Barbara Stollberg-Rilinger Des Kaisers alte Kleider...

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416 Seiten, Gebunden ISBN: 978-3-406-57074-2 Unverkäufliche Leseprobe © Verlag C.H.Beck oHG, München Barbara Stollberg-Rilinger Des Kaisers alte Kleider Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches

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416 Seiten, Gebunden ISBN: 978-3-406-57074-2

Unverkäufliche Leseprobe

© Verlag C.H.Beck oHG, München

Barbara Stollberg-Rilinger Des Kaisers alte Kleider Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches

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I. Einleitung

Des Kaisers alte KleiderI. EinleitungDes Kaisers alte KleiderI. EinleitungDes Kaisers alte Kleider

Vier Jahre, ehe das Heilige Römische Reich Deutscher Nation end-gültig aufhörte zu existieren, schrieb der junge Hegel, die Deut-schen hätten alle Zeichen des deutschen Staatsverbands seit Jahr-hunderten gewissenhaft bewahrt, während die Sache selbst, derStaat, verschwunden sei. Nur der Form, nicht aber der Sache nachsei das Reich noch eine Einheit. Er betrachtete es als einen spezifischdeutschen, andern Nationen so lächerlichen Aberglauben an die ganzenäußeren Formen, an das Zeremoniell, dass man die Unveränderlichkeit derForm […] für Unveränderlichkeit der Sache ausgebe. Das zeige sichexemplarisch an des Kaisers alten Kleidern: Die Verfassung scheint garseit den tausend Jahren, die seit Karl dem Großen verflossen sind, keine Ver-änderung erlitten zu haben, wenn der neugewählte Kaiser noch jetzt bei derKrönung die Krone, den Szepter, Apfel, ja sogar die Schuhe, den Rock unddie Kleinodien Karls des Großen trägt. Ein Kaiser neuerer Zeiten ist ja hier-mit so sehr als derselbe Kaiser, der Karl der Große war, dargestellt, dass erja sogar noch dessen eigne Kleider trägt. Und weiter: In der Erhaltungdieser Formen zwingt sich der Deutsche die Erhaltung seiner Verfassung zuerblicken.1

Genau darum – um das Verhältnis der Reichsverfassung zu denäußeren, symbolisch-rituellen Formen – geht es in diesem Buch.Tatsächlich kennzeichnete es den Reichsverband in seiner Spät-zeit, dass die handelnden Personen ein außerordentlich zwiespäl-tiges Verhältnis zu ihm hatten: Einerseits nahmen sie die sym-bolischen Gegenstände und Gesten, in denen das Reich sichverkörperte, so ernst, dass sie sich endlos darüber stritten. Ande-rerseits hinderte sie das nicht daran, bei günstiger Gelegenheit ele-mentare Grundregeln der Reichsordnung einfach beiseitezuschie-ben, wenn es ihren Interessen diente.

Die alten Kleider des Kaisers stehen als Metapher für das ganzeSymbolsystem des Reiches. Einerseits wusste man im 18. Jahrhun-dert – Gelehrte hatten es historisch-kritisch nachgewiesen –, dassdie Kleider des Kaisers durchaus nicht so alt waren, wie sie aus-

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sahen.2 Viele amüsierten sich darüber und fanden den modrigenPlunder lächerlich.3 Andererseits schaffte man sie keineswegs ab,ganz im Gegenteil: Man hütete vielmehr eifersüchtig das Recht, sieaufzubewahren, bei der Krönung anzufassen und dem Kaiser an-und auszuziehen. Das ist erklärungsbedürftig.

Es geht in diesem Buch allerdings nicht nur um die kaiserlichenKleider, sondern um die Gesamtheit der Symbole, Gesten, Ritualeund Verfahren, in denen sich die Ordnung des Reiches handgreif-lich verkörperte. Der rituelle Akt der Einkleidung, die Investiturmit Ornat, Krone, Apfel, Szepter und Schwert, steht pars pro totofür alle Handlungen, in denen das Reich sinnlich wahrnehmbar inErscheinung trat. Zugleich und vor allem geht es in diesem Buch –und das suggeriert der Titel des alten Märchenstoffs4 – um dieFrage, wie eine Gesellschaft im Bann einer kollektiven Fiktion ge-halten wird – auch dann, wenn viele für sich im Stillen womöglichgar nicht daran glauben. Dazu gilt es allerdings die äußeren For-men zunächst einmal ernst zu nehmen.

