Barraux, Roland - Die Geschichte Der Dalai Lamas (Patmos Verlag 1995, Buddhism Us, Deutsch

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Inhalt

Zum Geleit .......................................................................................................... 3Vorwort ............................................................................................................... 7

Erster Teil: TIBET ...............................................................................................10Das Volk - Herkunft und Verteilung der Bevölkerung............................. 11Die Zentralmacht ............................................................................................. 15Der Zusammenbruch der Staatsmacht .........................................................37Die mongolische Intervention....................................................................... 42Die Religion .....................................................................................................51Die Bon-Religion............................................................................................. 52

Der tibetische Buddhismus ............................................................................ 56Der Islam........................................................................................................... 60Das Christentum..............................................................................................65Die außenpolitischen Beziehungen (China, Indien, Nepal) .....................66

Zweiter Teil: DER BEGINN.............................................................................. 71I Gendün Drub 1391-1475............................................................................. 73II Gyalwa Gendün Gyatso 1475-1542/1543 ...............................................87III Gyalwa Sonam Gyatso 1543-1588 .........................................................98IV Yönten Gyatso 1589-1617 .....................................................................112

V Ngawang Lobsang Gyatso 1617-1682 ..................................................118VI Rigdzin Jamyang Gyatso 1683-1706 ...................................................149Dritter Teil DIE SUKZESSION......................................................................175

VII Kelsang Gyatso 1708-1757 ..................................................................183VIII Jampel Gyatso 1758-1804 ...................................................................207IX Lungtog Gyatso 1806-1815 ...................................................................230X Tsültrim Gyatso 1816-1837.....................................................................235XI Kedrub Gyatso 1838-1856.....................................................................243XII Trinle Gyatso 1856-1875......................................................................250

Vierter Teil IN DER SCHWEBE....................................................................258XIII Thubten Gyatso 1876-1933.................................................................261XIV Tenzin Gyatso seit 1935......................................................................329Anmerkungen.................................................................................................380Wichtige chronologische Daten..................................................................391Bibliographie ..................................................................................................404

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Zum Geleit 

Der Titel Dalai Lama, ein gleichzeitig fremd anmutendes unddoch vertrautes Wort, wird von den Tibetern selbst kaumverwendet (der Ausdruck stammt aus der mongolischenSprache), ist aber im Westen bestens bekannt, vor allem seit dervierzehnte Träger, Tenzin Gyatso, 1989 mit dem Friedens-Nobelpreis ausgezeichnet worden ist.

Wer sind diese Dalai Lamas? Fürsten aufgrund adligerGeburt? Nein. Gewählte Würdenträger? Ebensowenig. LebendeGottheiten? Nicht eigentlich. Es handelt sich immer um ein unddieselbe Person, die immer wieder, von Leben zu Leben, alssolche anerkannt wird! Die Dalai Lamas sind für unsEmanationen des Buddha Avalokiteshvara, des Symbols desMitleidens. Seit dem fünften Dalai Lama erfüllen sie eine nichtmehr nur geistliche, sondern auch politische Aufgabe als

Herrscher über Tibet. Darin kommt der Rang der Dalai Lamas inunserer Kultur zum Ausdruck. Seit das kommunistische Chinaunser Land überfallen hat, ist die sinnbildliche Bedeutung desvierzehnten Dalai Lama noch gewachsen: Als unserunbestrittenes geistliches und weltliches Oberhaupt ist er auchdas lebendige Symbol unserer nationalen Einheit, der tiefsteSeinsgrund unseres Volkes und unserer Kultur.

Roland Barraux stellt die Geschichte dieser Dalai Lamas im

vorliegenden Buch dar. Eine solche Pionierleistung hat von ihmhöchsten Einsatz verlangt. Viele Dokumente in französischerund vor allem in englischer Sprache mußten gesammelt undausgewertet werden. Der Verfasser selbst ist nicht Tibetologe,weshalb er die tibetischen Quellen nicht nutzen konnte. MancherLeser mag das bedauern, doch Barraux behandelt das Thema mitvon Sympathie getragener wissenschaftlicher Strenge. So ist esihm gelungen, ein lebendiges Bild der jahrhundertealten

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tibetischen Gesellschaft zu entwerfen, da und dort mitdichterischer Kraft, ja lyrischem Schwung. Ob er von dertibetischen Lebensweise angesteckt worden ist? Im Namen

meiner Landsleute möchte ich ihm herzlich danken. SeineArbeit wird zu einem besseren Verständnis für unser Land mitseinen so besonderen Eigenarten sowohl im politischen als auchim geistlichen Bereich beitragen. Haben denn nichtausgerechnet wir das Fleisch gewordene Mitleiden als unserehöchste Autorität gewählt? Es wäre zu wünschen, daß sich einsolches »politisches Programm« über die ganze Erde ausbreite,damit alle Wesen endlich in Frieden und Glück leben dürfen!

Dagpo Rimpoche Lobsang Jamphel Jhampa GyamtshogLehrer bei der INALCO

L'Haÿ-les Roses, 29. Juni 1993

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Bemerkung zur Transkription der tibetischen Sprache 

Die Übertragung tibetischer Ausdrücke und Namen ist nichteinfach und vor allem auch nicht einheitlich geregelt. AlleNamen und Begriffe werden deshalb so wiedergegeben, daß siefür einen deutschsprachigen Leser verständlich und gleichzeitigder tibetischen Phonetik ähnlich sind: che ist als tsche, j alsdsch, w als u auszusprechen.

Ein Akzent, beispielsweise é, gibt die betonte Silbe an. s amAnfang eines Wortes ist als ss auszusprechen.

Für die meisten Eigennamen und einige geläufige Ausdrückegeben wir im Sachverzeichnis in Klammern die Schreibweisewieder, die uns vom Vertreter seiner Heiligkeit, des Dalai Lama,empfohlen worden ist und die phonetisch die genaueste ist.

Die indischen, mongolischen und chinesischen Ausdrückeund Namen geben wir auf die im deutschen Sprachraum übliche

Weise wieder, die in Einzelheiten von den wissenschaftlichenNormen oder der heute von China propagierten Schreibweiseabweichen kann.

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Vorwort 

Über die Geschichte Tibets läßt sich nicht berichten, ohne daßman auch rätselhafte Geschehnisse und Legenden einbezieht.Sogar in der tibetischen Landschaft vermischen sich Traum undWirklichkeit, Himmel und Erde, der unverrückbare Fels und dasWehen des Windes zu einer ergreifenden Einheit, die man nur inseinem Innersten in den geheimnisvollen Harmonien der Poesieund des Gebets begreifen kann.

Es gibt einen See, dessen Wasser im Sommer anschwellen,

Er wird wie ein Mandala aus mit Gold eingelegtem Türkis.

Im Winter wird er wie ein Mandala aus reinem Bergkristall.

Ebenso wird er im Frühling und im Herbst

Durch zahllose mystische Zeichen verherrlicht.

Seine Mitte ist wie die Nabe eines Rades,Von der Wellen in Kreisen ausgehen,

Sie breiten sich aus und verschmelzen

Am Rande des Rades ineinander.

Sie lehren den Dharma, ohne Worte zu benötigen.

Die Tibeter sind ein Volk der Legenden, der Erzählungen,einer nie vollendeten und fortwährend erneuerten Mystik, sieschöpfen aus sich selbst die Energie, um voll leben, um auchschlimmste natürliche oder menschliche Widerwärtigkeitenüberleben zu können. Sie sind fröhlich, glücklich, mit einemLächeln auf den Lippen, wie man es sonst nirgendwo mehrantrifft. Die Tibeter sind immer bereit, an ein Wunder zuglauben; Geschichten von wunderbaren Dingen haben einen

besonderen Zauber für sie; sie reißen nicht wie westliche

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Menschen die Augen auf, sondern kneifen sie zusammen, alswürden sie vom Unendlichen geblendet.

Die Träume, verbunden mit verschiedenen Äußerungen einer

tiefen Gläubigkeit, sind im tibetischen Hochland allgegenwärtig:Stangen mit langen und hängenden flammenförmigen Flaggenoder mit beschrifteten Wimpeln durchziehen ein Tal von einemBerg zum anderen; der Wind bringt diese Segel zum Klingen,und die ihnen aufgedruckten Gebete lösen sich von ihnen ab undtragen überallhin die Gewißheit, daß man ein Volk und in einund derselben Kultur miteinander eins ist.

Tibet ist auch ein Glaube. »Niemand kann Tibet ohne einigeKenntnisse unserer Religion verstehen«, sagt der vierzehnteDalai Lama. Zweieinhalb Jahrtausende Verkündigung undAuslegung der Philosophie von Shakyamuni Siddharta, dieBesonderheiten der beiden wichtigsten Strömungen, Mahayanaund Hinayana, und die verschiedenen Schulen des tibetischenBuddhismus lassen sich freilich nicht in einigen wenigen Sätzenzusammenfassen. Die verheißene Erleuchtung ist die

Vollendung einer langen und geduldigen Anstrengung, die manin sich selbst erbringen muß. Jedes menschliche Sein trägt dasSamenkorn der Buddhaschaft und die Möglichkeit derErweckung in sich. In der unüberschaubaren menschlichenBaumschule gibt es jedoch Gärtner, die vollkommener alsandere sind, weil sie tiefer in die Grunderkenntnis vorgedrungensind. Gurus, Lamas, Tulkus, Rimpoches sind die Meister, dochdas Wissen, das sie erwerben durften, hat seinen Preis:»Durchsichtig wie Regenbogen, allgegenwärtig und vonWissen, Liebe und Kraft vibrierend«, ist der Geist derErleuchtung in ihnen nur dazu da, alle anderen Lebewesenaufzurichten und zu erbauen.

Dilgo Khyentse Rimpoche war einer der hervorragendstenunter diesen Meistern des Wissens und der Güte. Wissen undGüte fanden bei ihm ihren Ausdruck in einem Lächeln voller

sanfter Ausstrahlung. Als gelehrter Kenner der buddhistischen

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Erster Teil: TIBET 

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Das Volk - Herkunft und Verteilung der Bevölkerung 

Vom Himmel war es das Zentrum, von der Erde die Mitte,vom Land das Herz, um die Gletscher ein Gürtel und von allenFlüssen die Quelle. Hoher Berg, reine Erde und hervorragendesLand. Ein Ort, wo die weisen Menschen als Helden zur Weltkommen, wo ausgezeichnete Sitten herrschen, wo die Pferdeschnellfüßig werden.1 

Die dunklen Wolken der Vergangenheit haben zuerst Mythenmitgebracht; wie Blütenstaub die Pflanzen hervorbringt, lassenLegenden die Menschen entstehen. Und das allererste Wesenwar ein Gott.

»Die Erde ist von den Göttern erschaffen worden; einigedieser Götter-Berge sind auf die Erde heruntergekommen undhaben die Tiere, die Pflanzen, die ersten Menschenwesen mit

sich gebracht.«2 Der in Tibet überall gegenwärtige und noch immer als heilig

betrachtete Berg hat als Schöpfer eine Rolle gespielt. Er stelltden Weg vom Himmel dar, auf dem derjenige zur Erde gelangtist, der ausgesandt worden war, um die Menschheit Wirklichkeitwerden zu lassen. Auf einer Leiter, einem mit Einkerbungenversehenen Baumstamm, wie er in Tempeln und Häusern noch

immer benutzt wird, oder an einem Tau, dem  Mu der Bönpo-Chronik, ist eine Person von oben herabgestiegen. Und siewurde König.

Laut einer anderen Version indischen Ursprungs entsandteChenresi, der Bodhisattva des Mitleidens, seinen Schüler, einenAffen, der den Zustand der Heiligkeit erreicht hatte, nach Tibet,um in den Bergen eine Einsiedelei zu gründen. Während dieserAffe in der Höhle, in der er sich niedergelassen hatte, meditierte,

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hörte er aus den Felsen Schreie, die von einem Wesen in Notausgestoßen worden waren; er entdeckte eine Dämonin undempfand Mitleid mit ihrer Einsamkeit. Chenresi erlaubte ihm,

sie zu heiraten. Sie hatten sechs Kinder, die zweierleiEigenschaften in sich vereinigten: die edlen Züge des Vaters,nämlich Großmut, Tapferkeit, Mitleid, und die Wesensart, dieihre Mutter aus ihrer unterweltlichen Heimat mitgebracht hatte,Gier, Neid, Wollust. Die Kinder ihrerseits hatten wiederumNachkommen, aus denen das tibetische Volk entstand.

