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Debatte mit Beiträgen von Hannah Arendt, Dick Howard, Claude Lefort, Albrecht Göschel und Heidrun Friese/Peter Wagner Politik und Moderne Band IV Herausgeber: Heinrich Böll Stiftung : Bremen

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Debatte mit Beiträgen von Hannah Arendt, Dick Howard, Claude Lefort, Albrecht Göschel und Heidrun Friese/Peter Wagner

Politik und Moderne Band IV

Herausgeber: Heinrich Böll Stiftung :Bremen

Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3

Hannah Arendt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4Kollektive Verantwortung

Dick HowardInduction Claude Lefort – Von der Kritik des Totalitarismus zur Politik der Demokratie? . . . . . . . . . . . . . . . 17

Claude Lefort Die Weigerung, den Totalitarismus zu denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23

Albrecht Göschel Kulturpolitik unter dem Diktat der Ökonomie – der geplante Verfall des Gemeinwesens? . . . . . . . . . . . . . . . . 37

Heidrun Friese / Peter WagnerWas in Europa politisch auf dem Spiel steht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64

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Vorwort

Im vierten Band unserer Reihe „Politik und Moderne“ legen wir wiedereinen kleinen Essayband vor, der Beiträge enthält, die es uns werterscheinen, gelesen und auch aufbewahrt zu werden. Wir erleben in denletzten Jahren immer wieder Neuauflagen der Debatte um Schuld undVerantwortung an den Verbrechen des Nationalsozialismus und demAntisemitismus. „Goldhagen“, „Die Walzer-Bubis-Debatte“, die Wehr-machtsausstellung“, „Möllemann und die FDP“, um nur einige zu nennen.Es gibt einen schönen Beitrag von Hannah Arendt aus dem Jahre 1968 zu den Fragen von Schuld und Verantwortung, der bisher nicht aufdeutsch erschienen ist, den wir aber für eine Tagung in Bremen habenübersetzen lassen und den wir hier zugänglich machen wollen.

1998 erhielt Claude Lefort den Hannah-Arendt-Preis für politischesDenken. Während Lefort in Frankreich eine feste Größe, ist er demdeutschen Publikum weitgehend unbekannt. Woran das liegen könnte,fragt sich Dick Howard, der die Laudatio auf Claude Lefort anlässlich der Preisverleihung 1998 hielt, in dem Beitrag „Induction Claude Lefort“.Dick Howard ist Professor für Philosophie an der State University of New York Stony Brook.

Lefort selbst kommt mit seinen hier in Bremen gehaltenen Vortrag „Die Weigerung, den Totalitarismus zu denken“ zu Wort. Claude Lefortlehrte an der Ecole des hautes études en sciences sociales und istMitbegründer zahlreicher Zeitschriften, die zu wichtigen Diskussions-foren wurden und in denen sich die Wandlungen der französischenintellektuellen Landschaft abspielten.

Albrecht Göschel arbeitet am Deutschen Institut für Urbanistik in Berlinmit den Schwerpunkten Sozialpolitik und Kulturpolitik. In Bremen war ermit einem Vortrag bei der Kulturinitiative Anstoß zu Gast mit demVortrag „Kulturpolitik unter dem Diktat der Ökonomie – der geplanteVerfall des Gemeinwesens?

Eine der zentralen Fragen des nächsten Jahrzehnt wird die nach derzukünftigen Gestalt Europas sein. Heidrun Friese und Peter Wagnerunternehmen den Versuch Europa jenseits von Bürokratie undPräsidenten- und Ministertreffen politisch zu (be)gründen. HeidrunFriese ist Autorin zahlreicher Veröffentlichungen zur Sozialtheorie vonZeit und Geschichte, zur Anthropologie der Wissenschaften und zursozialen Imagination. Sie lebt in Berlin und in Florenz. Peter Wagner,Warwick und Florenz, behandelt Fragen einer Soziologie und Geschichteder Modernität und ist Mitglied der Jury des Hannah-Arendt-Preis fürpolitisches Denken.

Peter Rüdel

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Hannah Arendt

„Kollektive Verantwortung“

Diesen Vortrag Hannah Arendts aus dem Jahre 1968 bringen wir hier erstmals in einer deutschen Übersetzung. Er blieb zu Lebzeiten Arendts unpubliziert.

Obwohl ich dem zustimme, von dem ich meine, dass es diebeiden Kernthesen von Mr. Feinbergs Text (s. unten) sind somuss ich gestehen, dass ich einige Schwierigkeiten damit habe.Ich stimme mit ihm überein hinsichtlich seiner strengen Unter-scheidung zwischen Schuld und Verantwortung. „KollektiveVerantwortung,“ schreibt er, „ist ein spezieller Fall von stellver-tretender Verantwortung; und so etwas wie stellvertretendeSchuld kann es nicht geben.“ Mit anderen Worten, es gibt soetwas wie Verantwortung für Dinge, die man nicht getan hat,man kann für sie zur Rechenschaft gezogen werden. Aber esgibt kein Schuldigsein oder sich schuldig Fühlen für Dinge, diepassierten ohne dass man selbst an Ihnen beteiligt war. Dies istein wichtiger Punkt, der gerade zu einer Zeit klar und deutlichausgesprochen werden sollte, in der so viele gute weißeLiberale ihre Schuldgefühle in der Schwarzen-Frage bekennen.Ich weiß nicht wie viele Präzedenzfälle es für derart fehlge-leitete Gefühle in der Geschichte gibt. Aber was ich weiß ist,dass im Nachkriegs-Deutschland, wo ähnliche Probleme hin-sichtlich dessen auftauchten, was das Hitler-Regime den Judenangetan hat, der Ausruf „Wir sind alle schuldig“, der beim ersten Hören so äußerst nobel und verführerisch klang, in Wirk-lichkeit nur dazu diente, diejenigen in einem erheblichen Maßezu entlasten, die tatsächlich schuldig waren. Wo alle schuldigsind, ist es keiner. Schuld, anders als Verantwortung, sondertimmer aus; sie ist ausschließlich persönlich. Sie resultiert auseiner Handlung, nicht aus Intentionen oder Möglichkeiten. Nur in einem metaphorischen Sinne können wir sagen, dass wiruns für die Sünden unserer Väter oder unseres Volkes oder derMenschheit schuldig fühlen, kurz, für Taten, die wir nicht be-gangen haben, obwohl der Lauf der Ereignisse uns sehr wohl

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für sie büßen lassen kann. Und weil das Schuldgefühl, mens reaoder schlechtes Gewissen das Bewusstsein für die Untat, eineso wichtige Rolle in unserem rechtlichen und moralischenUrteilen spielt, mag es klug sein, sich solcher metaphorischerÄußerungen zu enthalten, die, werden sie wortwörtlich genom-men nur zu falscher Sentimentalität führen können, in der allewirklichen Fragen verdunkelt werden. Mr. Feinberg selbst, sofürchte ich, ist manchmal gefährlich nahe daran, seine eigeneklare Unterscheidung zunichte zu machen, wenn er den Begriffder „sympathetic identification“ (einfühlende Identifikation)einführt und sagt, dass „jedes Gefühl, das eine Person empfin-den kann, von einer anderen, einbildungsbegabten Personnachempfunden werden kann.“ Wenn dies wahr wäre, danngäbe es in der Tat ein solches Phänomen wie stellvertretendesSchuldgefühl; doch Mr. Feinberg hat selbst seine Zweifel daran– „ein authentisches stellvertretendes Gefühl, wenn es so etwasgeben kann.“ Wir nennen es Mitleid, was ein Mensch fühlt,wenn ein anderer leidet. Und dieses Gefühl ist nur authentisch,solange man sich darüber im klaren ist, dass schließlich nichtman selbst, sondern dass ein anderer es ist, der leidet. Es istjedoch richtig, denke ich, dass „Solidarität eine notwendigeBedingung“ für Mitgefühl ist. Und dies hieße, übertragen aufdie Frage nach dem kollektiven Schuldgefühl, dass der Ausruf„Wir sind alle schuldig“ in Wahrheit eine Solidaritätserklärungmit den Tätern ist.

Ich weiß nicht, wann der Ausdruck „kollektive Verantwortung“erstmals auftauchte, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass nicht nur der Begriff, sondern auch die Probleme, die er im-pliziert, ihre Bedeutung und das ihnen zukommende allge-meine Interesse politischen Kategorien, d. h. von rechtlichenund moralischen unterschiedenen Kategorien, verdanken.Meine Schwierigkeiten mit Mr. Feinbergs Text rühren nichtdaher, dass er diese Dimension der Frage außer Acht lässt – er diskutiert die politischen Probleme im letzten Teil seinesTextes –, sondern dass er von Anfang an versucht, alleProblemstellungen Beispielen entsprechend zu konstruieren,die entweder rechtlich oder moralisch relevant sind, so dass die politische Frage nichts weiter zu sein scheint als ein Sonder-

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fall dessen Angelegenheiten gängigen rechtlichen Verfahrenoder gängigen moralischen Urteilen unterliegen. Mr. Feinbergunterscheidet zwischen rechtlichen und moralischen Maß-stäben. Moralische Maßstäbe seien strenger als die Maßstäberechtlicher Strafbarkeit, wobei die Unterscheidung seinerMeinung nach eine Sache des Grades sei. Ich bin mir nichtsicher, ob Ich dem gänzlich zustimmen würde. Zum Beispiel ist Glücksspiel rechtlich verboten zumindest in diesem Land.Obwohl ich keine professionelle Spielerin bin, sind meine mora-lischen Maßstäbe in dieser Angelegenheit wesentlich wenigerstreng. Ich stimme ihm jedoch zu, dass rechtliche und morali-sche Maßstäbe einen sehr wichtigen Punkt gemeinsam haben– sie beziehen sich immer auf eine Person und auf das, wasdiese Person getan hat. Wenn eine Person zufällig in eingemeinschaftliches Unterfangen ver-wickelt ist, wie im Falle derorganisierten Kriminalität, bleibt es einzig und allein die Person,und nicht die Gruppe, über die geurteilt werden muss, der Gradihrer Beteiligung, ihre spezifische Rolle usw. Die Tatsache IhrerMitgliedschaft spielt nur insofern eine Rolle, als dass sie dieWahrscheinlichkeit erhöht, dass die Person ein Verbrechenbegangen hat; und dies ist im Prinzip nicht anders als bei einemschlechten Ruf oder einer ausgewiesenen kriminellen Vergan-genheit. Egal ob der Angeklagte ein Mitglied der Mafia oder ein Mitglied der SS oder einer anderen kriminellen oder politi-schen Organisation war und uns versichert dass er ein bloßesZahnrad war, das nur auf Befehl von „Oben“ gehandelt und nurdas getan hat, was jeder andere an seiner Stelle auch getanhätte, sobald er vor einem Gerichtshof erscheint, erscheint erals Person und wird nach dem beurteilt, was er getan hat. Es ist die Größe von Gerichtsverfahren, dass selbst ein Zahnradwieder zu einer Person werden kann. Und dasselbe scheint ineinem noch höheren Maße für das moralische Urteilen zuzu-treffen, das die Entschuldigung: Meine einzige Alternative wäreSelbstmord gewesen, nicht so berücksichtigt wie das Rechts-verfahren. Es ist keine Frage von Verantwortung, sondern vonSchuld.

Mir scheint, dass Mr. Feinberg durch die Wahl seiner Beispieledie genaue Unterscheidung zwischen Verantwortung und

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Schuld verwischt, die sein eigener Ausgangspunkt war. Es han-delt sich nicht um kollektive Verantwortung im Falle der tau-send erprobten Schwimmer, die an einem öffentlichen Strandherumlungern und einen Menschen im Meer ertrinken lassen,ohne ihm zur Hilfe zu kommen, weil sie zunächst kein Kollektivwaren. Es handelt sich nicht um kollektive Verantwortung imFalle der Verschwörung zu einem Bankraub, weil ein Vergehennicht stellvertretend begangen werden kann. Es handelt sichum verschiedene Grade von Schuld. Und wenn, wie im Falle des Gesellschaftssystems der Südstaaten nach dem Krieg, nurdie „entfremdeten Ortsansässigen“ oder die „Ausgestoßenen“unschuldig sind, so haben wir wieder einen glasklaren Fall vonSchuld. Denn alle anderen haben tatsächlich etwas getan, waskeineswegs „stellvertretend“ ist.

Mr. Feinberg's Argumentation weiter folgend, würde ich sagen,dass für kollektive Verantwortung zwei Bedingungen erfülltsein müssen: Ich muss verantwortlich gehalten werden füretwas, was ich nicht getan habe. Und der Grund für meine Ver-antwortlichkeit muss meine Mitgliedschaft in einer Gruppe(einem Kollektiv) sein, die kein willentlicher Akt von meinerSeite aus lösen kann, das heißt, eine Mitgliedschaft, die gänz-lich anders ist als eine Geschäftsbeziehung, die ich durch mei-nen Willen lösen kann. Die Frage der „beitragenden GruppenSchuld“ (contributory group fault) muss hier in der Schwebegelassen werden, weil jede Beteiligung bereits nicht-stellvertre-tend ist. Meiner Meinung nach ist diese Art von Verantwortungimmer politisch, ob sie nun in der älteren Form erscheint, in dereine ganze Gemeinschaft die Verantwortung für alles auf sichnimmt, was auch immer eines ihrer Mitglieder getan hat, oderob eine Gemeinschaft für das verantwortlich gehalten wird, wasin ihrem Namen geschieht. Der letztere Fall ist für uns natürlichvon größerem Interesse, weil er, im guten wie im schlechten,auf alle politischen Gemeinschaften und nicht nur auf reprä-sentative Regierungen zutrifft. Jede Regierung übernimmtVerantwortung für die Taten und Untaten ihrer Vorgänger undjede Nation für die Taten und Untaten der Vergangenheit. Dasgilt für revolutionäre Regierungen, die Verpflichtungen aus ver-traglichen Vereinbarungen verneinen können, die ihre Vorgän-

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ger eingegangen sind. Als Napoleon Bonaparte der HerrscherFrankreichs wurde, sagte er: Ich übernehme für alles Verant-wortung, was Frankreich in der Zeit von Karl dem Großen biszum Terror von Robespierre getan hat. Mit anderen Worten, ersagte, all dies geschah in meinem Namen, soweit ich ein Mit-glied dieser Nation und der Repräsentant dieses politischenKörpers bin. In diesem Sinne werden wir immer verantwortlichgehalten für die Sünden unserer Väter, wie wir auch den Lohnfür ihre Verdienste ernten. Aber natürlich haben wir keineSchuld an ihren Untaten, weder moralisch oder rechtlich, nochkönnen wir uns ihre Taten als unsere eigenen Verdienste an-rechnen. Wir können dieser politischen und streng kollektivenVerantwortung nur entgehen, indem wir die Gemeinschaft ver-lassen. Und da kein Mensch ohne die Zugehörigkeit zu irgend-einer Gemeinschaft leben kann, würde dies einfach denAustausch einer Gemeinschaft durch eine andere und daherden Austausch einer Art der Verantwortung durch eine anderebedeuten.

Es ist richtig, dass das 20. Jahrhundert eine Kategorie vonMenschen hervorgebracht hat, die wirklich Ausgestoßenewaren und keiner, wie auch immer international anerkanntenGemeinschaft angehörten. Es sind die Flüchtlinge und Staaten-losen, die in der Tat für nichts politisch verantwortlich gemachtwerden können. Politisch sind sie, unabhängig von ihremGruppen- oder individuellen Charakter, die einzigen absolutUnschuldigen. Und es ist eben diese absolute Unschuld, die siezu einer Position außerhalb, gleichsam der ganzen Menschheitverdammt hat. Wenn es so etwas wie kollektive, nämlich stell-vertretende Schuld gäbe, dann wäre dies der Fall der kollek-tiven, nämlich stellvertretenden Unschuld. Tatsächlich sind siedie einzigen gänzlich nicht-verantwortlichen Menschen. Undwährend wir normaler Weise Verantwortung, insbesonderekollektive Verantwortung, als eine Bürde und sogar als eine ArtBestrafung begreifen, kann meiner Ansicht nach gezeigtwerden, dass der Preis für kollektive Nicht-Verantwortungerheblich höher ist. Worauf ich hier hinaus will, ist eine schär-fere Trennungslinie zwischen politischer (kollektiver) Verant-wortung auf der einen Seite, und moralischer und/oder recht-

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licher (persönlicher) Schuld auf der anderen. Ich denke dabeihauptsächlich an jene häufigen Fälle, in denen moralische undpolitische Überlegungen und moralische und politische Verhal-tensmaßstäbe in Konflikt geraten. Die Hauptschwierigkeit inder Behandlung dieser Angelegenheiten scheint in der sehr ver-wirrenden Vieldeutigkeit der Worte zu liegen, die wir in derErörterung dieser Fragen gebrauchen, nämlich Moralität undEthik. Beide Worte bedeuten ursprünglich nicht mehr alsBräuche oder Sitten und dann, in einem höheren Sinne, die fürdie Bürger angemessensten Bräuche und Sitten. Von derNikomachischen Ethik bis zu Cicero waren Ethik oder Moral einTeil des Politischen, und zwar der Teil, der sich nicht mit denInstitutionen, sondern mit den Bürgern befasste. Alle Tugendenin Griechenland oder in Rom sind ausschließlich politischeTugenden. Hier stellt sich niemals die Frage, ob ein Einzelnergut ist, sondern ob sein Verhalten für die Welt, in der er lebt, gutist. Im Zentrum des Interesses steht die Welt und nicht dasSelbst. Wenn wir heute über moralische Fragen sprechen, dieFrage des Gewissens eingeschlossen, so meinen wir etwasgänzlich anderes, etwas, für das wir tatsächlich kein fertigesWort besitzen. Andererseits, wenn wir diese alten Worte inunseren Diskussionen gebrauchen, ist auch diese sehr alte undandersartige Konnotation immer präsent. Es gibt nur eineneinzigen Fall, in dem in einem klassischen Text moralische Über-legungen in unserem Verständnis zu finden sind. Dies ist dieAussage von Sokrates: Es ist besser, Übel zu leiden, als Übel zutun, auf die ich weiter unten zurückkommen werde. Zuvormöchte ich eine weitere Schwierigkeit erwähnen, die gewisser-maßen von der entgegengesetzten Seite kommt, nämlich vonder Seite der Religion. Dass moralische Angelegenheiten eherdas Wohl der Seele als das der Welt betreffen, ist natürlich Teilund Bürde des jüdisch-christlichen Erbes. Wenn zum Beispiel –um das bekannteste Vorbild aus der griechischen Antike zunehmen – bei Aischylos Orestes auf strengen Befehl vonApollon seine Mutter tötet und dann dennoch von den Erinnyenverfolgt wird, so deshalb, weil die Ordnung der Welt zweimalgestört wurde und wiederhergestellt werden muss. Orest tatdas richtige als er den Tod seines Vaters rächte und seineMutter tötete. Und doch war er schuldig, weil er ein anderes

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„Tabu“, wie wir heute sagen würden, verletzt hatte. Die Tragödieist, dass nur eine Untat das ursprüngliche Verbrechen sühnenkann. Die Lösung brachte bekannter Maßen Athene oder viel-mehr die Gründung eines Tribunals, das es von nun an selbstauf sich nahm, die rechte Ordnung zu erhalten und den Flucheiner unendlichen Kette böser Taten aufzuheben, der nötig war,um die Ordnung der Welt aufrecht zu erhalten. Dies ist diegriechische Version der christlichen Einsicht, dass jederWiderstand gegen das Böse in der Welt notwendig einigeVerwicklungen in das Böse zur Folge hat, ebenso wie dieAuflösung der misslichen Lage für den Einzelnen.

Mit dem Aufstieg des Christentums verschob sich die Betonunggänzlich von der Sorge um die Welt und die mit ihr verbun-denen Pflichten auf die Sorge um die Seele und ihrer Erlösung.In den frühen Jahrhunderten war die Polarisierung beiderSeiten absolut; die Episteln im neuen Testament sind vollerEmpfehlungen, Öffentlichkeit und politische Verwicklungen zumeiden und sich um die eigenen, ausschließlich privatenAngelegenheiten zu kümmern, sich um seine eigene Seele zusorgen – bis Tertullian diese Haltung mit nec ulla magis resaliena quam publica zusammenfasste (Keine Sache ist unsfremder als die der Öffentlichkeit). Selbst was wir heute untermoralischen Maßstäben und Vorschriften verstehen, hat diesenchristlichen Hintergrund. Mr. Feinberg steht immer noch in dergleichen Denktradition, wenn er für den moralischen Stand-punkt, d.h. den vom rechtlichen unterschiedenen, strengereMaßstäbe der Schuldhaftigkeit behauptet. Im heutigen Denkenist der Grad der Strenge in moralischen Angelegenheiten offen-sichtlich am höchsten, am niedrigsten in Angelegenheiten derSitten und Bräuche, während Rechtsnormen irgendwo dazwi-schen rangieren. Mir geht es hier darum zu betonen, dass dieMoralität ihre Vorzugsstellung in unserer Hierarchie der „Werte“ihrem religiösen Ursprung verdankt. Ob das göttliche Gesetz,das die Regeln menschlichen Verhaltens vorschreibt, als einesverstanden wurde, das sich wie in den zehn Geboten direktoffenbarte oder wie in Naturrechtsvorstellungen indirekt, ist indiesem Zusammenhang von keinerlei Bedeutung. Die Gebotewaren wegen ihres göttlichen Ursprungs absolut, und ihre Sank-

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tionen bestanden in „zukünftigen Belohnungen und Bestra-fungen“. Und es ist mehr als zweifelhaft, ob diese ursprünglichreligiös verwurzelten Verhaltensregeln den Verlust des Glau-bens an ihren Ursprung und besonders den Verlust der trans-zendenten Sanktionen überleben können. (John Adams sagte in einer eigentümlich prophetischen Weise vorher, dass dieserVerlust „das Morden so gleichgültig werden lässt wie dasAbschießen eines Kiebitzes und die Vernichtung des Rohilla-Volkes so unschuldig wie das Verschlucken von Milben in einemStückchen Käse.“) Soweit ich sehen kann, sind es nur zwei derzehn Gebote, an die wir uns noch moralisch gebunden fühlen,„Du sollst nicht töten“ und „Du sollst nicht falsch Zeugnisablegen“. Und diese beiden sind in jüngster Zeit recht erfolg-reich sowohl durch Hitler als auch Stalin herausgefordertworden.