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I. Einleitung

Krönungsornat: Alba, Krönungsmantel und Gurt für das Reichsschwert

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Fiktionen und SymboleFiktionen und SymboleFiktionen und Symbole

Die Prämisse, von der das Buch ausgeht, stammt aus der Kulturso-ziologie und lautet: Jede institutionelle Ordnung bedarf symbo-lisch-ritueller Verkörperungen und beruht auf gemeinsam geglaub-ten Fiktionen. Fiktion bedeutet in diesem Zusammenhang, dassjede soziale Ordnung auf sozialer Konstruktion und kollektiverSinnzuschreibung beruht. Anders als im Märchen von des Kaisersneuen Kleidern hat Fiktion nichts mit Lüge oder Täuschung zu tun.Eine institutionelle Ordnung, so die Grundannahme, besteht letzt-lich in nichts anderem als den dauerhaften wechselseitigen Erwar-tungen derjenigen, die an ihr teilhaben: Jeder Einzelne glaubt andas Funktionieren der Ordnung als an etwas völlig Selbstverständ-liches und unterstellt ebenso selbstverständlich allen anderen, dasssie ebenfalls daran glauben. Soziale Ordnung funktioniert auf derBasis von ‹Erwartungserwartungen›: Jeder Einzelne richtet seinHandeln an der Erwartung aus, dass die anderen ihr Handelnebenfalls an der Ordnung ausrichten.5

Dabei spielt es eine wesentliche Rolle, wie begründet diese Er-

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Fiktionen und Symbole

Krönungsornat: Strumpf, zwei Paar Handschuhe, drei Paar Schuhe

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wartungen auf die Dauer sind. Beruht etwa Herrschaft letztlich aufder Erwartung der ihr Unterworfenen, dass gegebenenfalls mitdem Einsatz physischer Gewalt zu rechnen ist, so kann es die Ord-nung aushöhlen und zum Einsturz bringen, wenn diese Erwartungniemals erfüllt wird. Allerdings geschieht das nicht so leicht. Denninstitutionelle Ordnungen kennzeichnet es auch, dass sie die Ten-denz haben, sich selbst immer weiter zu stabilisieren. Es ist wesent-lich leichter, sie aufrechtzuerhalten, als sie zu ändern. Denn Institu-tionen erzeugen normative Erwartungen: Das sind Erwartungen,die auch dann aufrechterhalten werden, wenn in Einzelfällen ge-gen sie verstoßen wird.6

Obwohl sie aus wechselseitigen Erwartungen und kollektivenSinnzuschreibungen bestehen, an denen die Einzelnen ihr Han-deln ausrichten, erscheinen Institutionen, d. h. auf Dauer stabileOrdnungen, den Einzelnen selbst in der Regel als etwas Festes, Ob-jektives, das weitgehend ihrem Einfluss entzogen und unverfügbarist. Das liegt daran, dass die Institutionen den Einzelnen immerschon auf Schritt und Tritt in symbolischen Formen gegenübertre-ten. Diese Formen folgen einem kollektiven Code, den der Einzel-ne erlernt, indem er in die betreffende Ordnung hineinwächst,und die er in seinem Sprechen und Handeln seinerseits repro-duziert. Die grundlegenden Begriffe und Klassifikationen einerOrdnung – im Falle des Reiches zum Beispiel: Kaiser, Kurfürsten,Fürsten, Stände usw. – sind in Symbolisierungen aller Art allgegen-wärtig: angefangen bei den Begriffen, Namen, Titeln und Anrede-formen über dingliche Symbole, Bilder und alltägliche Gesten derEhrerbietung bis zu komplexen, feierlichen rituellen Handlungenwie der Königs- oder Kaiserkrönung. Durch ihre materielle Hand-greiflichkeit, ihre sinnliche Wahrnehmbarkeit machen diese Sym-bolisierungen die institutionelle Ordnung, die sie verkörpern, zueiner objektiven Wirklichkeit. Sie lassen die Einzelnen vergessen,dass diese Wirklichkeit davon abhängt, dass sie sie immer aufsNeue selbst erzeugen und lebendig machen, und umgeben dieOrdnung mit einer «Aura der Notwendigkeit».7 Zugleich aber sindalle diese Symbolisierungen nie eindeutig und die Wahrnehmun-gen und Vorstellungen in den Köpfen der Einzelnen nie identisch.Oft konkurrieren verschiedene Deutungen offen oder verdecktmiteinander. Gesellschaftliche Kämpfe werden darüber ausgetra-gen, den öffentlichen Raum nicht nur mit den eigenen Symbolen

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I. Einleitung

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zu besetzen, sondern auch die eigene Deutung dieser Symbole an-deren gegenüber durchzusetzen.8

Wie im Märchen von des Kaisers neuen Kleidern war es im vor-modernen Alten Reich vor allem die gemeinsame Teilnahme anöffentlichen symbolisch-rituellen Akten – Solennitäten –, woraufinstitutionelle Fiktionen errichtet waren: Königs- und Kaiserkrönun-gen, Belehnungen, Huldigungen, Reichstagseröffnungen. Die allge-mein sichtbare Teilnahme machte die Anwesenden wechselseitig zuAugenzeugen ihres Glaubens an diese Ordnung. Wer an einemöffentlichen symbolisch-rituellen Akt teilnahm, bekundete seineZustimmung dazu und gab zu erkennen, dass er sich in Zukunft andie damit verbundenen Erwartungen halten würde.9 Anwesenheitbedeutete Akzeptanz. Wollte man diese Wirkung verhindern, somusste man entweder die Teilnahme vermeiden oder demonstrativseinen Protest zum Ausdruck bringen. Wer aber anwesend war, derbekräftigte durch seine schiere körperliche Anwesenheit und Zeu-genschaft die Wirkung des Aktes – und dabei kam es auf die innereEinstellung nicht an, solange diese nicht sichtbar war.10