So stellen sich die Bewohner des tibetischen Hochlandes ihreHerkunft vor, denn »vor dem Ende des 6. Jahrhunderts unsererZeitrechnung ist keine datierbare Geschichte möglich«3.

Nach einer anderen Legende soll Tibet ganz am Anfang vonWasser überflutet gewesen sein. Als dieses allmählich abfloß,blieben die vielen heutigen Seen zurück; auf dem trockenenLand wucherte ein Wacholder-Wald. Einer alten Überlieferungzufolge entstanden im Südosten der tibetischen Hochebene, imfruchtbaren Tal des Yarlung-Tsangpo (der Strom erhält den

Namen Brahmaputra, sobald er die Himalaja-Kette durchbricht),die ersten menschlichen Siedlungen. Laut anderen Erzählungensind die sechs ursprünglichen Stämme, zu denen dann der erstevom Himmel herabgestiegene König stieß, weiter östlich, in derRegion Amdo, in das heutige Gebiet eingedrungen. DieseOrtsangabe könnte freilich damit zusammenhängen, daßmehrere Reinkarnationen von Lamas, unter ihnen auch dergegenwärtige Dalai Lama, der beim Kukunorsee zur Weltgekommen ist, aus dieser Gegend stammen.

Die Chinesen siedeln die Ahnen der heutigen Tibeter, die sieals K'iang (oder Tschiang) bezeichnen, in einem benachbartenGebiet an, nämlich in der Region Kham. Chinesische Historikerberichten von riesigen Steinbauten in diesem Land,Familienwohnsitzen oder Festungen, die möglicherweise dieVorbilder der tibetischen Architektur sind.

Völkerkundliche und sprachliche Beobachtungen gelangen

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zum Schluß, die heutige Bevölkerung sei ein aus Wandervölkernverschiedener Herkunft hervorgegangenes Gemisch. Die großeMehrheit der Tibeter ist von mongolischem Typ, eher

kleinwüchsig, ausgenommen in der Region Kham, wo dieMenschen größer sind, und in den westlichen Landesteilen, woman blonde Menschen mit blauen Augen antrifft.4 »Die Tibetersind eine von anderen verschiedene und unabhängige Rasse. Inunserem Körperwuchs, unserer Sprache und unserenGebräuchen unterscheiden wir uns grundlegend von unserenNachbarn; es bestehen keinerlei ethnische Beziehungen zuanderen Völkern in diesem Teil Asiens.«5 

Jedenfalls waren die Tibeter ursprünglich ein Nomadenvolk,Viehzüchter, die vielleicht zeitweilig als Bauern seßhaft wurden.Mehr noch, die geschichtlichen Wanderungen waren durchpolitische Ereignisse ausgelöst worden. Als sich ein königlichesMachtzentrum bildete, wurden Nomadenstämme angezogen;ihnen wurde die Bewachung der Grenzen des Königreichsanvertraut. Noch später sind andere Völkergruppen, die vor

Tschingis Khan und seinen Mongolen flohen, in das Gebieteingewandert. Sie lösten dynastische Veränderungen in denherrschenden Familien aus und verschmolzen schließlich mitden Einheimischen zu einem Volk, das seine Einheit in derReligion finden sollte.

Tibet ist ein riesiges Land, aber seine Grenzen sind nie genaufestgelegt und bis heute nicht klar gezogen worden. China hatseinen an Tibet angrenzenden Provinzen Landstrichezugeschlagen, die von den Tibetern als ihr Eigentumbeansprucht werden. Amdo und Kham gehören dazu, auch einTeil von Xinjiang (Sinkiang). In Ladakh, von der Tourismus-Branche als »Klein-Tibet« bezeichnet, lebt ein Volk, das vonseiner Kultur und seiner Lebensweise her den Tibetern sehr nahesteht.

Mit gegenwärtig 5.800.000 Quadratkilometern Fläche ist

Tibet mehr als zehnmal so groß wie Deutschland.

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In der Auseinandersetzung mit China geht es auch um dieFrage, welche Völker als tibetisch zu bezeichnen sind. Währenddie Anhänger eines Groß-Tibet die Zahl ihrer Landsleute auf 

ungefähr sechs Millionen schätzen, soll es auf dem Gebiet desder Volksrepublik China angegliederten autonomenTerritoriums nur eine Million und achthunderttausendEinwohner geben.

»Im Sommer hatten sie unter dem Regen und unter der Sonnezu leiden; im Winter unter dem Schnee und den Stürmen; ihnenfehlte es an Nahrung und Kleidung. Aus Mitleid brachte ihnender Bodhisattva Avalokiteshvara sieben Arten von Körnern:Buchweizen, Gerste, Senf, Weizen, Reis, Sesam und Erbsen.«6 

Lhasa liegt zwar ungefähr auf dem gleichen Breitengrad wieNordafrika, doch wegen seiner durchschnittlichen Höhe vondrei- bis viertausend Metern ist das tibetische Hochland für denMenschen ein äußerst rauhes Gebiet mit übermäßigenTemperaturschwankungen. Für den Ackerbau bleiben kaum vierMonate Zeit, und fruchtbare Böden finden sich nur in engen

Tälern oder an einigen bevorzugten Lagen, wo eine künstlicheBewässerung möglich ist.

Boden und Landwirtschaft prägen die Kultur Tibets. Damit istauch der Lebensrhythmus durch die Landarbeiten vorgegeben.Im Mai, wenn der Boden vom eben geschmolzenen Schnee nochfeucht ist, schwärmen die Dorfbewohner auf ihre Äcker aus, umsie für die künftige Ernte vorzubereiten. Vor die Pflüge werden

Yaks gespannt, deren Hörner zu diesem Anlaß mit rotenQuasten geschmückt werden: Farbtupfer voller Leben auf einerbraunen Erde, auf der sich die bunten Röcke der Frauengeschäftig hin und her bewegen.

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Die Zentralmacht 

Die Nachkommenschaft des Abgesandten des Himmels undder aus den Eingeweiden der Erde stammenden Dämoninorganisierte sich in Stämmen. Diese spalteten sich je nachBedürfnis und Umständen in kleinere Einheiten auf undbezeichneten sich mit verschiedenen Namen, zum Beispiel nacheinem Ereignis, das ihr Leben oder ihre Wanderschaftgekennzeichnet hatte; oft stammte dieser Name aber auch von

einer Erfindung oder einer Einrichtung, die ihre Lebensweiseverändert hatte: Waffen, Geräte für den Ackerbau, domestiziertePferde.

»Zu dieser Zeit gab es bei den Menschen in Tibet noch keinenHerrscher.« 7 

Die ersten Häuptlinge, in der mündlichen ÜberlieferungKönige, kamen vom Himmel, zu dem sie weiterhin Beziehungen

unterhielten; über ein göttliches Seil - vielleicht eineAusdeutung des Regenbogens - stiegen sie des Nachts undendgültig bei ihrem Tod zum Himmel hinauf. Deshalb erhieltensie auch kein Grab auf der Erde, freilich nur bis zu jenem Tag,als König Drigun, ein stolzer, cholerischer Mann, dessenwichtigstes Vergnügen die Veranstaltung von Turnieren oderDuellen war, das Himmelsseil mit einer unkontrolliertenBewegung seines Schwerts8 durchtrennte. Er wurde im Tal der

Könige in der Nähe der heutigen Stadt Tsethang beigesetzt. Manhat dort Gräber mehrerer Könige entdeckt. Anhand vonGegenständen und Geräten, die den Verstorbenen mitgegebenworden waren, ließen sich die Begräbniszeremonienrekonstruieren.

Dieser langlebigen Yarlung-Dynastie ordnen Legende undGeschichtsschreibung dreiunddreißig Könige zu. Einer der

frühesten, Nyatri Tsenpo, ein Sohn von Drigun, soll um das Jahr

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130 vor unserer Zeitrechnung das Schloß Yumbu-Lakang, zwölf Kilometer südlich von Tsethang, errichtet haben. Die auf einemfelsigen Gipfel angelegte Festung wurde in ein Kloster

umgewandelt, als man die Hauptstadt nach Lhasa verlegte. Manmuß jedoch eher annehmen, daß der Bau aus dem 6. Jahrhundertstammt, worauf auch eine Datierung der Quader hinweist, ausdenen die ursprünglichen Fundamente bestehen; auf Verzierungen sieht man noch den vom Himmel herabsteigendenKönig, doch auf den Wandmalereien wird er von Yak-Hirten auf den Schultern getragen und als Prediger neben einembuddhistischen Stupa dargestellt.

Chinesische Chroniken berichten von Taten und Maßnahmenbestimmter Personen, die als Begründer der tibetischen Kulturangesehen werden. So gilt Rulakye, der von geheimnisvollenGeschehnissen umwitterte Sohn einer Königin, die ihn beieinem Besuch auf einem heiligen Berg von einem weißen Yakempfangen haben soll, als der Begründer einer Dynastie vonPremierministern: Sieben von diesen zeichneten sich durch

Weisheit aus; sie unterstützten die Könige bei der Verwaltungdes Landes und führten insbesondere neue Arbeitsmethoden ein.

Rulakye unterstellte das Vieh dem Gesetz [vermutlich nahmer eine Zählung vor, um Steuern erheben zu können] und sorgtedafür, daß Futter auch im Winter vorhanden war, indem erGarben [wahrscheinlich Stroh- und Heuballen] herstellte. Er ließden Boden in den grasreichen Ebenen umpflügen, so daß Äckerentstanden, und nahm die Bergkuppen in Besitz [er ließ darauf Häuser und Festungen errichten]. Vor ihm hatte man in Tibetweder Gras noch Getreide geerntet. [...] Laut anderen Berichtenbegann Rulakye mit der Herstellung von Holzkohle ausBäumen; er verwendete sie, um Erze zu schmelzen und ausihnen Gold, Silber, Kupfer und Eisen zu gewinnen. Er brachteim Holz Löcher an und stellte so Pflüge und Joche her. Er brachdie Erde auf und leitete die Gewässer aus den Bergtälern in

Kanäle. Er spannte zwei Ochsen vor den Pflug. Über Flüsse

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ohne Furten ließ er Brücken schlagen.

Andere Chroniken wissen zu berichten, zur Zeit des KönigsTride Tsukten habe der Premierminister die Wasserversorgung

organisiert. Das Wasser wurde während der Nacht in Teichengesammelt und tagsüber nach Vorschriften verteilt, für die es ananderen Orten in Asien, etwa in Ladakh oder Afghanistan,Vorbilder gibt. Schließlich wurden für den GetreidehandelHohlmaße eingeführt.

Einer der letzten Könige dieser mythischen Dynastie, NamriSongtsen, soll die chinesischen Wissenschaften und die

Kriegskunst in Tibet eingeführt haben.Die Yarlung-Dynastie überdauerte ungefähr achtJahrhunderte. Von König Songtsen Gampo an, der von 618 bis649 regierte, erhält die Chronologie eine gewisseGlaubwürdigkeit. Er hat in Lhasa eine wirkliche Hauptstadt desKönigreichs errichtet und sein Land um verschiedene kulturelleund politische Neuerungen, so auch den Buddhismus,bereichert.

Nach Kriegen mit China im Norden und Nepal und Indien imSüden hat Songtsen Gampo vermutlich eingesehen, daß vonaußerhalb neue Methoden und Zielsetzungen übernommenwerden mußten. Etwas schematisierend läßt sich sagen, daßwährend seiner Herrschaft von China her die profaneGesetzgebung und von Indien her die religiösen Vorschriftenentscheidend beeinflußt wurden. Von den Chinesen übernahm er

die Kunst der Wahrsagung, gewisse medizinischeGrundkenntnisse und viele Gesetze. Nach Indien entsandte erunter der Führung eines Gelehrten, Thönmi Sambhota, siebenWeise. Der Gelehrte befaßte sich mit Sanskrit und brachte einAlphabet mit nach Hause, das Devanagari9 zum Vorbildgenommen hatte, eine von der indischen Dynastie der Guptaanerkannte Schrift, und das nun für die tibetische Spracheeingeführt wurde: Damit erhielt die tibetische Kultur ihre erste

Schrift. Mit ihr gelangten die heiligen Texte ins Land. König

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Songtsen Gampo hat die Institutionen und Gesetze rechteigentlich kodifiziert, von der Rangordnung der Minister überdie Belohnungen und Strafen für gute und schlechte Taten, die

Zählung der Nutztiere und der Joche, um auf diese Weise einVerzeichnis der Weiden und Äcker zu erstellen, bis hin zu denVorschriften über die Nutzung der Bäche und Flüsse, dieGewichte, die Steuern usw.