Im Zentrum der moralischen Erwägungen des menschlichenVerhaltens steht das Selbst. Im Mittelpunkt der politischenErwägungen des Verhaltens steht die Welt. Wenn wir diemoralischen Imperative von ihren religiösen Konnotationenund Ursprüngen entkleiden, werden wir auf die SokratischenAussage zurückgeworfen: „Es ist besser, Übel zu leiden, als Übelzu tun“, und auf seine eigentümliche Begründung: „Es wärebesser für mich mit der ganzen Welt uneins zu sein, als wennich, der ich einer bin, mit mir selbst uneins bin.“ Wie immer wir diese Berufung auf das Axiom der Widerspruchsfreiheit inmoralischen Fragen interpretieren mögen – obgleich doch einund derselbe Imperativ „Du sollst dir nicht selbst wider-sprechen“ axiomatisch für die Logik und die Ethik ist (wasnebenbei bemerkt Kants Hauptargument für den Katego-rischen Imperativ ist) –, scheint eine Sache klar zu sein: DieVoraussetzung ist, dass ich nicht nur mit anderen zusammen-lebe, sondern auch mit mir selbst, und dass diesesZusammensein gleichsam vor allem anderen Vorrang hat. Diepolitische Antwort auf den Sokratischen Satz müsste lauten:Wichtig ist, dass es in der Welt kein Übel gibt; Übel zu leiden und Übel zu tun sind gleich schlecht. Wer es auch erleidet, es ist die Pflicht eines jeden, es zu verhindern. Oder um, der Kürzehalber, an ein anderes berühmtes Wort zu erinnern, diesmal

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von Machiavelli, der genau aus diesem Grund die Fürstenlehren wollte „wie man nicht gut sei“ und, wenn er über dieFlorentiner Patrioten schreibt, die es wagten sich dem Papst zuwidersetzen, diese preist, weil sie gezeigt hätten „um wievielhöher sie die Stadt über ihre Seelen setzten.“ Wo die religiöseSprache von der die Seele spricht, spricht die säkulare Sprachevom Selbst. Es gibt viele Arten und Weisen, auf die politischeund moralische Verhaltensmaßstäbe miteinander in Konfliktkommen können, und in der politischen Theorie werden sieüblicherweise in Verbindung mit der Doktrin der Staatsräsonund ihrem doppelten Moralitätsmaßstab behandelt. Doch wirsind hier nur mit dem Sonderfall der kollektiven und stellver-tretenden Verantwortung befasst, in dem das Mitglied einerGemeinschaft für Dinge verantwortlich gemacht wird, an denenes nicht beteiligt war, die aber in seinem Namen getan wurden.Solche Nicht-Beteiligung kann viel Gründe haben: Die Regie-rungsform eines Landes kann so geartet sein, dass seine Ein-wohner, oder große Einwohnerschichten, gar keinen Zutritt zumöffentlichen Raum haben, so dass Nicht-Beteiligung keine Frageder Wahl ist. Oder wenn, im Gegensatz dazu, in freien Länderneine bestimmte Gruppe von Bürgern nicht teilhaben will, nichtsmit Politik zu tun haben will, aber dies nicht aus moralischenGründen, sondern einfach, weil sie sich entschlossen haben,eine unserer Freiheiten auszunutzen, diejenige nämlich, diegewöhnlich nicht erwähnt wird, wenn wir unsere Freiheiten auf-zählen, weil sie im großen und ganzem für selbstverständlichgehalten wird, und dies ist die Freiheit von der Politik. DieseFreiheit war in der Antike unbekannt, und sie ist in einer Reihevon Diktaturen des 20. Jahrhunderts recht wirksam abgeschafftworden, besonders natürlich in der totalitaristischen Spielart.Im Gegensatz zum Absolutismus und anderen Formen derTyrannei, wo Nicht-Beteiligung eine Selbstverständlichkeit undkeine Sache der Wahl war, befassen wir uns hier mit einerSituation, in der Beteiligung, und dies kann, wie wir wissen,Komplizenschaft an kriminellen Handlungen bedeuten, eineSelbstverständlichkeit und Nicht-Beteiligung eine Sache derEntscheidung ist. Und schließlich gibt es in freien Ländern denFall, dass Nicht-Beteiligung tatsächlich eine Form des Wider-stands ist – wie im Fall derer, die sich weigerten zum Vietnam-

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Krieg eingezogen zu werden. Dieser Widerstand wird oft mitmoralischen Gründen gerechtfertigt. Aber solange es dieVersammlungsfreiheit und mit ihr die Hoffnung gibt, dassWiderstand in der Form der Verweigerung der Teilnahme eineVeränderung der Politik mit sich bringen wird, ist sie essentiellpolitisch. Was im Zentrum dieser Erwägungen steht, ist nichtdas Selbst – Ich gehe nicht, weil ich mir nicht die Händeschmutzig machen möchte, was natürlich auch ein triftigesArgument sein könnte –, sondern das Schicksal der Nation undihr Verhalten gegenüber anderen Nationen in der Welt.

Die Nicht-Beteiligung an den politischen Angelegenheiten derWelt setzt sich immer dem Vorwurf der Verantwortungs-losigkeit aus, dem Vorwurf sich vor den eigenen Pflichten zudrücken gegenüber der mit den anderen geteilten Welt undgegenüber der Gemeinschaft, der wir angehören. Und diesemVorwurf kann keineswegs erfolgreich begegnet werden, wennNicht-Beteiligung mit moralischen Gründen gerechtfertigt wird.Wir wissen aus den jüngsten Erfahrungen, dass aktiver undmanchmal heroischer Widerstand gegen verbrecherischeRegierungen viel eher von Männern und Frauen kam, die anihnen beteiligt waren, als von Außenseitern, die frei von jederSchuld waren. Dies gilt, als eine Regel mit Ausnahmen, für dendeutschen Widerstand gegen Hitler, und es ist noch zutreffen-der für die wenigen Fälle der Rebellion gegen kommunistischeRegime. Ungarn und die Tschechoslowakei sind Beispiele dafür.Otto Kirchheimer, der diese Dinge (in seiner Political Justice)unter einem rechtlichen Gesichtspunkt diskutiert, betont rich-tig, dass in der Frage der rechtlichen oder moralischen Un-schuld, nämlich der Enthaltung von jedweder Komplizenschaftan den von einem Regime begangenen Verbrechen, „aktiverWiderstand eine illusionäre Richtschnur“ sei, und der „Rückzugaus sichtbarer Teilnahme am öffentlichen Leben, . . . die Bereit-schaft, in die Vergessenheit“ und Dunkelheit „zu verschwinden,ein Maßstab ist, der vielleicht zu Recht von denen angelegtwird, die zu Gericht sitzen.“ Mit dieser Argumentation recht-fertigt er in gewisser Weise freilich auch jene Angeklagten, diesagten, dass ihr Sinn für Verantwortung es ihnen nicht gestat-tete, diesen Weg zu wählen, dass sie dienten, um Schlimmeres

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zu verhindern etc. – Argumente, die sich gewiss im Falle desHitler-Regimes eher absurd anhören und tatsächlich gewöhn-lich nicht viel mehr waren, als heuchlerische Rechtfertigungendes eifrigen Bestrebens, die eigene Karriere zu verfolgen. Aberdies ist eine andere Sache. Richtig ist, dass die Nicht-Teilneh-menden keine Widerständler waren, und dass sie selbst nichtglaubten, dass ihre Haltung irgendeine politische Konsequenzhatte. Das moralische Argument, das ich über die SokratischeAussage anführte, besagt in Wirklichkeit folgendes: Wenn ichdas täte, was von mir jetzt als Preis für die Teilnahme verlangtwird, sei es bloßer Konformismus oder auch die einzige Chanceeines eventuell erfolgreichen Widerstands, so könnte ich mitmir selbst nicht länger leben. Mein Leben würde für mich auf-hören, lebenswert zu sein. Daher muss ich, falls ich zur Teil-nahme gezwungen werde, selbst um den Preis der Todesstrafeeher Übel Leiden, statt Übel zu tun, da ich ansonsten mit einemÜbeltäter zusammenleben müsste. Wenn es um die Frage desTötens geht, lautete die Argumentation nicht, dass die Weltohne die Mordtat besser wäre, sondern das Argument ist derWiderwillen gegen das Zusammenleben mit einem Mörder.Dieses Argument, so scheint mir, ist selbst vom striktestenpolitischen Gesichtspunkt aus unwiderlegbar. Aber es ist ein-deutig ein Argument, das nur in extremen, das heißt in Aus-nahmesituationen gültig sein kann. Allerdings sind solcheSituationen oft am geeignetsten, um Klarheit in ansonsten eherdunkle und zweideutige Sachverhalte zu bringen. Die Extrem-situation, in der moralische Aussagen im Reich des Politischenabsolute Gültigkeit erlangen, ist die Machtlosigkeit.

Machtlosigkeit, die immer Isolation voraussetzt, ist eine gültigeEntschuldigung für Untätigkeit. Die Problematik dieses Argu-ments besteht natürlich darin, dass es vollkommen subjektivist. Seine Authentizität kann nur durch Leidensbereitschaftbewiesen werden. Es gibt keine allgemeinen Regeln wie inrechtlichen Verfahren, die zur Anwendung gebracht werdenkönnen und für alles Gültigkeit besitzen. Aber dies ist, fürchteich, die Last aller moralischer Urteile, die nicht von religiösenGeboten aufrechterhalten oder abgeleitet werden. Wie wirwissen, war Sokrates niemals in der Lage, seine Aussage zu

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beweisen. Und Kants kategorischer Imperativ – der einzige Kon-kurrent um eine strikt nicht-religiöse und nicht-politischemoralische Vorschrift – kann ebenfalls nicht bewiesen werden.Die noch tiefergehende Schwierigkeit mit diesem Argument ist seine ausschließliche Anwendbarkeit auf Menschen, die esgewohnt sind, ausdrücklich auch mit sich selbst zu leben, wasnichts anderes heißt, als dass es nur für Menschen plausibleGültigkeit erlangt, die ein Gewissen haben. Und hinsichtlich desVorurteils der Rechtswissenschaft, die so oft in einer Verlegen-heit an das Gewissen appelliert, als etwas, das jeder vernünf-tige Mensch in jedem Fall haben muss, ist es evident, dass eineganze Reihe von Menschen ein Gewissen hat, aber keineswegsalle, und dass die, die es haben, in allen Lebensaltem und, wasnocheigentümlicher ist, auf allen Stufen der Bildung und Nicht-Bildung gefunden werden können. Kein objektives Zeichensozialer Stellung oder des Bildungsniveaus kann seine An- oderAbwesenheit sicherstellen. Die einzige Tätigkeit, die mit diesersäkularen moralischen Aussage zu korrespondieren und ihreGültigkeit zu bestätigen scheint, ist die Tätigkeit des Denkens,das in seiner allgemeinsten und gänzlich nicht spezialisiertenWeise mit Plato als der stille Dialog zwischen mir und mir selbstdefiniert werden kann. Übertragen auf Fragen des Verhaltensbezöge ein solches Denken die Fähigkeit der Einbildungskraftin hohem Maße mit ein, das heißt die Fähigkeit zurRepräsentation, die Fähigkeit, sich selbst zu vergegenwärtigen,was noch abwesend ist – jede erdenkliche Tat. In welchemMaße diese Fähigkeit des Denkens, das im Alleinsein ausgeübtwird, sich in die streng politische Sphäre ausdehnt, in der ichmich immer zusammen mit anderen befinde, ist eine andereFrage. Aber wie immer unsere Antwort auf diese Frage aus-fallen wird, die hoffentlich von der politischen Philosophiebeantwortet werden kann, es werden keine moralischen, indivi-duellen und persönlichen Verhaltensmaßstäbe es jemals mög-lich machen, uns von der kollektiven Verantwortung zu ent-lasten. Die stellvertretende Verantwortung für Dinge, die wirnicht getan haben, das Auf-uns-Nehmen der Kon-sequenzenvon Dingen, an denen wir vollkommen unschul-dig sind, ist derPreis, den wir für die Tatsache zahlen, dass wir unser Lebennicht mit uns allein, sondern unter unseren Gefährten leben. Sie

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ist der Preis dafür, dass die Fähigkeit zum Handeln, die schließ-lich die politische Fähigkeit par excellence ist, nur in einer dervielen und mannigfaltigen Formen menschlicher Gemeinschaftverwirklicht werden kann.

[Übersetzung: Frank Stühlmeyer / Ute Vorkoeper]

Der Vortrag ist im Rahmen eines Symposiums der AmericanPhilosophical Association (Ende Dezember 1968) über „CollectiveResponsability“ entstanden. Er sollte einer der Kommentare zumVortrag von Joel Feinberg (mit dem gleichen Titel) sein. Wie esauch aus dem Text Arendts deutlich wird, ist Feinbergs Zugangvor allem ein rechtsgeschichtlicher und moral-philosophischer. Erwill zeigen, dass die in der Vergangenheit praktizierten Formenkollektiver (auch strafrechtlicher) Verantwortung mit einem Maßvon Gruppen- und Gemeinschaftskontrollen über die Verhaltens-weisen der Einzelnen verbunden waren, die in der Entwicklungder Moderne – mit widersprüchllichen Effekten – verschwundensind. (Z. Szankay)

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Dick Howard

Induction Claude Lefort Von der Kritik des Totalitarismus zur Politik der Demokratie?

Was kann ich als Amerikaner in Deutschland über Claude Leforteinen politischen Denker aus Frankreich sagen? Es gibt diedeutsch-französische Freundschaft, die intellektuellen undpolitischen Eliten beider Länder pflegen gute Beziehungenzueinander, und auch die politische Achse zwischen Deutsch-land und Frankreich funktioniert gut. Dann sehe ich, dass dieArbeiten von Claude Lefort, die für so viele in Frankreich außer-ordentlich bedeutsam sind, in Deutschland fast unbekannt ge-blieben sind. Ich kann mir vorstellen, dass diese Unbekanntheitmit drei Merkmalen der deutschen intellektuellen Landschaft inden letzten dreißig Jahren zu tun hat: 1. Mit den tiefliegendenWiderständen gegenüber der Totalitarismusanalyse, die ja so-wohl bei Hannah Arendt als auch bei Lefort eine zentrale Rollespielt. 2. Mit dem Bestreben, von der politischen Theorie bzw.der Moral her gegenüber der jüngsten deutschen Vergangen-heit so etwas wie eine gesicherte „Garantie“ des Demo-kratischen einzufordern – ein Versuch, der dem Lefort'schenund auch Arendt'schen Verständnis des Politischen eher wider-spricht. 3. Mit der Dominanz einer sogenannten „soziologischenDenkkultur der Bundesrepublik”, eine Denkkultur, die sich mitdem Lefort'schen Begriff des Politischen nicht verträgt. Ichwerde später noch genauer darauf eingehen.

Lassen Sie mich zuerst mit meinen ersten Leseerfahrungen mit Hannah Arendt beginnen. Ich habe Hannah Arendts Buchüber die Revolution das erste Mal als junger 68er gelesen. Obich Arendts Buch damals richtig verstanden habe, bezweifeleich. Schließlich lebten wir in einer Zeit, in der wir sowohl inAmerika als auch in Deutschland von einer verbotenen Fruchtschmecken wollten, dem Marxismus, den wir mit der Revolutionidentifizierten. Als ich neulich meine alte Ausgabe von HannahArendts Buch über die Revolution wieder aus dem Regal nahm,musste ich mir eingestehen, wie viele blinde Flecken sich in

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meine Randbemerkungen eingeschlichen hatten. Ich wardamals offenbar unfähig, Arendts Fragestellung zu verstehen.Es kam mir damals offensichtlich mehr darauf an, die Welt zuverändern . . . bevor ich sie verstanden hatte.

Ich erwähne dies, weil ich Hannah Arendt erst wiederlesen undverstehen konnte, nachdem ich Anfang der 70er Jahre ClaudeLefort kennenlernte und mich in seiner Kritik des Totalitarismuswiederfand. Was ich dort fand, war nicht nur eine kritische Aus-einandersetzung mit dem Marxismus, den die neue Linke sichaneignen wollte, sondern auch eine Darstellung der innerenLogik, die uns in Richtung des Marxismus getrieben hatte.Lefort zeigte mir das Verführerische des Versuchs, sich „die“Revolution als Überwindung aller sozialen Gegensätze vorzu-stellen und diese Überwindung wiederum als Vollendung derGeschichte zu verstehen. Schließlich wurde mir durch die Be-kanntschaft mit Lefort bewusst, welche radikalen Vorstellungenvon einer Demokratie ich hatte, und warum ich – wie er – dochMarx lesen und wiederlesen musste, um diese Vorstellungen zubegreifen. Unser damaligen SDS hieß nicht „SozialistischerDeutscher Studentenbund“, sondern „Students for a DemocraticSociety“. Aber wir mussten doch irgendwann mündig werden.

Mit anderen Worten: erst Claude Lefort gab mir den Schlüssel,Hannah Arendt neu zu lesen und besser zu verstehen. Lefortarbeitet wie Arendt Neues in seiner Neuartigkeit heraus undstellt es überzeugend dar. Folgerichtig schreibt Lefort im Unter-titel seines Buches über den italienischen Politiker und DenkerNiccolò Machiavelli – le travail de l'oeuvre – dass ein echtesWerk sich nie fixieren lasse, sondern „weiterarbeitet“.

Sie werden jetzt wahrscheinlich denken: Das sind zwar schöneMetaphern, aber was meint er damit eigentlich? Lassen Siemich meine Andeutungen über das Werk von Claude Lefortpräzisieren. Am Ende seines Machiavelli – Buch hebt er hervor,dass seine Arbeit – ich zitiere – „mit der Erfahrung der Politikhier und jetzt“ zu tun hat. Was aber bedeutet Politik für Lefort?Nun, er unterscheidet zwischen zwei Bedeutungen des Begriffs„Politik“ – erstens, der alltäglichen Politik und zweitens dem

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Politischen, das die symbolischen Rahmenbedingungen dieserPolitik herstellt, oder wie er sagt, „instituiert“. Um den Unter-schied zwischen diesen beiden Bedeutungen von Politik her-auszuarbeiten, werde ich im Folgenden einige Stationen imLeben von Claude Lefort darstellen, und dabei die Reichweiteseiner Kritik am Beispiel des Totalitarismus verdeutlichen.

Während Leforts Gymnasialzeit in dem damals besetzten Parisstudiert er bei dem bedeutenden Philosophen MauriceMerleau-Ponty, dessen Freund er wurde und dessen nach-gelassenen Werke er später herausgab. Durch die VermittlungMerleau-Pontys konnte er Beiträge veröffentlichen in derdamals führenden intellektuellen Zeitschrift Frankreichs, LesTemps modernes, die von Jean-Paul Sartre und MauriceMerleau-Ponty herausgegeben wurde. Nach einer kritischenAuseinandersetzung mit Sartre über die Bewertung desStalinismus beendete Lefort jedoch seine Mitarbeit in LesTemps Modernes. Schon 1948 war er einer der Mitbegründerder antistalinistisch orienterten Gruppe „Socialisme ouBarbarie“, die er allerdings 1958, nach einem Streit mit demMitbegründer, Cornelius Castoriadis, wieder verließ. Seinedamals geleistete intellektuelle wie politische Arbeit, die beiden Mai-Ereignissen 1968 eine wichtige Rolle spielten, begrün-dete sich in seiner Kritik der Bürokratisierung der Sowjetunion.Sie mündete in einer ersten Analyse des Totalitarismus in dem„Le totalitarisme sans Staline“ (Der Totalitarismus ohne Stalin).Obwohl Lefort damals noch der Vorstellung anhing, es gäbe einrevolutionäres Proletariat, war er doch einer der ersten in derdamals von Marxistischem Ideengut geprägten, intellektuellenLandschaft Frankreichs, der die theoretische Legitimation dersogenannten Führungsrolle der Kommunistischen Parteien inZweifel zog. Aber er blieb bei der Kritik des Stalinismus und desorthodoxen Marxismus nicht stehen. Sein Denken entwickeltesich weiter.

Nach dem Austritt aus der Gruppe „Socialisme ou Barberie“arbeitete Lefort fast 15 Jahre lang an seinem Buch über Machia-velli. In Übereinstimmung mit diesem bedeutenden Denker deritalienischen Renaissance hebt er die Unbestimmbarkeit des

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Politischen und insbesondere ihre symbolische Sinnstiftunghervor. Demzufolge ist das Politische niemals nur die Wider-spiegelung der Wirklichkeit, sondern was in einer gegebenenGesellschaft als Wirklichkeit gilt, bekommt ihre Bedeutung erstdurch politische Sinnstiftung. Aus dieser Einsicht in das Wesendes Politischen folgt für Lefort, dass das Politische immer histo-risch ist, dass moderne Gesellschaften prinzipiell offen für dasNeue sind, und dass der Versuch, die Macht real zu verkörpernund dabei ihre symbolische bzw. instituierende Funktion außerKraft zu setzen, letzten Endes in einer totalitären Versuchungendet. Oder anders ausgedrückt: es gibt zwar Klassenkämpfe,oder wie man heute sagen würde, grundsätzliche gesellschaft-liche Konflikte, aber der Versuch, sie im Rahmen einer mit sichselbst identischen Gesellschaftsordnung endgültig aufzulösen,führt logischerweise zu einer Despotie, die sich zwar aufgeklärtnennen mag, aber in Wirklichkeit totalitär ist.

Das Wissen um die symbolische bzw. instituierende Funktiondes Politischen, ihre Nichtherleitbarkeit aus wissenschaftlichen,ethischen oder moralischen Letztbegründungen, veranlasstLefort dazu, nicht mehr von dem Sozialen, sondern von demSozial-Geschichtlichen zu sprechen. Nur wenn man annimmt,dass das Soziale, die Gesellschaft, eine geschichtliche Formannimmt, kann es gelingen, neue politische Ereignisse nichteinfach als Kontinuität vorheriger Gegebenheiten zu verstehen,sondern die Veränderungen des Politischen als kontingentehistorische Ereignisse zu begreifen. Diese Einsicht führt dazu,die symbolische Funktion des Politischen als einen Raum derErneuerung zu verstehen. Aus dieser Perspektive sieht Lefortdie Ereignisse des Mai ‘68 in Frankreich, die Entstehung derneuen sozialen Bewegungen in Europa oder die Menschen-rechtsbewegungen in Ostmitteleuropa nicht als logische Folgevorgängiger historischer Erfahrungen, sondern als Zeichen derUnbestimmbarkeit der modernen Politik.

Diese Analyse des Politischen liegt auch Leforts Kritik desTotalitarismus zugrunde. Der Totalitarismus ist eine moderneErscheinung, der nicht mit der klassischen Tyrannei vergleich-bar ist. Im Totalitarismus wird die Gesellschaft gewaltsam

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entdifferenziert – oder um ein deutschen Begriff zu verwenden,sie wird gleichgeschaltet. Die Gründe der Macht, des Rechtsund des Wissens werden durch die Partei verkörpert. DiesePartei wiederum beansprucht, das wahre Wesen der Gesell-schaft zu repräsentieren. Leforts Kritik dieser Anmassung ist amprägnantesten in seinem Buch über Solschenizyns Roman„Archipel Gulag“, das er nicht „nur“ als Roman versteht, formu-liert. Er dechiffriert die imaginäre Welt des Revolutionärs, dersich als Organ und Vollstrecker der Geschichte versteht, alswillenloses Instrument eines imaginären „Weltgeistes“. DieFigur des Revolutionärs ist die eines „bien pensant“, eines, derdas Gute denkt um nicht mehr denken zu müssen, um dieUnbestimmbarkeit der Geschichte und das unvorhergesehenenNeue nicht mehr erfahren zu müssen.