Symbolisch-rituelles Handeln kann eine solche Wirkung für eineinstitutionelle Ordnung vor allem dann entfalten, wenn diese aufder persönlichen Interaktion der Beteiligten beruht, wenn die Per-sonen einander bei bestimmten Anlässen körperlich gegenübertre-ten. Das war in der Vormoderne bei lokalen Gesellschaften, etwaeinem Dorf, einer Stadt oder einem Fürstenhof der Fall, aber in ge-wissem Maße auch in der Fürstengesellschaft des Reiches, derenMitglieder sich zumindest gelegentlich – und an der Wende vomMittelalter zur Neuzeit immer öfter und zahlreicher – persönlichtrafen. Es handelte sich um eine ‹Präsenzkultur›, die in erster Linieauf persönlicher Anwesenheit der Herrschaftsträger selbst und erstin zweiter Linie auf schriftlicher Kommunikation und Stellvertre-tung beruhte.11 Es kennzeichnete diese Ordnung, dass ihre grund-legenden Strukturen zu bestimmten feierlichen Anlässen symbo-lisch-rituell aufgeführt werden mussten. Erst im Laufe der frühenNeuzeit änderte sich das allmählich. Die spezifische Logik der Prä-senzkultur und ihren Wandel gilt es in diesem Buch zu beschreiben.

Der kollektive Glaube an die Notwendigkeit, Selbstverständlich-keit und Unverfügbarkeit einer institutionellen Ordnung herrschtnie ganz unangefochten. Phasen verschärfter Kritik an einer Insti-tution gehen in der Regel damit einher, dass man die symbolischen

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Fiktionen und Symbole

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Formen, in denen sich diese Institution verkörpert, als ‹leerenSchein› entlarvt, ihre sakrale Aura entzaubert und ihre Rituale,wenn überhaupt, dann nur mehr in ironischer Distanz vollzieht.12

Im 18. Jahrhundert verstärkte sich diese Haltung auch gegenüberdem Alten Reich unter den Gebildeten immer mehr. Die Würdeder alten Ordnung schien vielen nur noch an den längst lächerlichgewordenen kaiserlichen Kleidern zu hängen. Hatte man die Amts-träger aber erst einmal ihrer prunkvollen Ornate entkleidet, wie esin der Französischen Revolution geschah, dann konnte man diesendesillusionierenden Anblick nur schwer vergessen. Schon im spä-ten 18. Jahrhundert und erst recht nach dem Untergang des Rei-ches sprach man über das komplizierte Gebilde gern in Metaphernder barbarischen Ruine13 und des alten, vom Einsturz bedrohtenHauses,14 des gotischen Monstrums15 und der Chimäre.16 Die Frageist: Wann und warum verlor man das Vertrauen in die alten For-men, und warum wurden sie trotzdem so lange, ja sogar mit gestei-gerter Akribie weiter vollzogen? Wie kam es zu der von Hegel dia-gnostizierten zwiespältigen Lage, die an Andersens Märchenkaiser-tum erinnert? Warum änderte sich daran nichts, bis das Reich vonaußen durch Napoleons Truppen zum Einsturz gebracht wurde?Um das beantworten zu können, muss man aber grundsätzlicherfragen: Was machte überhaupt die institutionelle Ordnung des Rei-ches aus? Inwiefern und auf welche Weise wurde es zu einem hand-lungsfähigen Ganzen verbunden? Wie wurden seine institutionel-len Strukturen auf Dauer gestellt? Auf welchen Erwartungen derHandelnden beruhte es? Worin verkörperte es sich als eine poli-tische Einheit? Und welche Rolle spielten dabei Symbolisierungenaller Art – Worte, Bilder, Gegenstände, Gebärden, Zeremonien undRituale?

Verfassungsbegriff und VerfassungsgeschichteVerfassungsbegriff und VerfassungsgeschichteVerfassungsbegriff und Verfassungsgeschichte

In der Erhaltung der äußeren Formen zwinge sich der Deutsche, die Er-haltung seiner Verfassung zu erblicken, lautete Hegels Vorwurf.17 DerBegriff der Verfassung hatte zu Hegels Zeit eine ganz neue Bedeu-tung angenommen;18 constitution war in der Amerikanischen undbesonders in der Französischen Revolution zu einem emphatischhoch aufgeladenen politischen Schlagwort geworden. Mit ‹Verfas-

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I. Einleitung

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sung› meinte man nun nicht mehr ganz allgemein den Zustand, indem sich ein (menschlicher oder politischer) Körper befindet, son-dern ein nach Maßstäben politischer Vernünftigkeit konstruiertesGefüge von Grundgesetzen und vor allem von individuellen Grund-rechten, das sich in einer geschriebenen Charta konkretisierenmusste. Eine Verfassung hat keine ideale, sondern eine reale Existenz, undwenn sie nicht in sichtbarer Form hervorgebracht wird, gibt es gar keine,schrieb der Revolutionär Thomas Paine.19 Dieser Verfassungsbe-griff, der im Wesentlichen auch noch unser heutiger ist, bezeichnetein System abstrakter höchstrangiger Normen, eine schriftlich ge-satzte Grundordnung des Staates, die das Funktionieren der staat-lichen Organe regelt, die Rechte und Pflichten der Bürger fixiertund damit den Staat als Rechtsordnung zur Existenz bringt. Vorallem kennzeichnet es solche modernen Verfassungen, dass sie fest-legen, wie neues Recht erzeugt wird, ja sogar wie sie selbst verändertwerden können.20 Genau das war in der Vormoderne noch nichtder Fall.