Dieser Monarch war auch der erste, der aus politischenGründen der Staatsräson Ehen einging. 635 heiratete er einenepalesische Prinzessin, Tritsun Bhrikuti Devi. Aus dem im Talvon Katmandu vorherrschenden Volk der Newar10 war eineneue Dynastie hervorgegangen, welche die Macht von dengeschwächten Lichavi übernommen hatte. Diese hatten dasLand dreihundert Jahre lang regiert. Die Newar hatten denBuddhismus angenommen, aber die für den Brahmanismuskennzeichnende Sozialstruktur, insbesondere das Kastensystem,beibehalten. Die Tochter des Königs Amshuvarman, einesaufgeklärten und toleranten Herrschers, hatte sich ebenfalls zum

Buddhismus bekehrt. Ihr Vater war damit einverstanden, sieSongtsen Gampo, der eine Delegation nach Nepal entsandthatte, zur Frau zu geben. Tritsun Bhrikuti Devi verließ ihrewarme und feuchte Heimat und überquerte die hohen Pässe desHimalaja. In ihrem Gepäck brachte sie eine Buddha-Statue mit.Und sie bemühte sich sogleich um die Bekehrung ihres Gatten.

Auf chinesischer Seite waren die Verhältnisse eher etwaskomplizierter.

Die Zerstückelung des chinesischen Reiches, die kostspieligenKriege gegen die Türken in Zentralasien und die Koreaner imNordosten führten dazu, daß eine neue Dynastie an die Machtkam. Diese Herrscherfamilie der T'ang, die von 618 bis 906 dieMacht ausübte, förderte die Künste, die Wissenschaften und dieLiteratur, aber sie litt unter Palastintrigen, Aufständen undinsbesondere Zusammenstößen mit neuen und fremden

Gemeinschaften, zuallererst mit den Tibetern.

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König Songtsen Gampo hatte nicht nur die Einheit und dieAlphabetisierung seines Landes vorangetrieben, er baute aucheine militärische Organisation auf, dank der Tibet zu einem

Machtfaktor auf der internationalen Szene wurde. Außer den»Wächtern der vier Himmelsrichtungen«, die inTausendschaften an den Grenzen wachten, hatte er die Bauernim Landesinneren ebenfalls dazu verpflichtet, sich inTausendschaften an der Aufrechterhaltung der inneren Ordnungzu beteiligen.

Im Laufe der Zeit unterwarf der Monarch die kleinentürkischmongolischen Oasen seinen Gesetzen: Turfan (Turpan),Khotan (Hotan), Kucha. Diese Ausweitung seinesHerrschaftsgebietes hatte Reibereien mit den Chinesen zurFolge. Nach mehreren Geplänkeln gelang es ihm 634, demersten T'ang-Kaiser, T'ai-Tsung, in der Gegend des Kukunorseeseine schwere Niederlage zuzufügen. Daraufhin wurde einechinesische Delegation zu ihm entsandt. Der Tibeter fühlte sichstark genug, um für sich eine chinesische Prinzessin als Gattin

zu beanspruchen. Doch der Kaiser war von der wirklichenSchlagkraft der neuen tibetischen Machthaber noch nicht vollüberzeugt. Er lehnte das Ansinnen ab. Songtsen Gampounternahm neue militärische Operationen bis an die chinesischeGrenze. Der Kaiser gab nach und schickte seine Adoptivtochternach Lhasa.

Die Prinzessin Wen Cheng unternahm eine lange undglorreiche Reise durch ihr neues Heimatland und kam im Mai641 mit großem Gefolge in der Hauptstadt Lhasa an.

Ihre Karosse fuhr durch ein Ehrenspalier, das sich längs derStraßen aufgestellt hatte. In der vordersten Reihe standenWürdenträger, Notabein, Offiziere und Beamte in mit Ordenüberladenen Uniformen und in allen Farben schillerndenGewändern. Akrobaten, Musiker und Tänzer sorgten fürUnterhaltung und hielten die Begeisterung einer gefühlvoll und

herzlich dem Zug zujubelnden Volksmenge in Schwung. Auch

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Schutz der Prinzessin Wen Cheng zählen und wählten dengleichen Weg wie sie nach Lhasa. Nach ihrer Rückkehr warKaiser T'ai-Tsung von den erzielten Ergebnissen derart

befriedigt, daß er sich sogleich entschloß, eine weitereDelegation nach Lhasa zu entsenden. Diese hatte weniger Glückals die erste. Sie wurde von Truppen jenes Königs angegriffen,der im nordindischen Staat Maghada die Macht an sich gerissenhatte. Songtsen Gampo, der rasch davon erfuhr, sandte demchinesischen Botschafter, der dem Massaker entkommen war,eine kleine Armee von 1200 Soldaten zu Hilfe, so daß er zuseinem kaiserlichen Meister zurückkehren konnte.

Die beiden Königinnen aus China und Nepal versuchten nunmit vereinten Kräften ihren königlichen Gemahl davon zuüberzeugen, daß er die alte Bon-Religion seiner Ahnen aufgebenund sich zum Buddhismus bekennen sollte. Songtsen Gampounternahm, um seinen Gemahlinnen zu gefallen, großeAnstrengungen auf dem Gebiet des Bauwesens; dank ihm erhieltLhasa allmählich das Aussehen, das es bis heute bewahrt hat.

Auf dem roten Hügel entstanden die Fundamente des Potala; dieTempel von Ramoche und Jokhang wurden für die Aufnahmeder heiligen Buddha-Statuen errichtet. Das vielleicht deutlichsteZeichen dieses grundlegenden kulturellen Wandels gab derKönig selbst: Er legte die traditionelle Kleidung aus Tierhäutenund Wolle ab und trug von da an feine und warme seideneGewänder.

Neben seinen beiden Gattinnen aus China und Nepal hatteSongtsen Gampo noch drei tibetische Frauen; diese brachten dieKinder zur Welt, welche die neue tibetische Königsdynastiebegründeten.

Man kann sich fragen, welche Auswirkungen alle diese vonSongtsen Gampo eingeleiteten Initiativen hatten. Die mündlicheÜberlieferung weiß insbesondere zu berichten, daß währendseiner vierzigjährigen Herrschaft die Regeln der tibetischen

Schrift und Grammatik festgelegt wurden. Grundsätzlich

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wurden jedoch zu dieser Zeit nur einige wenige Dokumenteverfaßt, die aber für die weitere Geschichte und Kultur Tibetsbesondere Wichtigkeit erlangten. Das bezeugt der erste

chinesischtibetische Vertrag, der zum Teil auf einer Stelefestgehalten ist, die noch immer im Zentrum von Lhasabetrachtet werden kann.

Die tibetische Geschichtsschreibung spricht diesem Königvon, wie wir im Zusammenhang mit der Annahme desBuddhismus noch sehen werden, heiligmäßigem Charakter vieleErrungenschaften zu, die jedoch sein ganzes Volk verwirklichthat. Durch solche Erfolge selbstbewußt geworden und bestärkt,getragen von einer Kultur, die dank der Schrift konkrete Formangenommen hatte, erwarb sich das tibetische Volk innerhalbeines knappen Jahrhunderts zahlreiche Kenntnisse undFertigkeiten, welche die Gesellschaftsstruktur festigten und dieSelbstbestätigung in vielen Bereichen förderten. WeiteKriegszüge der tibetischen Streitkräfte nach Norden und Südenwaren nur möglich, weil Pferde benutzt werden konnten.

Pferdehirten, vermutlich Mongolen aus der Region Amdo,kamen unter tibetische Herrschaft. Sie hatten äußerstwiderstandsfähige Pferderassen herangezogen, die denAktionsradius der Tibeter vervielfachten und dadurch derenAmbitionen neuen Auftrieb gaben.

Im Süden fanden die Tibeter Eisen für Waffen, Schutzpanzerund Werkzeuge. Sogar chinesische Geschichtsschreiberwunderten sich über die Qualität der tibetischen Waffen undGeräte: »Ihre Rüstungen sind hervorragend; sie bedecken denganzen Körper und lassen nur Öffnungen für die Augen frei.Auch kraftvolle Pfeilbogen und scharf geschliffene Klingenkönnen ihnen kaum etwas anhaben. Sie besitzen Bogen undSchwerter, Schilder, Lanzen, Rüstungen und Helme. Männerund Pferde tragen Panzerhemden von ausgezeichneterBeschaffenheit.«12 

Die zunächst formlose tibetische Gesellschaft aus vielen lose

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nebeneinander lebenden Familien strukturierte sich; esentwickelte sich eine Feudalherrschaft; das Staatsoberhauptmußte Mitarbeiter, treue Anhänger, heranziehen, stieß aber

bisweilen auch auf Fürsten, die ihm die Macht streitig machten.Die wachsenden und sich vervielfachenden politischen undadministrativen Aufgaben zwangen den König, gewisseBereiche zu delegieren und dadurch seine Macht zu teilen. Dieersten Premierminister beteiligten sich an der Politik.13 Derchinesische Kaiser versuchte solche Ansätze zu einer innerenSpaltung, die von mächtigen Sippen ausgingen, auszunützen,um Einfluß auf die dynastische Nachfolge auszuüben oder

Garnisonen an der gemeinsamen Grenze auf seine Seite zuziehen. Eine dieser Familien, die Gar, hatte dreißig Jahre langgroße Macht inne; ihr Eroberungsdrang wurde vom UrenkelSongtsen Gampos, dem König Dusong Mangdje, gestoppt. DasStaatsoberhaupt war zu einem richtigen militärischen Feldzuggegen sie gezwungen; die Überlebenden der Gar-Sippeflüchteten nach China, wo sie mit Titeln und Gunsterweisungen

überhäuft wurden.Kurz vor diesen Ereignissen, im Jahre 680, starb diechinesische Prinzessin Wen Cheng, die vier Könige auf demThron in Lhasa überlebt hatte, von denen freilich keiner direktvon ihr abstammte.

Obwohl eine neue dynastische Linie an die Macht kam, wastiefgreifende Veränderungen in der Geschichte und der KulturTibets auslöste, wurde in der tibetischen Überlieferung diekönigliche Chronologie der mythischen Monarchen Yumbu-Lakhang und Tsethang bruchlos fortgeführt.

Der fünfunddreißigste König, Gungsong Mangtsen, der nurfünf Jahre lang die Macht ausübte, setzte die Expansionspolitikauf Kosten Chinas in Richtung Norden und Osten fort. Die neuechinesische Kaiserdynastie der T'ang (618-906) mußte währendJahren Kriege führen und mit viel Fingerspitzengefühl

verhandeln, um die Vorstöße des nach Einheit strebenden

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  jungen tibetischen Staates einzudämmen. Lhasa war unterwegsin die große Zeit seiner »Sonnenkönige«.

Nach Mangsong Mangtsen (649-676) gelangte dessen Sohn,

Dusong Mangdje, auf den Thron, obwohl Verschwörer versuchthatten, ihn zugunsten seines jüngeren Bruders kaltzustellen, derauf Befehl des Premierministers von der Armee als Geiselfestgenommen worden war. Der neue Monarch nutzte dieGelegenheit, um seine Hausmeier zu entmachten und direkt zuregieren. Er unternahm Feldzüge nach Süden und versuchteauch, örtliche Revolten für seine Ziele auszunützen, aber er starb704 während einer dieser Expeditionen. Nach einem weiterenGerangel um die Macht begann die lange Herrschaft (704-754)von Tride Tsukten.

Dieser König versuchte die Politik der politischen Ehenfortzusetzen. Im Nordreich kämpften verschiedene Gruppen umdie Macht, was die Verhandlungen komplizierte. Kaiser Chong-Tson wollte einem König, den er als einen Vasallen betrachtete,keine legitime Tochter von erstem Rang zur Frau geben. Er

wählte eine Adoptivtochter oder Großnichte, Kin Ch'eng, dazuaus. Ein Dekret vom 19. Mai 707 legte bis in die Einzelheitendie mit dem Titel der jungen Braut verbundenen Privilegien fest:Einkommen, Zusammensetzung der Dienerschaft, Höhe derMitgift. Erst 709 oder 710 holte eine tibetische Delegation diePrinzessin ab.