Die Analyse des Totalitarismus führt Lefort auch zu einem ver-änderten Verständnis von Demokratie. Ob er die Anfänge derDemokratie schon im frühen Humanismus, oder in denItalienischen Stadtstaaten, in der französischen oder in deramerikanischen Revolutionen analysiert, das Eigenartige derDemokratie besteht darin, dass sie, im Gegensatz zum Totali-tarismus, sich nicht verkörpern lässt. In ihr sind Differenzen,Konflikte, partikulare Interessen nicht nur legitim sondern so-gar notwendig. Das bedeutet, dass es „die“ Demokratie soweniggibt, wie es „die“ Revolution nicht gibt. Demokratie ist Fermentdes Neuen; sie ist ihrem Wesen nach geschichtlich und nichteindeutig definierbar. Dabei schließt sich Lefort an HannahArendts Gedanken vom „Recht, Rechte zu haben“ an und fragtnach der Begründung eines solchen Rechtes. Dieses Recht istweder ein natürliches noch positives oder gesetztes Recht, son-dern ein politisch institutionalisiertes Recht. Aber ein solchesRecht kann nie ein für allemal fixiert sein, es kann zurFormalität entarten oder zum unverhüllten Ausdruck gegebe-ner Machtverhältnissen. Deswegen kann sich die Demokratienie ihrer selbst sicher sein: die Rechte, die ihr zugrunde liegenkönnen als reine Formalie erscheinen, als Tarnung einergespaltenen Gesellschaft; die Wissenschaft kann als eine nurideologische Widerspiegelung der gegebenen Machtverhältnis-sen konstruiert sein. Kurzum, die Unbestimmbarkeit der Demo-

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kratie führt dazu, dass der Totalitarismus als Verwirklichungoder Verkörperung der demokratischen Ideale erscheinen kann.

Der Totalitarismus scheint am Anfang dieses Jahrhunderts einfür allemal erledigt zu sein, die Demokratie als politischeGesellschaftsform scheint sich dagegen endgültig durchgesetztzu haben. Aber wer Lefort gelesen hat, würde nicht einfach von„der“ Demokratie reden; auch würde er nicht so ohne weiteresvon einer fixen „Gesellschaftsform“ reden. Der Leser Lefortswürde fragen, woher kommt diese Form? Sie kommt von demPolitischen, würde Lefort antworten, sie ist eine symbolischeSinnstiftung, die auch wieder verlorengehen kann. Sie gehtverloren, wenn die gespaltene, plurale, demokratische Gesell-schaft sich zu einer willkürlichen Einheit, einer künstlichenVerkörperung fügen will, wenn sie ihre Unbestimmbarkeit auf-heben und ihre Geschichtlichkeit festschreiben will. Wenn diekonkrete Politik bzw. der Staat aber mit dem Politischen gleich-gesetzt werden, negiert man ihre Geschichtlichkeit bzw. ihreVeränderbarkeit. Indem Lefort die Geschichtlichkeit desPolitischen betont, verweist er darauf, dass das Demokratischeniemals gesichert ist, dass eine Welt, in der die Bürger passivsind und die gewonnenen Rechte nicht mehr benutzt werden,um neue Rechte zu erwerben, immer wieder in Gefahr ist. Ineiner solchen Welt verlieren auch die Literatur sowie diePhilosophie die Fähigkeit, neue Erfahrungen zu vermitteln. Diesist auch ein Grund weshalb Claude Lefort den Vorsitz desFranzösischen Komitees zur Verteidigung Salmon Rushdiesübernommen hat. Denn die Literatur ist für Lefort wie fürArendt auch eine Auseinandersetzung mit der Wahrheit, demUnbestimmbaren und Geschichtlichen.

Vor diesem Hintergrund könnte man den politischen und intel-lektuellen Werdegangs Claude Leforts zusammenfassen: Wennder Totalitarismus nicht von innen her – d.h. als Verneinung derUnbestimmtheit und der Differenzen die die Demokratie sozu-sagen „begründen“ – verstanden und kritisiert wird, dann kannman auch die radikalen Potentiale der Demokratie nicht richtigverstehen. Die auf immer verwirklichte Demokratie gibt esnicht, aber eine sich immer wieder erneuernde Demokratiebleibt unsere Chance sowie unsere Herausforderung.

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Claude Lefort

Die Weigerung, den Totalitarismus zu denken

Diesen Vortrag habe ich „Die Weigerung, den Totalitarismus zudenken” genannt. Es scheint mir angebracht, gleich diesen Titelund mein Anliegen zu beleuchten. Das Wesen und die Ent-wicklung des sowjetischen Kommunismus waren von seinerEntstehung bis zu seinem Zusammenbruch Gegenstand einerunaufhörlichen Debatte. Diese Debatte hat politische Leiden-schaften und theoretische Argumente gleichermaßen mobili-siert. Die Verteidiger eines Staates, dessen Ziel die Errichtungeiner sozialistischen Gesellschaft zu sein schien, stießen aufjene, die in diesem Staat ein neues, mit allen Mitteln der Machtversehenes Herrschaftsorgan sahen. Insgesamt gehörten dieAnhänger des sowjetischen Regimes, jene, die es zumindest für„fortschrittlich” hielten, zur Linken, seine Gegner zur Rechten. Esist jedoch festzuhalten, dass linksextreme Gruppen und einegewisse Anzahl von Sozialisten bzw. Sozialdemokraten sehrfrüh die Bildung einer Diktatur über dem Proletariat unter demSchein einer Diktatur des Proletariats angeprangert haben.Deutsche, die Gegner Hitlers waren – ich denke insbesonderean Hermann Rauschning, einen Konservativen – waren unterden ersten, die eine Parallele zwischen dem nationalsozialisti-schen System und dem sowjetischen System gezogen haben.Ich will hier auch daran erinnern, dass Léon Blum, der Anführerder sozialistischen Partei in Frankreich, zu Anfang der dreißigerJahre die kommunistischen Parteien totalitär genannt hat,bevor er die Volksfrontstrategie angenommen hat. Es ist einIrrtum zu glauben, dass das Konzept des Totalitarismus einProdukt des kalten Krieges sei. Es wurde viel früher, insbeson-dere von russischen und deutschen Emigranten, eingeführt.Was die Debatte zwischen Historikern, Soziologen und Polito-logen betrifft, so alt sie auch ist – sie hat sich doch in der Folgedes zweiten Weltkrieges intensiviert. Spekulationen über dieEntwicklung des sowjetischen Regimes haben seit der Entstali-nisierung eine neue Wendung genommen. Schließlich hat der

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Zusammenbruch des Kommunismus bemerkenswerterweisedie Debatte nicht abgeschlossen. Auch wenn es die politischenLeidenschaften nicht mehr nährt, bleibt das Konzept des Totali-tarismus weitgehend umstritten, wie Sie wissen. Gebrauchtman es, dann oft unter Vorbehalten und indem man ihm jeg-liche wissenschaftliche Triftigkeit abspricht. Hannah ArendtsWerk erfreut sich zum Glück eines wachsenden Interesses, wirdaber in den Arbeiten der Historiker kaum berücksichtigt.

Ich möchte also dies fragen: Gibt es nicht über die Divergenzenoder Gegensätze hinaus, die die Interpretation des kommuni-stischen Phänomens hervorgebracht hat, eine hartnäckigeWeigerung, den Totalitarismus zu denken? Unter „denken“ ver-stehe ich: sich dem zu stellen, was – wie Hannah Arendt es sogut gesagt hat – ohne Vorläuferschaft war und eine Frage auf-wirft, die – im Unterschied zu einem Problem, für das ja eineLösung gefunden werden kann – sich nun in unsere Erfahrungder Welt einprägt. Vor nun bald zwei Jahren, nach der Ver-öffentlichung eines Buches, das ich „Die Komplikation” genannthabe, nahm ich an Diskussionen teil, bei denen man mich jedesMal über den Sinn des allerersten Satzes meines Vorwortsbefragte: „Der Kommunismus gehört der Vergangenheit an, dieFrage des Kommunismus jedoch verbleibt inmitten unsererZeit.” Der Widerstand gegen die Idee, dass das totalitäre,genauer das kommunistische Abenteuer uns nicht unbeschadetgelassen hat, dieser Widerstand erschien mir hartnäckig undbeharrlich zu sein.

Seit einiger Zeit spricht man viel von der „Pflicht, sich zu erin-nern”. Das ist erfreulich. Wenn man jedoch dazu ermahnt, dieVerbrechen gegen die Menschheit1) nicht zu vergessen, hofftman, dass die Erinnerung daran uns davor bewahren wird, die

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1) „les crimes contre l´humanité” heißt nicht, wie es sich im deutschen politisch-moralischen Diskurs beinahe unbesehen durchgesetzt zu haben scheint, „Verbrechengegen die Menschlichkeit“, – schon H. Arendt hat in ihrem Buch über „Eichmann“ unddie „Banalität des Bösen” die eher verbergend-verharmlosende Färbung dieserWendung hervorgehoben. Freilich existiert im Französischen das gleiche Wort für„Menschlichkeit” und „Menschheit”–, jedoch wird in diesem politischen Sprachraumhier niemand an die erste Konnotation denken. (Anm. A.C./H.S.)

Greueltaten der Vergangenheit zu wiederholen. Aber ohne diePflicht zu denken läuft die Pflicht, sich zu erinnern, Gefahr,wirkungslos zu sein. Denn das, was wir denken müssen, ist derVerzicht auf das Denken, der eine der Vorbedingungen für dieErrichtung des Totalitarismus war, eines der wesentlichen Merk-male sowohl des Kommunismus als auch des Nationalsozialis-mus und des Faschismus. Wie sollte man sich über diesesungeheuerliche Phänomen keine Fragen stellen? Kann man voneinem neuen Machttypus, von einer Vereinnahmung der Gesell-schaft durch den „Staat der Partei” sprechen, ohne die Tatsachezu berücksichtigen, dass – entschuldigen Sie diesen seltsamenAusdruck – etwas dem Denken zugestoßen ist. Dieses Ereignislässt uns um so mehr aufhorchen, als wir es nicht gewohnt sind,Politik und Denken zu verbinden. Wir hätten keinen Anlass, uns zu wundern, wenn wir uns mit der Feststellung begnügenwürden, dass die totalitären Führer die vollständigen Mittelbesaßen, um die Freiheit der Meinungsäußerung und des Den-kens zu ersticken. Wir bräuchten dann nur das Fortschreiten derTyrannei in der Moderne zu beobachten. Aber die totalitäreMacht lässt sich nicht auf eine tyrannische oder despotischeMacht reduzieren. Hannah Arendt berührt einen wesentlichenPunkt, wenn sie eine Herrschaft beschreibt, die nicht nur vonaußen, sondern auch von innen ausgeübt wird. Um diesenHerrschaftstypus zu erklären, beruft sie sich auf den Glauben an ein Gesetz der Geschichte oder der Natur, beide verstandenals ein Bewegungsgesetz, auf die Unterwerfung unter eineIdeologie, verstanden als „Logik einer Idee”, und auf die Ein-schließung der Bürger im allgemeinen Prozess der Organisie-rung. Aus jeder ihrer Analysen tritt dieselbe Schlussfolgerunghervor: die Untersagung des Denkens. Sie entdeckt den Ur-sprung der Prinzipien, die die totalitären Bewegungen geleitethaben, in den im 19. Jahrhundert entstandenen Theorien undVorstellungen.

Ich werde hier diese Interpretation nicht diskutieren, dies habeich an anderer Stelle getan. Es scheint mir dagegen richtig,darauf hinzuweisen, dass genau im 19. Jahrhundert die Emp-findsamkeit der Wahrnehmung für eine Herrschaft entsteht, diefür jene, die ihr unterworfen sind, unsichtbar geworden ist und

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die ihre Triebfeder in einem Verzicht zu denken findet, genauergesagt: gar in einer Weigerung zu denken. In meinen Augenerwacht diese Empfindsamkeit als Folge der Erfahrung derfranzösischen Revolution. Den Hoffnungen, die die Schaffungeiner Gesellschaft, in der die zivilen und individuellen politi-schen Freiheiten anerkannt wären, hatte entstehen lassen, war nämlich die terroristische Diktatur einer Regierung gefolgt,die sich auf die Doktrin des öffentlichen Heils und der öffent-lichen Wohlfahrt berief, und später, nach einem Zwischenspiel,während dessen ein Rechtsstaat restauriert wurde, diebonapartistische Diktatur. Für jene Schriftsteller, die einenwesentlichen Beitrag zur modernen politischen Kultur geleistethaben, war damals die große Frage die nach der Verkehrungder Freiheit in Knechtschaft. Ich denke insbesondere anBenjamin Constant, an Guizot (zumindest in der Zeit, in der erunter der Restauration der Anführer der liberalen Oppositionwar) und ich denke auch an Tocqueville, an Michelet und anEdgar Quinet. Ich begnüge mich damit, Tocqueville und Quinetzu zitieren.

Tocqueville sorgt sich wegen der Gefahren, die die Demokratiein sich birgt, wegen der Tatsache, dass die Menschen keineunumstrittene politische Autorität mehr über sich anerkennenkönnen, sei sie von Gottesgnaden oder garantiert durch dieTradition, – dass sie dazu verleitet werden, sich vom Bild ihrerÄhnlichkeit beherrschen zu lassen und in der Übereinstimmungmit der allgemeinen Meinung das Kriterium ihrer Urteile zufinden. In einem der letzten Kapitel seiner zweiten „Demokratiein Amerika” stellt Tocqueville fest, dass „jedes Individuum esduldet, dass man es anbindet, weil es sieht, dass nicht einMensch und nicht eine Klasse, sondern das Volk selbst dasandere Ende der Kette hält”. Er ersinnt eine Art von Unter-drückung, die nichts ähnelt, was ihr auf der Welt vorangegan-gen ist. Er behauptet, er suche vergeblich nach einem Ausdruck,der seinen Gedanken wiedergibt: „Die alten Wörter Tyranneiund Despotismus treffen nicht zu.” An einer oft zitierten Stellebeschreibt er die Bildung einer grenzenlosen vormundschaft-lichen Macht, die sich selbst dazu verwendet, das Leben derBürger in allen Einzelheiten in die Hand zu nehmen, und er voll-

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endet dieses Bild mit den Worten: „Könnte sie ihnen bloß dieUnannehmlichkeit des Denkens und die Mühe des Lebensabnehmen!”. Die Unannehmlichkeit des Denkens: dies ist inTocquevilles Augen das letztendliche Ziel der neuen Herrschaft,das jedoch noch nicht erreicht ist. Der Ausdruck ist bemerkens-wert, weil er zu verstehen gibt, dass das Denken nur so langewach bleibt, wie das Subjekt sich vom Zweifel erschüttern lässt.In seiner ersten „Demokratie in Amerika” hatte sich Tocquevilleerschrocken gezeigt über die neuen Mittel zur Unterdrückungdes Denkens, die weitaus erschreckender waren als jene, die die Zensur unter der Monarchie verwendet hatte: „In Amerika”,schrieb er, „zieht die Mehrheit einen ungeheuren Kreis um dasDenken herum”. Auf diese Weise sieht sich ein Schriftsteller, der meint, seine Gedanken frei äußern zu können, als das Opfer eines solchen Ausschlusses, dass er „sogar den Wunsch,selbst zu denken, verliert”. Es muss nicht betont werden, dassTocqueville nicht die Vorstellung von dem hat, was ein totali-tärer Staat sein wird. Dieser Staat ist nämlich nicht voll undganz damit beschäftigt, die Bürger einzulullen, indem er ihnenfriedliche Genüsse gewährt, die sie von den öffentlichenAngelegenheiten abhalten; im Gegenteil, er will sie im Diensteder Errichtung einer neuen gesellschaftlichen Ordnung mobili-sieren und disziplinieren.

Edgar Quinet zeigt sich nicht weniger als Tocqueville von derDrohung beunruhigt, die auf dem Denken seiner Zeit lastet.Aber er beweist eine bemerkenswerte Kühnheit, indem er fragt,was „nicht denken” bedeutet. Dies ist der Gegenstand vonmehreren kleineren Kapiteln im letzten Teil seines großenWerkes „Die Revolution”, das heutzutage etwas in Vergessen-heit geraten ist. Es sei hier nebenbei erwähnt, dass er zur Zeitdes zweiten Kaiserreichs schrieb. An einer Stelle behauptet er,dass es nicht so schwer ist, eine Zeitlang das Volk dahin zubringen, sich des Denkens zu enthalten. Es ist, so scheint es, die Lehre, die er aus der Ära zieht, in der die von Napoleonfaszinierten Franzosen ihm ein unfehlbares Wissen zuschrie-ben, das sie selber stupide machte. An anderer Stelle aberwiderlegt er die Hypothese einer Art Lähmung des Geistes. Die moderne Dummheit, die er Torheit nennt, scheint ihm nicht

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ausschließlich eine Eigenschaft der Massen zu sein, sonderngenauso der Intellektuellen. Diese Torheit scheint sich ihm inihrem ersten Grade in der neuen Herrschaft des Sophismus zumanifestieren. Er spricht dann nicht mehr von einem Aufgebendes Denkens, von einem Zustand, in dem man nicht mehr den-ken will, sondern von einem Willen, nicht zu denken, der voneiner Mobilisierung der Intelligenz begleitet wird: dies sei sicht-bar in der Schaffung von unterschiedlichen Theorien, die vonder Verachtung für das Individuum geleitet sind. Quinet fragteinmal: „Ist die Knechtschaft eine geringere, weil sie freiwilligist?”. Er berücksichtigt zwar sehr wohl die Angst, die die Diktaturhervorruft, fügt aber hinzu, dass sie „eine freiwillige Verblen-dung” schafft.

Der Begriff der freiwilligen Knechtschaft wurde wahrscheinlichEtienne de la Boétie entlehnt. Dieser hatte um 1550 ein äußerstsubversives Werk geschrieben: „Der Diskurs über die freiwilligeKnechtschaft“. Montaigne fasst nach dem Tod seines Freundesden Plan, diesen Diskurs in seine Essais einzufügen; er musstedarauf verzichten, aus Angst, den Interessen der Protestantendienlich zu sein, die dieses Werk als Pamphlet benutzten, undaus Angst, zur Krise des Königreichs beizutragen. Kurz gesagt,La Boétie stellte Fragen über die Grundlagen der Herrschaft,wenn sie weder das Produkt einer Eroberung ist, noch durchWaffengewalt aufrechterhalten wird. Er gab keine Antwortenauf diese Fragen und hütete sich so davor, gegenüber seinenLesern die Position der Autorität einzunehmen, die der Besitzder Wahrheit verleiht. La Boétie wunderte sich darüber undregte dazu an, sich darüber zu wundern, dass Menschen bereitseien, dem Fürsten alles zu geben: alles, ihre Besitztümer, ihreEltern oder ihre Nächsten, gar ihr Leben. Liegt es daran, fragteer, dass die Menschen dem Reiz des Einen erliegen und imKörper des Fürsten das Bild eines großen kollektiven Wesenssehen, dessen Glieder sie wären. Erlauben Sie mir, einige Zeilenzu zitieren, die für den heutigen Leser noch so aufregend sind:„Jener, der derart über euch herrscht, hat nur zwei Augen, er hatnur zwei Hände und nur einen Körper und nichts sonst, was dergeringste Mensch in unseren unzähligen Städten nicht auchhat, außer der Überlegenheit, die ihr ihm gewährt, damit er

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euch zerstört. Woher hat er die vielen Augen, mit denen er euchbelauert, wenn ihr sie ihm nicht gebt? Wie hat er so viele Händegenommen, um euch zu schlagen, wenn er sie nicht von euchnimmt? Woher hat er die Füße, die eure Städte zerstampfen,wenn es nicht die euren sind? Wie hat er Macht über euch,wenn nicht von euch? Wie wagte er es, in eurem Namen aufzu-treten, wenn nicht mit eurem Einverständnis?” Indem La Boétieden Begriff der freiwilligen Knechtschaft schafft, konfrontiert eruns mit einem Rätsel, er veranlasst uns dazu, das totalitärePhänomen neu zu betrachten.

Weder die Beschleunigung des Wandels, der eine über denMenschen stehende Geschichte, eine Geschichte in der zumGesetz erhobenen Bewegung entstehen lässt, noch die Bildungvon Ideologien wie der Marxismus oder der Darwinismus, nochder Erfolg des aus Wissenschaft und Technik abgeleitetenModells der gesellschaftlichen Organisation genügen, um dieMerkmale des neuen Herrschaftssystems zu erklären. DiesesSystem versucht – und es gelingt ihm eine Zeitlang –, zugleichdie Unterwerfung unter die Allmacht eines höchsten Führersund die aktive Teilnahme der meisten an der Realisierung mör-derischer Ziele zu erlangen. Einigen wir uns auf diesen Punkt:Zweifelsohne hat man nie zuvor ein politisches Gebilde wie denNationalsozialismus oder den Kommunismus gekannt, dem vonjenen, die ihm unterworfen waren, eine solche Opferbereit-schaft und eine solche Entschlossenheit entgegenbracht wur-den, der Macht alles, einschließlich ihres Lebens, zu geben.

Das kommunistische System verlangt unsere besondere Auf-merksamkeit nicht wegen des Umfangs der während des Stali-nismus begangenen Verbrechen (ich vergesse nicht, das der an den Juden begangene Genozid eine extreme Stufe desVerbrechens markiert), sondern, so scheint es mir, aus zweiGründen: Der erste ist, dass der Terror weitgehend über demVolk ausgeübt wurde und dass die Opfer sich der Regel derBeichte gebeugt haben, dass sie soweit gegangen sind, auf denGedanken ihrer Unschuld zu verzichten: ein extremes Beispielfür die freiwillige Knechtschaft. Der zweite Grunde ist, dass – ichknüpfe hier an die feinsinnige Beobachtung Quinets an – diese

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Knechtschaft von einer Mobilisierung der Intelligenz, einerungeheuren Wucherung sophistischer Argumente begleitetwurde. Harold Rosenberg, ein Schriftsteller, der zur liberalenamerikanischen Linken gehörte, bemerkte in den 50er Jahrenmit schwarzem Humor, dass der Aktivist ein Intellektueller sei,der es nicht nötig habe, zu denken. Intellektuell in dem Sinne,dass er sich fähig zu kunstfertigen Argumentationen zeige, umunter allen Umständen die Parteilinie zu erklären oder rechtfer-tigen. An dieser Stelle sei noch angemerkt: Wie auch immer dieSicherheit ist, die die Ideologie dem aktiven Parteimitglied ver-schafft, sie gibt ihm nur ein sehr allgemeines Wissen; imKontakt mit den Ereignissen und angesichts der Willkür der Ent-scheidungen der Führer muss er eine Art von Erfindungsreich-tum aufweisen, um das zu erklären, was unerklärlich erscheint.Von dieser Kunst, die Einwände des gesunden Menschenver-stands abzuwehren bzw. das Offensichtliche zu leugnen, hatSolschenizyn überzeugende Beispiele gegeben.