Es ist ein hervorstechendes Merkmal einer solchen modernenVerfassung, dass es sich um einen Text handelt, und zwar um einenveröffentlichten, gedruckten Text. Auch wenn man von Verfas-sungswirklichkeit spricht, definiert man diese in Abweichung vomVerfassungstext.21 Die traditionelle Verfassungsgeschichtsschrei-bung war lange von diesem Begriff geprägt – auch wenn man selbst-verständlich wusste, dass es in Mittelalter und früher Neuzeit keineVerfassungstexte der gleichen Art gab wie heute. Dennoch habenHistoriker auch vormoderne Verfassungen meistens so traktiert, alshandelte es sich um abstrakte Normsysteme, die von einem Gesetz-geber erlassen und schriftlich fixiert sind. Man hat unterstellt, dasssie eindeutig gelten, dass sie systematisch und widerspruchsfrei ge-ordnet sind und dass sie Konsens finden.22 Wenn schon moderneVerfassungen diesen Maßstab bei genauerem Hinsehen kaum erfül-len, so gilt das für die Verfassung des Alten Reiches erst recht. Andiesem Maßstab gemessen, musste das Reich als unvollkommener,schwacher, monströser und defizitärer Staat erscheinen. Der Mediä-vist Peter Moraw, einer der Begründer einer neuen Reichsverfas-sungsgeschichte, hat das schon 1989 festgestellt: «Ungeachtet allerJuristenkunst bestand jedoch [in Spätmittelalter und beginnenderNeuzeit] kein gesicherter ‹konstitutioneller› und Verfahrens-Kon-sens, der wie im Verfassungsstaat der Moderne auf Grundnormen

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Verfassungsbegriff und Verfassungsgeschichte

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und Verfahren aufgeruht hätte, die die Staatsgewalt erst schufenund die logisch durchkonstruiert und voll einklagbar gewesen wä-ren. An derlei für die ältere Vergangenheit zu denken ist […] ana-chronistisch.» Und weiter: «Was wir Verfassung nennen, war damalsvielfach ein Verhältnis unter Großen, denen fürstliches Ansehenviel mehr galt als Texte auf Papier, oder besser: dies waren inkom-mensurable Größen.»23 Was Peter Moraw allerdings noch nicht inden Blick genommen hat, sind die symbolisch-rituellen Akte, indenen man ein vormodernes Äquivalent für die geschriebene Ver-fassung der Moderne sehen kann – ein Äquivalent allerdings, daseiner anderen, eigenen Logik folgte.

Es fällt indes ungemein schwer, von dem vertrauten und selbst-verständlich vorausgesetzten Kosmos formal gesatzter schriftlicherRechtsnormen abzusehen, in dem man sich in der Moderne stän-dig bewegt. Aber wenn die Historiker von Kategorien wie Verfas-sung, Staat, Souveränität, Staatsorgan, Staatsrecht u. ä. ausgehen,dann verwenden sie Begriffe, die die Handelnden in der frühenNeuzeit entweder noch nicht kannten oder denen sie eine ganz an-dere Bedeutung zumaßen als wir heute. Verwendet man aber dieseKategorien, dann kommt man kaum umhin, die damit bezeichne-ten Strukturen auch in die vergangenen Epochen zu projizieren.24

Zwischen uns und dem Alten Reich stehen Rechtspositivismus undKonstitutionalismus, die dazu verleiten, die Reichsverfassung rück-blickend als geschlossenes, autonomes System von Rechtsnormenzu behandeln, die sich von der tatsächlichen politischen Praxisklar unterscheiden ließen. Viele der Fragen, die moderne Histori-ker aus dieser Perspektive heraus stellen, führen daher in die Irre,weil sie gar nicht eindeutig zu beantworten sind. Sie setzen präzisebegriffliche Unterscheidungen voraus, die die damals Handelndenselbst nicht getroffen haben. Eine solche Frage ist beispielsweisedie, ob bestimmte Herrschaftsrituale – Belehnung, Huldigung,Krönung usw. – rechtskonstitutive Akte waren oder nicht. Aber anwelchem generalisierten Maßstab sollte man das messen? Es gabeben nur die konkreten symbolischen Akte, nicht aber einen ab-strakten Verfassungstext, der diesen Akten eine konstitutive Be-deutung hätte zuweisen oder absprechen können. Symptomatischfür eine solche anachronistische Sicht ist es auch, wenn in der älte-ren Verfassungsgeschichte beklagt wird, dass die Begrifflichkeitder Quellen unscharf und diffus sei und dass die Quellen sich viel