König Tride Tsukten hatte sie für seinen Sohn bestimmt, der

aber vorzeitig starb. Und so heiratete er selbst die junge Frau;sie gebar ihm einen Sohn, der später als der bedeutende KönigTrisong Detsen in die Geschichte einging. Sie starb 759. Diebeiden Länder hatten sich jedoch in der Zwischenzeit aufgrundgemeinsamer Interessen durch einen Vertrag miteinanderverbündet. Die Muslime hatten ihren siegreichen Vormarsch inRichtung Zentral- und Südasien fortgesetzt. Indien und Tibetwaren gezwungen gewesen, chinesische Hilfe in Anspruch zu

nehmen, um diese Expansion einzudämmen.

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Trisong Detsen (755-797) verdankt Tibet seine politische,kulturelle und religiöse Eigenständigkeit, die es ihm ermöglichthat, seine Stärke und seine Einheit bis in die heutige Zeit zu

bewahren.Als energischer Kriegsherr reorganisierte er die Armee, so

daß sie zu einem beweglichen und wirksamen Werkzeug wurde.Eine straffe Verwaltung verschaffte ihm Informationen über alleEreignisse in den umliegenden Ländern. Er verfolgteaufmerksam die Konflikte zwischen dem chinesischen Kaiser SuTsong und dem Khan der Uiguren. Dieses Mongolenvolk hattedem chinesischen Herrscher geholfen, den Aufstand von NganLu-Chan niederzuschlagen, der als Militärgouverneur über dieWestprovinzen herrschte. Durch diese Einmischung der Uigurenin die chinesischen Angelegenheiten wurde allerdings diekaiserliche Macht, die schon durch die andauernden familiärenIntrigen der T'ang-Dynastie ausgehöhlt worden war, nochnachhaltiger geschwächt.

Trisong Detsen nutzte 763 die Gelegenheit, um die Hauptstadt

seiner Schwiegereltern, Tch'ang-An, zu besetzen. Die tibetischeArmee ließ die Stadt in Flammen aufgehen und war sounverschämt, einen neuen Kaiser auf den Thron zu setzen. DochBündnisse brechen so schnell zusammen, wie sie zustandekommen: Die Uiguren machten unversehens gemeinsame Sachemit den Chinesen; gemeinsam schlugen sie die Tibeter, siebemächtigten sich bei dieser Gelegenheit auch der Kriegsbeute,die sich bei diesen angehäuft hatte, und stellten die legitimeMacht nach einem Unterbruch von nur wenigen Wochen wiederher.

Andere Feldzüge weiteten die Grenzen des Königreichs aus.Es erstreckte sich schließlich von Afghanistan bis nachOstchina, vom Altai-Gebirge bis nach Indien und Bengalen.

Das wesentliche Verdienst von Trisong Detsen ist freilichnicht so sehr diese Bestätigung der Macht und der Bedeutung

seines Staates. Wichtig ist vor allem, daß er ihm durch die

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offizielle und endgültige Einführung des Buddhismus eine Seelegegeben hat. Die erwähnten Ehen mit einer chinesischen undeiner nepalesischen Prinzessin hatten die buddhistische Lehre

schon vor einem Jahrhundert in den höfischen und militärischenKreisen verbreitet. Man hatte eine religiöse Reform erstrebt, fürdie aber die alte Bon-Religion nicht mehr genügend Kraftaufzubringen schien. Die Kontakte mit den Uiguren, die den vonPersien ausgehenden Manichäismus angenommen hatten,zeigten bereits neue geistliche Perspektiven auf, die jedochschwer unter den militärischen Ereignissen zu leiden hatten.

Unter der früheren Herrschaft waren religiöse Rivalitätendurch Gerüchte gefördert worden, und das Unglück, das vieleder großen Familien und das ganze Volk getroffen hatte, wurdeder neuen Religion zugeschrieben.

Die Königin Kin Tch'eng war von Geschwüren befallenworden, und Kinder von Ministern wurden dahingerafft. Manmachte den Buddhismus für diese unverständlichenVorkommnisse verantwortlich, denn chinesische Mönche, die

durch das Aufkommen des Taoismus aus dem Kaiserreichvertrieben worden waren, und deren Schriften hatten ihm neuenAuftrieb gegeben. Der Premierminister, ein Bönpo-Anhänger,der während der Minderjährigkeit des jungen Trisong Detsen dieMacht ausübte, ging sogar so weit, das buddhistischeBegräbnisritual durch einen Erlaß zu verbieten.

Doch zur gleichen Zeit durchwanderten Mönche das Land, die

das Denken und die Lehre Buddhas verbreiteten. Der Vater desKönigs hatte nach einem Warntraum zwei Weise nach Indienentsandt und Mönche eingeladen, die in der Region des Kailashmeditierten. Dieser heilige Berg gehörte nun zum tibetischenHerrschaftsgebiet.

Von seiner Machtübernahme an zeigte Trisong Detsen, wennauch mit der notwendigen Vorsicht, Interesse für denBuddhismus. Er ließ Bücher aus dem Chinesischen und dem

Pali übersetzen und lud religiöse Meister aus Indien nach Tibet

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letzten Anstoß.  Huius regio, eius religio, damit wurde er zumKonstantin des buddhistischen Glaubens.

Der entscheidende Schritt wurde vermutlich 779 vollzogen;

nach einer Befragung von sieben Weisen aus dem Adel und denKreisen der Würdenträger wurde der Buddhismus zurStaatsreligion erklärt. Da sich die Beziehungen zu Chinaverbessert hatten, ließ der König weitere buddhistische Mönchenach Tibet kommen.

Weil die neue Religion aus zwei verschiedenen Ländern,China und Indien, gekommen war, gab es alsbald

Schwierigkeiten und Kontroversen zwischen den beidenStrömungen.

Padmasambhava und seine Jünger verfügten über einenVorsprung. Kaum war der Erlaß von 779 veröffentlicht,begannen sie mit dem Bau von Samye, einem beeindruckendenGebäudekomplex längs des Yarlung-Tsangpo (im oberenBereich des Brahmaputra) zwischen Lhasa und der früherenHauptstadt Tsethang.15 Der große Meister soll den Grundriß und

die innere Organisation des heute verschwundenen indischenTempels von Odantapuri in Bihar zum Vorbild genommenhaben. »Menschliche Arbeiter betätigten sich tagsüber, dieDämonen arbeiteten während der Nacht, und so machte dasgigantische Werk rasche Fortschritte.« Die Arbeiten erstrecktensich über nicht weniger als zwölf Jahre und waren nur möglichdank freiwilligen und großzügigen Zuwendungen der Minister,

der Königinnen und aller hohen höfischen Würdenträger.Padmasambhava hatte schon vor Vollendung des Bauwerksmit der Ausbildung von Mönchen begonnen. Den Anfangmachten zwölf junge Inder und sieben Tibeter. Beim Volkstellte sich rasch ein Erfolg ein. Dazu trugen dieanpassungsfähigen Grundsätze und das Prinzip einer Vergeltungder guten und bösen Werke in einem künftigen Leben bei. DerErfolg und Meinungsverschiedenheiten über die Lehre führten

zu einer Auseinandersetzung mit Anhängern der chinesischen

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geringste Irrtum zu entdecken. Mönche wie Laien sollen von jetzt an das Recht haben, nach diesem Gesetz zu leben und sichin ihm einzuüben.«

Der Wille des Königs reichte freilich nicht aus, um diebuddhistischen Institutionen in der tibetischen Gesellschaftendgültig zu verankern; sie waren noch zu stark in Entwicklungbegriffen, und die erst spärlichen Lehrstrukturen reichten nochnicht aus, Tibet zusammenzuhalten. Der große König starb 797,kurze Zeit nach dieser religiösen Auseinandersetzung. DieChronologie der unmittelbaren Nachfolge ist ungewiß. SeineSöhne, Muni Tsenpo (797-800?) und Tride Songtsen (800-815?), hinterließen wenig Spuren; der letztere wurde vermutlichermordet.

Der nächste Monarch, Tritsug Detsen Ralpachen (815-838),ist durch eine Tat in die Geschichte eingegangen: Er schloß mitChina einen Friedensvertrag ab (821/822), der in der tibetischenund der chinesischen Version auf einer Säule vor dem Jokhang-Tempel in Lhasa erhalten geblieben ist. Das Abkommen wurde

zu einer Art Grundgesetz, das dem Buchstaben nach währendJahrhunderten die Beziehungen zwischen den beiden Ländernregelte, aber auch immer wieder neu interpretiert werden mußte.

Der Großkönig von Tibet, der Göttliche und WundertätigeHerrscher, und der Großkönig von China, der chinesischeSouverän Huang-Ti, von ihrer verwandtschaftlichen Beziehungher Neffe und Onkel, sind sich über eine Allianz zwischen ihren

Königreichen einig geworden.

16

Sie haben ein wichtigesAbkommen abgeschlossen und ratifiziert. Alle Götter und alleMenschen sollen wissen und bezeugen, daß es nie verändertwerden kann; und die Geschichte dieses Abkommens ist auf dieser steinernen Säule eingraviert worden, damit diekommenden Zeitalter und Generationen davon Kenntnis haben.

Der Göttliche und Wundertätige Herrscher Tritsug Detsen undder chinesische König Wen Wu Hsiao-Te Huang-Ti, Neffe und

Onkel, haben in ihrer unermeßlichen Weisheit versucht, zum

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Zwischen den beiden Ländern wird man weder Rauch nochStaub sehen. Es wird kein plötzlicher Ruf nach den Waffenerschallen, und das Wort »Feind« wird nicht ausgesprochen. Die

Grenzwachen ihrerseits müssen sich weder beunruhigt fühlennoch sich fürchten, sie können nach Belieben arbeiten undausruhen. Alle werden in Frieden leben und zehntausend Jahrelang den Segen des Glücks erfahren. Alle Orte, die von derSonne und vom Mond erhellt werden, sollen darüber unterrichtetwerden.

Mit dieser feierlichen Vereinbarung beginnt eine große Zeit,in der die Tibeter auf dem Boden Tibets und die Chinesen auf dem Boden Chinas glücklich sein werden. Damit nie an ihrgerüttelt werden kann, sind die Drei Kostbaren Juwelen derReligion, die Gemeinschaft der Heiligen, die Sonne und derMond, die Planeten und die Sterne als Zeugen angerufenworden. Mit feierlichen Worten und einem Tieropfer ist ein Eidgeschworen und die Vereinbarung ratifiziert worden.

Wenn die Parteien nicht in Übereinstimmung mit diesem

Vertrag handeln oder ihn brechen, ob es Tibet oder China sei, sowird alles, was der Partner an Repressalien anordnet, nicht alsVertragsbruch seinerseits betrachtet.

Die Könige und Minister von Tibet und von China haben dendafür vorgeschriebenen Eid geschworen, und der Vertrag ist inallen Einzelheiten aufgezeichnet worden. Die beiden Königehaben die Vereinbarung mit ihren Siegeln bestätigt. Die mit der

Ausführung des Vertrags beauftragten Minister haben ihreUnterschriften daruntergesetzt, und Abschriften sind in denköniglichen Archiven der beiden Vertragsparteien deponiertworden.

Der Religionsstreit flackerte noch einmal auf, als eineRückkehr zum traditionellen Bon-Glauben angestrebt wurde.Die Mönche der neuen Lehre nahmen immer sichtbarer einebedeutende Stellung in den politischen Machtzentren ein,

wodurch ein Konflikt mit der Aristokratie ausgelöst wurde, die

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den Buddhismus von allem Anfang an abgelehnt hatte und sichimmer stärker frustriert fühlte. Auch im Volk waren diealthergebrachten Überzeugungen vom Buddhismus indischer

Ausrichtung nicht völlig verdrängt worden. Die Geschenke undPrivilegien, die der König dem buddhistischen Klerus gewährte,und seine eigene Frömmigkeit, die so weit ging, daß er sogarselbst Mönch wurde, weckten Widerstand. Diese Entwicklungendete mit seiner Ermordung. Sein ältester Sohn Tsangma, derebenfalls Mönch geworden war, stellte die gesamte königlicheVerwaltung unter die Aufsicht eines Mönchs; er wurde verjagtund flüchtete nach Bhutan. Sein Bruder Langdarma folgte ihm

auf dem Thron (838-842). Ob unter Druck der Bon-Integralistenoder aus eigener Überzeugung: Jedenfalls wollte er wie derrömische Kaiser Iulianus Apostata oder später Maria Tudor, dieden neuen Anglikanismus ablehnte, zum Glauben derAltvorderen zurückkehren. Er entfesselte eine wilde Verfolgungder Buddhisten, der Mönche wie der Laien. Wie Rolf A. Stein(in seinem bereits zitierten Buch) festhält, wurden die

Buddhisten merkwürdigerweise fast gleichzeitig auch in China(842-846) bekämpft. Das heftige Vorgehen löste eine ebensoheftige Reaktion aus, und Langdarma wurde von einem Mönch,Pelgyi Dorje, ermordet, der anschließend nach Siun-Hua in derRegion Amdo, nördlich des Gelben Flusses, floh.