Glauben Sie bitte nicht, dass ich mit dem Bezug auf La Boétieoder Schriftsteller des 19. Jahrhunderts die Neuartigkeit destotalitären Phänomens unterschätzen wollte. Dieses Phänomenkann nur in der modernen Welt in Erscheinung treten, einerWelt, die nicht nur durch die industrielle Revolution verändertwurde, aus der bislang unbekannte Techniken der Massen-mobilisierung, Massengleichschaltung und Propaganda ent-standen sind, sondern auch durch die demokratischeRevolution. Diese Revolution hat alle traditionellen Hierarchienzugrunde gerichtet und die für den alten gesellschaftlichenRaum charakteristischen Beschränkungen zerstört. Die Mög-lichkeit, ein Regime zu errichten, das fähig ist, die Integrationder verschiedenen Handlungsbereiche in den Staat und dieVereinheitlichung der Normen, die die Beziehungen zwischenden Menschen durch die gesamte Bandbreite der Gesellschaftbestimmen, zu erreichen; die Möglichkeit, ein Regime zu er-richten, das fähig ist, die Spuren der Teilung zwischenHerrschenden und Beherrschten zu löschen, diese Möglichkeithat sich abgezeichnet in einer Zeit, in der die Souveränität desVolkes behauptet wurde und die Pluralität der Interessen undder Glaubensbekenntnisse anerkannt wurde.

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Historiker versuchen, die Genesis der totalitären Regimes zuerklären, indem sie die Konjunktur beleuchten, von der sieprofitiert haben: eine gesellschaftliche, wirtschaftliche undnationale Krise. So berechtigt und fruchtbar die Untersuchungder Fakten auch ist, sie kann uns aber nicht davon befreien, unsdem Rätsel einer Macht zu stellen, die es geschafft hat, alsEmanation des Volkes und Agens seiner Reinigung zu erschei-nen, als Schöpfer eines gesunden gesellschaftlichen Körpers,der seiner Parasiten entledigt sei, seien es die Kleinbürger inRussland oder die Juden in Deutschland. Hier ist, hat manbehauptet, der Beweis, dass die große Waffe der totalitärenBewegungen die Ideologie ist, die Theorie der überlegenenRasse oder des missionarischen Proletariats. Was man Ideo-logie nennt, ist jedoch nur dank der Schaffung einer Parteineuer Art wirksam: einer Partei, die mit allen anderen politi-schen Formationen bricht, sich vom Rahmen der Legalität frei-macht und sich die Eroberung des Staates zum Ziel setzt. DasModell der bolschewistischen Partei ist besonders lehrreich,weil es von einer Ideologie begleitet wird, die viel besser als dieIdeologie des Nationalsozialismus artikuliert ist. Man ist ver-sucht, den wesentlichen Grund für seine Ausbreitung der mar-xistischen Doktrin zuzuschreiben. Dabei ist man blind für dieVerwandlung der Doktrin von dem Augenblick an, wo sie sich ineine Organisation einprägt, die durch die ihren Mitgliedern auf-erlegte strikte Disziplin gekennzeichnet ist. Ihre Prinzipien sindbekannt: revolutionäre Arbeitsteilung, Professionalisierung desAktivismus, Forderung nach unbedingter Ergebenheit einesjeden gegenüber der Sache der Partei. Die Organisation neigtdazu, in sich selber ihr eigenes Ziel zu suchen, aufgrund ihrerIdentifikation mit dem Proletariat. In ihr vollzieht sich einProzess der Identifikation des Aktivisten mit dem höchstenFührer. Die Partei reduziert sich nicht, wie man es behauptethat, auf die Funktion eines Instrumentes im Dienste derAnwendung der Doktrin. Die Doktrin wird gemäß demImperativ einer absoluten Einheit der Partei umgestaltet.Außerhalb der Grenzen der Partei ist kein Zugang zur Wahrheit,keine Teilnahme am revolutionären Kampf möglich. In denWorten Quinets heißt es: „Das Denken darf sich nur unter derBedingung reproduzieren, dass es sich den aufgezwungenen

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Maximen unterwirft”. Infolgedessen wird der Marxismus berei-nigt, jeglichen Elements der Unsicherheit und Ungewissheitentledigt. Seine Lehre wird auf die Definition beschränkt, dieLenin von ihm gibt. Es gibt nur noch einen einzigen Leser desWerkes von Marx und Engels. So kommt es zur Verbindungeines kollektiven Körpers, d.h. der Gruppe der miteinanderverschweißten Parteiaktivisten, mit einem Ideenkörper, einemDogma. Sicherlich sind die Aktivisten Gläubige, aber sie sind es nur insofern, dass sie gemeinsam glauben und bei jedemeinzelnen das Ich in das Wir versinkt. Wenn die Partei einmal an der Macht ist, verbreitet sich das Prinzip der Organisation in der gesamten Gesellschaft. Natürlich kann die für die Parteicharakteristische Disziplin nicht in der gesamten Bevölkerungerreicht werden. Aber in jedem Bereich werden die Individuendazu angespornt, sich aneinander anzupassen, sich als dieAgenten eines Apparats zu betrachten. Dieses Schauspiel einerGesellschaft, die gänzlich der Organisation geweiht ist, wecktebei Arendt die Vorstellung einer Herrschaft von Innen, d.h. einerHerrschaft dergestalt, dass jene, die ihr unterworfen sind, sichzu ihrer Integration in ein System hergeben, das die Gewalt derMacht verschleiert.

Bliebe man bei diesem Phänomen, so würde man den Prozessder Einverleibung der Individuen in ein kollektives Wesen außerAcht lassen, – was ich versuchte, am Beispiel der Partei heraus-zustellen. Dieser Prozess tendiert dahin, sich in großem Maß-stab zu reproduzieren, ohne jedoch je sein Ziel zu erreichen. Inallen Bereichen der Gesellschaft entstehen nämlich unzähligeKollektive, von denen jedes eine Art Körper darstellt, dessenGlieder von ein und demselben Ziel geleitet werden: Gewerk-schaften, Jugendbewegungen, Kultur- oder Sportvereine,Schriftsteller- oder Künstlerverbände, Wissenschaftsakademien,Organisationen jeder Art, die von der Partei kontrolliert werden.Wenn man dieses ungeheure Netz von Organen betrachtet, indem die Bürger gefangen sind, kann man die Neuartigkeit unddas Ausmaß des totalitären Unterfangens ermessen; man er-misst auch die Anziehungskraft, die die Zugehörigkeit zu einerGemeinschaft, die einen einzigen Block bildet und das Bild desEinen bietet, ausübt. Kann man hinzufügen, dass mittels dieser

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zahlreichen Eingliederungen sich der Glaube der großenVolksgemeinschaft aufdrängt, die sich in dem sichtbaren Körperdes höchsten Führers widerspiegelt? Ich neige zu der Auf-fassung, dass es im tiefsten Innern das Bild des Körpers ist, das der Glaube an das Eine stützt. Während die OrganisationGegenstand eines Diskurses sein kann und ihre Vorzügezelebriert werden können, verankert sich das Bild des Körpersim Unbewussten. Seine Wirksamkeit ist um so stärker. Siebesteht weiter fort, wenn die Organisation durcheinander-gebracht ist.

Wie soll man nicht dem zustimmen, dass die Weigerung zudenken sich im Kern des totalitären Systems befindet?Innerhalb dieses Systems zu denken würde heißen, das Risikozu akzeptieren, sich von der Gemeinschaft ausgeschlossen zufühlen. Zweifelsohne bringt die Angst den Verzicht auf dasDenken hervor. Wer würde die Wirkung der Angst unter derHerrschaft einer terroristischen Macht oder, wenn sie sichgemäßigt hat, einer Polizeimacht unterschätzen? Man mussaber eine andere Angst berücksichtigen, die Angst davor, diepsychische Sicherheit zu verlieren, die die Zugehörigkeit zueinem Kollektiv verschafft.

Ich möchte nicht glauben machen, dass die Fähigkeit zu den-ken in einem totalitären Regime verschwinden könnte. DerKommunismus hat eine Elite von Individuen aus allen Schichtenentstehen lassen; die meisten von ihnen blieben anonym, abereine kleine Anzahl fürchtete sich nicht davor, sich zu erkennenzu geben: es war die Elite der Dissidenten. Es gibt in unsererZeit kein schöneres Beispiel für den unzerstörbaren Widerstanddes Denkens. Andererseits hat man das Desaster noch nichtganz ermessen, das die langfristige Erziehung der meisten zumNichtdenken nach sich zieht. Der Nationalismus in seineraggressivsten Form, der des Hasses gegen einen vermeint-lichen, wie eine Art Untermensch behandelten Feind löst inPutins Russland oder Milosevics Serbien den Kommunismus ab.Im Westen ist man weitgehend blind für das in Russlandetablierte totalitäre System geblieben. Eine These lautete, dasProjekt, eine klassenlose Gesellschaft aufzubauen erfolge

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gemäß den Grundsätzen des Marxismus, stoße aber anSchwierigkeiten, die die Theorie nicht habe erahnen lassen,denn die proletarische Revolution habe sich in einem Landereignet, in dem der Kapitalismus die Produktivkräfte nicht aus-reichend entwickelt habe. Die Diktatur der Partei und derRückgriff auf den Terror hätten als Ursache den RückstandRusslands, das Scheitern der Revolution in Deutschland und dieFeindseligkeit der kapitalistischen Mächte. Einer zweiten Thesezufolge – einer These der Trotzkisten – waren die Fundamentedes Sozialismus mit der Verstaatlichung der Produktionsmittelsehr wohl gelegt worden, aber aus Gründen, die ich ebenerwähnt habe, habe sich eine parasitäre Bürokratie vorüberge-hend auf die ihrem Wesen nach proletarische Macht aufge-pfropft. Einer dritten These zufolge entsprang die Bildung einerManagerklasse den für jede industrielle Gesellschaft charakte-ristischen Veränderungen. Eine weitere These vereinte die Ideeeiner bürokratischen Gesellschaft mit der eines Staatskapitalis-mus: Dieses Phänomen blieb dann, obwohl es von Marx nichtvorgesehen wurde, doch verstehbar im Rahmen seiner Analyse.So verschieden, gar entgegengesetzt diese Interpretationen inmanchen Hinsichten auch waren, sie hatten gemeinsam, dasssie die Frage beiseite schoben, die das Aufkommen einesRegimes unbekannter Art stellte, d.h. dass sie die Frage desPolitischen beiseite schoben und entweder eine Verkettung vonEreignissen, oder rein gesellschaftliche und wirtschaftlichePhänomene herausstellten. Bedeutsamer für mein Anliegen istdas Konzept eines Typus von totalitärem Regime, dessenMerkmale ausgehend von empirischen Kriterien definiert wer-den und das dem Typus der liberalen Demokratie gegenüber-gestellt wird. Diese Kriterien wurden von Friedrich eingeführtund grosso modo von Raymond Aron in seinem Werk„Demokratie und Totalitarismus” übernommen. Es scheint, dassdieses Konzept von einer politischen Analyse gekennzeichnetist. Genügt es aber, um die Neuartigkeit der kommunistischenPartei zu begreifen, sie als eine, wenn auch sehr eigentümliche,Variante der Einheitspartei zu behandeln? Genügt es festzu-stellen, dass die Partei über das Monopol der politischenAktivität verfügt, dass sie mit einer Ideologie ausgerüstet ist,deren Autorität absolut ist, und dass der Staat das Monopol der

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Gewalt- und Propagandamittel besitzt und sich die meistenwirtschaftlichen und beruflichen Aktivitäten unterwirft? Esheißt nicht den Totalitarismus zu denken, sondern sich weigern,ihn zu denken, wenn man ihn auf eine gänzlich äußerlicheHerrschaft reduziert, – es heißt, aus ihm eine neue Art vonDespotismus zu machen.

Zu Beginn sagte ich, dass der Zusammenbruch des Kommunis-mus die Debatte nicht beendet hat. Vor einigen Jahren habenzwei Werke herausragender Historiker, „Das Ende einer Illusion”von François Furet und „Die sowjetische Tragödie” von MartinMalia, ein neues Interpretationsschema skizziert. BeideAutoren werten inhaltsreiche Dokumente aus und haben dasVerdienst, das kommunistische Phänomen in die Horizonte dermodernen Welt zu stellen. Sie bemühen sich, die eben erwähn-te erste These einer Errichtung des Sozialismus im Kampfgegen unvorhergesehenen Hindernissen mit der These einesallmächtigen Staates, der die Bezeichnung totalitär verdient, zu verbinden. Die erste These wird jedoch grundsätzlich modi-fiziert: Im Unterschied zu den Verteidigern der Sache desSozialismus sind beide Historiker der Auffassung, dass das Ver-halten der sowjetischen Führer stets von einer Illusion (F. Furet)oder einer Utopie (M. Malia) geleitet war. Diese Führer hättenalle, einschließlich Stalin, an den Sozialismus geglaubt, aber derSozialismus sei nur eine Chimäre gewesen. Auf diese Weisewäre ihre terroristische Politik zu erklären, wenn man annimmt,dass sie je nach Lage konfrontiert wurden mit den „unge-wollten Folgen” von Maßnahmen, die die Wirklichkeit nichtberücksichtigt hatten, und gezwungen wurden, ihre Methodenzu radikalisieren, um nicht auf das Endziel zu verzichten.Kurzum, François Furet und Martin Malia entnehmen derFeststellung der Zersetzung des Regimes den Beweis für seineInkonsistenz, wobei sie ihm gleichzeitig eine Kohärenz, dieKohärenz seiner Ideologie, zuerkennen. Ich werde hier nichtlänger bei dieser Auffassung der Geschichte des Kommunismusverweilen. Es handelt sich buchstäblich um eine idealistische,d.h. gänzlich von Ideen gesteuerte Geschichte, um eineGeschichte von oben, die die Untersuchung einer neuen Struk-turierung der gesellschaftlichen Beziehungen und zuallererst

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die Untersuchung des Funktionierens der Partei vernachlässigt.Die Naivität besteht darin, den Diskurs der Führer beim Wort zunehmen. Die Vereinfachung besteht darin, den Bolschewismusals den direkten Ausdruck der revolutionären Utopie zu behan-deln, ohne die vielfältigen Bewegungen zu berücksichtigen, dieden Glauben an eine radikale Veränderung der Gesellschaftgeteilt haben. Was ich hier betonen will, ist der Wille, den Kom-munismus auf eine folgenlose Episode, auf eine Abschweifungzu reduzieren. Nach Furets Worten war der Kommunismus nureine Parenthese im Laufe des 20. Jahrhunderts und dieseParenthese ist nun geschlossen. Nach Malias Worten beweistdie Tatsache, dass er wie ein Kartenhaus zusammengebrochenist, dass er immer nur ein Kartenhaus war (sic). Beiden zufolgeist unsere Zeit eigentlich eine Rückkehr zur Wirklichkeit. Abersie fragen nicht, warum eine so breit geteilte Illusion oderUtopie aus der wirklichen Welt des 20. Jahrhunderts entstehenkonnte, an die wir angeblich neu anknüpfen; warum dieSchaffung von totalitären Systemen unvorhergesehen war undlange sowohl von der liberalen Rechten wie von einem Großteilder Linken verkannt blieb, während die Westler “mit beidenFüßen fest auf dem Boden standen“; warum schließlich daskommunistische Modell auf allen Kontinenten eine solcheAusstrahlung erlangte.

Den Kommunismus in Raum und Zeit einzugrenzen, heißt, sich geschützt vor Ereignissen zu wähnen, die die Grundlagenunserer Gesellschaft erschüttern können. Die Tatsache, dasssolche Ereignisse sich vollzogen haben, sollte jedoch unsereWahrnehmung empfänglich für das Unvorhersehbare machen.Sie sollte uns vor der Vorstellung warnen, dass die Demokratiekeine Feinde mehr hätte und dass sie nicht selber der Herdneuer Weisen der Unterdrückung des Denkens, neuer Formender freiwilligen Knechtschaft wäre, deren Folgen wir nichtkennen.

(Übersetzung aus dem Französischen: Ariane Cuvelier/HansScheulen)

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Dr. rer. pol. Albrecht Göschel

Kulturpolitik unter dem Diktat der Ökonomie – der geplante Verfall des Gemeinwesens?Thesen zur gegenwärtigen Lage und Aufgabe von Kulturpolitik

Text zu einem Vortrag in Bremen „Anstoß. Die Bremer Initiative für Kultur“

Auch wenn man Kulturförderung gerade der zentralen, großenKunsteinrichtungen einer Stadt oder eines Bundeslandes fürunverzichtbar hält, wird man nicht umhin kommen, einigeBedingungen zu akzeptieren, die es der Politik zunehmendschwer machen, in selbstverständlicher Weise den laufendenund meist steigenden Finanzbedarf dieser Einrichtungen Jahrfür Jahr immer wieder aufzubringen.

Die Klagen der Einrichtungen über Finanzmängel sind so anhal-tend und seit Jahren und Jahrzehnten so bekannt, dass man essich möglicherweise etwas leicht macht, diese Klagen heuteeinfach nur fortzusetzen. Zwar wird zunehmend deutlich, dassvor allem die kommunalen Finanzlagen sich so bedrohlich ent-wickeln, dass Schließungen im Kulturbereich nun tatsächlichunausweichlich werden, dass aber Einsparungen im Kulturhaus-halt das Aus für manche Aktivitäten bedeuten könnten, wirdbedauerlicher Weise schon seit Jahren behauptet, und es istdann doch immer wieder weiter gegangen. Man kann also diePolitiker verstehen, die diesen Warnungen manchmal keinenrechten Glauben mehr schenken mögen. Manche Einrichtungkönnte sich in den letzten Jahren bereits unglaubwürdiggemacht oder es versäumt haben, ihre Arbeitsbedingungenwirklich offen zu legen und der Politik verständlich zu machen.Immer wieder ist kritisiert worden, dass man eigentlich vonvielen Einrichtungen nur dann etwas hört, wenn Finanzver-handlungen ins Haus stehen, sonst aber eine merkwürdigeRuhe um viele Häuser herrscht. Man muss vermuten, dass es

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der Kultur in den letzten Jahren nicht sehr gut gelungen ist, ihre Arbeitsformen aber auch ihre Leistungen, ihre Beiträge zur Politik und zum öffentlichen Leben so überzeugend darzu-stellen, dass Finanzanforderungen wirklich offensiv und öffent-lich vertreten werden konnten. Es gehört nun einmal zu denehernen Spielregeln der Politik, dass nur das aus öffentlichenGeldern finanziert werden kann, für das ein Bedarf öffentlichund mehrheitlich anerkannt wird. Es muss eine Leistungerbracht werden, die als allgemeine, der Gesamtheit dienendein einer breiten Öffentlichkeit verstanden werden kann. JedeEinrichtung, jede Leistung, die aus öffentlichen Mitteln finan-ziert wird oder zumindest Unterstützung erwartet, muss sichheute diesem „Säurebad“ der öffentlichen Debatte und Recht-fertigung stellen. Selbstverständlichkeiten, sakrosankte Be-reiche der Finanzierung aus Steuermitteln kann es gegenwärtignicht mehr geben.

1. Entwicklung der öffentlichen Haushalte,besonders der Kommunalhaushalte

Die öffentlichen Haushalte der Bundesrepublik befinden sichseit Jahren in einer äußerst prekären Lage der ständigenVerknappung öffentlicher Mittel bei steigenden Anforderungenund Ansprüchen. Es ist daher durchaus verständlich, dass diePolitik alle Möglichkeiten für Einsparungen auszuschöpfensucht. Besonders für die kommunalen Haushalte hat sich eineSchere zwischen Ausgaben und Verpflichtungen auf der einenund Einnahmen auf der anderen Seite geöffnet, die nach ver-breiteter Auffassung die kommunale Autonomie in Frage zustellen beginnt. Wiederholt hat z.B. der Deutsche Städtetagdarauf hingewiesen, dass die Lage der Kommunalfinanzen dieErfüllung des grundgesetzlich garantierten aber auch verlang-ten Auftrags der Kommunen zu einer eigenständigen Politik-gestaltung nicht mehr zulässt. Zum einen werden Steuer-einnahmen laufend reduziert, zum anderen neigen sowohl dieBundesländer als auch der Bund ständig dazu, staatlicheAufgaben an die Kommunen zu delegieren, ohne für die erfor-derliche Finanzierung zu sorgen. Ohne auf finanzpolitische

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Details an dieser Stelle weiter einzugehen, sollte nur gesagtwerden, dass auf lokaler, kommunaler oder stadtstaatlicherEbene zur Zeit in der Tat Haushaltsbedingungen herrschen, diein höchstem Maße restriktiv auf die jeweiligen Handlungsspiel-räume wirken, und dass es nicht immer unbedingt die Schuldund das Versagen der Kommunal- oder – im Falle der Stadt-staaten – der Landespolitiker ist, die zu diesen häufig äußerstschwierigen Bedingungen geführt hat. Das zwingt dazu, undman mag darin einen „Gewinn“ der haushaltspolitischen Eng-pässe sehen, alle Ausgaben im Sinne von Prioritätensetzungenzu rechtfertigen und zu begründen. Kommunalpolitik wirddadurch auch transparenter, wenn auch für die Akteure häufigmühsamer und unerfreulicher, als wenn die öffentlichenWohltaten aus dem Füllhorn des Überflusses ausgestreut wer-den können, wie es in den 60er und 70er Jahren allgemeinüblich war. Vor allem aber müssen die Kategorien fürBewertungen und Prioritätensetzungen offen gelegt werden,die Maßstäbe, die für gelten sollen; und auf dieser Ebenescheint sich für Kultureinrichtungen eine Gefahr abzuzeichnen,der sich die Akteure noch nicht hinreichend bewusst sind, dieGefahr, nach sachfremden Kriterien gemessen zu werden.Bevor darauf näher einzugehen ist, jedoch noch einigeAnmerkungen zu den ökonomischen Besonderheiten derKulturpolitik.

2. Ökonomische Bedingungen der Kultureinrichtungen

Den äußerst schwierigen Rahmenbedingungen der Kommunal-und Landespolitik entsprechen von Seiten der Kulturein-richtungen einige Besonderheiten, die es der Politik tatsächlichnicht leicht machen, immer wieder aufs neue die Finanzierungder Kultureinrichtungen sicher zu stellen. Auch die engagier-testen Vertreter der Kultureinrichtungen sollten sich dieseEigenarten des Kultursektors und die damit immer wiedergegebenen Schwierigkeiten der Kulturpolitik klar machen,bevor sie in bekannte Politikerschelte und anhaltenden Klagenüber unzureichende Finanzierungen ausbrechen.

