verstehen.

Wenn es auch nicht falsch ist, dass das Subjekt sich in der Weltobjektiviert, so legt die Hermeneutik doch das Schwergewicht zu aus-schließlich auf dasjenige, was in diesem Prozess wahrnehmbar ge-schieht, anstatt auf das zu achten, was diesen Prozess immanent be-stimmt bzw. wie der Prozess vom Individuum vollzogen wird und wieLetzteres in diesem Vollzug sich selbst erlebt.

Es wird in dieser Arbeit darum gehen, bestimmte Anwendungs-felder der Hermeneutik: das Selbst- und das Fremdverstehen und dieSprache bzw. das über die Sprache vermittelte Fremd- und Selbstver-stehen, im unmittelbaren Verstehen als dem Erleben des eigenen, indi-viduellen Lebensvollzugs zu verankern. Andere Anwendungsfelder derHermeneutik werden nicht thematisiert.12 Es geht jedoch nicht darum,das über Objekte vermittelte Verstehen gänzlich für falsch oder fürunsinnig auszugeben. Wir müssen im Gegenteil das Verstehen in sei-ner ganzen Fülle im Subjekt selbst fundieren, sofern das Selbstverste-hen des Subjekts zum einen der Endpunk seiner Bemühungen, zumandern aber auch dessen Ausgangspunkt ausmacht.

Meine Grundthese ist, dass dem Konzept des objektivierendenVerstehens gerade deswegen methodische Schärfe fehlt, weil es keinklares Konzept von der Verschränktheit von Singularität und All-gemeinheit im individuellen Leben als Ausgangspunkt aller Verste-

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12 Für eine detaillierte Darstellung des Verstehens siehe: Emil Angehrn, Sinn undNicht-Sinn. Das Verstehen des Menschen, Tübingen 2010.

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hensleistung besitzt. Wenn wir wissen wollen, wie wir den Lebensvoll-zug, der wir selbst sind, immer schon verstehen, müssen wir wissen,wie im Lebensvollzug selbst das Allgemeine und das Besondere zusam-menkommen und einander bedingen. Wir wollen dies nicht so wissen,als wollten wir etwas über einen Gegenstand erfahren, der von unsunabhängig wäre, sondern es ist zu zeigen, dass wir selbst in unseremLebendigsein nichts anderes sein können als ein bestimmtes Verhältnisvon Allgemeinem und Besonderem. Dies ist vorerst der hermeneuti-sche Einsatz, der sich in der Auseinandersetzung mit drei hermeneuti-schen Positionen, die sich spezifisch als Hermeneutiken des Lebens ver-stehen, erst noch ausspielen muss: der Hermeneutiken WilhelmDiltheys (Kapitel 1), Martin Heideggers und Paul Ricœurs (Kapitel 2).

Was sich zeigen soll, ist, dass ein unmittelbares Verstehen dessubjektiven Lebensvollzugs das Fundament für alle objektivierendeAuslegung des eigenen Lebens ist und dass dieses unmittelbare Verste-hen in einer Ontologie des Individuums gründet, welche besagt, dassdie fundamentale Einheit allen Seins das Individuum ist. Unmittel-bares Verstehen des eigenen Lebensvollzugs gibt es nur, sofern das Le-ben von Individuen erfahren wird. Diese Ontologie des Individuumsverpflichtet auf einen Individualismus, welcher sogleich die Frage nachder Alterität und der Gemeinschaft auf den Plan ruft, die er von sichher auszuschließen scheint. Es wird hier aber ein ontologischer Indi-vidualismus ins Auge gefasst, der nicht antithetisch zu Alterität undGemeinschaft steht, sondern vielmehr in sich die Bedingung der Mög-lichkeit von Alteritätserfahrung und Gemeinschaft enthält. Das so ver-standene subjektive, individuierte Sein ist zugleich ein hermeneuti-sches Sein, d. h. das Selbstsein ist ein Selbstverstehen und darin ist esoffen für das Fremdverstehen und für die Gemeinschaftlichkeit.