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I. Einleitung

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mehr mit repräsentativen Äußerlichkeiten als mit Verfassungsrechtbeschäftigten. Man hielt das für Oberflächlichkeit, Naivität undMangel an staatstheoretischer Abstraktionsfähigkeit. Beides, dieNachlässigkeit in den Begriffen und die Aufmerksamkeit für dieZeremonien und Rituale, ist aber gerade charakteristisch für dieVormoderne.25 Die Exaktheit, auf die die Zeitgenossen selbst bisins 17. Jahrhundert hinein Wert legten, war die Exaktheit der kon-kreten, symbolisch-rituellen ‹Äußerlichkeiten›, nicht die Exaktheitder abstrakten Begriffe. Statt um abstrakte Kategorien geht es des-halb in diesem Buch zunächst einmal um konkrete Phänomene,um die Medien, in denen sie sich den Betrachtern vermittelten,und um die Bedeutungen, die ihnen die Beteiligten zuschrieben.

Für den Umgang früherer Historikergenerationen mit demAlten Reich ist außerdem kennzeichnend, dass sie einen großenTeil der symbolisch-rituellen Phänomene, von denen in den Quel-len die Rede ist, alles Farbige, Prunkvolle, Zeremonielle unddemonstrativ Inszenierte entweder ignorierten oder dem Bereichder ‹Kultur› statt der Politik zuordneten. Dazu gehörten nicht nurHoffeste, Turniere, Hochzeiten und Bankette, sondern auch feier-liche Belehnungen, Einzüge und Huldigungen. Man wusste zwar underwähnte das gelegentlich auch, dass alle diese Phänomene für dieZeitgenossen von erheblicher Bedeutung waren, man thematisiertesie aber nicht als politische Ereignisse. Hinter dieser Konzentrationauf die ‹eigentliche› Politik, also auf all das, was nicht auf öffent-licher Bühne stattfand, verbarg sich unausgesprochen der Maßstabeines späteren Politikstils, der sich durch Sachlichkeit, Nüchtern-heit, Schriftlichkeit und Professionalität auszeichnete. Dieser Poli-tikstil des ‹grauen Anzugs›, dem sich bürgerliche Historiker des 19.und 20. Jahrhunderts verpflichtet fühlten und dem ihre Sympa-thien galten, war aber der Politikstil ihrer eigenen Zeit. Er setztevoraus, dass sich das Politische als autonomes gesellschaftlichesFunktionssystem mit eigener Handlungslogik etabliert hatte. Dasaber war in der frühen Neuzeit noch nicht der Fall. Politische, so-ziale, religiöse und ökonomische Ordnung waren noch nicht von-einander getrennt. Die Beziehungen zwischen den Reichsgliedernwaren nicht anonym und abstrakt wie die der Funktionsträger immodernen Staat oder anderen formalen Organisationen; sie beruh-ten vielmehr noch in hohem Maße auf persönlicher Nähe, Ver-wandtschaft und Patronage. Solange aber das Politische nicht von

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anderen gesellschaftlichen Funktionen getrennt war, hieß politi-sches Handeln immer zugleich, seinen wirtschaftlichen Reichtum,seine soziale Zugehörigkeit und seinen Rang zu demonstrieren.

Um den genannten Missverständnissen vorzubeugen, kann manversuchen, die vergangene Ordnung zunächst einmal als etwas An-dersartiges, nicht von selbst Verständliches zu betrachten – so wiesich ein Ethnologe einer fernen, fremden Kultur nähert. Der Ver-gleich hinkt natürlich – dem Historiker ist die vergangene Epocheseiner eigenen Kultur ja nie völlig fremd, er ist durch Traditionenund strukturelle Kontinuitätslinien mit ihr verbunden. Es handeltsich bei dem ‹ethnologischen Blick› vielmehr um eine methodi-sche Fiktion, einen Kunstgriff, der darin besteht, alles, was einemin den Quellen begegnet, zunächst einmal nicht für selbstverständ-lich, sondern für auslegungsbedürftig zu halten.26 Es sollte nichtübersehen werden, dass auch diese Perspektive wie jede anderewiederum bestimmte Seiten des Gegenstandes hervorhebt – exoti-sche, archaische – und andere – vertrautere, modernere – Seiten inden Hintergrund treten lässt. Trotzdem erscheint diese Sichtfruchtbar und erkenntnisfördernd – vor allem in Bezug auf dasAlte Reich.

Es ist kein Zufall, dass man gerade heute einen solchen neuenZugang zu den vormodernen Epochen sucht. Wir leben in einemZeitalter des Verlusts von Staatlichkeit. Der moderne Nationalstaatdes 19. und 20. Jahrhunderts ist nicht mehr die primäre politischeBezugsgröße, nicht mehr der einzige Fluchtpunkt politischen Han-delns. Transnationale, globale, aber auch regionale Bezüge habenan Bedeutung gewonnen. Das alte Modernisierungsmodell, das voneiner fortschreitenden Rationalisierung der Welt ausging, hat anÜberzeugungskraft eingebüßt. Das idealtypische Modell des büro-kratischen Anstaltsstaates, den man sich wie einen durchrationali-sierten Betrieb vorstellte, ist selbst entzaubert worden. Die Soziolo-gie hat längst festgestellt, dass auch moderne Organisationen nichtso funktionieren, wie ihre Satzungen es vorsehen.27 All das schafftDistanz zum modernen Staats- und Verfassungsbegriff und öffnetden Blick dafür, wie sehr moderne Vorstellungen – die von vielerleiRationalitätsmythen geprägt sind – noch immer die Sicht auf vor-moderne politisch-soziale Strukturen verstellen.