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2.1 Das Dienstleistungsdilemma der Kultureinrichtungen. Kulturökonomisch sind die großen Kultureinrichtungen, die sog.Live-Produktionen anbieten, „uno-actu-Dienstleistungen“, d.h.ihre Leistung wird in „einem Akt“ von lebenden Personen pro-duziert und gleichzeitig von lebenden Personen konsumiert.Alle Dienstleistungen, die durch das uno-actu-Prinzip geprägtsind, wie die Theater, Opernhäuser, Orchester – weniger dieMuseen und Galerien – leiden unter dem Dilemma, dass ihrePersonalkosten mit den üblichen Standards und in Anlehnungan Tarife vergleichbar qualifizierten Personals steigen, dass siesich aber nicht die Methoden der Effizienzsteigerung zu Nutzemachen können, wie das alle die Produktionsbetriebe tun, dieden uno-actu-Vorgang durch Produktion sächlicher Gegen-stände entkoppeln können. Während als z.B. das Theater dar-auf angewiesen ist, vor jedem Publikum immer wieder aufzu-treten und zu spielen, kann ein einmal eingespielter Film mitmehreren tausend Kopien an ein und demselben Tag startenund diese Kopien praktisch unbegrenzt immer wieder zeigen,so lange eine Nachfrage besteht. Das gleiche gilt für dieBeschränkungen eines Konzertes gegenüber dem unbegrenztproduzierbaren Tonträger. Alle Produktion von Gegenständenkann sich die Methoden der Effizienzsteigerung zu Nutzemachen, wie sie Technik in modernen Produktions- undVertriebsverfahren ermöglicht. Uno-actu-Produktion dagegenbleibt an „handwerkliche“ oder „manufakturielle“, vorindustriel-le Produktions- und Dienstleistungsformen gebunden; undderartige Produktionen werden im Vergleich mit der Produktionvon Sachgütern permanent überproportional teurer. Dies istletzten Endes der Grund, warum Theater oder Orchester trotzbekanntlich schlechter Gehälter ihres Personals nur mit hohenSubventionen der öffentlichen Hand leben können. Im Markt, indem sich Zahlungsbereitschaft aus den Vergleichen zwischensächlicher und uno-actu-Dienstleistung ergibt, wären Kosten-preise für diese Angebote nicht zu erzielen. Anders ausge-drückt, kein normaler Konsument ist bereit, mehrere HundertDM Eintritt für ein Konzert zu bezahlen, wenn er die dortpräsentierte Musik auf CD oder anderem Träger für 10,– DM bis40,– DM „kaufen“ kann.

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Es ist an dieser Stelle nicht erforderlich, auf die Qualitäten derLive-Produktion hinzuweisen, die z.B. in der Musik darin liegen,dass die Dynamik jedes größeren Orchesterwerks bei derEinspielung auf Tonträger auf 10% dessen reduziert werdenmuss, was die Partitur eigentlich vorschreibt und was einnormales Symphonie-Orchester in der Live-Aufführung auchrealisiert. Die Aufnahmen der großen Symphonik des 19. Jahr-hunderts stellen also nur einen matten Abklatsch dessen dar,was wirklich gemeint ist und in der Aufführung auch geschieht,in der heimischen Anlage aber nicht denkbar ist, da sonst dem einzelnen, privaten Hörer in seinen vier Wänden mitSicherheit „die Fensterscheiben raus flögen“ und auch sonstnoch manches zu Bruch ginge, würde er versuchen, die tat-sächlich gemeinte und im Konzert auch herstellbare Dynamikzu verwirklichen, ganz davon abgesehen, dass auch keine privat zu erwerbende Anlage diesen Anforderungen gewachsenwäre.

Entsprechende Qualitätsverluste, die die reproduzierten Werkeals ganz andere erscheinen lassen als die Live-Produktionen,lassen sich in allen Bereichen nachweisen, z.B. durch Format-veränderungen abgebildeter Kunstwerken in Büchern, in denenalle Werke zum Blättern auf die gleiche Größe gebracht werdenetc. Zwar können natürlich mit dem Übergang zum reprodu-zierbaren Medium auch neue Qualitäten erschlossen werden,wie das z.B. im Film in extremer Form geschieht. Dennoch istjedem, der sich mit diesen Fragen etwas eingehender befassthat klar, dass die Reproduktion letzten Endes nur„Erinnerungswert“ an das Original besitzt, zumindest in denmeisten Fällen. Dennoch ist der normale Konsument, auch derKenner, vermutlich nicht bereit, auch wenn er dazu in der Lagewäre, die Kostenpreise von Live-Produktionen zu bezahlen, da sie seinen Gewohnheiten allzu tief widersprechen. Man gibteinfach nicht 300,– DM oder 500,– DM für einige StundenMusikgenuss oder einen Theaterbesuch aus. Obwohl einehöhere Zahlungsbereitschaft beim Publikum der großenEinrichtungen also wünschenswert und manchmal, aus Sichtder Einkommen, auch denkbar wäre, muss man einfach damit rechnen, dass sie im Kontext der anerkannten und für

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angemessen gehaltenen Gewohnheiten nicht wesentlich überdas gegenwärtig übliche Maß erhöht werden kann. Die Lückezwischen normaler privater Zahlungsbereitschaft und tatsäch-lichen Kosten muss die öffentliche Hand schließen, wenn sieder Meinung ist, es handle sich um einen unverzichtbaren Wert, Live-Produktionen von Musik und Theater zu präsen-tieren.

2.2 Kulturökonomische Folgen des Star-Prinzips Sowohl Hoch- als auch Massenkultur – falls man dieseUnterscheidung für relevant hält – sind wie der Sport vom Star-Prinzip geprägt. Das besagt nichts anderes, als dass der „Erste“oder „Beste“ bzw. der, der dafür gehalten wird, erheblichberühmter ist und entsprechend unvergleichlich besser bezahltwird als der „Zweite“ oder „Dritte“, auch wenn die „Qualitäts-abstände“ minimal, im Einzelfall selbst für Kenner kaum zuregistrieren und häufig nur an ein Image gebunden seinmögen. Zur schieren Katastrophe kann das für eine breite Basisvon Künstlern werden, die möglicherweise in lokalen Ein-richtungen durchaus respektable, solide Arbeit leisten, dafüraber mit Hungerlöhnen abgefertigt werden, während „der Star“für die gleiche Arbeit, also für die gleiche Partie in einer Oper,die gleiche Rolle in einem Theaterstück, Unsummen verdient,die für einen einmaligen Auftritt an das Jahreseinkommens des„normalen“ Künstlers heranreichen, es sogar deutlich übertref-fen können. Und das Publikum ist tendenziell sogar bereit, dieKosten des Stars zu bezahlen, also für das gleiche Stück, dengleichen Inhalt, ein Vielfaches von dem zu zahlen, was es beiweniger bekannten Akteuren zu entrichten bereit wäre. DieAnwesenheit eines Stars signalisiert das herausragendeEreignis, das „Event“, auf das auch Kultur und Kunst ausgerich-tet ist, man mag dies mögen oder bedauern. Das gleiche Prinzipgilt in allen Sparten, also auch in der bildenden Kunst, in derz.B. die Objekte eines bestimmten Malers oder Bildhauersungeheuerliche Preise erzielen können, während andere, mög-licherweise nur wenig „schlechtere“ oder „unbedeutendere“dem gegenüber nur Bruchteile dieser Spitzen erreichen. Sogarbis auf die “Star-Rolle“ eines einzelnen Objektes kann sichdieses Prinzip zuspitzen.

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Die Folgen sind besonders für die lokale Kulturpolitik tenden-ziell zerstörerisch, denn alle Häuser konkurrieren um die weni-gen großen Namen und Objekte oder versuchen, solche bei sichentstehen zu lassen. Nur Spitzeneinrichtungen in den kulturel-len Metropolen können ständig Stars präsentieren oder sogareinzelne fest an ihre Häuser binden. Diesen Einrichtungengehört dann die allgemeine Aufmerksamkeit, für sie werdenz.B. bei Festspielen oder im Urlaub vergleichsweise gigantischeEintrittspreise entrichtet, während die heimische, lokaleEinrichtung, die möglicherweise keine Stars vorzuweisen hat,aber dennoch sorgfältige, respektable Produktionen zu Standebringt, mit Gleichgültigkeit und minimaler Zahlungsbereitschaftbestraft und mehr oder weniger zum „Nulltarif“ erwartet wird.

Auf die Feinheiten dieses Starprinzips, z.B. auf die schwer kalku-lierbaren Verbindungen von Popularität und Exklusivität, dieden Star und das besondere Ereignis ausmachen, ist an dieserStelle nicht im Detail einzugehen. Deutlich ist nur, dass alleStadttheater und kommunalen Orchester, aber auch Staatsein-richtungen, die nicht in dieses Starprinzip hinein ragen, einer-seits als Ausbildungs- und Vorhalte-Einrichtungen für poten-tielle Spitzenkönner wirken, dass sie zum anderen die Alters-absicherung für diejenigen bilden, denen der Schritt in denStarruhm nicht gelungen ist, und das ist die ganz überwiegendeMehrheit aller Künstler. Die breite „Hochkultur“ wirkt also wiedie Infrastruktur einer auf Starbetrieb orientierten Spitzen-kultur, und das wird von vielen lokalen Kulturpolitikern häufigals unbefriedigend empfunden, verständlicher Weise, denndiese lokale Kultur kostet viel Geld, führt aber in der öffent-lichen Aufmerksamkeit ein Schattendasein. Ihre Akteure ver-achten sie selbst, warten nur auf den Absprung in die Metro-pole und verachten diejenigen – und sich selbst – denen dasnicht gelingt. Andererseits wären die Spitzeneinrichtungennatürlich ohne diese Basis nicht denkbar. Die Frage ist aberdurchaus, ob die lokalen kommunalen Kulturpolitiker auf dieseWeise dazu genötigt werden können, mit ihren begrenztenMitteln die Basis des Spitzenbetriebes zu finanzieren, selbstaber dafür kaum gewürdigt werden, weder vom Publikum, nochvon den eigenen Akteuren.

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Wie auch immer man das Starprinzip beurteilt und seine Folgeneinschätzt, es trägt ähnlich wie das uno-actu-Prinzip zur Kosten-steigerung bei, da jede Stadt sich bemüht, den namhaften, denberühmten, den außergewöhnlichen Künstler zu verpflichtenund zu halten. Alle Versuche, die Konkurrenz der Städte umbestimmte Intendanten, Dirigenten und Regisseure, um be-stimmte Sammlungen oder einzelne Bilder und Objekte durchVerabredungen, durch Maximalsätze an Gagen, Honoraren oderPreisen zu verhindern, sind bislang gescheitert. Kaum in einemanderen Sektor scheinen in so hohem Maße irrationale Markt-prinzipien zu herrschen, wie in der Kultur – und im Sport –,wenn es um die Stars, deren Bezahlung und um die Auf-merksamkeit geht, die sie auf sich ziehen können. Und es istbedauerlicherweise eben doch das Publikum, das diesenStarbetrieb trägt und in Gang setzt, auch wenn er von denMedien weidlich genutzt und angeheizt wird, von einemPublikum aber, das in der Regel eher wenig Fachkenntnis,wenig „Kennerschaft“ mitbringt, das sich demnach auch inSektoren der Hochkultur medial vermittelt und mit wenigeigenem Urteil bewegt – aber das ist das Publikum der Zukunft,das bestimmende in allen Städten. Die wirklich hoch kompe-tenten und eventuell auch selbst künstlerisch aktiven Bürgereiner Stadt nutzen eher solche Angebote, die ihnen eigeneAktivitäten ermöglichen und suchen weniger die rezeptions-orientierten Angebote und Veranstaltungen auf.

3. Ökonomische Begründungen für Kultureinrichtungen

Um nun dem Dilemma der ständig ansteigenden Kosten derKultureinrichtungen bei ständig knapper werdenden öffent-lichen Mitteln zu begegnen, werden seit einigen Jahren ökono-mische Argumente bemüht, die in irgend einer Weise nahelegen sollen, das sich diese Kulturausgaben der öffentlichenKörperschaften „rechnen“, dass sie positive ökonomischeEffekte haben, die also letzten Endes die Kulturausgaben recht-fertigen.

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Drei Argumente dominieren diese Debatte: Zum einen soll eineStadt durch Kultur für den Tourismus attraktiv gemacht werden,zum zweiten soll Kultur als weicher Standortfaktor ähnlich wieInfrastruktur die Standortqualität einer Stadt und Region fürdie Ansiedlung von Betrieben interessant und lohnend erschei-nen lassen, und drittens wird der Kultur, den Kulturein-richtungen eine positive Wirkung auf die Kreativität in einerBevölkerung zugeschrieben. Dies letzte Argument wird häufigmit dem zweiten einer Wirtschaftsattraktivität zusammengezo-gen. Über alle drei ökonomischen Funktionen liegt umfang-reiche Literatur in der Kultur- und Standortökonomie vor, diehier nicht im entferntesten referiert werden kann.

3.1 Kultur und Tourismus

Zum touristischen Effekt von Kultur: Zweifellos sind „Kultur undKunst“ wesentliche Magneten für Tourismus, man denke anFlorenz, Salzburg, London, Wien, München, vielleicht auch New York, aber auch Hof (Filmfestival), Moers (Jazzfestival) etc.Als Argument gegen dieses Konzept lässt sich einerseits sagen,dass durch diese Art von Tourismus Kaufkraft von A nach B ver-lagert wird, also die Kulturmetropolen ziehen Kaufkraft aus derkulturellen Provinz ab, um es vereinfacht zu formulieren. Es ent-steht keine Mehrproduktion, sondern nur eine Verlagerungzwischen bestehenden Städten oder Regionen und bestehen-den Bevölkerungen oder kulturellen Angebotspaletten, dennauch die Herkunftsorte der Touristen verfügen ja in der Regelüber Angebote, denen aber durch die TourismuskonkurrenzKaufkraft und damit Zahlungsbereitschaft verloren geht.

Der zweite Einwand betont, dass den Touristen in der Regel daseinzelne herausragende Ereignis interessiert, also der „Star“, seidieser nun ein Theater-Ensemble, ein Opernhaus, ein einzelnerKünstler, ein Kunstwerk oder ein Ensemble von Werken, z.B. als „Stadtbild“. Der ansässige Bürger ist aber eher an einerfunktionierenden, ständig arbeitenden kulturellen Infrastrukturinteressiert, z.B. in Gestalt von Musikschulen, der Volkshoch-schule, einem Theater und einem Orchester, wobei allerdings

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die Tendenz zur Star-Orientierung auch bei den Einwohnern um so stärker ist, je mehr die konsumtive Seite der kulturellenPraxis dominiert. Aber selbst unter der Annahme, dass be-stimmte Konvergenzen zwischen den Wünschen von Touristenund Einheimischen bestehen, werden bei einer Ausrichtung derKulturpolitik auf Tourismus die „kulturellen Infrastrukturen“,also die Einrichtungen, die einer kulturellen Bildung z.B. vonKindern und Jugendlichen oder einer breiten Laienpraxis die-nen, eher vernachlässigt. Touristische Kultur ist die des Eventsund der Massenkultur, also der Bereiche, die in der Regel auchmarktförmig funktionieren, die also eigentlich keine öffentlicheUnterstützung benötigen sollten.

3.2 Kultur als weicher Standortfaktor

Die Konzeption, Kultur als Standortfaktor zu verstehen und zuentwickeln, geht im wesentlichen davon aus, dass entwederortsansässige Betriebe auf Grund attraktiver Kulturangeboteam Ort bleiben oder dass sich fremde Unternehmen bei Stand-ortentscheidungen für die Stadt oder Region mit besondersherausragenden Kulturangeboten entscheiden. Die Gründe für eine solche Attraktivität einer Stadt durch Kultur könnenvielfältig sein und reichen von einem anregenden intellek-tuellen und geistigen Klima über Betätigungsangebote für die„nervösen aber gelangweilten und unausgelasteten Manager-und Unternehmergattinnen“, die diese im Feld der Kultur zu fin-den hoffen, bis zu Distinktionsgewinnen, die Unternehmer undManager aus der Tatsache zu ziehen hoffen, in einer durchKultur bekannten und profilierten Stadt zu leben.

Ohne an dieser Stelle auf die Details dieses Konzeptes einzu-gehen, zeigen empirische Studien, dass diese Wirkung vonKultureinrichtungen und Kulturangeboten von Seiten derKulturpolitik in der Regel überschätzt wird. Obwohl anzuneh-men ist, dass die Bedeutung weicher Standortfaktoren steigenwird, scheint Kultur nicht die Bedeutung zu haben, die ihr unterdiesem Gesichtspunkt von einer kommunalen Kulturpolitik gernzugeschrieben wird. Es ist z.B. denkbar, dass bei der gegen-

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wärtig üblichen funktionalen Ausdifferenzierung von BetriebenFührungsabteilungen durchaus in Städte mit herausragendemKulturangebot gelegt werden, Produktionsbereiche dagegennicht, so dass eventuell der erhoffte Beschäftigungseffekt fürdie jeweilige Stadt geringer ausfällt, als erwartet. Weiterhin istzu sehen, dass sich in solchen Standortentscheidungen Imagesvon Städten niederschlagen, die sehr stabil sind und durchaktuelle Kulturpolitik kaum zu beeinflussen sein werden.

Bei Ansiedlungsentscheidungen konkurrieren im übrigenStädte innerhalb eines bestimmten Niveaus gegeneinander,also Metropolen nicht gegen die Provinz. Jede Stadt muss alsogleichsam „die Liga“ bestimmen, in der sie in diesemZusammenhang spielt. Aus dieser Sicht wird dann aber schonerkennbar, dass die Existenz z.B. eines Theaters schon vonBedeutung sein kann. Allein die Nachricht, dass – gesetzt denFall – eine Stadt wie Bremen ihr Theater schließen will – wennsie es denn täte – kann als negativer Werbeeffekt verheerendeFolgen haben. Und dennoch wird – um bei diesem Beispiel zubleiben – auch die Weiterführung des Theater nichts grundsätz-liches am Bremer Image ändern, eher zu den „Armenhäusern“der Republik zu gehören, eine eher karge, vom Calvinismusbestimmte Stadt zu sein, in der es meist regnet und nichtsGutes zu essen gibt, um nur einige weit verbreitete Klischees zu wiederholen, die die Außenwahrnehmung dieser prägen,auch wenn sich solche Außenwahrnehmung, wie das regel-mäßig geschieht, von der Innenwahrnehmung erheblich unter-scheidet.

3.3 Kultur als Kreativitätsförderung

Ein sehr intensiv diskutierter, empirisch aber kaum nachweis-barer Effekt von Kultur, also von Kulturangeboten und Kultur-einrichtungen, wird häufig in einer allgemeinen Kreativitäts-förderung in der Bevölkerung gesehen, die durch Kulturangeregt wird. Dieses Argument überträgt ein Image von Kunstund Kultur, d.h. von Künstlern, besonders kreativ und produktivzu sein, mehr oder weniger bruchlos auf die Bevölkerung, d.h.

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auf Rezipienten und Besucher von Kultureinrichtungen undAngeboten. Es ist zwar zutreffend, dass bei steigenden beruf-lichen Qualifikationen und Positionen die Tendenz zu eigenerkulturell-künstlerischer Praxis steigt, dass also gerade diejeni-gen, die im Berufsleben sehr angespannt und gefordert sind,dennoch oder gerade deswegen Zeit finden, selbst künstlerischtätig zu sein, meist im Bereich der Musik – keine Universitäts-klinik ohne Ärzte-Orchester mit häufig erstaunlichem Niveau –;ob jedoch eine gängige Laienpraxis nicht eher von Routinen alsvon Produktivität und Kreativität geprägt ist, bleibt immerhinzu fragen. Man darf unterstellen, dass in diesem Argument einImage von Kunst, ein Nimbus, eine Verehrung besondersgegenüber dem Künstler zum Ausdruck kommt, die nicht unbe-dingt gerechtfertigt sein muß. Wissenschaftliche Betätigungverlangt mit Sicherheit ein gleiches Niveau an Kreativität undProduktivität und muss nicht zwingend durch kulturell-ästheti-sche Praxis gesteigert werden. Vermutlich kommen in diesemArgument eher eine traditionelle, bildungsbürgerlicheBewertungen von Kunst und Kultur zum Ausdruck, als dassreale, messbare Effekte von Kultureinrichtungen beschriebenwürden. Wahrscheinlich trägt weniger die Rezeption, sonderneher eigene künstlerisch-ästhetische Praxis zur Steigerung vonKonzentrations- und Wahrnehmungsfähigkeit bei, als derBesuch einer ortsansässigen Einrichtung; und diese eigenePraxis steht wiederum in einem sehr indirekten Verhältnis zurRezeption von Veranstaltungen. Es kann also nicht zwingendunterstellt werden, dass gerade das Publikum von Einrich-tungen auch die aktiven Laien umfasst, aber eher dieseLaientätigkeit kann die Effekte auslösen, die von Kultur indiesem Sinne erwartet werden.

Dennoch werden qualifizierte Kultureinrichtungen mit Sicher-heit zu einer allgemeinen, wenn auch schwer messbaren geisti-gen Atmosphäre, zu einer gewissen Offenheit beitragen, diesich als qualifikatorisches Merkmal in der Bevölkerung bemerk-bar machen kann und urbaner Bevölkerung sicher eine höhereProduktivität, Lebendigkeit und Beweglichkeit verleiht, als länd-lich-provinzieller Bevölkerung, die am Gewohnten, an Routinenhängt und daher im modernen Arbeitsleben Nachteile aufweist.

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4. Bewertung der ökonomischen Argumente

Ohne den Anspruch zu erheben, damit alle ökonomischenArgumente für Kultur genannt oder auch nur ansatzweise voll-ständig diskutiert zu haben, wird doch erkennbar, dass in allendiesen Argumenten und Begründungsversuchen erheblicheUnsicherheiten stecken. Sie scheinen durchaus auch vonGlaubenssätzen getragen zu sein, sind also bei weitem nicht die rationalen, kalkulierbaren, wertfreien Argumente, als die siemit Vorliebe hingestellt werden. Zwar mag im Einzelfall diebehauptete Wirkung vorliegen, es hängt aber sehr von derjeweiligen Stadt und ihrer Kultur ab, ob ein Argument relevantzu werden verspricht oder nicht.

Sehr viel problematischer aber ist diese ökonomischeArgumentation noch in einer anderen Hinsicht. Wenn aus-schließlich die wirtschaftlichen Effekte betont werden, kannjeder andere Sektor der Kommunal- oder Landespolitik, der diegleichen Effekte genau so gut oder sogar besser erreicht, an dieStelle von Kulturförderung treten. Unter dem Diktat der Ökono-mie verlieren die verschiedenen Bereiche wie Sport, Soziales,Umwelt, Städtebau oder Kulturförderung ihre besondereninhaltlichen Qualitäten. Stellt sich heraus, dass z.B. Umwelt undgroßräumliche Lage eines Stadt als Wachstumspotentialebedeutsamer sind, wird man diese betonen und fördern; und esist bekannt, dass die ungeheure Attraktivität, die z.B. Freiburgin Deutschland ausstrahlt, nicht aus seiner „Kultur“ im Sinnevon Angeboten der Kulturpolitik resultiert, sondern aus derregionalen Lage, aus Umweltbedingungen und Freizeit-möglichkeiten, die die meisten Städte des Nordens, also z.B.auch Bremen, niemals werden erreichen können. Vor allemImages der Lebensqualität, wie z.B. eine exzellente regionaleKüche, schlagen sich nieder und entbehren ja häufig auch nichteiner gewissen realen Grundlage. Mit der ökonomischenBegründung kann sich Kultur und Kulturpolitik also unterUmständen mehr schaden als nützen.

Neben diesem strategischen Einwand gegen wirtschaftlicheBegründungsversuche von Kulturförderung muss aber auch ein

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prinzipieller erhoben werden. Die ökonomischen Begründungs-versuche zielen mehr oder weniger deutlich immer auf indivi-duellen Nutzen, der aus öffentlicher Politik resultieren müsse.Die Politik habe den Rahmen vorzugeben, der zu nichts ande-rem dienen soll, als zu individualisierter Nutzenmaximierung, in der Regel unmittelbar als Einkommens- oder Wohlstands-maximierung verstanden. Mit dieser Interpretation von Politikist aber ein kulturelles Urteil gefällt, das in der Kultur gerade zurDebatte stehen und nicht als ihre Begründung vorausgesetztsein sollte, das materielle Nutzenmaximierung beim Indivi-duum das einzige Kriterium sein müsse, an dem sich öffentlichePolitik zu orientieren habe.