Das individuelle Leben steht immer unter einer Norm, wie bereitsAristoteles meinte, nämlich der Norm seiner eigenen Vollendung.13

Der Dialektik von Allgemeinem und Besonderem im Subjekt fügt sichdaher die Frage nach der Vollendung des Lebens an. Es stehen zweiverschiedene Konzeptionen dessen zur Diskussion, was das vollendete

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13 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1097b7–1098a20: Das im Leben des Menschenherzustellende Werk (ergon) ist die »Tätigkeit der Seele auf Grund ihrer besondernBefähigung, und wenn es mehrere solche Befähigungen gibt, nach der besten und voll-kommensten« (in: Aristoteles, Nikomachische Ethik, Übers. Olof Gigon, München1991, S. 117).

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Leben und was die bestimmende, allgemeine Norm des Lebens genanntwerden kann. Entweder das Leben ist dasjenige, was alle Menschenstrukturell mit einander verbindet und zwar so, dass sie jeweils nurabweichende Realisationen desselben sind, oder das Leben ist dasjeni-ge, was jeder aus sich selbst macht, ohne dass er es an einem innerenMaßstab überprüfen könnte. Mit anderen Worten: entweder ist dieVollendung des individuellen Lebens ein in jedem Individuum bereitsnormiertes Ziel oder sie ist einzig der Zuständigkeit des jeweiligenSubjekts überantwortet.14 Die Wahrheit, wie so oft der Fall, liegt inder Mitte bzw. in der Vermittlung dieser beiden genannten Verständ-nisse der Normativität des Lebens. Denn zwischen diese beiden Nor-mativitätsverständnisse schiebt sich die äußere, soziale Normativitätdes jeweils herrschenden Diskurses über das vollendete Leben. Wieich zu zeigen versuche, ist eine Verbindung dieser beiden Modi derSelbstverwirklichung der Individuen (entweder als Instanzen einerübergeordneten Norm oder als frei sich entwickelnde Individuen) nurmöglich, weil zum einen Singularität und Allgemeinheit im indivi-duellen Leben selbst strukturell begründet sind und zum andern dasZiel eines vollendeten Lebens gerade darin besteht, individuelle Ver-mögen und Konzepte eines vollendeten Lebens mit dem zusammenfal-len zu lassen, was menschliches Leben in seiner je historischen Dimen-sion und in den Diskursen der jeweiligen Gegenwart auszeichnet(Kapitel 3 und 4).

Während der Individualismus in der Sozialontologie in Verruf ge-raten ist, sofern er dem Konzept des egoistischen Individuums und derAutarkie-Vision eines sich überschätzenden Selbst entspringt, sollteein Individualismus anderer Art, ähnlich wie ihn Karl Marx in seinenFrühschriften entworfen hatte (Kapitel 5) und wie ihn auch Oscar Wil-de in seinen ästhetischen Schriften propagiert (Kapitel 6), die Indivi-dualität nicht als Emanzipation vom Allgemeinen, sondern als desseneinzige Realisierung ins Auge fassen. Was bei Marx jedoch nur einerformalen Lösung gleichkommt, wird bei Oscar Wilde einer konkretenLösung zugeführt, die als einzige, wie mir scheint, dem ontologischenIndividualismus gerecht werden kann, dessen Formulierung hier derLebensphänomenologie Michel Henrys entnommen und für verbind-lich erachtet wird.

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14 Vgl. Ursula Wolf, Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben, Hamburg1999, S. 13.

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Dieser Ansatz setzt sich nicht nur epistemologischen, sondernauch ethischen Vorbehalten aus. Letzteres gilt sowohl für die Thematiksozialer Tugenden als auch für das moralische Handeln überhaupt. Derepistemologische Vorbehalt ist formulierbar als das Problem des er-kenntnistheoretischen Solipsismus, welcher eng verbunden ist mit derFrage nach dem Fremdverstehen und der hier im Verlauf der Argu-mentation beantwortet werden soll. Was die ethischen Vorbehalte be-trifft, so seien hier zwei derselben erwähnt:1. Der Individualismus als höchster Wert scheint soziale Tugenden

und sozialen Einsatz nur dann zu ermöglichen, wenn damit zu-gleich egoistische Bedürfnisse befriedigt werden können. Wiekönnte es einen nicht-egoistischen Individualismus geben, in wel-chem der soziale Einsatz individualistisch begründet ist, ohne des-wegen egoistisch zu sein?

2. Ein unmittelbares Selbstverstehen ohne Introspektion und Refle-xion ist dem Vorwurf ausgesetzt, die Basis moralischen Handelnszu unterminieren. Wer nicht reflektieren kann oder muss, der istmoralisch auch nicht zurechnungsfähig.