Auch bei diesem Ereignis spielte der für Tibetkennzeichnende Wunderglaube mit: Ein Einsiedler, ein Jüngervon Padmasambhava, begab sich als Magier des Bon-Ordens

verkleidet, in einen schwarzen Mantel gehüllt, einen schwarzen,mit einem Totenkopf geschmückten Hut auf dem Kopf, auf einem schwarzen Pferd nach Lhasa. Vor dem Königspalastvollführte er einen rituellen Tanz mit Bogen und Pfeilen, denSymbolen für den Kampf gegen die übelwollenden Geister. DerKönig trat, um sich das Schauspiel anzusehen, auf den Balkonhinaus. Ein Pfeil wurde abgeschossen und tötete ihn auf derStelle. Bis die Volksmenge begriffen hatte, was geschehen war,

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und auf den Anschlag reagierte, hatte sich der Magier bereits auf sein Pferd geschwungen. Beide stürzten sich gemeinsam in denFluß. Am anderen Ufer stiegen ein weißer Reiter und ein weißes

Pferd aus dem Wasser; sie verschwanden, ohne eine Spur zuhinterlassen.

Mit Langdarma erlosch die Dynastie der Yarlung. ZweiAbkömmlingen der Familie war es gelungen, im Westen vonTibet zwei Königreiche zu gründen, Guge, das bis 1630 Bestandhatte, und Ladakh, das bis 1842 unabhängig blieb, dann aberdem angloindischen Kaschmir angegliedert wurde.

Während anderthalb Jahrhunderten versank nun Tibet ineinem finsteren Mittelalter. Die chinesischen, türkischen unduigurischen Nachbarn veränderten die Grenzen zu ihrenGunsten. Chinesische Jahrbücher berichten zwar von tibetischenAbgesandten in China, doch dabei handelt es sich bloß umDelegationen örtlicher Machthaber aus der Region Kukunor.

Von den Fürstentümern, die an mehreren Orten für kurze Zeitentstanden, ist nichts übriggeblieben. Einigen von ihnen aber

gelang es, den Buddhismus durch diese schwierige Zeithindurch zu retten, dank der in Festungen umgewandeltenKlöster.

Der Vorhang vor der tibetischen Geschichte hebt sich erst im11. Jahrhundert wieder. Mit dem Buddhismus beginnt für dietibetische Kultur eine neue Entwicklungsphase. Das Land erhältdas Aussehen, das ihm bis in unsere Zeit erhalten geblieben ist.

Das Mönchtum war zum Teil vom richtigen Wegabgekommen. Einige Mönche hatten sich in oft blutgierigeRäuber verwandelt. Andere Klöster hingegen wurden von mehroder weniger kurzlebigen Fürsten zu Kultur- und Machtzentrenausgebaut. Diese Gemeinschaften unterhielten weiterhinregelmäßige Beziehungen zu den großen indischenMönchskollegien wie Nalanda oder Vikramashila. DieseDuodezfürsten, deren Namen nicht immer in die Geschichte

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Jahrtausendwende begannen die Muslime unter Führung vonMahmud Ghazni (998-1030), dem afghanischen ErobererNordindiens, die eroberten Gebiete mit Gewalt zu islamisieren.

Die Hindu-Völker mit ihren brahmanischen, etwas verworrenen,äußerst vielgestaltigen, wenig strukturierten und deshalb nichtleicht zu verstehenden und auszurottenden Traditionenvermochten sich durch diese schwierige Zeit zu retten. Doch dieStrukturen des Buddhismus wurden von den Eroberern grausamgetroffen. Hochschulen und Klöster wurden zerstört, denMeistern blieb nichts anderes übrig, als zu fliehen, und Tibetnahm sie auf. Wie Byzanz zum zweiten Rom wurde, war Lhasa

das zweite Bodhgaya.18 

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Der Zusammenbruch der Staatsmacht 

Damit beginnt die Zeit der großen Meister des Glaubens undder Dichtkunst, zweier nicht voneinander zu trennenderBereiche.

Dogmi (992-1074), ursprünglich Hirte, studierte die indischenYogis und entwickelte daraus den »Weg der Erleuchtung«, einephysiopsychologische Meditationspraxis. Sein Jünger, der FürstKönchok Gyalpo, gründete 1075 das Kloster Sakya, das in derGeschichte Tibets eine überragende Rolle spielen sollte.

Marpa (1012-1096) studierte in Bengalen die Kunst, dasBewußtsein in einen anderen Körper oder in ein Paradies zuübertragen; er stützte sich dabei auf die mystischen Gesänge derbengalischen Dichter, die  Doha. Die von ihm geleitete Schulewar berühmt für die Härte ihrer Regeln. Die Schüler wurdenmannigfaltigsten Prüfungen unterzogen, damit sie die Grenzen

und die Festigkeit ihres Glaubens erkannten. Milarepa (1040-1123), ein Jünger von Marpa, bekam diese grausame und oftungerechte Fuchtel des Meisters zu spüren.

Ungewöhnlich interessant sind Leben und Werk vonMilarepa. Er verbrachte die letzten Jahre seines Lebens in einerHöhle, die man in der Nähe eines der ersten Dörfer destibetischen Hochlandes besichtigen kann, wenn man von Nepalher einreist. Als Mystiker und Dichter wollte er nach seinerharten Lehrzeit die Techniken der Heiligung fest in den Griff bekommen. Von ihm verfaßte Gedichte sind erst 1962 imAusland veröffentlicht worden; in ihnen paßt er die Begriffe unddie Themen der indischen Tantra-Texte an die in Tibetgebräuchlichen Gesänge an. Kunst und Glauben verschmelzenso zu einer Einheit. »Zweifellos hat er das getan, weil er Freudedaran fand, aber auch mit der Absicht, das buddhistische

Denken einer breiteren Schicht von Menschen näherzubringen,

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indem er dieses Gedankengut in die volkstümlichen Liedereinbrachte.« 19 

Seine Jünger haben die Kagyüpa-Mönchsgemeinschaft

gegründet, die in der späteren Geschichte des Landes ebenfallseine Rolle spielen sollte.

Auch andere Meister haben zum religiösen undphilosophischen Aufschwung während dieser tibetischenRenaissance im 11. Jahrhundert beigetragen: Phagmodu (1118-1170), Butön (1290-1364), Gampopa (1079-1153). Der letzterehat zudem die einheimische Heilkunde erneuert. Ursprünglich

hatte sie sich die chinesische Medizin zum Vorbild genommen.Ihr eigentlicher Begründer war, wie wir gesehen haben, KönigSongtsen Gampo. Ihre tibetische Eigenart erhielt dieseArzneimittel-Wissenschaft vom Arzt Yuthok Yöten Gönpo, derim 8. Jahrhundert die bisherige Behandlung mit pflanzlichenWirkstoffen durch die buddhistische Praxis der medizinischenTantras ergänzte, die um diese Zeit zusammen mit den heiligenindischen Büchern nach Tibet gelangt waren. Noch heute

kennen tibetische Arzte die 1300 Seiten dieser Werkeauswendig; sie studieren noch immer die bildlichenDarstellungen auf Seidenstoffen, die gemalt worden waren, umdie Entwicklung des Lebens und die verschiedenen Teile desmenschlichen Körpers zu zeigen.20 

Während die Zentralmacht als Folge dieser kulturellen undreligiösen Entwicklung geschwächt wurde, entstanden

gleichzeitig viele neue Ausstrahlungs- und wenig später auchMachtzentren. Die Spuren der Könige und der Herrscher überFürstentümer verblaßten allmählich, dafür gingen aus dengroßen Familien kirchliche Herrschaftsbereiche hervor, um diesich die politischen, wirtschaftlichen und militärischen Kräfteder tibetischen Gesellschaft scharten.

Unter diesen Geschlechtern nahm das der Sakyapa schon balddank seiner Dynamik und seinem Ehrgeiz eine Sonderstellung

ein. Die mündliche Überlieferung weiß zu berichten, seine

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Begründer würden wie die ersten tibetischen Könige vonGöttern abstammen: »Drei Brüder stiegen vom Himmel auf dieErde herunter; der eine war mit einer Dämonin verheiratet, von

der er sieben Söhne hatte; ein einziger von ihnen, Mazang Chije,blieb auf der Erde zurück und wurde der Führer der Menschen.«

Die Abkömmlinge wurden immer zahlreicher und wandertenin die verschiedenen tibetischen Gebiete aus. Sie machten sichin den klösterlichen Gemeinschaften wie auch in den Kreisender politischen Machthaber breit. So wurde Keun Jekundag im8. Jahrhundert zum mächtigen Innenminister des KönigsTrisong Detsen. Leute aus dem Geschlecht der Sakyapa begabensich nach Indien, um sich dort das ganze damalige Wissenanzueignen; nach ihrer Rückkehr wurden sie zu religiösenMeistern, zu denen sich viele Jünger hingezogen fühlten.

Noch fehlte ihnen ein Ausstrahlungszentrum. Die Wahl desOrtes für dieses tibetische »Bodhgaya« ist ebenfalls wieder mitgeheimnisumwitterten Ereignissen, Prophezeiungen undWundern verwoben. Der indische Guru Atisha, dem wir bereits

begegnet sind, durchwanderte die Gegend im Westen vonLhasa; als er den Dong-Ngola-Paß überquerte, erblickte er zweiYak-Weibchen, die am Abhang des Sakya-Berges weideten. Ersagte zu seinen Begleitern, diesem Ort sei einaußergewöhnliches Schicksal vorbestimmt. Er stieg von seinemPferd, brachte die üblichen Opfergaben dar und erklärte: »Von

 jetzt an wird zum Wohl aller Wesen ein ununterbrochener Stromerleuchtender Äußerungen und Ereignisse von diesem Ortausgehen.«

Diese Prophezeiung Atishas veranlaßte den Fürsten KönchokGyalpo, an dieser Stelle die Kloster-Festung Sakya zu errichten;hier, wo »die östliche Bergkette wie der Federbusch einesVogels in die Höhe ragt; am südlichen Teil des Berges, der dieForm eines Löwenrachens hat, entspringt ein Fluss; dieWestflanke gleicht einem Pfauenkopf; im Norden überragt der

Berg in Gestalt eines Löwenleibs mit seinem Körper den Boden

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von Sakya«. Der Bodhisattva des Mitleidens, Avalokiteshvara,reinkarnierte sich im Sohn des Gründers, in Künga Nyingpo,welcher der erste Vorsteher der neuen klösterlichen

Gemeinschaft wurde. Wunderbare Ereignisse sind mit seinerNachkommenschaft verbunden: Der Himmel leuchtete hell auf,als 1182 sein Enkel zur Welt kam, der große Sakya PanditaKünga Gyaltsen, der uns schon bald von neuem begegnen wird.

Andere adlige Familien hatten sich Großgrundbesitzangeeignet und wurden zu Förderern der religiösenGemeinschaften.

Die Phagmodu aus der östlichen Kham-Region errichteten auf ihrem Gebiet Klöster, insbesondere in Phagdu und Digung. DieOrdensregel hielt sich an das Vorbild der Kadampa- und derKagyüpa-Mönchsgemeinschaften; Oberhaupt war ein Abt, dervon einem zivilen und einem militärischen Verwalter unterstütztwurde, eine Organisationsform, die bis heute in Tibet erhaltengeblieben ist; das Amt des Abtes vererbt sich noch immer vomOnkel auf den Neffen (war die Nachfolge der römischen Päpste

im 15. und 16. Jahrhundert nicht ähnlich geregelt?).Eine andere Familie, die Tsal, gründete etwas östlich von

Lhasa, auf dem Kyichu-Berg, Institutionen, die der Kagyüpa-Gemeinschaft angeschlossen waren.