Dieses Verständnis von Politik und besonders von Kulturpolitikkann heute nicht mehr einfach nur als „konservativ“ oder tradi-tionell gelten. Es ist vielmehr Ausdruck eines streng individua-listischen Verständnis von Kultur und Gesellschaft, wie es imgegenwärtigen Neo-Liberalismus in reinster Form artikuliertwird, auch wenn sich die Vertreter ökonomischer Begründungs-versuche von Kulturförderung darüber häufig nicht im klaren zusein scheinen.

5. Das neo-liberale Argument

Das neo-liberale Konzept von Politik sieht eine staatliche oderüberhaupt öffentlich-politische Tätigkeit nur da gerechtfertigt,wo durch diese Politik der Vorgang der Wirtschaftstätigkeit,also das private Handeln im Sinne eines Handelns vonMarktsubjekten in Gang gehalten und ermöglichst wird. Diesgeschieht unter der Vorgabe eines „Menschenbildes“ einer„ethischen Norm“, die aber leugnet, ethische Norm zu sein, son-dern sich selbst als unbezweifelbar, als „objektiv“ begreift oderdarzustellen bemüht ist. Der normative Zusammenhalt derMarktsubjekte kann in dieser Sicht nicht Gegenstand öffent-licher Politik sondern nur der der Privaten selber sein.Kulturpolitik aber, so wie sie sich in Deutschland entwickelt hat, basiert auf der Annahme, das der „Kulturstaat“ durchöffentliche Einrichtungen, die er zwar nicht inhaltlich bestimmt,

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durch seine Förderung aber möglich macht, selber seinenormative Basis mit sichert und stabilisiert. Die NormativenGrundlagen von Politik werden also nach dem Kulturstaats-modell nicht nur durch gesellschaftliche Tätigkeit hergestellt,die vom Staat völlig unabhängig sein müssten, sondern es gibtin diesem Kulturstaatsmodell eine Politik der normativenFundierung von Politik. Durch die Verlagerung kulturellerInhalte als Förderungsgegenstand von Kulturpolitik entwederauf die vorstaatliche Ebene der Kommune oder in autonomeKultureinrichtungen wird eine staatliche Ermöglichungspolitikim Kulturstaatsmodell eröffnet, die über Realisierung vonMarktätigkeit als einzigem Gegenstand von Politik, wie im neo-liberalen Modell gefordert deutlich hinausgeht. Insofern stelltdies neo-liberale Modell, das in jedem Fall von öffentlicherTätigkeit deren ökonomischen Nutzennachweis einfordert,einen energischen Bruch mit der deutschen Kulturstaats-tradition dar. Das kann man wollen, sollte es dann aber auchdeutlich sagen. Der gravierende Mangel dieses neoliberalenModells liegt aber nun bekanntlich zum einen darin, dass esseine eignen normativen Voraussetzungen nicht offen legt, zumanderen das es die normative Fundierung des Marktge-schehens durch private, gesellschaftliche Institutionen erwar-tet, die durch das Marktgeschehen aber tendenziell außer Kraftgesetzt werden. Die in diesem Sinne populärste und von strengliberaler Politik daher in ihrer Funktionsfähigkeit eingeforderteInstitution ist in diesem Sinne die Familie. Aber gerade diesescheint in ihren Leistungsfähigkeiten durch Verabsolutierungökonomischer Prinzipien massiv gefährdet.

Kulturell gesehen scheint dies hier sicher sehr kursorisch kriti-sierte „liberale Modell“ Ausdruck extremer Individualisierung zusein, nach der eine Symbolisierung kollektiver Normen derSolidarität, der Verantwortlichkeit, der Gemeinschaftlichkeitdurch Politik, wie es die Kulturpolitik im Prinzip versucht – undwas noch zu zeigen sein wird – prinzipiell auszuschließen ist,weil, so die Begründung damit normative Setzungen durchPolitik erfolgen würden. Diese aber stünden ihr prinzipiell nichtzu. Dass aber auch der „homo oeconomicus“ als Annahmemarkt-liberaler Politik eine normative Setzung bedeutet, eine

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höchst unwahrscheinliche im Übrigen, wird bei dieser Politikgeflissentlich übersehen.

6. Öffentlichkeits- und Politikkonzeptionen des Neo-Liberalismus

Das streng individualistische „Gesellschaftsbild“ des Neo-Liberalismus reduziert Politik auf die Rahmensetzung materiel-ler Wohlstandsmaximierung und Wohlstandssicherung undverfügt streng genommen über kein anderes Bild des Sozialenals das der um Wohlstand konkurrierenden Individuen. ImGrunde gilt der Markt als einziges denkbares Regulativ vonGesellschaft. Darüber hinausgehende, andere Traditionen vonGesellschaftlichkeit werden im Grunde abgelehnt oder ebenden Privaten überlassen. Zwar mag diese Vorstellungen imdeutschen Kontext mit seinen Traditionen von Gesellschaft als Gemeinschaft auch heilsam sein, dennoch ist es fraglich, ob Gesellschaften ganz ohne Bilder oder Vorstellungen vom„guten Leben“, von der „guten Ordnung“ oder der „gutenGesellschaft“, die mehr oder anderes enthalten als die indivi-duelle Konkurrenz, existieren können. Alle Vorstellungen vonKollektivität oder gar Solidarität gelten im neo-liberalenKonzept eher als Belastung, als Behinderungen individuellerEntfaltung.

Es ist sehr bezeichnend, dass häufig gerade neo-liberalePolitiker, die in der Öffentlichkeit Klagelieder über Werteverfallund soziale Egoismen anstimmen, sehr schnell bereit sind, alle die Systeme oder Leistungen der Politik, die sich nicht inindividuelle Nutzenerwägungen auflösen lassen, zu beseitigen.Das fehlende oder negative Bild des Sozialen sorgt für dessenZerstörung. Dass jedes einzelne Individuum in allen seinenLebensäußerungen von Gesellschaftlichkeit geprägt ist und aufdieser basiert, wird in der Regel schlicht geleugnet. Unter demdominierenden Motto der Individualität und einer auf ökono-mische Dimensionen reduzierten Freiheit werden konsequenterWeise daher auch erhebliche Ungleichheiten zwischen denIndividuen in Kauf genommen.

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7. Die politische Kultur des Sozialen oder der Gesellschaftlichen

Im Gegensatz zum Neo-Liberalismus sieht eine politische Kulturund Tradition der Gesellschaft ihre Aufgabe darin die „gemein-schaftlichen“, solidarischen, kollektiven Dimensionen des indivi-duellen Lebens zu betonen und zu fördern, da sie diese als Basisjedes Individuums anerkennt. In der Kulturpolitik wird einesolche Konzeption, wie sie für die kontinentaleuropäischenLänder bislang verbindlich war, in hohem Maße symbolisch zumAusdruck gebracht, d.h. die öffentlichen Kultureinrichtungenwerden nicht unter einem unmittelbaren Nutzen gesehen, deneinzelne Individuen oder Gruppen aus ihnen ziehen. Sie geltenvielmehr als Symbole kollektiver Bindungen und Verpflich-tungen, die eine Gesellschaft ausmachen und erst zu einersolchen werden lassen.

In den einzelnen Kultureinrichtungen lässt sich das sehr deut-lich nachweisen. So gilt z.B. Sprache als das entscheidendeMedium von Gesellschaftlichkeit, von sozialer Vermitteltheitdes Individuums. Konsequenter Weise ist daher Sprachpflege,Sprachentwicklung durchaus Gegenstand öffentlicher Kultur-politik, manifest z.B. im Sprechtheater, in der Literatur-förderung etc. In einer Situation, in der Sprache als Element derKonstitution des Individuums, als Bedingung seines Lebens inder Gesellschaft wachsende Bedeutung erlangt, wie dies inallen modernen Gesellschaften der Fall ist, mutet es daher fastabsurd an, wenn die öffentlichen Institutionen, die mit Sprachearbeiten, prinzipiell zur Debatte gestellt werden sollen. Spracheselbst ist öffentlicher Vorgang. Mit der Förderung vonEinrichtung, deren Gegentand eben Sprache ist, bekundet dieKulturpolitik symbolisch, dass sie sich der Verantwortung fürdies öffentliche Medium „Sprache“ bewusst ist und sie nichtdem Markt überlassen will, in dem Sprache als Nutzen-maximierung eingesetzt wird, also als Herrschaftselement.

Das gleiche gilt für Körperlichkeit, die nicht als naturgegebensondern als sozial vermittelt zu gelten hat. Überlässt öffentlicheKulturpolitik diese „Bilder vom Körper“, von Gestik, Bewegung

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und Erscheinung ausschließlich dem Markt, ist die Radi-kalisierung dessen zu erwarten, was wir auch heute schonerdrückend wahrnehmen, eine Definition des Körpers durchSport, Fitness-Studios und Werbung. Und es ist offenkundig,dass diese Institutionen alle anderen Bilder als das der ewigenJugendlichkeit, des Jugendwahns, der ständigen ungebroche-nen Leistungsfähigkeit, man könnte sagen, der Unsterblichkeit,ausblenden. Alle Facetten von der Fragilität, Gefährdung,Hinfälligkeit des Körpers, die jeden Menschen irgend wannereilen, werden systematisch ausgeschaltet, in die Isolation, die Unsichtbarkeit und das Schweigen der Krankheit verlagert.Das unausweichliche Schicksal des Alters wird zum privatenund medizinischen Problem, das in der Öffentlichkeit nichtstattfindet. Im Tanztheater, das z.B. in einer Stadt wie Bremeneine lange, glanzvolle Tradition entwickelt hat, aber auch imTheater selber, werden dagegen die anderen Seiten derKörperlichkeit artikuliert und damit als allgemeine, jedenbetreffende, kollektive Erfahrungen anerkannt.

Ein sehr fundamentales Problem wird in der Kunst allgemeinerkennbar, das Problem der Autonomie des Individuums. ImZuge des Wertewandels zu Selbstverwirklichungswerten stehtjeder einzelne unter der permanenten Anforderung, sich selbstals autonomes Subjekt zu entfalten, wohl wissend, dass dieRealität dieser Autonomie engste Grenzen setzt, nämlich ein-fach durch die Autonomie der Anderen, die die selben Werte zu realisieren suchen. Selbstverwirklichung und Selbstbestim-mung meint, wie jeder weiß, unter modernen Bedingungenimmer Bestimmung anderer, sei es in der Familie, im Berufs-leben oder in der Freizeit. Jede individuelle Autonomie bleibteben durch diese selbst begrenzt, je autonomer sie zu seinversucht um so mehr. Das Kunstwerk dagegen erscheint alsdiese vollkommen Autonome. Es wird dadurch zum Kunstwerk,und die Objekte, die in den Museen und Kunstsammlungen zubesichtigen sind, demonstrieren diese Autonomie, die sie den-noch nur erreichen, wenn sie in Bezug zum Kunstprozess, also in Referentialität zu anderen Kunstwerken stehen. Damitwird nur das überhaupt Kunst, was im Medium der Symboledies im Alltag unlösbare Problem der Beziehung zwischen

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Abhängigkeit und Autonomie demonstriert und in irgendeinerWeise so löst, dass sowohl Autonomie wie Abhängigkeit ver-mittelt werden. Kunst ist damit ein geistiges Modellhandeln,das unlösbare Widersprüche des realen Lebens im symboli-schen Handeln aufhebt, damit aber auch darauf verweist, dassAutonomie als Wert in der Realität an Grenzen stoßen mussund nicht verabsolutiert werden kann. Nur in der Kunst kanndies Problem, das auch die moderne Philosophie als zentraleFrage umtreibt, erfahren und gelernt werden. Angesichts dieserzentralen gesellschaftlichen Leistungen, die Kunst erbringt fürdas Verständnis und die Bewältigung moderner Lebens-bedingungen erscheint es fast ungeheuerlich, dass über Kunst-und Museumsförderung grundsätzlich debattiert werden muss.Aber vielleicht ist der anfangs beschriebene fiskalische Zwangzur Begründung von Kulturpolitik ein Anstoß, sich dieserLeistungen der Kunst wieder bewusst zu werden und daherauch ihre allgemeine Zugänglichkeit durch entsprechendeFörderpolitik aufrecht zu erhalten.

Um diese skizzenhaften Reflexionen über die eigentlichenLeistungen von Kunst und Kultur abzuschließen, muss gefragtwerden, wo denn in der Un-Kultur der individuellen Nutzen-maximierung solche doch jeden betreffenden Erfahrungen wiedie des Scheiterns, der Tragik, des Versagens, des Miss-verständnisses, der Unmöglichkeit von Kommunikation artiku-liert werden können. Wollen wir alle diese Bedingungen jedesmenschlichen Lebens der Medizin und Psychotherapie über-lassen und nicht mehr als kollektive Bedingungen öffentlichanerkennen, wie es in den Kultureinrichtungen potentiellgeschieht? Kunst, Theater, Literatur, auch Musik handeln vondiesen Aspekten des Lebens, die im Markt und in derMassenkultur ausgeblendet werden. Dort herrscht das ewigeGlück, das Schlaraffenland, die Illusion des ewig schönen undewig jungen Menschen als einzig relevante Perspektive.

Nur Kunst und Kultur, die aus genannten Gründen in bestimm-ten Formen auf öffentliche Förderung angewiesen bleiben, sind in der Lage, alle diese Bedingungen des sozialen und indi-viduellen Lebens zum Ausdruck zu bringen und als kollektive

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Erfahrungen öffentlich als bedenkenswert und bestimmend zuartikulieren. Aber keine dieser Erfahrungen kann in materiellenNutzen auf der Ebene des Individuums umgesetzt werden. Dieverabsolutierte Nutzenperspektive wird der Kultur, der sich dieeuropäischen Gesellschaften verpflichtet wissen sollten, nichtgerecht. Neo-liberaler Markt und neo-liberale Politik müssenindividuelle und kollektive Existenz auf Bilder undVerhaltensformen reduzieren, die nur das ständig erfolgreiche,zufriedene, ungebrochene Individuum ausdrücken und jede Artvon Gesellschaftlichkeit auf Dauer zerstören.

8. Die Selbstzerstörung von Politik im neo-liberalen Konzept

Neo-liberale Gesellschaftsmodelle erklären ein hoch artifiziel-les, nur für ökonomische Theorie- und Modellbildung entwickel-tes Menschenbild, das des „homo oeconomicus“, zur allein rele-vanten sozialen Realität und versuchen diese Realität aufrechenbare, mathematische Modelle der ökonomischenNutzenmaximierung zu reduzieren. Dem muss das Bild desMenschen als „zoon politikon“ entgegen gehalten werden, alsodas Bild, das den Menschen als soziales, in Gemeinschaftenlebendes, von diesen geprägtes und ihnen verantwortlichesWesen begreift. Dieses Bild meint durchaus nicht Gemeinschaftals „formierte Gesellschaft“, als harmonisches Ganzes, alsGemeinschaft, die von einem Willen und einem inneren Wesengetragen und bestimmt ist. Wir werden im Gegenteil davonauszugehen haben, dass sich Gemeinschaftsformen nie mehrselbstverständlich, gleichsam naturgemäß ergeben, sondernhergestellt werden müssen, und sei es in Streit und Konflikt.Aber genau diese Belastungen, denen moderne Gesellschaftenausgesetzt sind, machen es um so dringender, andereVorstellungen von der Assoziation der Menschen zu entwickelnals sie im „homo oeconomicus“ unterstellt werden.

Eine Politik, die nur auf die Nutzenmaximierung des ökono-mischen Menschen orientiert ist, tendiert dazu, sich alsgestaltende außer Kraft zu setzen, um so härter aber als

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„law-and-order-Politik“ zurückzukehren. Man sollte ohne jedenAnflug von nationalem Chauvinismus oder Anti-Amerikanismusimmerhin zur Kenntnis nehmen, dass in den meistenBundesstaaten der USA, in denen neo-liberale Konzepte ver-folgt werden, inzwischen die Kosten für Strafvollzug dieBildungs- und Kulturfinanzierung um ein Vielfaches übertreffen;man sollte die Verelendung des öffentlichen Sektors, dieZerstörung der zivilen Städte durch Segregation und Gewalt inden USA und auch in England sehen als das was sie auch sind,Folgen konsequent neo-liberaler Politik. Aber nach den Kostendieser Folgen ihres Handelns fragen neo-liberale Politiker in derRegel nicht.

9. Die Symbolisierung der Gemeinschaft und desöffentlichen Lebens durch Kulturpolitik.

Kulturpolitik fördert durch ihre Finanzierung von Kultur- undvorrangig von Kunsteinrichtungen die Manifestation, diePräsenz der genannten Inhalte und Bedingungen des moder-nen Lebens als allgemeine, alle bestimmenden Dimensionen.Auch wenn sie damit keine Lösungen dieser Fragen anbietetund auch wenn Kunst nicht, wie man vor allem in Deutschlandzeitweilig allzu leichtfertig angenommen hat, bessereMenschen aus uns macht, dokumentiert Kulturpolitik in ihrerFörderung die prägende, immer vorgegebene Bedeutung desSozialen. Die Kultureinrichtungen sind Symbole des öffent-lichen Lebens, der Gesellschaftlichkeit der Menschen, unab-hängig davon, was in ihnen im einzelnen präsentiert wird. Siezeigen gerade in der Individualität und Autonomie der Künstlerund der Kunstwerke die Bedingtheit dieser Individualität imSozialen. Eine Politik, die damit Kunst- und Kultureinrichtungenals unverzichtbares Aufgabenfeld anerkennt, bringt damit ihreneigenen Anspruch, von allgemeiner Bedeutung zu sein undnicht nur Partialinteressen durchzusetzen, symbolisch zumAusdruck. Werden dagegen die öffentlichen Kunst- undKultureinrichtungen durch Einsparungen liquidiert, werden dieSymbole von Gemeinschaftlichkeit, von Gesellschaft, die mehrist als die Summe der Nutzenkalküle, zerstört und damit auch

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das „Gemeinwesen“ selber, das ja auf den symbolischenAusdruck seiner Kultur angewiesen ist, denn etwas, was sichnicht auch zum Ausdruck bringen kann, besteht nicht.

Zweifellos wird mit dieser Wirkungsbeschreibungen der moder-nen Kunstproduktion auch Verantwortung der Künstler gegen-über dem Gemeinwesen gefordert, das sie unterstützt. DieKunst, die in den Einrichtungen realisiert wird, kann zwar auchbei öffentlichen Einrichtungen niemals Gegenstand vonAbstimmung sein. Sie darf also diesem demokratischenVerfahren der Willensbildung nicht unterworfen werden. AberAbstimmung oder Wahlen stellen nur ein Mittel der Demokratiedar, nicht das einzige und vielleicht nicht einmal das beste.Diskurs, Streit und Konflikt um Inhalte sind in mindestensgleicher, möglicherweise besserer Weise zur Willensbildunggeeignet, und diese Formen der Demokratie sind in denEinrichtungen, wenn sie verantwortungsbewusst arbeiten, inhöchstem Maße präsent, sollten allerdings zum Publikum, zuden Bürgern hin geöffnet werden. Es kann nicht hilfreich sein,wenn der Eindruck entsteht, die öffentliche Hand würde z.B.einem Intendanten ein teures Instrument zur Verfügung stel-len, auf dem er dann unbefragt seine Selbstverwirklichungaustobt. Jeder Akteur in einer öffentliche gefördertenEinrichtung ist aufgefordert, den Drahtseilakt zwischen Kunst-und Künstlerautonomie auf der einen Seite und öffentlicherVerantwortung auf der anderen zu vollführen und sich öffent-licher Debatte um sein Gelingen oder Scheitern zu stellen. DerRückzug auf professionelle Qualifikation, die Abwehr der öffent-lichen Debatte unter dem Vorwand der mangelnden Kenntnisvon Publikum und Politik liegen zwar angesichts der rigidenProfessionalität der Künstler und auch angesichts einer unver-meidlichen Hermetik vieler moderner Werke nahe, aber jederKünstler in einer öffentlichen finanzierten Einrichtung musssich bewusst sein, dass er eine sakrosankte Selbstverständ-lichkeit seines Tun nicht mehr voraussetzen kann, dass eineÖffentlichkeit das Recht hat, zu erfahren und zu verstehen,warum bestimmte Produktionen statt finden, bestimmte Werkegezeigt werden und andere nicht. Kunstproduktion und -prä-sentation in öffentlichen Einrichtungen muss immer ergänzt

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werden durch Vermittlung, Aufklärung und Information, für diedie Akteure selbst verantwortlich sind und die ihnen auchniemand, vor allem niemand in der Politik abnimmt. Politik istin ihrem Alltagsgeschäft auf Mehrheiten angewiesen, und diesind für Kunst und Kultur, soweit sie von den großen undkleinen öffentlichen Einrichtungen realisiert werden, in derRegel nicht zu mobilisieren, zumindest nicht in der Gesamt-bevölkerung. Auch unter diesen Aspekten scheinen Lern-prozesse in den Einrichtungen erforderlich zu sein, die bisherkaum begonnen haben.

10. Einige ergänzende Anmerkungen zusozialpolitischen und anderenMissverständnissen von Kulturpolitik

Zwar trifft es in den meisten Fällen zu, dass Kultureinrichtungeneher von Bevölkerungsgruppen aufgesucht werden, die nicht zuden Benachteiligten gehören, die also in der Regel über über-durchschnittliche Einkommen verfügen, obwohl die Einrich-tungen aus dem Steueraufkommen aller, also auch geringVerdienender finanziert werden. Unter streng sozialpolitischenVorgaben könnte man also in der Kulturfinanzierung eine Um-verteilung von unten nach oben sehen. Daraus aber zu folgern,Kulturfinanzierung besonders der „hochkulturellen“ Einrich-tungen sei „unsozial“, bedeutet eben, das individualisierte undindividualisierende Nutzenkalkül zugrunde zu legen, das mög-licherweise in der Sozialpolitik beachtet werden muss, in derKulturpolitik aber fehl am Platz ist. Hier geht es um die Präsenzvon bestimmten Inhalten, nicht darum, wer indirekt, dadurchdass er eine Einrichtung aufsucht, einen Einkommensgewinnerzielt, der ihm als Sachleistung aus der öffentlich gefördertenVeranstaltung zuzufließen scheint. Die Sozialpolitik verteilt Geldoder geldwerte Leistung entgegen der Einkommensverteilungdes Marktes, um ihn so zu korrigieren, und wo sie diesenUmverteilungseffekt nicht erreicht, hat sie ihre Aufgabe ver-fehlt. Die Kulturpolitik dagegen ermöglicht die Artikulation vonInhalten, die ohne ihre Finanzierung nicht ausgedrückt werdenkönnten. Nicht Umverteilung ist das Kriterium der Kulturpolitik,

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sondern die Produktion relevanter Inhalte nach Qualitätsmerk-malen. Selbstverständlich muss sich Kulturpolitik Gedankenmachen über Besucher, über die nicht zu bezweifelndePublikumsselektivität vieler Einrichtungen; und selbstverständ-lich besteht die Aufforderung, möglichst viele und möglichstauch gering Verdienende an Produktionen partizipieren zulassen. Aber dies ist eine Managementfrage, keineExistenzfrage der Kulturpolitik. Es ist sehr bezeichnend, dasssowohl Kulturpolitiker als auch die Leiter der großenEinrichtungen dazu tendieren, Kulturpolitik und Kulturmanage-ment zu verwechseln oder gar Politik durch Management zuersetzen.