Während die erste Frage für das faktische Funktionieren des gemein-schaftlichen Lebens nicht unbedingt relevant sein muss, scheint diezweite Frage brisanter zu sein. Wenn unsere Fähigkeit, selbstreflexivüber unsere Handlungsmotive Rechenschaft abzulegen, davon abhän-gig ist, dass wir uns immanent auf uns als Akteure beziehen, dannscheint ein Subjekt, das sich nicht reflexiv zum Gegenstand seinespraktischen Denkens machen kann, kein moralisches Subjekt zu sein.Wenn die Gemeinschaft aus solchen nicht-reflexiven und daher auchder Moral nicht fähigen Individuen bestünde, müsste sie entweder eineGemeinschaft der Tiere oder der Götter sein, nicht aber der Menschen.Es wird daher eine abschließende Herausforderung dieser Arbeit sein,die ethische Dimension des ästhetischen Individualismus zu themati-sieren (Kapitel 6.2.4). Der individualistischen Ausrichtung entspre-chend, kann diese Dimension nur eine individualethische sein, sodasszu klären bleibt, wie eine Ethik der Gemeinschaft für das Individuumzugänglich und verbindlich sein kann.

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1. Kapitel: Methodische und begrifflicheVoruntersuchungen

Der Philosoph Wilhelm Dilthey entwickelte Ende des 19. Jahrhundertseine Hermeneutik des Lebens, welcher die These zugrunde liegt, dassmenschliches Leben sich primär durch Verstehen auszeichnet. Um zueinem klaren Begriff dieser Lebenshermeneutik zu gelangen, sei daherin diesem ersten Kapitel erstens auf Diltheys Verständnis von ›Herme-neutik‹ und ›Leben‹, zweitens auf den Lebensbegriff in der Philosophieund Phänomenologie überhaupt eingegangen. Es soll dergestalt einekleine Hinleitung zur Phänomenologie geleistet werden, sodass sichein Gebiet des philosophischen Denkens heraushebt, in welchem dieFrage nach dem unmittelbaren Lebensverstehen neu gestellt werdenkann. Es wird hier unterstellt, dass die Phänomenologie in einem he-rausragenden Sinne dazu geeignet ist, die Frage nach dem Lebensver-stehen genauer zu beantworten. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass dieHermeneutik im 20. Jahrhundert in der Phänomenologie eine bedeut-same Mitstreiterin fand, sodass daraus die so genannte ›hermeneuti-sche Phänomenologie‹ oder die ›phänomenologische Hermeneutik‹entstand, der wir uns im zweiten Kapitel zuwenden werden.

1.1 Wilhelm Diltheys Hermeneutik des Lebens

Der Philosoph Wilhelm Dilthey, der eine Begründerrolle spielte in dermethodischen Ausdifferenzierung von Geistes- und Naturwissen-schaften, fasst in der Methode des Verstehens die geistige Aneignungalles dessen zusammen, was von Menschen in Geschichte und Gegen-wart geschaffen wurde. Während Dilthey in seiner frühen Schrift Ein-leitung in die Geisteswissenschaften noch stark psychologistisch argu-mentierte, dass das Verstehen ein einfühlendes Nacherleben desAusdrucksgeschehens eines anderen Individuums sei, geht er in seinemspäteren Werk Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswis-senschaften stärker vom Modell aus, nach welchem der subjektive Aus-

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druck und das Verstehen desselben durch den objektiven Geist, welcheralles individuelle Denken durchwaltet, erst ermöglicht wird. Diesenobjektiven Geist gilt es, mittels der Methode des Verstehens im sub-jektiven Ausdruck wiederzufinden, wozu die Kultur als Gesamtkontextdes Ausdrucksgeschehens einer bestimmten Zeit in Betracht gezogenwerden muss. Das Verstehen ist so die auf Hervorbringungen des Men-schen angewandte Methode, »zwischen der äußeren Sinneserschei-nung des Lebens und dem, was sie hervorbrachte, was in ihr sich äu-ßert«1 zu unterscheiden. Das hier anklingende Verhältnis von Innenund Außen besitzt laut Dilthey nur Gültigkeit im Bereich dessen, wasverstanden werden kann, nicht also im Bereich der Natur. Das ›Innen‹meint jedoch nicht die Individualität des Produzenten eines kulturellenGegenstandes, sondern vielmehr den objektiven, geistigen Zusammen-hang, der sich in einem Kulturprodukt ausdrückt.