Schließlich kam noch eine weitere mächtige, ebenfalls aus derKham-Region stammende Familie zu hohem Ansehen. Sieberief sich auf einen Jünger von Milarepa, Düsum Khyenpa, der

1147 den (auch unter dem Namen Karma-Kagyüpa bekannten)Karmapa-Orden gegründet hatte; die Gemeinschaft erhielt ihrenNamen von der schwarzen Krone, die ihre jeweiligenHierarchen trugen, auch das ein Brauch, der bis in die heutigeZeit erhalten geblieben ist. Diese neue religiöse Schule setztesich in mehreren Klöstern fest: Tsur Lhalung (1154), KarmaLhadeng (1185) und insbesondere Tsurphu (1189) im Tölung-Tal nordwestlich von Lhasa; ihr Sitz befindet sich noch heute

dort.

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Aus dieser Karmapa-Mönchsgemeinschaft ist das später zurfesten Institution gewordene System der Reinkarnation bei derWahl eines neuen geistlichen Oberhauptes hervorgegangen. Ihr

Gründer und erster Abt, Düsum Khyenpa (1110-1193), hatteprophezeit, nach seinem Tode werde er sein eigener Nachfolgerwerden, indem er in einem Kind wiedergeboren würde; er gabeinige Hinweise, woran man ihn wiedererkennen werde. DieKarmapa-Mönche haben diese Nachfolgeregelung für dieKlostervorsteher mit einem späten Sutra des buddhistischenKanons begründet, über dessen Deutung freilich keine Klarheitbesteht. Wie dem auch sei, die Reinkarnationsformel hat den

tibetischen Institutionen einen für sie eigentümlichen undunzerstörbaren Stempel aufgedrückt. In den Karmapa-Klösternist die Nachfolge bis in unsere Tage so geregelt worden; derletzte Träger des Titels hat den vierzehnten Dalai Lama 1954und 1955 auf dessen Reise nach China begleitet; als er 1982starb, wurde seine Reinkarnation im Osten Tibets gefunden. Deram 26. Juni 1985 geborene Ugyen Trinlé ist im Juli 1992 als das

siebzehnte Karmapa-Oberhaupt anerkannt worden.

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Die mongolische Intervention 

So nahm die religiöse und politische Landschaft Tibetsallmählich Gestalt an; in diese Zeit fällt der Auftritt derMongolen.

Laut tibetischen Quellen soll Tschingis Khan, der König derMongolen, verlangt haben, daß Tibet sich ihm unterwerfe. Dieverzettelten Machtzentren waren sich bewußt, daß sie demmongolischen Druck unmöglich standhalten konnten, undentschieden sich deshalb (schon damals!) für Verhandlungen mitdem mächtigen und unbeugsamen Nachbarn. Der Regent Joga,ein Abkömmling der Yarlung-Königsfamilie, und Künga Dorje,ein Angehöriger der Tsal-Familie, entsandten Delegationen zumWelteroberer. Tschingis Khan, bereits alt geworden und inSorge um seinen bevorstehenden Tod, hatte den gelehrtenchinesischen Astrologen Tchan-Tchou-Tshi zu sich gebeten,

damit er ihn in die Weisheit des Taoismus einführe. Auch mitder buddhistischen Lehre hielt er es gleich, er bezeichnete sichsogar als deren Schutzherr: »Wer sich unter meine Herrschaftbegibt, gehört zu mir«, erklärte er.

Ein Lama aus dem Karmapa-Orden, Tsangpa Dungkhurba,begab sich in die Provinz Minyag, auf chinesisch Si-Hia(Sichuan), die von den Mongolen soeben erobert worden war.Bei seiner Ankunft starb Tschingis Khan (1227); der Mönch

brachte immerhin einen Toleranzerlaß für die buddhistischeReligion mit nach Hause.

Zu den Enkeln von Tschingis Khan unterhielten die Tibeterimmer wieder Kontakte, denn nur eine pazifistischeGrundhaltung bot Gewähr für die Erhaltung der Autonomie. Einanderer Karmapa-Lama, Karma Pakshi (1206-1283), suchte1256 die Mongolei auf; er beteiligte sich an den theologischen

Streitgesprächen zwischen Buddhisten und Taoisten, die

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Möngkä veranstaltete. Es soll ihm sogar gelungen sein, denMongolenherrscher vom nestorianischen Glauben zumBuddhismus zu bekehren. Von seinem Ruf hörte man auch im

Lager von Kublai Khan, der alles bei sich zu versammelnversuchte, was zu seiner Macht über die eigenen Völker und diebenachbarten Stämme beitragen konnte. Er lud 1255 den Lamain sein Feldlager ein. Karma Pakshi begab sich dorthin, lehnteaber aus unbekannten Gründen einen längeren Aufenthalt abund kehrte zu Möngkä zurück. Dieser starb leider 1259. Imfolgenden Jahr verdrängte Kublai seinen anderen Bruder, ArikBöke, und wurde dadurch das Oberhaupt der Mongolen. Die

Kränkung, die ihm der tibetische Lama zugefügt hatte, wirktesich jetzt aus. Die Erinnerung daran kostete den Karmapa-Ordendie Schirmherrschaft der Mongolen. Kublai Khan entschied sichfür die Sakyapa-Sippe als Gesprächspartnerin in den tibetischenAngelegenheiten. Diese mongolische Protektion ging 1354 auf die Phagmodu über, welche die Sakyapa ablösten.

Sakya Pandita Künga Gyaltsen (1182-1251) war ein Mann

mit beträchtlichen Kenntnissen. Er hatte sein Wissen in Indienerworben und in verschiedenen philosophischenStreitgesprächen über Vertreter anderer Lehrmeinungentriumphiert. Auf Einladung von Guyuk und Gödan, zwei Enkelvon Tschingis Khan, reiste er zum Kukunorsee, als dermongolische Heerführer in seiner maßlosen Gier nachEroberung und Zerstörung eben das Kloster Radengniedergebrannt und dabei zahlreiche Mönche getötet hatte.

Sakya Pandita Künga Gyaltsen gelang es, die mongolischeLeidenschaftlichkeit einzudämmen, indem er die beiden Khansin die buddhistische Kultur einführte. Er erreichte für sich einenErlaß, welcher der Sakyapa-Sippe die Königswürde über diebeiden Provinzen U und Tsang um ihre Klosterfestung herumverlieh. Der 1247 mit dem Mongolen Gödan unterzeichneteVertrag bewies, daß die Sakyapa-Mönche nicht nur Gelehrteund Asketen, sondern auch geschickte Unterhändler und

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Staatsmänner waren.

Sein Neffe Chögyal Phagpa (1235-1280) führte dieübernommene Aufgabe erfolgreich weiter. Der vom Karmapa-

Orden begründeten Tradition entsprechend wurde er zum neuenOberhaupt der Gemeinschaft gewählt; er erinnerte sich schon alsKind seiner früheren Inkarnationen, und mit seinen Fortschrittenin der Kenntnis der buddhistischen Lehre und der tantrischenPraktiken waren wunderbare Ereignisse verbunden. AlsDreijähriger rezitierte er Texte, die er nie gelernt hatte, undeines Tages versetzte er seine Eltern in Erstaunen, indem erseine Kleider an einem Sonnenstrahl aufhängte. Mit zehn Jahrenlegte er die mönchischen Gelübde ab und erhielt er die Symboleseiner Mönchswürde: die Muschel, die Schale für die Almosenund die heiligen Bücher. Gleichzeitig ermahnte ihn sein Meister:»Für dich ist die Zeit gekommen, daß du der Lehre und denBedürfnissen der Welt zu dienen hast.«

Kublai Khan hatte von seinem Ruf gehört und forderte ihn miteiner Bittschrift auf, sein geistlicher Führer zu werden. Mit

Geschenken überhäuft, kehrte er zurück. Dank diesen Gabenkonnte er die Dächer der Klöster, die sein Minister ShakyaSangpo hatte errichten lassen, mit Gold verkleiden. Er ließ dieReliquiare der alten Sakyapa-Meister mit Gold plattieren undbeschenkte die Mönche aller Klöster in Tibet, aber auch inChina und in der Mongolei, mit reichen Gaben.

Chögyal Phagpa war vierunddreißig Jahre alt, als Kublai

Khan, der 1260 Kaiser von China geworden war und damit diemongolische Dynastie der Yüan begründet hatte, ihn von neuemzu sich bat. An der Spitze einer eindrucksvollen Delegationmachte sich der Meister auf den Weg. »Er war von dreizehnHelfergruppen begleitet; dazu gehörten drei Hauptbeamte, diesich um die Nahrung, das Bettzeug, die Riten und dieZeremonien zu kümmern hatten, drei Minister mit dem GrossenSekretär an der Spitze und eine vielköpfige Dienerschaft: Er war

ein religiöser Meister, aber auch ein Staatsmann, und unter

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fertiggestellt werden; die Bibliothek wurde um mehrere hundertBände von heiligen Schriften mit goldenen Lettern bereichert.

Das von der Phagmodu-Sippe gegründete Kloster Digung

hatte sich um den fernen, aber ebenfalls mongolischen Schutzeines Bruders von Kublai Khan, Hülägü, bemüht, der in Persiendie Dynastie der Ilkhan begründet und sich zum Buddhismusbekehrt hatte. Mit dieser Schirmherrschaft im Rücken undunterstützt von einer mongolischen Armeeeinheit aus Persien,griffen die Digungpa die Sakyapa an. Doch der chinesischeKaiser kam diesen zu Hilfe und verhalf ihnen zum Sieg. DieSieger erwiesen sich als großmütig, denn sie erklärten sichdamit einverstanden, daß Kublais Geschenke dafür verwendetwurden, das während der militärischen Auseinandersetzungenbeschädigte Kloster Digung wiederaufzubauen.

Die mongolische Lehensherrschaft über Tibet blieb somitweiterhin bestehen. Volkszählungen wurden durchgeführt, undes gab auch Versuche, eine von Laien getrageneVerwaltungsorganisation aufzubauen. Doch die großen Familien

und die Klöster, die von ihnen unterhalten wurden, übten nochimmer die wirkliche Macht aus. Angehörige der Karmapa-Gemeinschaft wurden weiterhin am chinesischen Hof empfangen und setzten sich dauerhaft in der Kham-Region undim Südosten Tibets fest, wo sie dem Sakyapa-Orden und der ihnablösenden Phagmodu-Sippe den Machtanspruch streitigmachten. Dieser Phagmodu-Sippe war es durch geschickt mitmilitärischen Aktionen kombinierte Verhandlungen gelungen,die Macht im ganzen Süden Tibets an sich zu reißen; die Lamasdieser Mönchsgemeinschaft hatten von 1349 bis 1435 die ganzeRegion fest in ihrer Hand.

Die Entscheidungen Kublai Khans in seiner Eigenschaft alschinesischer Kaiser waren das erste Beispiel einer chinesischenEinmischung in die tibetischen Angelegenheiten. Der Vertragvon 821 zwischen Tritsug Detsen Ralpachen und Kaiser Mu

Tsung aus der dreihundertjährigen Dynastie der T'ang war noch,

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vom Text wie vom Inhalt her, ein gegenseitig verbindliches undbindendes Abkommen gewesen. Die Urkunde von 1270 hat

 jedoch die Merkmale einer Lehensherrschaft, was Fragen zu den

Gründen aufwirft, welche die beiden Parteien zu einer derartigenNeugestaltung ihrer bilateralen Beziehungen bewogen hatten. InChina privilegierte die neue Dynastie, die aus einemnichtchinesischen Volk hervorgegangen war, die mongolischenUntertanen, welche die wichtigste Stütze ihrer Macht darstellten.Und die mongolische Aristokratie, mehrheitlich Buddhisten inder tibetischen Tradition, stand der Einführung einesbuddhistischen Systems im tibetischen Grenzland wohlwollend

gegenüber. Von der Außenpolitik her gesehen war Tibet immereine unruhige Zone im Süden des Reiches gewesen. Die hieransässige chinesische Bevölkerung hatte seit Jahrhunderten dieimmer wiederkehrenden und oft blutigen, immer aberzerstörerischen Überfälle ihrer tibetischen Nachbarn gefürchtet.Der Kaiser war deshalb der Meinung, eine Festigung derZentralmacht in Lhasa werde seinen chinesischen Untertanen

den Frieden gewährleisten. Auf tibetischer Seite sah derMönchsklerus, der zeitlichen Fragen nicht dieselbe Bedeutungwie die Monarchen beimaß, im Vertrag vor allem ein Mittel, umdie Lehre zu festigen und seinen buddhistischen Glauben, den erfür den echten hielt, auf chinesische Gebiete auszubreiten. Dieletzten Überlebenden der königlichen Macht waren vor allemmit inneren Querelen beschäftigt und betrieben spekulativeGeschäfte im Handel mit China, Indien und Nepal. Auf 

geistlicher Ebene war diese Herrscherschicht noch völlig imtraditionellen Zauberglauben verhaftet. Sie war nicht imstande,diese für sie zwiespältige Entwicklung zu erkennen undallenfalls zu vereiteln, eine Entwicklung, die diechinesischtibetischen Beziehungen bis heute belastet.