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Verfassungsgeschichte als Ritualgeschichte?Verfassungsgeschichte als Ritualgeschichte?

Schon im 17. und 18. Jahrhundert scheiterten die Historiker an derReichsverfassung und fühlten sich unfähig, darüber eine geschlos-sene Geschichte zu erzählen: Sie fanden das Reich zu heterogen,um es erzählerisch in Form zu bringen. Als Johann Gottfried Her-der darüber nachdachte, warum eine deutsche Nationalgeschichtenicht so einfach zu schreiben sei wie die der Franzosen, der Englän-der, der alten Römer oder Griechen, begründete er das damit, dassdas Heilige Römische Reich noch heute in seiner Einrichtung das sonder-barste von Europa sei: Es ist Jahrhunderte durch ein Chaos […]; seine Ge-schichte eine Geschichte des Rangs, des Rechtes, des Zanks. Ähnlich wiespäter Hegel betrachtete auch Herder es als ein Charakteristikumder Deutschen, sich um einen Ceremonienrang, um dieses und jenes ur-kundliche Hoheitszeichen, um ein und das andere Recht, nicht weil es Vor-theil, sondern weil es Rechtsforderung war, zu interessiren, sich interessirenzu lassen, sich oft die Hälse zu brechen. Diesen Charakter wird auch die Ge-schichte Deutschlandes nicht verläugnen.28 Lange Zeit haben die Verfas-sungshistoriker der Neuzeit die Fransen dieses Ceremonienhimmelseher belächelt und kaum ernstgenommen. Das hat sich inzwischengründlich geändert. Symbolische Repräsentationen aller Art, Bilderund Symbole, Zeremonien und Rituale, Feste und Feiern sind zueinem äußerst beliebten Gegenstand der Geschichtswissenschaftengeworden.29 Man behandelt sie aber meist immer noch getrenntvon der ‹eigentlichen› politischen Geschichte: Den ‹weichen› The-men der symbolischen Kommunikation stehen die ‹harten› The-men des politischen Entscheidungshandelns gegenüber.30 Es gehtaber gerade darum, beides zusammenzubringen.

Der Spieß soll allerdings nun nicht einfach umgedreht werden –so als hätte die Verfassung des Reiches allein auf Symbolen, Zere-monien und Ritualen beruht. Es lassen sich vielmehr verschiedeneArten unterscheiden, wie die Ordnung eines Gemeinwesens aufDauer sichergestellt wird: erstens positiv-rechtlich, d. h. durch Ver-träge oder Gesetze; zweitens durch konkrete Verfahrenspraxis, d. h.durch die tatsächlichen Verfahren der kollektiv verbindlichen Kon-sens- oder Entscheidungsbildung; drittens theoretisch-diskursiv,d. h. durch gelehrte Deutung und Systematisierung, und viertenssymbolisch-rituell, d. h. durch die stets erneute feierliche, explizite

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Symbolik öffentlicher Herrschaftsrituale ebenso wie durch die im-plizite Symbolik des alltäglichen Verhaltens.31 Auf allen diesen Ar-ten der Verstetigung – positiv-rechtlich, verfahrenspraktisch, theo-retisch-diskursiv und symbolisch-rituell – beruhte die institutionelleOrdnung des Reiches, seine Verfassung im weitesten Sinne, undvon allen diesen Formen soll in diesem Buch die Rede sein. Zweifel-los ist die symbolisch-rituelle Form die älteste, archaischste Art derInstitutionalisierung. Sie entspricht einer Kultur der persönlichenAnwesenheit, und es ist zu vermuten, dass ihre Funktion abnahm,je mehr der Umgang mit schriftlichen Medien sich einbürgerteund effiziente formale Verfahren sich durchsetzten. Trotzdem – dasbringen die Zitate von Hegel und Herder zum Ausdruck – verblass-ten diese Formen im Reich der frühen Neuzeit nicht; sie wurden imGegenteil immer komplizierter. Die Frage ist daher, wie sich die ver-schiedenen Arten der institutionellen Verstetigung im Reich zuein-ander verhielten und wie sich ihr Verhältnis zueinander im Laufeder frühen Neuzeit veränderte.