Das Verstehen als Methode ist damit immer schon auf das Lebenbezogen, aber nur in einer bestimmten Hinsicht, nämlich auf dasjenigeLeben, das sich in objektiven Gebilden ausdrückt. Mit anderen Worten:es ist das ausgedrückte, objektivierte Leben, welches dem Verstehen zu-gänglich ist. Wenn es um das eigene Leben geht, dann ist auch dieses nurzugänglich, d. h. verstehbar im Umweg über das eigene Ausdrucksver-stehen.2 Daher muss menschliches Leben sich nicht nur ausdrücken, esmuss auch verstanden werden können als solches. Dies wird ermöglichtdurch die Trias von Leben, Ausdruck und Verstehen.3 Das Leben drücktsich aus und ist dadurch dem Verstehen zugänglich. Das Verstehen istseinerseits primär ein Verstehen des Ausdrucks und – vermittelt überdas Ausdrucksverstehen – ein Verstehen des Lebens. Wir verstehen der-art nicht nur die Welt des objektiven Geistes bzw. die Kulturwelt, dieuns umgibt, sondern auch unser eigenes Leben über dasjenige, was un-ser Geist in der Welt hervorbringt und derart unserem Verstehen zu-gänglich macht. Es wird folglich nicht der Akt des Ausdrückens selbstverstanden, sondern dessen Produkt. In der Ordnung der Erkenntnis,wenn auch nicht in derjenigen des Seins, ist daher das objektive Mo-ment des Ausgedrückten dem subjektiven Moment des Ausdrucksvoll-

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Wilhelm Diltheys Hermeneutik des Lebens

1 Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften,Frankfurt am Main 19818 , S. 94.2 Vgl.: Ursula Wolf, Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben, op. cit.,S. 141–155.3 W. Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften,op. cit., S. 98.

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zugs vorgängig: »nur seine Handlungen, seine fixierten Lebensäuße-rungen, die Wirkungen derselben auf andere belehren den Menschenüber sich selbst; so lernt er sich nur auf dem Umweg des Verstehensselber kennen.«4 Dass es derart kein unmittelbares Selbstverstehen ge-ben könne, kommt aber für Dilthey durchaus keinem Eingeständnis desVersagens der Verstehensmethode gleich. Vielmehr besteht so eineParallele zu den Naturwissenschaften trotz der Verschiedenheit desGegenstandes: In beiden Fällen ist es ein raum-zeitlich individuiertesDing, zu welchem wir einen erkennenden Zugang besitzen.

1.1.1 Das Selbstverstehen und die Dialektik von Allgemeinheit undBesonderheit

Doch dass die Gemeinsamkeit des Objektbezugs in Geistes- und Natur-wissenschaften ein Vorteil ist, ist zu bezweifeln. Es sind vor allem zweiProbleme, die sich auftun, wenn wir Diltheys Hermeneutik des Lebensauf unsere Frage nach dem Selbstverstehen anwenden:1. Das Verstehen liefert uns scheinbar keinen Zugang zu uns selbst

sofern und solange wir tätig sind, d. h. entweder Gegenstände her-vorbringen oder uns auf Gegenstände ausrichten. Es ist dann abernicht klar, wie wir dennoch jene Gegenstände, die wir verstehen,mit uns als Produzenten derselben wiederum verbinden können.

2. Sofern wir unser Tun verstehen, wie es sich in der Welt objekti-viert, können wir immer nur einzelne Handlungen in ihrem ob-jektiv zugänglichen Kontext verstehen, sodass noch ungeklärt ist,wie wir zum Verständnis unserer selbst als einer individuierten,besonderen Einheit kommen. Diese beiden Problemkreise sollengenauer erläutert werden.