Die neue chinesische Dynastie der Ming versuchte diemongolische Politik fortzusetzen. Ihre Einmischung in dietibetischen Angelegenheiten wurde freilich nicht durch

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militärische Feldzüge in das Hochland unterstrichen. Auf chinesischer Seite sind keine schriftlichen Dokumente aus dieserZeit erhalten geblieben. In den tibetischen Überlieferungen

widerspiegeln sich die verworrenen Zustände, die damalsherrschten. Die Klöster waren Schauplätze von Diskussionen,Rivalitäten und bisweilen auch bewaffnetenAuseinandersetzungen, an denen sich Mönche wie Laienbeteiligten.

Die Phagmodupa wurden in ihrer Hochburg Densa-Thelsüdöstlich von Lhasa ebenfalls durch innere Streitigkeitengeschwächt. Ihr Premierminister, Rinpung, sorgte schließlichwieder für Ordnung. Vier Generationen lang führten sie Kriegegegen den Karmapa-Orden im Osten und gegen eine neue Sippe,die sich im Westen breitgemacht hatte, die Tsang. Diese hattedie Herrschaft über die Regionen Gyantse und Shigatse an sichgerissen und schenkte ihrerseits dem Land drei Könige.

Und um diese Zeit ging ein neues Licht über Tibet auf, umdas Land aus der Dunkelheit und aus dem Unglück

herauszuführen und es wieder auf den Weg seiner Bestimmungzu bringen.

1357 wurde in der Nähe des Kukunorsees im Norden Tibetsein Kind geboren, das schon in sehr jungen Jahren durch seinetiefe intellektuelle und religiöse Neugierde auffiel. Es wurdeMönch und wanderte von einem Kloster zum anderen, um dieLehren der verschiedenen Schulen zu studieren. Vor allem die

Atisha zugeschriebenen Schriften vermochten es zu fesseln, undso wandte es sich ganz dem Kadampa-Orden zu, der seineAutorität, sein Wissen und seinen Sinn für Organisationerkannte. Im wichtigsten Kloster des Ordens, Radeng,verbrachte Tsongkhapa die Zeit von 1402 bis 1405. Aus diesemRückzug in die Stille ging zunächst ein gelehrtes undanregendes Werk hervor, das   Lamrim Chenmo(Zusammenfassung der Lehre). In Tsongkhapa wuchs aber auch

der Wille, die Mönchsregeln im Sinne einer strengen Disziplin

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zu reformieren. Der beste Weg für die Erreichung dieses Zielsschien ihm die Gründung einer neuen Mönchsgemeinschaft zusein. Zuerst nannte er sie schlicht »neues Kadampa«; dann

wurde die reformierte Schule zum Gelugpa-Orden (»Vorbildervon Tugend«). Tsongkhapa verpflichtete seine Jünger zumZölibat, zu einer vegetarischen Lebensweise, zu einem Verzichtauf alkoholische Getränke und zum Gelübde der persönlichenArmut.

Der Ruf des buddhistischen Reformators verbreitete sich biszum chinesischen Kaiserhof. 1408 schickte der Kaiser demMönch eine Einladung nach Peking. Eben in diesem Jahr führtedie neue Schule in Lhasa ein Fest ein, das die Bewohner inMassen anzog: Das im Tempel von Jokphang gefeierte MönlamChenmo wurde schon bald sehr populär. Es wurde bis 1959unter Respektierung der ursprünglichen Tradition regelmäßigabgehalten.

Im folgenden Jahr arbeitete Tsongkhapa an den Fundamentendes Klosters Ganden22, »Berg der Freude«, weiter.

Um dem Wunsch Pekings nachzukommen, sandte er einenseiner Jünger, Jamchen Chöje, an den Kaiserhof, wo ihm derTitel eines »Meisters der Religion« verliehen wurde. Ergründete nach seiner Rückkehr bei Lhasa das Kloster von Sera(1419).

Ein anderer Jünger der neuen Schule gründete das Kloster vonDrepung (1416), ebenfalls in der Umgebung der Hauptstadt. Die

drei Zentren entwickelten sich rasch zu eigentlichenHochschulen mit verschiedenen Fakultäten, in denen alleBereiche des menschlichen Wissens gelehrt wurden.

Tsongkhapas Tod war der Anfang einer gehässigen Rivalitätzwischen den Mönchsgemeinschaften, den Gelugpa, die wegender Farbe ihrer Kopfbedeckung »Gelbmützen« genannt wurden,auf der einen und den alten Orden auf der anderen Seite. DerKarmapa-Orden blieb in den Regionen Kham und Amdo

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vorherrschend. Die Sippen, welche die zeitliche Machtausübten, mischten sich aus offensichtlich politischen Gründenin diese Kämpfe um religiösen Einfluß ein. Die Phagmodupa

setzten sich klar und eindeutig für die Reform ein, die Tsanghingegen griffen mit militärischen Mitteln in dieAuseinandersetzung ein. Sie bekämpften die Fürsten, welche dieMönche von Ganden unterstützten.

Fast zweihundert Jahre lang wurde Tibet so von neuem zueinem Schauplatz innerer Kämpfe, bei denen zeitlich begrenzteBündnisse zwischen Feudalherren und Klosteräbten zahlloseZwischenfälle und Zerstörungen hervorriefen.

Doch der Gelugpa-Bewegung gelang es, den ihr von ihremGründer verliehenen Schwung beizubehalten. Vom Karmapa-Orden übernahm sie das Prinzip der Reinkarnation derWürdenträger in Kindern, die kurz nach deren Tod geborenwurden.

Tsongkhapas Jünger Gendün Drub (1391-1474) gründete1447 das Kloster Tashilhunpo. Er wurde dessen erster Abt,

»Gyalwa Rimpoche« (Großer Kostbarer Herrscher). Erreinkarnierte sich noch in seinem Todesjahr in einem Säugling,dem die mit der Suche beauftragten Mönche den Namen GyalwaGendün Gyatso gaben.

Damit befinden wir uns bereits in der Ära der Dalai Lamas.

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Die Religion 

»Niemand kann Tibet ohne einige Kenntnisse unsererReligion verstehen«, schreibt Tenzin Gyatso, der gegenwärtigeDalai Lama.23 Und Mircea Eliade spricht in seiner Geschichteder religiösen Ideen von der religiösen Kreativität destibetischen Geistes.

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Die Bon-Religion 

Die ursprüngliche Religion Tibets wurzelt in Mythen undLegenden. Schon der Name wirft ein Problem auf: Er könnte auf eine fehlerhafte Schreibweise des Begriffes  Bod  zurückzuführensein, mit dem die Tibeter ihr Land bezeichnen. In diesem Sinnewären die Bönpo die ersten Eingeborenen, denen zusammen mitihrem, wie wir gesehen haben, vom Himmel herabgestiegenenKönig eine kosmogonische Offenbarung zuteil geworden wäre,

welche anfänglich Gcug (oder Tchö: Brauch) genannt wurde.Dieser überlieferte Glaube, den die ersten Buddhisten bei

ihrer Ankunft im Hochland antrafen, war nicht bloß »einGemisch von anarchischen und bruchstückhaftenmagischreligiösen Begriffen, sondern eine Religion mit Kultenund Riten, die in einem den Auffassungen des Buddhismusradikal entgegengesetzt strukturierten System verwurzelt

waren«

24

. Dieser Gegensatz zu den Gebräuchen undGrundprinzipien des Buddhismus hinderte die beidenReligionen nicht daran, während langer Zeit nebeneinanderfortzubestehen, denn die Bon-Religion ist in einigenabgelegenen Tälern Tibets wie übrigens auch in Nepal25, vorallem im Himalaja-Gebiet dieses Königreichs, bis in unsere Zeiterhalten geblieben. Mehr noch: Die Bon-Religion hat vomBuddhismus gewisse kulturelle Elemente übernommen, um die

eigene Lehre genauer zu umschreiben. Ihre festgeschriebenenTexte wurden erst im 11. Jahrhundert unter Verwendung derSchrift verfaßt, welche die buddhistischen Könige in dietibetische Gesellschaft eingebracht hatten.

Die Schriften sollen in Zeiten der Verfolgung versteckt underst im 15. Jahrhundert in die endgültige Form gebracht wordensein, wobei dem tibetischen Buddhismus die Titel Kangyur  (75Bände) und Tengyur (131 Bände) entlehnt wurden26; darin wird

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vom Gesetz der Unbeständigkeit und der Verkettung allerHandlungen gesprochen, ebenso vom letzten Ziel derErweckung, die aber eher durch einen Zustand der Leere als der

Erleuchtung gekennzeichnet ist.In der Biographie von Böntön Shenrab, dem historischen

Stifter, dessen Geburt auf das Jahr 1063 v. Chr. festgelegtworden ist, wird von ähnlichen Auftritten und Kräften wie vonden historischen Persönlichkeiten des Buddha Shakyamuni odereines Padmasambhava berichtet. Ein weißer Lichtstrahl kommtaus dem Kopf seines Vaters, ein roter Lichtstrahl aus dem seinerMutter: ein gängiges Thema bei himmlischen Geburten in denmongolischen Steppen; laut anderen Versionen ist er in Gestalteines Vogels vom Himmel herabgeflogen. Seine Eselsohren, dieunter einem wollenen Turban versteckt sind, noch heute dasäußere Kennzeichen der Bönpo-Priester und -Gläubigen, deuteneine Verwandtschaft mit dem König Midas an. Auf einewestliche Quelle weisen auch andere Elemente hin,insbesondere der Gegensatz zwischen Gut und Böse, Sein und

Nichtsein, wie er im iranischen Manichäismus besondersausgeprägt ist.

Der Stifter dieser Religion hat sich, nachdem seine Aufgabeerfüllt war, aus der Welt zurückgezogen; er führte einasketisches Leben und ging wie der Buddha in das Nirvana ein;seine Lehre wurde zunächst von seinem Sohn und später vonJüngern verbreitet, die dieser Sohn geformt hatte.

Ursprüngliches Element dieses Bon-Synkretismus ist dieVorstellung von Göttern, die sich in Wesen inkarnieren, dieeinen bestimmten Ausschnitt der Natur beschützen. Als derMensch auftrat und zu handeln begann, waren Zusammenstößemit diesen Schutzwesen unvermeidlich. Davon berichtet dieLegende:

Als er mit Brechstangen heilige Steine herausbrach, die vonGottheiten gerne aufgesucht wurden, und sie dazu verwendete,

um sich Schlösser zu bauen, zog er sich den Haß des Herrn der

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Steine zu. Als er mit der Axt die heiligen Bäume umhieb, umsich Häuser zu bauen, zog er sich den Haß des Herrn der Bäumezu. Als er mit der Sichel heilige Sträucher dem Erdboden

gleichmachte, um daraus Hütten herzustellen, zog er sich denHaß des Herrn der Sträucher zu. Als er mit der Hacke denheiligen Boden bearbeitete, zog er sich den Haß des Herrn desOrtes und des Bodens zu. Als er dem wilden schwarzen Yak,dem Herrn des Ortes, Haare ausriß, um daraus Zelteherzustellen, zog er sich den Haß der Türwächter, der Hüter desOrtes, zu.

