B10_Leseprobe

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Gelegentlich fange er sich einen Tritt ein, beispiels-weise, wenn er unter den Einkaufstüten, die die Passanten auf ihm abstellen, nachgebe. Auf die Frage, ob er so einen Tritt als gerechtfertigt ansehe, sagt er: Nein, das tue ich nicht. Außerdem müsse er sich dann in einen Hauseingang zurückziehen, um einmal unbemerkt aufzuheulen. Anmerkung des Gutachters: Als Fall erscheint hier ein merklich vorgealterter, grenzwertig ge-pflegter, junger Mann mit an den Knien durchge-wetzten Hosenbeinen, der während der gesamten Befragung auf allen Vieren vor dem Sessel hockt. Im Übrigen wisse er sehr wohl, woran so ein Tritt ihn zu erinnern suche, dass nämlich auch er sich wieder aufzurichten habe. Doch das kommt nicht in Frage, da er in den Füßen nichts anderes mehr erkennen könne als zwei alte Spielzeuge. Der Hinweis, dass die Füße für gewöhnlich auch als leistungs-starke, höchst belastbare, jahrtausendelang er-probte Werkzeuge angesehen werden, verfängt nicht. Dazu befragt, seit wann er krabbele, sagt er: kurz. Und auf die Frage, ob er keine Angst habe, dass man seine Füße einmal zertrampeln und zerquetschen werde, sagt er: Nein, das ist mir recht.

Befragung eines gefallenen Fußgängers

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Wenn er eines Tages bloß noch Stümpfe hinter sich herziehe, könne niemand mehr verlangen, dass er sich wieder hinstelle. Im Übrigen, so behauptet er, werde dann auch offensichtlich, dass eine Bestrafung seines Falles, und zu nichts anderem sei diese Befragung ja wohl nütze, jeder Grundlage entbehre. Auf die Frage, ob er heute zufriedener sei als früher, sagt er: Noch immer stört mich vieles. Zum Beispiel klingelten die Fahrradfahrer, wenn er auf ihren Wegen krabble, ausnahmslos nicht. Ob er wisse, wann das alles angefangen habe, dazu sagt er: nein. Ob er wisse, wie es angefangen habe. Nein, auch das weiß ich nicht. Er möchte aber einmal darauf hinweisen, dass die Autos seine Art, sich fortzu-bewegen, mittlerweile mehr respektierten als die Radfahrer, ganz zu schweigen von den Fußgängern. Manchmal, wenn er den Kopf zwischen zwei par-kenden Wagen hervorschiebe, stoppe eines und blinke ihm aufmunternd zu. Das wären, wenn so eine Redeweise gestattet sei, die höchsten Momente des Tages, wenngleich es auch hier noch manche Täuschung zu erdulden gebe. Wenn er nämlich, derart ermuntert, die Straße überquere, komme es häufig vor, dass ein Fahrer meine beweisen zu

müssen, wie sehr er in der Tiefe seines Herzens doch ein Fußgänger sei. Schon ist der Fahrer ausgestiegen, bohrt die Knie in seine, des Krabblers, Rippen und greife sein Haar. Hü, schreit der Fahrer und reitet ihn zum anderen Bürgersteig hinüber. Sobald die Fußgänger stehenblieben, manche klatschten sogar Beifall, springe der Fahrer ab und laufe mit Kuss-händen zu seinem Fahrzeug zurück. Auf die Frage, ob ihm solche Behandlungen gefielen, sagt er: Je häufiger, desto besser. Schließlich, wenn man sich doch an ihn gewöhnt habe, werde er friedlich auf allen Vieren zwischen den Menschen dahin-ziehen. Auf die Frage, ob er den Ursprung seines Falles kenne, sagt er: Ich spekuliere nicht. Anmerkung des Gutachters: Der Begriff Fall muss hier zweisinnig verstanden werden, einmal als medizinischer Kasus und einmal als Sturz. Zur Erläuterung sei darauf hingewiesen, dass der Befragte sich gleich zur Begrüßung als gefallenen Fußgänger bezeichnete, vermutlich, um seine Dar-stellung zu belegen. Auf die Frage, ob er ein politisches Ziel verfolge, sagt er: nein, nein, nein! Zumal ihm häufig ein jegliches Zielverfolgen von Grund auf verhindert sei. Vor allem in der Fußgängerzone,

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wohin er sich, um die Menschen an seinen Anblick zu gewöhnen, tagtäglich verfüge. In der späten Nachmittagsstunde, aber auch sonst, eigentlich immer, kämen ihm hier die härtesten, spitzesten Schuhe entgegen. Überdies sei der Himmel durch eine Unzahl vorgebeugter Oberkörper ganz und gar verdunkelt. Einkaufstüten rauschten vorüber, dass man sein eigenes Wort nicht mehr verstehe. Derart zum Stillstand gezwungen, senke er den Kopf und studiere den Boden. Als ihm in einem Gulli plötzlich das Abwasser aufgefallen sei, habe er den Blick nicht mehr abwenden können. Mit einer solchen Wucht sei es unter ihm dahinge-schossen, dass es einmal die ganze Stadt unter-spülen und zum Einsturz bringen werde. Auf diese Gefahr hatte er aufmerksam machen wollen, als er sich ins Rathaus begeben habe. Doch erst nach einer halben Stunde sei er von der Dame hinter dem Empfangstresen überhaupt bemerkt worden. Leider habe sie ihn, statt seine Warnung zu notieren, bloß in Gewahrsam nehmen lassen. Aber wenn das Rathaus meine, auf einen achtsamen Mitbürger, wie er einer sei, verzichten zu können, allein werde er sich der Gefahr nicht entgegenstemmen.

Auf die Frage, wie lange er in so einem Einkaufs-zonenstrom zu hocken pflege, sagt er: So lang wie möglich, nur häufig ist das ziemlich kurz. Denn bald sitze ihm wieder die Hacke im Genick und drücke ihn herab, bis seine Stirn auf den Gehweg stoße. Natürlich sei es in Ordnung, dass die Polizei ihre Anweisungen befolge, dennoch fühle er sich, so behauptet er, als Gefahr behandelt. Dabei wolle er niemanden gefährden. Dennoch drückt die Polizei ihn täglich erst nieder, zerrt ihn dann hoch in die sogenannte Vertikale, steckt ihn auf dem Markt-platz in einen Kofferraum und wirft ihn erst auf den Feldern wieder hinaus, wo sein Krabbeln von Neuem beginnt, zurück in die Stadt, die er frühestens im Morgengrauen wieder erreicht.

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solange sich noch aus- reichend dummheit mit reinmischt,

bleibt alles erträglich, einigen wir uns verträglich; — baden gehn

wir trotzdem. jetzt. — feinstaub, pendelfiguren. notification: das mutter-

organ sendet (innen: der mensch, vom weibe …). notification: das

mutterorgan, kläglich. — lies genau, was auf der warntafel hier steht:

erschließungsarbeiten. halten sie abstand. vereinbaren sie bitte

einen termin. wir erlösen sie täglich.

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