Zu 1.) Das objektivierende Selbstverstehen gibt uns zwei Probleme auf.Es ist primär nicht der Vollzug bzw. das Hervorbringen eines Objektes,welches verstanden wird, sondern das Objekt als solches. Es scheintüberspitzt gesagt so, als verstünden wir nie, was wir gerade tun, son-dern nur, was wir getan haben, und auch dies nur, sofern die Tätigkeitobjektiv sichtbar ist oder sich unser Tun in einem Gegenstand materia-lisiert. Dem entspricht auch wirklich die Tatsache, dass nur etwas Ge-tanes sich in seiner Bestimmtheit zeigt, während der Prozess des Tuns

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Methodische und begriffliche Voruntersuchungen

4 Ebd., S. 98–99.

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lediglich zu einer bestimmten Klasse von Tätigkeiten gehört, die überden Erfolg derselben nichts aussagt. So könnte man sich vorstellen,dass man eine Vase zu töpfern versucht, dass man aber an der Formungdes zu weichen Tons scheitert. Wenn in diesem Fall kein Produkt ent-stünde, welches diese Ausdrucksweise bestätigen würde, dann hätteman auch die Tätigkeit (›eine Vase töpfern‹) nicht vollzogen. Sobalddie Vase jedoch hergestellt wäre, würde es hingegen eine untergeord-nete Rolle spielen, ob die Vase von einem selbst oder von jemand an-derem hergestellt wurde, solange die Tätigkeit objektiv beobachtbarwar und die Vase als ein Objekt vor einem steht. Diese etwas unplau-sible Formulierung entspricht allerdings der Erfahrung, dass die Ob-jekte, die wir selbst herstellen, sich von uns trennen und einen Cha-rakter der Fremdheit gewinnen. Wenn es für das Erfassen des Objektsals Objekt zwar nicht wesentlich ist, welches Subjekt in der Welt eshergestellt hat, so ist es aber dennoch für das Subjekt wichtig, sich alsein herstellendes Subjekt zu erfahren. Dies gilt selbst dann noch, wennihm die Herstellung eines bestimmten Objekts nicht gelingt, sodasswir unterstellen müssen, dass ein Subjekt von sich weiß, noch bevores sich in objektiven Tätigkeiten oder gar in materiellen Gegenständenobjektiviert hat und auch wenn ihm diese Objektivierung nicht gelingt.

Zu 2.) Um den ausschließlichen Bezug auf Einzelnes in der Er-fahrung zu vermeiden, meint Dilthey in seinem späteren Werk DerAufbau der geschichtlichen Welt, dasjenige, welches wir im Verstehenerfassen, seien nicht einzelne Individualitäten, sondern »ein dasmenschliche Geschlecht umfassender Zusammenhang«5 . Es ist alsonicht die Singularität des Gegenstands, die wir verstehen, sondernimmer dasjenige, was ihn in einem größeren Zusammenhang zu etwasBestimmtem macht. Dem entspricht auf der Seite des verstehendenSubjekts ein Wissen nicht um das Singuläre, sondern um das Allgemei-ne: »Das Verstehen erst hebt die Beschränkung des Individualerlebnis-ses auf, wie es anderseits dann wieder den persönlichen Erlebnissen denCharakter von Lebenserfahrung verleiht.«6 Wir verstehen also nichteigentlich das Einzelne als solches, sondern wir verstehen das Einzelne,sofern es in einem größeren Zusammenhang steht und wir verstehendieses Einzelne deswegen, weil wir den allgemeinen Zusammenhangmittels Lebenserfahrung bereits kennen.

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Wilhelm Diltheys Hermeneutik des Lebens

5 Ebd., S. 158.6 Ebd., S. 171.

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Diese Dialektik zwischen dem Verstehen des Singulären und desAllgemeinen durch das Erkennen eines Zusammenhangs, der sich darinausdrückt, ist nach Dilthey der Methode der Induktion ähnlich, beiwelcher man vom einzelnen Erlebnis zu seiner allgemeinen Bedeutungfortschreitet. Gälte dies auch für die Entstehung von Lebenserfahrung,so könnte letztere nicht ein Wissen von einer Singularität sein – unse-res singulären Lebens –, sondern wäre lediglich ein aus Einzelerfah-rungen abstrahiertes allgemeines Ordnungsschema, nach welchemwir Einzelnes, welches uns in der Erfahrung begegnet, in seiner Bedeu-tung verstehen können. »Das Verstehen setzt ein Erleben voraus, unddas Erlebnis wird erst zu einer Lebenserfahrung dadurch, dass das Ver-stehen aus der Enge und Subjektivität des Erlebens hinausführt in dieRegion des Ganzen und des Allgemeinen.«7 Wenn diese Verbindungvon Singularität und Allgemeinheit gar noch für das Selbstverstehengilt, dann könnten wir unser eigenes Leben nur verstehen, indem wirunser Erleben desselben verallgemeinern würden.