Ein weiterer Vorwurf neben dem „Umverteilung von unten nachoben“ verweist in der Regel auf die Distinktionswirkung vonHochkultur und ihre Funktion in der individuellen Konkurrenz.Aber auch unter diesem Aspekt der Statussicherung kann ausden Kultureinrichtungen und ihrem Besuch durch den einzel-nen kaum noch nennenswerter Gewinn gezogen werden.Konnte man vielleicht noch in den 70er oder frühen 80er Jahrenunterstellen, dass Kennerschaft in Kunst und Kultur, in denBereichen, wie sie von den Kultureinrichtungen einer Stadt ver-mittelt werden, tatsächlich einen Statusgewinn verspricht, somuss man heute davon ausgehen, dass angesichts des totalenSieges der Massenkultur soziale Positionierung durch Kunst-kennerschaft und Teilnahme am kulturellen Leben, so wie es inden Einrichtungen praktiziert wird, kaum noch relevant ist.Wäre dies anders, könnte auch heute noch kein führenderPolitiker einer der großen Volksparteien öffentlich verlautbaren,das Theater sei nach seiner Auffassung absolut überflüssig undnutzlos. In einer solchen Äußerung wird zwar vorrangig neo-liberales Gedankengut umgesetzt, es handelt sich aber auch umplatten Populismus, der Anti-Intellektualität und „Geistfeind-schaft“ der Massenkultur nutzt und sich dieser anbiedert. Diekulturpolitische Debatten, wie sie landauf landab geführt wer-den, erwecken den Anschein, als käme Kulturförderung unterdie Räder, weil sie einerseits neo-liberalen Politikmodellengeopfert wird, weil sie andererseits hinter dem sozialpoliti-schen Anspruch der Umverteilungsgerechtigkeit, die sie nicht

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realisieren kann, die als Anspruch aber auch nur Sozialein-richtungen treffen kann, zurückstehen muss. Kulturpolitik könn-te demnach zwischen neuer Rechter und alter Linker zerriebenwerden.

Selbstverständlich sind damit nicht alle Einwände gegen vieleFacetten gegenwärtiger kulturpolitischer Praxis behoben. Sokann man natürlich die Erziehungsansprüche kritisieren, dielatent von Kultureinrichtungen dann erhoben werden, wenn siesich nicht der Zustimmung ihrer Nutzer versichern, und daskann nach verbreiteter Vorstellung nur die Zustimmung sein,die sich in Markterfolg niederschlägt, da ja eine Zustimmung zuden autonomen Kultureinrichtungen über politische Wahl garnicht direkt möglich ist. Weiterhin könnte sehr zu Recht bezwei-felt werden, dass es der teuren und ständig teurer werdendenLive-Produktionen und der auf diese ausgerichteten Einrich-tungen bedarf, um die Inhalte zu vermitteln, die mit „Kunst undKultur“ hier verbunden wurden. Möglicherweise resultiert dasfinanzielle Dauerproblem der Kulturpolitik wirklich nur aus dertechnisch unangemessenen, handwerklichen oder manufaktu-riellen Produktionsweise der großen Kultureinrichtungen undaus gar keinen inhaltlichen oder „ideologischen“ Problemen umKulturstaatlichkeit und Kulturpolitik. Statt des müßigenUnterfangens, alle diese Probleme wirklich zu klären, sollabschließend der Versuch gemacht werden, einige praktischeLösungen des finanziellen Dauerproblems der Kulturpolitik zuskizzieren.

Sehr verbreitet sind gegenwärtig Hoffnungen, es möge aus pri-vaten Einkommen nennenswerte Hilfen für die Kulturein-richtungen geben, die zunehmend an die Stelle öffentlichenAusgaben treten könnten. Gedacht wird dabei vorrangig anSponsoren, die häufig in der Tradition bürgerschaftlicherVerantwortung für ihre Stadt und deren Kultur zum Engage-ment aufgefordert werden. Dagegen muss man bedauerlicherWeise einwenden, dass die Anteile der Sponsorenaufwen-dungen für Kunst und Kultureinrichtungen z. Zt. bundesweit ca.zwei Prozent der öffentlichen Aufwendungen ausmachen unddass kaum Anzeichen auf nennenswerte Steigerungen zu

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erkennen sind. Das stützt die Behauptung von nachlassendenStatus- und Distinktionswert der öffentlich geförderten Kultur-produktion.

Ein anderer Einwand aber scheint nicht minder relevant. Dasbürgerschaftliche Engagement, das im Sponsorenwesen wiederbelebt werden soll, zu dem Ansätze in der sog. neuen undaktiven Bürgergesellschaft gesehen werden, und dem gerade inso einer bürgerschaftlich geprägten Stadt wie Bremen einebedeutsame Rolle beigemessen wird, erfüllt nicht die Bedin-gungen, die an dieses Bürgerengagement zu stellen wären. ImSponsorentum steht die individuelle Nutzenerwartung desSponsors im Mittelpunkt, und genau die muss Kunst und Kulturin der Regel enttäuschen. Private Kulturfinanzierung kann wohlnur von einer Bürgerschaftlichkeit erwartet werden, die sich imhier entwickelten Sinne am Gemeinschaftlichen, an den sozia-len Grundlagen des Individuums und der Gesellschaft orientiert,nicht an Werbeeffekten oder einem ökonomisch messbarenImagegewinn des Sponsors.

Wenn die Traditionen und Kräfte bürgerschaftlicher Verant-wortung wirklich so ausgeprägt sind, wie immer behauptet, wobleibt dann der städtische Theaterverein, der mit einigentausend Mitgliedern und nennenswerten Jahresbeiträgen als„breite Bürgerinitiative“ für den Erhalt eines qualifiziertenTheaters sorgt, ohne dass das einzelne Vereinsmitglied darauseinen messbaren persönlichen Nutzen zöge? Man wünscht sichmanchmal, die Kulturverwaltungen würden weniger überManagementfragen nachdenken, oder darüber, wie sie wahr-lich haarstreubende Kürzungsvorschläge der Politik umsetzen,sondern möchten z.B. die Initiative ergreifen bei der Gründungeines solchen Theater- oder Kulturvereins. Wenn dies nie ver-sucht wird, ist es das Versagen von Politik und Verwaltung.Scheitern die Versuche aber, muss man sich fragen, ob es dennmit der großen Bürgertradition einer Stadt, auf die diePropagandisten der „Bürgergesellschaft“ so nachdrücklich ver-weisen, wirklich so weit her ist. In einer starken Demokratiesollte nicht Sponsoren- sondern Mäzenatentum demokratisiertund als Aufgabe vieler und ohne private Nutzenerwartungen

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der Einzelnen praktiziert werden. Man muss allerdings befürch-ten, dass Kulturangebote von Theatern, Opernhäusern undOrchestern in vielen Städten als „Luxusgut zum Nulltarif“ fürselbstverständlich gehalten werden. Dann darf man sich aberauch nicht wundern, wenn sich Unmut bei den „nicht nutzendenZahlern“ regt.

Als Fazit bleibt festzuhalten, dass öffentliche Kulturfinanzie-rung auf Grund der Situation der öffentlichen, vor allem derkommunalen Haushalte und auf Grund bestimmter strukturel-ler Merkmale der Kultureinrichtungen immer prekär bleibenwird, und dass daher Kulturpolitik und Kultureinrichtungen derständigen Aufforderung unterliegen, die öffentlichen Mittel mitäußerster Sorgfalt und hohem Verantwortungsbewusstsein zuhandhaben. Ökonomische Rechtfertigungen der Kulturaus-gaben können im Einzelfall nicht ganz bedeutungslos sein, soll-ten also nicht strikt vermieden werden, solange klar ist, dass sienur Hilfsargumente sein können, in denen sich Kulturförderungnicht erschöpft. Grundlage der Kulturpolitik kann aber nur derpolitische Wille sein, zu den sozialen, kollektiven, „gemein-schaftlichen“, solidarischen Grundlagen jeder Gesellschaft zustehen und diese nicht neo-liberalen Gesellschaftsmodellen zuopfern, die den Zusammenhalt einer Gesellschaft nur auf dieprivaten, individualisierten Nutzenerwartungen der Einzelnengründen wollen und sich damit anschicken, Gesellschaft zu zer-stören, ohne die Folgen dieses Verfalls „in Rechnung“ zu stellen.

Albrecht Göschel

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Heidrun Friese/Peter Wagner

Was in Europa politisch auf dem Spiel steht

Zuerst erschienen in: „Multitudes“, No. 3, Novembre 2000, pp. 49–63

Die derzeitige intellektuelle Debatte ist durch das Fehlen einesernsthaften Versuchs gekennzeichnet, Europa politisch zu den-ken. Im kritischen Denken stehen sich heute zwei Richtungengegenüber: Auf der einen Seite steht eine Richtung – wirbezeichnen sie als sozialdemokratischen Konservatismus –, dieden Nationalstaat als einzig denkbaren Rahmen für dieDemokratie ansieht; auf der anderen ein kritischer Globalismus,der die Möglichkeit jeglicher politischen Form aufgegeben hatund sich auf den Widerstand gegen die Globalisierung konzen-triert. Im Gegensatz zu diesen Richtungen möchten wir zeigen,dass, erstens, Europa als politische Form in der gegenwärtigengeschichtlichen Situation notwendig ist und zur Grundlage fürden Widerstand gegen den rationalistischen Individualismuswerden kann, der mit dem heutigen Kapitalismus zu dominie-ren droht. Zweitens möchten wir versuchen, auf einigeMöglichkeiten für die Entstehung eines solchen politischenEuropa hinzuweisen, ein noch zu bauendes Europa, das sichjedoch kaum durch die Rückkehr zu einer im besten Falle zwei-felhaften ‚europäischen politischen Tradition‘ verlassen kann,sondern das vielmehr durch die Aktualisierung und Verwirk-lichung von vorhandenen Ressourcen geprägt ist.

„L’Europe, est-ce une formation politique possible?“ Die Frageob Europa als politische Formation möglich ist, war lang schongestellt worden bevor Lucien Febvre sie in der Abschluss-betrachtung zu seinem Kurs am Collège de France erneutansprach. Diese Frage wird weiterhin mit Nachdruck und –überraschenderweise – mit ziemlicher Skepsis gestellt, langenachdem die Schaffung einer europäischen politischenOrdnung mit den Verträgen von Maastricht und Amsterdam indie Wege geleitet worden ist. Unserer Ansicht nach sollte diese

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Frage umformuliert werden in „L’Europe, quelle formation poli-tique est possible?“, sollte also vielmehr gefragt werden, welchepolitische Formation möglich ist. Bevor wir uns dieser Fragewidmen können, sind wir jedoch zunächst gezwungen, zurersten Frage zurückzukehren. Von wenigen Ausnahmen abge-sehen, ist Europa noch nicht politisch gedacht worden, auchnicht von kritischen Beobachtern unserer Zeit. Die Gründehierfür müssen als Erstes angesprochen werden1).

Das undenkbare Europa

Im kritischen Denken gibt es eine lange und tief verwurzelteTradition der Analyse politischer Formen und ihrer historischenTransformationen, die auch wirtschaftliche und kulturelleEntwicklungen in den Blick nimmt. In einer solchen Perspektivekann man die gegenwärtige Situation ziemlich eindeutig alsKrise der Sozialdemokratie und des Nationalstaats imAngesicht der wirtschaftlichen und kulturellen „Globalisierung“beschreiben.

Diese Diagnose wird, wenn auch oft nur implizit, vor demHintergrund der „trente glorieuses“ ausgeführt. In diesemZeitraum versuchten mehr oder weniger reformistisch orien-tierte Parteien, den Kapitalismus behutsam zu lenken und Teileöffentlicher Ressourcen für den Aufbau von Wohlfahrtsstaatenund öffentlicher Infrastrukturen umzuverteilen. Obwohl sozial-demokratische Parteien selten an der Regierung waren, wardies doch die Ära ihrer größten Erfolge. Mit dem Revisionismusder neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts beginnend, hatten siesich im Laufe der Zeit mehr und mehr zu sozial-reformerischenGruppierungen entwickelt, die sich an den bestehendenNationalstaaten orientierten. Nach der Zäsur durch den ErstenWeltkrieg, der zunächst ein – wenn auch temporäres – Ende

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1) Gespräche mit Toni Negri haben uns zur schriftliche Formulierung des folgendenArguments inspiriert; die Darstellung der Position der „sozialdemokratischenKonservativen“ hat von Diskussionen mit Patrizia Nanz profitiert. Eine wesentlichdetailliertere Version ist mittlerweile in dem von uns zusammen mit Toni Negriherausgegebenen Band ‚L’Europa politica. Ragioni di una necessità’ (2002, Roma,manifestolibri) erschienen.

eines unterschiedlich ausgeprägten Internationalismus bedeu-tete, errangen diese Parteien in den zwanziger und dreißigerJahre des 20. Jahrhunderts – wenn auch meist nur kurzzeitig – in einigen Nationalstaaten die Regierungsmacht. Und – wasvielleicht noch wichtiger war – mit der Unterstützung derGewerkschaften etablierten sie sich als „Schattenregierungen“,was nicht ohne Einfluss auf die christlich-konservativenMehrheiten bleiben konnte, die dann ihrerseits sozialpolitischeMaßnahmen ergriffen und gesellschaftliche Umverteilungbetrieben.

Eine wenn auch etwas zu kurz greifende Analyse sieht dieUrsache für das derzeitige Problem der Sozialdemokratie darin,dass diese die Regierungsmehrheiten zu spät erlangte. Dieses„Zu-spät-kommen“ war etwa 1981 in Frankreich und währendder neunziger Jahre in Italien offensichtlich. Sogar in derBundesrepublik Deutschland kam die Regierungsbeteiligungder Sozialdemokraten als Seniorpartner ab 1969 in vielerHinsicht zu spät, auch und gerade wenn man die wirtschaft-lichen Turbulenzen der frühen siebziger Jahre in Betracht zieht,die in der Krise 1974/1975 gipfelten, die das Ende desKeynesianismus bedeutete.

Die Krise dieser politischen Form, also des europäischen sozial-demokratischen Nationalstaates, ist daher eng mit der Tatsacheverbunden, dass die kapitalistische Wirtschaft nicht mehr aufnationaler Basis gesteuert oder im nationalen Raumesbegrenzt werden kann. Die modische Bezeichnung für diesesPhänomen, „Globalisierung“, ist jedoch oft irreführend, da beiweitem nicht alle wirtschaftlichen Praktiken „globalisiert“ wer-den. Sie ist auch begrifflich irreführend, verleitet sie doch leichtzu einer allzu einfachen Darstellung möglicher Alternativen:nämlich dem Versuch der Rettung und Bewahrung derErrungenschaften des Nationalstaats auf der einen oder derKonzentration auf das – positiv oder negative bewertete –„Neue“, also einer globalisierten Ordnung. Die meisten politi-schen Positionen der Linken, sowohl von „Mittelinks“ als auchder radikalen Linken (so man sie noch so bezeichnen kann),lassen sich einer der beiden Positionen zurechnen.

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Wir möchten diejenigen, die den ersten Weg gehen, als sozial-demokratische Konservative bezeichnen. Sie sehen den National-staat als einzig möglichen Rahmen für die Demokratie, auchwenn diese durchaus mangelhaft und reformbedürftig ist, undals einzig möglichen Rahmen von Zugehörigkeit und Solidarität.Einige Vertreter dieser Richtung betonen des weiteren, dasseffektive Regierung nur auf dieser Grundlage möglich ist. Im Gegensatz dazu weist der andere Standpunkt, den wir alskritische Globalisierungstheorien bezeichnen möchten, den Kräf-ten des globalen Kapitalismus die Hauptrolle zu. ModeratereVersionen, wie der „Dritte Weg“, heißen die zunehmendeFreiheit und Produktivität, die durch die Globalisierung entste-hen, sogar Willkommen. Radikalere Versionen lehnen dieGlobalisierung prinzipiell ab und befürworten entschiedenenWiderstand, der neben dem Massenprotest jedoch kaum einepolitische Form sucht. Dieses Denken, das die soziale Welt tota-lisiert, kann als Fortsetzung eines kritischen Denkens gesehenwerden, das mit Marx seinen Ausgang genommen und seineprominentesten Vertreter in der späten Frankfurter Schule unddem frühen Foucault hat.

Weder sozialdemokratische Konservative noch kritischeGlobalisierungstheoretiker haben Wesentliches zu Europa zusagen. Europa ist beiden eine Nicht-Einheit zwischen demNationalstaat – die von den einen als überholt angesehen undvon den anderen verteidigt wird – einerseits und der Weltwirt-schaft andererseits, die einmal eigenen Konzeptionen ange-passt werden soll oder gegen die Widerstand zu leisten ist. Einpolitisches Europa scheint beiden Perspektiven undenkbar.Doch auch wenn es einiger Anstrengung bedarf, ein politischesEuropa zu denken, so zeigen beide Positionen nicht nurSchwächen im Hinblick auf die Analyse historischer Situationen,sondern auch begriffliche Schwächen, die sie letztlich unhaltbarmachen.

Unter den sozialdemokratischen Konservativen sind über-raschenderweise auch diejenigen, die nach 1968 die nationalenPolitiken und den Nationalstaat heftig kritisierten und die nun-mehr die doch prinzipiell unveränderten politischen Formen

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verteidigen und sich um deren Erhaltung sorgen. Demgegen-über ist es jedoch notwendig, die historischen, demokratischenErrungenschaften europäischer Nationalstaaten zu sehen,dabei jedoch zugleich ihre prinzipiellen Mängel zu diskutieren –wie dies z.B. Hannah Arendt in den Ursprüngen des Totalitaris-mus getan hat. Im Gegensatz zu Hannah Arendt beeilen sichmanche Autoren den Nationalstaat sogar unter Zuhilfenahmevon politischen Theorien zu verteidigen, deren höchst proble-matische Natur sie längst hätten erkennen sollen. Dies sind ent-weder Theorien, die auf der Vorstellung von einer historischunveränderlichen, vorpolitischen Einheit – nämlich dem Volk –fußen, dessen Angehörige durch eine gemeinsame Sprache ver-bunden sind; oder aber Theorien, die im Wesentlichen techno-kratisch, d.h. kaum demokratisch sind, weil sie Legitimation ausEffektivität ableiten. Wir nennen diese Denker konservativ, weilihr Ratschlag lautet, das zu behalten, was man hat, nämlich denl’acquis national und im Angesicht globaler Unruhe seine grund-legenden Mängel großzügig zu übersehen. Dies hält dieseDenker nicht davon ab, gleichzeitig Sozialdemokraten zu sein,da der acquis als institutionalisierte Solidarität und Demokratiedefiniert wird, die auf nationaler Basis organisiert sind.

Die kritischen Globalisierungstheoretiker würden unsere Sichtauf die sozialdemokratischen Konservativen sicherlich teilen.Wenn sie das Kommunistische Manifest an die neuen Zeitenanpassen, könnten sie argumentieren, dass die Globalisierung,wo immer sie die Überhand gewinnt, „alle nationalen, ein-fachen, idyllischen Verhältnisse zerstört hat. Sie hat die bunt-scheckigen Nationalbande […] unbarmherzig zerrissen undkein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelas-sen, als das nackte Interesse, die gefühllose „bare Zahlung“.Tatsächlich haben bereits Marx und Engels ausdrücklich dieGlobalisierung thematisiert, wenn sie bemerken: „Die Bour-geoisie hat durch ihre Exploitation des Weltmarktes dieProduktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestal-tet.“ Auch 150 Jahre später kommt man nicht umhin, von diesemSatz getroffen zu sein, auch wenn die Geschichte der National-staaten von 1850 bis 1950 nicht gerade seine prognostischeKraft ausweist. Dennoch: bemerkenswert und denkwürdig

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bleibt die Tatsache, dass die Autoren des Manifestes diejenigenals „Reaktionäre“ bezeichneten, welche sich dem Fortschritt derProduktivkräfte, der zur Globalisierung führt, entgegenstellenwollen: „Sie hat zum großen Bedauern der Reaktionäre derIndustrie den nationalen Boden unter den Füßen weggezogen.“ Wer heute die Arbeitnehmer schützen will, indem nationaleRegeln und Konventionen bewahrt werden sollen, kann sich aufjeden Fall nicht auf Marx berufen, der wahrscheinlich – mutatismutandis – die buntscheckigen Nationalbande thematisierenwürde, die bedroht und sogar zwangsläufig zerstört werden.

Das Problem kritischer Globalisierungstheorien und einigerInterpretationen von Marx liegt jedoch in der Verbindung vonzwei Elementen: nämlich der theoretischen Totalisierung einerhistorischen Trendbeobachtung und der Abwertung desPolitischen – oder auch nur der Möglichkeit des Politischen –diesem Trend gegenüber. Diese Theoretiker nehmen an, dass esnach und jenseits des Nationalstaates keine politischen Formenmehr geben kann. Man nimmt eine Art anthropologischerRevolution an, die die endgültige Vorherrschaft der Ökonomieüber die Politik bedeutet, die das Individuum privilegiert undjeden Versuch politischer Deliberation über die Dinge, diegemeinsam sind, zum Scheitern verurteilt.

Beide Positionen, sozialdemokratischer Konservatismus undkritischer Globalismus, unterschätzen die Bedeutung der(Wieder-)Entstehung „Europas‘ im derzeitigen Prozess dersogenannten europäischen Integration. Im Gegensatz zu diesenbeiden Positionen sehen wir wichtige gesellschaftliche undpolitische Entwicklungen in Europa, die nach einer Perspektiveverlangen, welche die Möglichkeit der Entstehung einer neuenpolitischen Ordnung zulässt und die darauf abzielt, dieseMöglichkeit sowohl in einem historischen als auch in einemtheoretischen Zusammenhang zu verstehen.

Die Aktualisierung einer neuen politischen Ordnung hängtunserer Meinung davon ab, wie das entstehende Europa aus-sehen würde. Damit kommen wir zu der unserer Ansicht nachbedeutungsvolleren Frage: „L’Europe, quelle formation politique

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est possible?“ Diese Frage nach der möglichen politischenFormation Europas muss in zweifacher Hinsicht gestellt wer-den. Einmal im Hinblick auf die Notwendigkeit Europas ange-sichts der wirtschaftlichen und kulturellen Transformationenunserer Zeit und dann im Hinblick auf die Möglichkeit ihrerVerwirklichung angesichts der in den heutigen europäischenGesellschaften vorhandenen Ressourcen. Eine Diskussion derersten Frage macht deutlich, was politisch auf dem Spiel steht,denn nicht jedes Europa, das entstehen könnte, ist ein Europa,für das es sich lohnen würde zu kämpfen. Nachdem wir dasbestimmt haben, müssen wir die europäische Situation analy-sieren, um abschätzen zu können, ob ein Europa, das notwen-dig ist, auch wirklich möglich ist. Ohne diesen Schritt verbleibtjeglicher Versuch im Reich des Wunschdenkens, oder, politischgesprochen, im Reich des Voluntarismus.