Dieses Buch soll keine alternative Verfassungsgeschichte sein;es soll nur eine neue Perspektive dafür eröffnen.32 Es geht geradenicht von scheinbar immer schon festliegenden, abstrakten ins-titutionellen Kategorien aus – etwa: Kaiser, Kurfürsten, Fürsten,Stände –, sondern von Ereignissen, in denen diese Kategoriensichtbar in Erscheinung traten und manchmal auch neu austariertwurden. Es geht in diesem Buch auch nicht darum, ein Inventaraller zentralen Symbole und Rituale des Reiches aufzustellen. Sol-che Symbole gab es auf allen Ebenen der politischen Ordnung,vom Kirchengebet für den Kaiser in den Dorfgemeinden über dieReichsadler und -wappen an den reichsstädtischen Rathäusern,die Bilder von Kaiser und Kurfürsten auf den Adelsdiplomen bishin zu den prunkvollen Kaisersälen in den Residenzen von Fürst-bischöfen oder Reichsprälaten. Überall in den Territorien undStädten des Reiches findet man solche Präsenzsymbole, mit denenvor allem weniger mächtige Reichsglieder ihre Zugehörigkeit zumGanzen demonstrierten.33 Das alles muss hier außer Betracht blei-ben. Es geht vielmehr um die zentralen feierlichen Akte und Ver-fahren, in denen ‹das Reich› als Ganzes handelnd in Erscheinungtrat.

Das Buch ist weder systematisch noch durchlaufend chronolo-gisch aufgebaut. Es enthält vielmehr vier aufeinanderfolgende ein-

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zelne Momentaufnahmen. Viermal wird sozusagen die mikrohisto-rische Lupe auf besonders signifikante Symboldaten gerichtet: aufden sogenannten Wormser Reformreichstag von 1495, auf denAugsburger Reichstag der Confessio Augustana von 1530, auf denersten Reichstag nach dem Westfälischen Frieden in Regensburg1653/54 und auf die Jahre der Königswahl, Krönung und Thron-folge Josephs II. 1764/65. Diese Auswahl ist erklärungsbedürftig.Die Reichstage von 1495, 1530, 1653/54 und die Jahre 1764/65sind traditionell als Marksteine der deutschen Verfassungsgeschich-te aufgefasst worden. Bei allen vier Daten handelt es sich um histo-rische Momente, in denen die Situation in besonderer Weise offenerschien für Veränderungen, was einigen handelnden Personenauch durchaus bewusst war.

Der Reichstag Maximilians I. in Worms 1495 steht für eine Phasegesteigerter institutioneller Verdichtung, die frühere Historiker als‹Reichsreform› bezeichnet haben. Hier wurde eine Reihe von insti-tutionellen Regelungen ausgehandelt und festgeschrieben, die dasReich der frühen Neuzeit prägen sollten. Der Reichstag Karls V. inAugsburg 1530, auf dem die Protestanten seit fast einem Jahrzehnterstmals wieder mit dem Kaiser in Person zusammentrafen und ihmdie Augsburgische Konfession übergaben, markiert eine Weichen-stellung der Reformationsgeschichte; hier wurde das Verhältnis zwi-schen reformatorisch gesinnten Ständen und Kaiser auf eine neueGrundlage gestellt. Der Reichstag, den Ferdinand III. im Anschlussan den Westfälischen Frieden 1653 nach Regensburg einberief,beendete in gewisser Weise den Dreißigjährigen Krieg im Reich erstwirklich; hier versuchten Kaiser und Stände die in Münster undOsnabrück offengebliebenen Fragen zu lösen und die künftigeFriedensordnung auszutarieren. Die Jahre 1764–65 schließlich ste-hen für eine mehrfache Zäsur: Der Siebenjährige Krieg war ebenbeendet worden und hatte die Gewichte neu verteilt. Es standeneinander innerhalb des Reiches nun dauerhaft zwei rivalisierendeGroßmächte gegenüber, die sich auf große Territorienkomplexeaußerhalb des Reiches stützen konnten. Mit Joseph II. wurde 1764ein Mann zum Römischen König gewählt und folgte 1765 seinemVater auf den Thron, der ein neues Verständnis von Regierungsamtund Kaisertum hatte. Die traditionsreichste weltliche Würde dereuropäischen Christenheit wurde fortan von einem der entschie-densten Antitraditionalisten und Antiritualisten bekleidet.

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Verfassungsgeschichte als Ritualgeschichte?

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Die Auswahl dieser Symboldaten bedeutet keineswegs, dass diesetwa die einzigen oder wichtigsten Marksteine der Reichsgeschich-te gewesen wären. Man hätte auch andere wählen können, undviele wesentliche Entwicklungen werden von diesen Symboldatennicht angemessen erfasst. Alle diese Daten haben aber etwas ge-meinsam: Kurz zuvor waren äußere Konflikte (wenigstens vorüber-gehend) beigelegt worden. Die Ordnung des Ganzen war in höhe-rem Maße herausgefordert als sonst. Nun mussten die Erwartungender Handelnden neu justiert werden. In diesen Momenten kam esin verschiedener Hinsicht darauf an zu definieren, was ‹das Reich›eigentlich war, und den eigenen Ort im Ganzen zu behaupten, zuverteidigen oder zu verändern. Das aber – so meine These – ge-schah nicht zuletzt mit symbolischen Mitteln.