Doch kann das Allgemeine tatsächlich aus den einzelnen Erlebnis-sen abstrahiert werden, oder muss das Allgemeine nicht vielmehr be-reits im Einzelnen enthalten sein, damit es daraus gewonnen werdenkann? Der These, dass wir es im Verstehen mit einem aus einzelnen,einander ähnlichen Erlebnissen abstrahierten Allgemeinen zu tun ha-ben, widerspricht zum Beispiel Hans-Georg Gadamer in Wahrheit undMethode mit dem Argument, dass die Hermeneutik weder eine in-duktive noch eine deduktive Methode sein könne, weil die spezifischeVerschränkung von Allgemeinheit und Besonderheit, von Teilen undGanzem des zu verstehenden Gegenstandes keiner herkömmlichenMethode zugänglich sei. Dennoch besitzen wir einen nicht-metho-dischen Bezug zum Allgemeinen in der Form eines allgemeinen Sinnes(sensus communis; common sense), welcher allgemeine Gehalte zu er-fassen vermag.8 Dieser Sinn für das Allgemeine wie auch die Lebens-erfahrung im Sinne Diltheys müssen zuerst von einem Subjekt ange-eignet werden. Laut Gadamer geschieht dies durch Bildung, nicht derBildung im Sinne des Vielwissens, sondern im Sinne einer »Erhebungzur Allgemeinheit«9 . Sofern auch der Gemeinsinn sich ausbilden mussund nicht schon immer vom Subjekt besessen wird, würde auch dieser

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Methodische und begriffliche Voruntersuchungen

7 Ebd., S. 173.8 H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1960, S. 16 ff.9 Ebd., S. 9/10.

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Gemeinsinn abstrahierende Denkprozesse erfordern, sodass Lebens-erfahrung und Gemeinsinn einander doch in dieser Hinsicht wiederumäußerst ähnlich wären.10 Wir wollten aber gerade wissen, wie die indi-viduelle Einheit des eigenen Lebens erlebt wird, indem oder während-dem sie sich als eine Einheit allgemeiner Zusammenhänge begreift.

Wie wird diese Einheit der Vielheit allgemeiner Bezüge erlebt?Was uns in dieser Frage interessiert, ist die Verbindung zwischen derverallgemeinernden Lebenserfahrung und dem eigenen, subjektiven(Er-)Leben derselben.

1.1.2 Diltheys Begriff des Lebens

Dilthey versteht unter dem Begriff ›Leben‹ etwas anderes, als man zu-nächst annehmen könnte. In den ›Zusätzen‹ zum Aufbau der ge-schichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften kommt er auf ›DieKategorien des Lebens‹ zu sprechen und definiert das Leben folgender-maßen: »Leben ist der Zusammenhang der unter den Bedingungen deräußeren Welt bestehenden Wechselwirkungen zwischen Personen,aufgefasst in der Unabhängigkeit dieses Zusammenhangs von denwechselnden Zeiten und Orten. Ich gebrauche den Ausdruck Leben inden Geisteswissenschaften in der Einschränkung auf die Menschen-welt«11 . ›Leben‹ meint für Dilthey in der Wechselwirkung der mensch-lichen Lebenseinheiten dasjenige, was sich jeweils räumlich und zeit-lich verändert ausdrückt, ohne selbst mit diesem Ausdruck gänzlichzusammen zu fallen. Begründet, wenn auch nicht explizit, ist dieselockere Begriffsdefinition in der objektivierenden Seinsweise des sub-jektiven Bewusstseins. Subjektives Bewusstsein ist laut Dilthey in sichbereits reflexiv strukturiert und aus dieser reflexiven Struktur herausist erklärt, warum es immer schon ein objektives bzw. ein sich selbst

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Wilhelm Diltheys Hermeneutik des Lebens

10 Während wir bei Aristoteles ein Verständnis des Gemeinsinns kennen lernen werden,welcher das Gemeinsame aller Sinne in ihrer inneren Strukturiertheit bezeichnet, so istnach neuzeitlichem Verständnis im common sense vielmehr die Erfahrung des Gemein-samen äußerer Strukturen enthalten, wie sie sich zum Beispiel in der Äußerung von»Gemeinplätzen« manifestiert. Vgl.: Jean Grondin, Einführung zu Gadamer, Tübingen2000, S. 37.11 Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, op. cit.,S. 281/82.