Das notwendige Europa

Unsere Darstellung der gegenwärtigen Debatten mag reicher-maßen verzerrt aussehen, auch gerade wenn man bedenkt,dass viele Mitglieder der europäischen politischen Eliten dieNotwendigkeit und Möglichkeit Europas betonen. In einigenLändern – Italien mag hier als Beispiel angeführt werden – fin-det man kaum jemanden, der Europa nicht überaus positivsieht. Viele dieser Pro-Europäer werden die europäischeIntegration als Schritt auf dem Weg ihres Landes – ihrerWirtschaft und Gesellschaft – in die Globalisierung sehen. Wennnicht, sehen sie Europa als den besten Weg, den Nationalstaatzu verteidigen, sei es, indem sie die EU als „Sicherheitsventil“ansehen, das die Nationalstaaten umfasst, sei es, indem sie dieEU nach dem Modell der Nationalstaaten aufbauen. Der VorteilEuropas liegt dann lediglich in seiner Größe, einer Größe, dieeine Bewahrung der acquis nationaux in modifizierter Formgestattet. Diese Ansichten verstecken sich hinter einem Wort,dem Namen „Europa“, doch es sind Vorstellungen, die sehrwenig mit diesem Namen zu tun haben. Im Gegensatz dazumuss die Notwendigkeit Europas dadurch demonstriert wer-den, dass es über die begrenzte Politik der europäischenNationalstaaten hinaus gehen und seine Formierung auch und

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gerade im Hinblick auf die Bedingungen der Globalisierungeinen gewichtigen Faktor darstellen kann.

Die europäischen Nationalstaaten sind weniger Rahmen demo-kratischen Aufbruchs, sondern weisen lange schon die Merk-male eines Ancien Régime auf; die politischen Bewegungen ab 1968 haben versucht, sie für weniger begrenzte Formen derKommunikation und politischer Entscheidung zu öffnen. Es wirdoft behauptet, dass das Streben nach Freiheit und Demokratie,das unter den Bedingungen der globalen Informationsströmeimmer weniger kontrollierbar war, einer der Gründe für denZusammenbruch des sowjetischen Sozialismus war. Es warjedoch sehr schwer, diesen Schwung gegen alte Eliten, dieunter neuen Bedingungen wieder auflebten, beizubehalten. Es wird weniger oft festgestellt, dass auch die westlichenpolitischen Ordnungen nach 1968 erst langsam demokratisiertwurden und dass sie mit ähnlichem Widerstand gegen weiter-gehende Veränderung konfrontiert waren. Von den Unter-suchungen von Korruptionsfällen, die mit schöner Regel-mäßigkeit im Sande verlaufen über den strukturellenKonservatismus der Universitäten bis zum Stillstand derDurchsetzung bürgerlicher Freiheiten – das Bild ist vielerortsdas Gleiche.

Unserer Meinung nach gibt es gute Gründe für die Annahme,dass globale Bewegungen für Kosmopolitismus, Menschen-und Bürgerrechte, Demokratie und Solidarität, so wichtig sieauch seien mögen, ohne eine Verbindung zu gangbaren politi-schen Formen nicht viel erreichen können. Gleichzeitig gibt esjedoch auch gute Gründe für die Annahme, dass politischerKampf in den existierenden nationalen politischen Ordnungen– von Zeiten offener Krise abgesehen – immer die existierendenEliten, die bestehenden Netzwerken und Hierarchien vonAbhängigkeit und Unterstützung, bevorzugen wird. Der Aufbaueiner europäischen politischen Ordnung sollte auf eine politi-sche Ordnung ausgerichtet sein, die die Formen derDeliberation über Dinge, die gemeinsam sind, nicht aufgibt unddiese im Angesicht, oder sogar zum Vorteil, einer Welt von glo-balen Geld– und Warenströmen verteidigt. Gleichzeitig sollte er

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darauf abzielen, die – unterschiedlich – sedimentierten, kon-ventionalisierten und hierarchisierten nationalen politischenOrdnungen in eine offenere, freiere und demokratischere politi-sche Ordnung zu verwandeln. Auch wenn die derzeitigenInstitutionen der EU noch weit von dieser Vision entfernt sind,sind es diese beiden Faktoren, die politisch auf dem Spiel stehen.

Jenseits dieser politischen Forderung gibt es soziale und kultu-relle Aspekte Europas, die in Betracht gezogen werden müssen,und das obgleich die EU bis jetzt den Ansprüchen einer neueneuropäischen Renaissance kaum gerecht geworden ist. Ab demspäten neunzehnten Jahrhundert und insbesondere nach demZweiten Weltkrieg haben sich die europäischen Nationalstaaten– wenn auch in unterschiedlichem Grade – zu institutionalisier-ter soziale Solidarität verpflichtet. Während des letzten Viertel-jahrhunderts ist des öfteren die Krise des Wohlfahrtsstaatsausgerufen worden, sind die dafür notwendigen Aufwen-dungen kritisiert worden, wurde gefragt, ob sozialstaatlicheMaßnahmen nicht den Anreiz zu Selbsthilfe und den Willen zurArbeitsaufnahme schwäche. Dennoch hat trotz dieser Kritik bis-lang kein Staat – zumindest in Kontinentaleuropa – das organi-sierte Solidaritätsprinzip aufgegeben oder grundsätzlich inFrage gestellt.

Es ist natürlich richtig, dass die Vielzahl von manchmal rechtunterschiedlichen Regelungen in den Mitgliedsstaaten der EUHindernisse auf dem Weg zu einem einheitlichen europäischesSolidaritätssystem aufwirft. In einer Phase der europäischenIntegration schien es sogar so, als ob das Projekt eines „sozia-len Europa“ als Konsequenz des Prinzips der negativenIntegration verloren gehen würde. In diesem Fall wäre derAufbau Europas tatsächlich nichts als ein Schritt auf dem Wegzu einer globalen neoliberalen Ordnung gewesen. Inzwischenscheint sich jedoch die Einsicht durchzusetzen, dass die Vielfaltan sozialen Institutionen quer durch Europa auch eine Quellefür neue Entwicklungen sein kann und ist deutlich geworden,dass die Verpflichtung zu sozialer Solidarität größtenteils unge-schmälert ist. Über alle politischen Lager hinweg hat dieAnsicht an Boden gewonnen, dass institutionalisierte soziale

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Solidarität ein Spezifikum Europas ist, die zu relativen Produkti-vitätsvorteilen führt und Europa zudem zu einer Region macht,an dem es sich besser leben lässt.

Neben der sozialen Solidarität sind auch kultureller Reichtumund kulturelle Vielfalt Europas als Charakteristikum der einzel-nen europäischen Nationen angesehen worden. Während einesolche Perspektive zwar dazu beiträgt, die Diversität Europassichtbar zu machen, tendiert sie aber gleichzeitig auch dazu,diese Vielfalt in vermeintlich stabilen nationalen Traditionen zuessentialisieren und nicht als eine Gemeinsamkeit Europas auf-zufassen. Dabei wird übersehen, dass nationale Traditionen sichdurchaus nicht unveränderbar durch die Geschichte bewegen,sondern in einem Prozess, der eher einer histoire croisée alseiner histoire parallèle gleicht, durch die Interaktion mit ande-ren Traditionen Gestalt angenommen und sich daher gegensei-tig gestaltet haben. Um nur ein Beispiel zu nennen: im spätenMittelalter und in der frühen Neuzeit gab es eine europäischeUniversität und ein europäisches intellektuelles Leben, bevordie entstehenden Nationalstaaten diese Institutionen transfor-mierten, um sie in ihren Dienst zu stellen und bevor dieNationalsprachen das Hauptmedium für den Ausdruck akade-mischen Denkens wurden und Latein als gemeinsame Spracheablösten. „L’école française de sociologie“ und die „deutschehistorische Ökonomie“ waren keineswegs Auswüchse autoch-thoner intellektueller Traditionen, sondern vielmehr national-spezifische Konsolidierungen von Denkweisen, die sich in sehrviel breiterem Maßstab entwickelten.

Natürlich muss man selbst in diesem Blickwinkel feststellen,dass sich nationale Formen kulturellen und intellektuellenLebens konsolidiert haben, auch und gerade während der natio-nalistischen Phase der europäischen Geschichte von 1870 bis1945. Eine derart verfestigte Vielfalt ist tatsächlich eher einHindernis denn eine Ressource für den Aufbau Europas; doch eswäre falsch, daraus den Schluss zu ziehen, dass es nur die Wahlzwischen dem Kampf für die Erhaltung solcher versteinerterTraditionen und der Auflösung aller Formen von Vielfalt undHeterogenität in eine homogenisierende und flache globale

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Kultur gibt (wie dies jetzt schon geschieht, wenn etwa wissen-schaftliche Publikationen nur noch wahrgenommen werden,wenn sie auf Englisch erscheinen). Europa sollte stattdessen als ein kultureller und intellektuellerRaum gesehen werden, in dem es eine aktive Vielfalt gibt, eineVielfalt die in wechselseitigen Austausch beständig miteinan-der in Kontakt tritt, sich auseinandersetzt, in Wettbewerb tritt,in der viele Sprachen gesprochen werden, eine Vielfalt also,deren Elemente sich weder isolieren, noch in einem kulturellenFlachland auflösen lassen.

Ein mögliches Europa

Es gibt also starke politische, soziale und kulturelle Argumentefür ein Europa, das die nationalen Formen, in denen es gegen-wärtig existiert, überwindet, in diesem Prozess die Spezifika dereuropäischen Moderne jedoch beibehält und weiter entwickelt.Unsere Argumentation ist an diesem Punkt jedoch noch offengegenüber Zweifeln, die die Möglichkeiten der Verwirklichungeiner solchen politischen Formation infragestellen.

Dieser Euroskeptizismus gründet sich auf zwei unterschied-lichen Argumentationssträngen. Einmal wird bezweifelt, dassdie – materiellen, institutionellen, kulturellen – Ressourcen zurVerfügung stehen, die die nationalen Formen europäischenLebens zu überwinden gestatten und die gleichzeitig erlauben,der globalen Homogenisierung Widerstand zu leisten; oderaber man argumentiert, dass die Aktualisierung dieserRessourcen gar nicht wünschenswert ist, da die besonderenCharakteristika Europas bei weitem nicht so unproblematischsind, wie wir sie oben dargestellt haben.

Nun kann man bei näherer Betrachtung kaum einigeBesonderheiten Europas bestreiten, würde sonst doch etwa dieWirtschaft nicht den Rückstand Europas im Hinblick auf ihreModernisierung, die Notwendigkeit von weitergehenderDeregulierung, Flexibilisierung etc. betonen. Wird jedoch soargumentiert, geht es nur noch um Widerstand und nicht ummögliche – und dringlich notwendige – Alternativen. Oft scheint

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es so, als ob Neoliberalismus in der Wirtschaftspolitik und ratio-nalistischer Individualismus in der Sozialtheorie die einzigenPositionen sind, die noch aufrechterhalten werden können undalle anderen Positionen hoffnungslos in die Defensive geraten.Europa wäre dann kaum in der Lage, lang verwurzelte nationa-le Arrangements zu überwinden, ohne in ein neoliberalesRegime zu fallen. Das ist genau das, was die „negativeIntegration“ als dominierendes Prinzip ausmachen würde: Eswäre eine durchaus erfolgreiche Art, Europa aufzubauen, dochdieses Europa wäre nicht wert, aufgebaut zu werden. Dies wäreein Europa, das relative leicht zu haben ist, es wäre aber nichtnotwendig.

Andersherum scheint es so, als ob jede stärkere Version einesentstehenden Europa nicht nur kaum möglich ist, sondern auchkaum wünschenswert erscheint. Die europäische Geschichte ist,wie jede andere Geschichte, auch eine Geschichte vonUnterdrückung und Gewalt, von Herrschaft und Ausbeutung.Von praktisch allen Standpunkten aus betrachtet, ist kaum evi-dent warum Europa einen bedeutenden Orientierungspunkt fürein politisches Projekt darstellen sollte. Die Kritiker vonKapitalismus und Imperialismus, Kolonialismus undMilitarismus, von männlicher Vorherrschaft, Umweltzerstörung,Rassismus und Totalitarismus stehen der europäischenGeschichte eher ablehnend gegenüber und sehen sie kaum alsQuelle der Inspiration für Veränderungen. Würde sich nichtjedes „neue Europa“ zumindest teilweise weiterhin auf derReproduktion der alten Strukturen von Vorherrschaft undBeschneidung der Freiheit gründen? Die wohlbekannte Kritikan der „Festung Europa“ ist ein Teil einer solchenArgumentation.

Das Problem liegt also weder darin, ob die Ressourcen vorhan-den sind, noch darin, ob ihre Mobilisierung wünschenswert ist.Das Problem ist vielmehr die Kombination beider Faktoren, dasheißt, die Mobilisierung der vorhandenen Ressourcen, derenVerwendung wünschenswert ist. Der Aufbau eines Europa, dasnotwendig ist, ist keine Fortsetzung einer Geschichte derVernunft, die nur von verschiedenen Kriegen unterbrochen

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wurde. Er ist eher ein politischer Kampf, um ein spezifischesErbe und spezifische politische Formen zurückzugewinnen undzu aktualisieren, die unter vielen anderen identifiziert und rele-vant gemacht werden müssen. Der europäische „Gegenangriff“– um mit Massimo Cacciari zu sprechen – gegen dieVerwandlung des Menschen in den homo oeconomicus kannkeine Rückkehr zu einer wie auch immer gearteten europäi-schen Tradition sein; dieser Gegenangriff muss vielmehr dieSelbstüberwindung Europas sein, oder besser, seineEntstehung; oder, um hier Theodor W. Adorno zu paraphrasie-ren, nicht in hoffnungslosen Versuchen, festzustellen, was dasEuropäische nun einmal sei, ist der Sinn zu vermuten, den die-ser Begriff noch behaupten mag: im Übergang zur Menschheit.Rettung liegt dann auch in den Möglichkeiten, die es einmalgab, die aber nicht aktualisiert wurden, wie es Walter Benjaminformulierte

Wo also, können wir jene Charakteristika identifizieren, die eserlauben ein notwendiges Europa auch als ein möglichesEuropa zu denken? Im Gegensatz zu den ehemals kritischenIntellektuellen, die jetzt zwischen Defätismus und Konser-vatismus schwanken, scheinen viele Europäer eine zunehmendpositivere Haltung dem europäischen Projekt gegenüber ein-zunehmen. Diese positive Einstellung findet man nicht nurmehr als deutlich in Süd- und Mitteleuropa, sondern auchFrankreich und Deutschland, zu einem gewissen Grade sogar inSkandinavien, wo der Widerwillen, eigene politische Traditionenin ein größeres Europa einzubringen, lange Zeit am größtenwar. Inzwischen gibt es einen europäischen sozialen Raum, der auch als solcher wahrgenommen wird und in dem Bürgeranderer Staaten nicht mehr – wie noch in den ersten Nach-kriegsjahrzehnten – als das gänzlich fremde Andere wahr-genommen werden. Auch wenn die Indizien manchmal eherdiffus erscheinen, können doch weitverzweigte Prozesse derEuropäisierung des sozialen Lebens ausgemacht werden. Diesesind – und das ist nicht ohne Bedeutung – auch und geradedurch den Wunsch geprägt, die gewalttätige nationale Ge-schichte Europas endgültig zu überwinden und werden durchden Versuch motiviert, den Hierarchien und Einschränkungen

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der derzeitigen nationalen politischen Ordnungen zu entkom-men. Jenseits des Propagandawertes für die proeuropäischenpolitischen Eliten haben Slogans, die Europa sowohl mit Frei-heit als auch mit Vielfalt und Differenz in Verbindung bringen,durchaus ihre Anziehungskraft.

Diese Europäisierung sozialen Lebens ist sicherlich nicht ausrei-chend, sondern lediglich eine notwendige Vorbedingung für einlebensfähiges politisches Europa. In einem zweiten Schrittmüssen auch die Tendenzen der Denationalisierung undEuropäisierung spezifischer kultureller und philosophischerRessourcen betrachtet werden. Um hier mit der politischenTheorie zu beginnen: Sie steckt immer noch in der Sackgasse,die durch die weitgehend Amerika-zentrierte Debatte zwischenLiberalen und Kommunitaristen geschaffen wurde. DieseDebatte hat deutlich gemacht, wie sehr die politische Theoriedurch den individualistischen Liberalismus bestimmt wurde.Von Isaiah Berlins berühmter Verteidigung der „negativen Frei-heit“ bis zu John Rawls individualistischem Argument für einebegrenzte Umverteilungspolitik beherrschten Varianten desIndividualismus die Szene. Der Kommunitarismus wurde dannals Antwort auf diese Dominanz und als Verteidigung vonholistischen und/oder kollektivistischen Anschauungen desSozialen und Politischen vorgeschlagen. In dieser Neuauflagealter Kontroversen stellte der Kommunitarismus das geschicht-lich insgesamt schwächste Argument dar. Die europäischenpolitischen Traditionen von politischem Katholizismus, Nationa-lismus, Sozialismus und Kommunismus hatten alle stärkereBegründungen eines dichten politischen Leben geliefert. Mitder Ausnahme des Katholizismus (was um so mehr überrascht,hält man sich die Geschichte des institutionalisieren Katholizis-mus vor Augen) sind nach dem Ende des Zweiten Weltkriegesund mit dem Niedergang des sowjetischen Sozialismus dieseTraditionen weitgehend diskreditiert.

Die Diskreditierung von Alternativen zum individualistischenLiberalismus hat jedoch nur Erfolg auf der Grundlage des redu-zierten Abbildes einer politischen Theorie, die sich jenseits vonIndividualismus und Kollektivismus bewegt. Das europäische

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politische Denken, von seinen griechischen und römischenUrsprüngen bis zu Republikanismus und Romantizismus, hat oftmit sehr viel reicheren konzeptuellen Registern gearbeitet. Esmuss keine theoretische Wahl zwischen der abstrakten Freiheitdes Individualismus oder der Vordefinition des Umfanges mög-licher Freiheit durch eine starke Gemeinschaft getroffen wer-den. Die Ablehnung des Totalitarismus muss nicht zuKonzeptionen der sozialen Welt führen, in denen der Anderenur als Konkurrent auf dem Markt oder als potentieller Feind ineinem ewigen Krieg gesehen wird und in denen – wie im angel-sächsischen Utilitarismus – Glück und gelungenes Leben inZahlen gemessen wird. In solchen Welten haftet denBeziehungen zwischen Menschen etwas Infames undUnwürdiges an, wie Bertolt Brecht aus dem Exil schrieb. Dieeuropäische intellektuelle Herausforderung hat im Gegensatzdazu immer darin gelegen, politische Ordnungen, das heißt,Ordnungen gemeinsamer Deliberation zu erarbeiten, derenMitglieder freie Menschen sind, die den Anderen sowohl in sei-ner Andersartigkeit als auch in seiner Gleichheit anerkennen.

Als während der französischen Revolution die alten Ordnungenins Wanken gerieten, war man versucht, den Individualismus alseinzige Alternative zu prädeterminierten sozialen Ordnungenzu sehen. Nach dem Ende des Totalitarismus und mit demAufstieg des Amerikanismus zur weltweit dominanten Machtgibt es die gleiche Versuchung. Doch in Europa gab es im neun-zehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert Denker, die dieserVersuchung widerstanden und die die neue Freiheit affirmier-ten, ohne sie auf dem Marktplatz zu verkaufen. Auch jetzt istWiderstand möglich – und es gibt diesen Widerstand. So unvoll-ständig ihre Versuche auch sein mögen, die Werke von politi-schen Denkern wie Hannah Arendt, Claude Lefort, JacquesDerrida und Massimo Cacciari weisen in andere Richtungen(und den beiden letztgenannten ist Europas „Geophilosophie“zu Recht ein ausdrücklicher Orientierungspunkt).

Nicht zufällig sind solche Ansätze eher in kontinentalen euro-päischen sozialen Praktiken, denn im individualistischerLiberalismus oder Kollektivismus verwurzelt. Diese Autoren

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bestehen alle auf der prinzipiellen Offenheit von Situationen,lehnen ontologische Vorausdefinitionen ab und bedienen sicheines reichhaltigen Registers von Interpretationsmechanismen,die über die einfache Oppositionen von Individuellem undKollektivem oder von Rationalität und Tradition oder Emotionhinausgehen. Sie können sich auf eine interpretativ-hermeneu-tische Tradition des Handelns und des Denkens berufen, dascharakteristisch für Europa ist. Diese Tradition gestattet, ja ver-langt ein Handeln, das sich an dem Verständnis von Situationenausrichtet, die auf der Grundlage einer Vielfalt von vorhande-nen moralischen und politischen Registern kommuniziert – underkämpft – werden, und die dadurch eben nicht einfach voneiner eindeutigen Regel abgeleitet oder ableitbar sind. Um zusehen, wie lebendig solches Denken in Europa ist, muss mansich nur vor Augen halten, mit welchem Unverständnis – undmit welcher Bestürzung – Europäer der formalen Verrecht-lichung begegnen, die für so viele Bereiche des sozialen Lebensin den USA charakteristisch ist.

Unsere Hinweise auf die soziokulturellen und intellektuellenBesonderheiten Europas sind sicherlich nicht hinreichend, umein vollständiges Programm für ein politisches Europa zu ent-wickeln. Sie verweisen aber auf die prinzipiell vorhandenenRessourcen, die aktualisiert werden können, um eineAlternative zur neoliberalen oder individualistisch-liberalen glo-balen Hegemonie zu entwickeln, ohne dabei die derzeitigennationalstaatlichen politischen Ordnungen und ihr unbestreit-bares Demokratiedefizit bewahren zu müssen oder auf – nichtzu Unrecht – diskreditierte politische Philosophien zurückzu-greifen. Es ist die dringliche politische Aufgabe unserer Zeit,diese Elemente der sozialen Welt Europas davor zu bewahren,zu einem ephemeren kulturellen Attribut eines ansonsten voll-kommen entpolitisierten und flexiblen Kapitalismus werden zu lassen und diese Ressourcen in sozio-intellektuelleIngredienzen einer europäischen politischen Ordnung zu ver-wandeln, die diese Bezeichnung und damit auch den NamenEuropa auch verdient.

Heidrun Friese und Peter Wagner

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„Politik und Moderne“

Die Schriftenreihe der Heinrich Böll Stiftung :Bremen

Band I Debatte mit Beiträgen u.a. von Andrej Markovits, Claude Lefort, Lorenz Wilkens und Christina Thürmer-Rohr

Band II Niedriglöhne statt Arbeitslosigkeit?

Band III Kunst in der Gegenwart

Band IVDebatte mit Beiträgen u.a. von Albrecht Göschel, Hannah Arendt, Dick Howard und Heidrun Friese/Peter Wagner

Band V Kunst und Wissenschaft

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Anmeldung und KontaktBildungswerk Umwelt und Kultur in der Heinrich Böll Stiftung Plantage 13, 28215 Bremen Telefon + Fax: 0421-35 23 68/89 eMail: [email protected]