Die wichtigsten Schauplätze, auf denen sich diese symbolischenAuseinandersetzungen abspielten, waren bis in die zweite Hälftedes 17. Jahrhunderts hinein die Hof- bzw. Reichstage – Versamm-lungen und zugleich Verkörperungen des ganzen Reiches an wech-selnden Orten. In ihnen wurde ‹das Reich› vorübergehend zu einerwahrnehmbaren, konkreten Realität. Hier fanden nicht nur Bera-tungen über die wichtigsten gemeinsamen Anliegen statt, hier wur-den auch Reichsfürsten mit ihren Territorien belehnt, hier wurdeder Römische König oder der Kaiser gewählt und gekrönt. Feier-liche Reichstagseröffnung, Verleihung der fürstlichen Reichslehen,Königswahl und Krönung waren die zentralen Herrschaftsritualedes Reiches. Indem sie sich in althergebrachten symbolisch-rituel-len Formen vollzogen, erinnerten sie an früheres Handeln undstellten die Beteiligten in eine Ordnung hinein, die älter war als sieselbst. So hat es schon Leopold von Ranke gesehen: «FeierlicheHandlungen dieser Art haben das Eigene, dass sie mit der Bedeu-tung, die sie für den Moment haben, unmittelbare Beziehungen zuden fernsten Jahrhunderten verknüpfen.»34 Das galt paradoxer-weise auch und gerade dann, wenn die Traditionen tatsächlich un-terbrochen waren oder die Stabilität der Ordnung gefährdet war:Dann überbrückten Rituale solche Brüche und stellten symbolischeine Dauer her, die ohne sie gar nicht bestand.

Im Laufe der frühen Neuzeit fielen diese verschiedenen sym-bolisch-rituellen Akte – Krönungen, Reichstage, Belehnungen –räumlich und zeitlich immer mehr auseinander. Für die Spätphaselässt sich daher nicht mehr ein bestimmtes Ereignis in einem be-

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I. Einleitung

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stimmten Jahr an einem bestimmten Ort finden, das als Schauplatzdes Reiches schlechthin hätte gelten können. Vielmehr fanden im18. Jahrhundert die Reichstagsberatungen ausschließlich in Re-gensburg statt, die Belehnungen ausschließlich am Kaiserhof inWien und die Wahlen und Krönungen ausschließlich in Frankfurtam Main. Im vierten Kapitel wird deshalb nicht ein einzelnes Sym-bolereignis im Zentrum stehen; es werden vielmehr alle diese ge-trennten Orte als Schauplätze des Reiches thematisiert.

Die Quellen, auf die sich die Darstellung stützt, sind zum einenoffizielle Zeremonialbeschreibungen der Herolde und Zeremonien-meister, illustrierte Flugblätter und Flugschriften – schriftliche undbildliche Darstellungen des rituellen Geschehens also, die entwedervon den Akteuren selbst in Auftrag gegeben und an den Höfen he-rumgeschickt oder von Verlegern selbständig für einen breiterenMarkt produziert wurden. Es handelt sich dabei sozusagen um sym-bolische Verdopplungen der feierlichen Akte in einem anderenMedium, Inszenierungen der Inszenierungen, Symbolisierungenzweiter Ordnung. Andere Quellen sind schriftliche Reflexe des kon-kreten Handelns: Protokolle, Korrespondenzen, Tagebücher usw.Die selbstverständliche Perspektivität der verschiedenen Darstellun-gen ist dabei nicht – wie es oft geschieht – als methodisches Problemaufzufassen. Denn es geht ja gerade darum, verschiedene Deutun-gen und konkurrierende Auffassungen dessen, was die Ordnungdes Reiches sei, in den Blick zu bekommen.

Das Augenmerk soll daher auch weniger auf den Normalfall alsauf Bruchstellen und Konflikte gerichtet werden. Denn dann hat-ten die Beteiligten Anlass, die Spielregeln zu thematisieren, die siesonst meist nur unausgesprochen in ihrem Handeln befolgten. Aufdiese Weise kommt der flexible Charakter der symbolischen Praxisin den Blick, und man sieht, wie im Einzelfall politisch-soziale Gren-zen neu gezogen, Ordnungskategorien neu definiert und Geltungs-ansprüche neu austariert wurden. Auch wenn die traditionsreichenRituale es suggerieren – die Verfassung des Reiches war nichts Stati-sches, nichts Festes, nichts Objektives, sondern etwas, das von denAkteuren handelnd – aber selbstverständlich nicht voraussetzungs-los – ausbalanciert wurde: ein Tun mehr als ein Sein.35 Die Art undWeise, wie das geschah, veränderte sich im Laufe der drei Jahrhun-derte erheblich. Die Muster des Handelns wurden starrer, die Mög-lichkeiten der Veränderung geringer. In diesem Buch soll an einzel-

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Verfassungsgeschichte als Ritualgeschichte?

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nen Punkten greifbar werden, was das eigentlich für die beteiligtenAkteure war, wie es ihnen erschien und wie sie es durch ihr Han-deln immer aufs Neue hervorbrachten, dieses Heilige RömischeReich Deutscher Nation.

I. Einleitung