Die Rache der Götter, die Strafe, folgte darauf in Form vonKrankheiten; der Mensch mußte deshalb Mittel finden, um diesezu heilen. Es waren die Priester der Bon-Religion, die dieAufgabe hatten, die Ursache des Übels und das dagegenwirksame Heilmittel herauszufinden. Sie waren deshalbzuallererst Zauberer und Dämonenaustreiber. Als Schamanenbenutzten sie rituelle Werkzeuge, so Fallen, um die Dämonen zufangen, oder das Tamburin, mit dessen Tönen sie deren Wege

durchkreuzten. Die magische Handlung wurde mit Orakeln,Gesängen und Opfergaben eingeleitet. Sobald das Übel erkanntwar, wurde es durch verschiedene Zauberpraktiken undselbstverständlich auch Opfer beseitigt. Dargebracht wurdenTiere, insbesondere Pferde, aber es gibt keinerlei Hinweisedarauf, daß zum Ritual auch Menschenopfer gehörten.

Für den Buddhismus mußten solche Rituale schockierendsein.

Daß die beiden Religionen dennoch nebeneinanderfortbestanden haben, wird durch verschiedene Berichte bezeugt.So soll König Dongyen Deru, der Urgroßvater von SongtsenGampo, einen Bönpo-Medizinmann eingeladen haben, damit erihn von einer Krankheit heile. Songtsen Gampo selbst, der demvon seinen Gattinnen eingeführten Buddhismus wohlwollendgegenüberstand, ließ in einem Tempel in Lhasa Szenen aus den

Überlieferungen der Bönpo-Erzähler und -Sänger aufführen,

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beispielsweise die Geschichte des Hirsches, der zum Himmelhinaufsteigt.

Um solchen Verirrungen der Bon-Religion ein Ende zu

setzen, lud Trisong Detsen, der schon früher als erster einKonzil der verschiedenen Religionsformen einberufen hatte, zueiner weiteren Veranstaltung ein, um ein klares Urteil fällen zukönnen. Bönpo-Anhänger und Buddhisten trafen sich zu einemWettstreit, der zuungunsten der alten Religion ausfiel. TrisongDetsen beschloß, die Bon-Religion zumindest in der Gegendvon Samye zu verbieten, und schickte ihre Priester und Zaubererins Exil. Ihre Religion wurde als häretisch verurteilt. Es ergingder Befehl, die Bönpo-Bücher ins Wasser zu werfen oder untereinem schwarzen Stupa zu vergraben; auch durften keine Pferdemehr geopfert werden.

Ein Glaubenskrieg im eigentlichen Sinne des Wortes, also diephysische Vernichtung der Ketzer, fand jedoch nicht statt; dieBönpo haben an ihren Gebräuchen festgehalten. Vielleichthaben sie ihre Riten vermenschlicht und immer mehr denen der

herrschenden Religion, des Wortes des Buddha, angeglichen.

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einer ausgeglichenen Heiterkeit, also des Glücks, zu führen.Nach dieser Vorbemerkung zitiert er die grundlegenden Wortedes Meisters des Dharma; sie drücken aus, was jeder Handlung

des Geistes, des Leibes und des Wortes zugrunde liegen sollte:Erkennt das Leiden, obwohl es nichts zu erkennen gibt; gebt

seine Ursachen auf, obwohl es nichts aufzugeben gibt; widmeteuch mit Eifer der Entsagung, obwohl es nichts gibt, dem manentsagen könnte; pflegt die Mittel, um dahin zu gelangen,obwohl es nichts zu pflegen gibt.

Das sind die Vier Edlen Wahrheiten.

Das ganze Problem besteht darin, daß man für sich eineLebensweise entdeckt und befolgt, die das menschliche Seinvom Leiden und von dessen unaufhörlicher Erneuerung imKreislauf des Samsara, der Tode und der Wiedergeburten, mitanderen Worten von der Welt der Wünsche und Begierden,erlöst; letztes Ziel ist es, sich völlig von den mit der Existenzverbundenen Bindungen zu befreien und so zur Erleuchtung,zum Nirvana, zu gelangen.

In den ersten Jahrhunderten der Ausbreitung des indischenBuddhismus sind zwei Denkschulen entstanden, das Hinayanaoder »kleine Fahrzeug« und das Mahayana oder »großeFahrzeug«. Die Anhänger des Hinayana versuchen durchKonzentration und Meditation das höchste Glück für sich selbstzu erreichen. Auch die Anhänger des Mahayana pflegen solcheÜbungen, aber ihr Ziel ist es, nicht nur selbst zur Buddhaschaft

zu gelangen, sondern alle Lebewesen so weit zu bringen.Diese zweite Schule mit ausführlicheren Erlöserabsichten hat

reichhaltigere und verschiedenartigere Methoden und Übungenentwickelt. Aus ihr sind zahlreiche geistliche Meisterhervorgegangen, die neue Schulen und Klostergemeinschaftengründeten.

Dieser Version des Buddhismus hat sich Tibet nach den vonKönig Trisong Detsen Ende des 8. Jahrhunderts gewünschten

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und organisierten theologischen Diskussionen angeschlossen.Gewiß hat die neue Lehre, wie wir gesehen haben, die alte Bon-Religion nicht völlig verdrängen können. Wie der ursprüngliche

indische Buddhismus die männlichen und weiblichen Gottheitendes Brahmanismus, insbesondere Shiva in seinen verschiedenenErscheinungsformen, übernommen hatte, nahm auch dertibetische Buddhismus Elemente der Orakelkunst, derAstrologie und der Magie in sich auf, die in den Überlieferungendes tibetischen Hochlandes tief verankert waren.

Während der geistlichen Blütezeit zwischen dem 11. und dem14. Jahrhundert, als sich der Buddhismus dank der Mystiker, diewir kennengelernt haben - Marpa, Milarepa, Atisha -, in Tibetausbreitete, erlebten die verschiedenen Denkschulen einengewaltigen Aufschwung. Aus ihnen sindMönchsgemeinschaften mit eigenen Klöstern und eigenenStudiengängen für Schüler und Mönche hervorgegangen.

Der tibetische Buddhismus hatte durch vertieftes Eindringenin die Lehre eine Auswahl in diesem spirituellen Wildwuchs zu

treffen, um den wahren Weg zu suchen. Die wichtigste Quellefür das spirituelle Suchen wurde die Lehre von Nagarjuna, einesWeisen aus dem ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung27, vondem die Theorie des  Madhyamika, des »Weges der Mitte«,stammt. Nach der Meinung des jetzigen Dalai Lama übersteigtdiese Lehre alle Auffassungen der verschiedenen anderenSchulen des Buddhismus.

Im Westen beginnt man erst, sich ernsthaft mit demBuddhismus zu befassen; sobald die zahllosen Werke tibetischerDenker und Mystiker einmal übersetzt sind, wird man sich vieleJahre lang intensiv mit diesen Schriften beschäftigen müssen,und erst dann wird man den ganzen Reichtum des tibetischenDenkens überblicken können. Ein sehr spezialisiertesesoterisches Vokabular trägt nicht unbedingt dazu bei, einemvon Descartes geprägten Denken das Verständnis zu erleichtern.

Ein Buddhist, der sich in dieser Überfülle von Werken und

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Der Islam 

Noch jetzt gibt es in Lhasa eine Moschee und einemuslimische Gemeinschaft. Wann und wie hat sich der Islam inTibet ausgebreitet?

In ihrem messianischen Eifer sind Allahs Reiterscharen inzwei ungestümen, durch die Himalaja-Kette gegeneinanderabgegrenzten Wellen nach Asien vorgedrungen, im Süden durchdie weiten Ebenen des Indus und des Ganges, im Norden durchdie zentralasiatischen Steppen. Diese zweite Welle bereitete denChinesen 751 in Talas (Turkestan) eine vernichtendeNiederlage, eines der wichtigsten Ereignisse in der Geschichte,denn damit wurde nicht nur die Expansion der T'ang-Dynastie inRichtung Westen gebremst, sondern gleichzeitig auch demIslam in Zentralasien der Weg zum Fernen Osten versperrt.

In diesem 8. Jahrhundert kam es auch zu den ersten Kontakten

zwischen Tibet und der islamischen Welt. Wir stützen uns auf das Zeugnis von Marc Gaborieau, der in seiner Erzählung einesmuslimischen Reisenden in Tibet  von diesen Ereignissen spricht.Er hat ein Manuskript übersetzt, das ein in Katmandu ansässigerKaschmiri, Kwajah Ghulam Muhammad, der Lhasa 1882/1883besucht hatte, auf Urdu verfaßte:

Auf dem Höhepunkt ihrer Macht stießen die arabischenArmeen an den Westgrenzen Tibets, in der Region von Gilgit imheutigen Pakistan, an der Straße nach dem chinesischenSinkiang, mit den Tibetern zusammen; später im Nordwesten inden Oasen Turkestans. Seither kennen muslimische Autoren dasLand, das sie Tibbat nennen (wobei in diesem Namen auchBaltistan und Ladakh eingeschlossen sind28). [...] In denfolgenden Jahrhunderten breitete sich die muslimischeHerrschaft in die Nachbarländer aus; dann verstärkte sich der

Druck im Westen. Im 14. Jahrhundert fiel Kaschmir unter die

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Herrschaft der Sultane. Zweihundert Jahre später unternahmMirza Haidar von Kaschghar aus mehrere Expeditionen nachKafiristan, Ladakh und sogar Tibet; nachdem er 1540 Herrscher

über Kaschmir geworden war, bemühte er sich um dieEntwicklung des Handels mit Zentralasien; um die Sicherheitder Verbindungswege zu gewährleisten, zwang er Ladakh undBaltistan, seine Lehensherrschaft anzuerkennen. Baltistan wurdevom 15. Jahrhundert an islamisiert. Nach der Annexion vonKaschmir durch die Mogulen gegen das Ende des 16.Jahrhunderts ließen sich muslimische Händler endgültig inLadakh nieder. (Den Muslimen aus Kaschmir wurden in den

Jahren 1646/1647 unter der Herrschaft des Mogulkaisers SchahJahan in Ladakh Privilegien eingeräumt, und zwar als Dank fürdie Hilfe, die der Kaiser dem König von Ladakh, DelekNamgyal, im Kampf gegen die Mongolen-Einfälle geleistethatte. Die erste Moschee wurde 1666/1667 in Leh, derHauptstadt von Ladakh, gebaut; die Muslime in Ladakh sindmehrheitlich Schiiten.) Die Muslime befanden sich somit vor

den Pforten Tibets. Sie versuchten bereits auf vielfache Weise,in das Land vorzudringen. Mindestens zwei bewaffnete Einfällesind bekannt: Im 13. Jahrhundert unternahm MuhammadBakhtyar Khalji von Bengalen aus einen fruchtlosenEroberungsversuch; 1535 hatte Mirza Haidar eine Expeditionmit dem Ziel unternommen, »Ü-Sang« (das heißt die ProvinzenÜ und Tsang in Zentraltibet) zu erobern, aber sein Vormarschwurde bei einem Ort namens Askabrak, acht Tagesmärsche von

Lhasa entfernt, aufgehalten.Es fehlte auch nicht an Versuchen, durch friedliche

Ausbreitung des Islam in Tibet Fuß zu fassen. Unter demKalifen Omar II. (717-720) soll eine tibetische Delegation denGouverneur von Khorasan, Djarrah ben Abdallah, aufgesuchtund ihn gebeten haben, jemanden nach Tibet zu entsenden, derdie islamische Religion lehren könnte. Das ist keineswegsunmöglich, wenn man daran denkt, daß zu dieser Zeit in der

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Geschichte des tibetischen Königreiches tiefe spirituelleBedürfnisse erwacht waren, die schließlich in der endgültigenAnnahme des Buddhismus gipfelten. Man darf aber auch, und

vielleicht mit größerer Wahrscheinlichkeit, annehmen, es seidarum gegangen, Kontakte aufzunehmen und Informationen zusammeln, worauf ein begeisterter Geschichtsschreiber eineetwas tendenziöse Deutung dafür gab.

In jüngerer Zeit hat der Reformator Khwajah KhawandMahmud von der Naqshbandiyah-Bruderschaft, der um1606/1607 nach Kaschmir kam, zwei seiner Jünger nach Tibetgesandt, um dort Anhänger für den Islam zu gewinnen.

Vor allem kommerzielle Interessen haben die Muslime in dastibetische Hochland gelockt. Laut Marc Gaborieau soll es schonim 18. Jahrhundert zu Zusammenstößen zwischen Chinesen,Tibetern und Arabern gekommen sein, die alle die Kontrolleüber die Handelsstraße durch Turkestan anstrebten. DieMuslime errangen schrittweise ein Monopol imKarawanenwesen. Das ganze Gebiet war um diese Zeit

islamisiert, und muslimische Kolonien wurden in wachsenderZahl in den chinesischen Provinzen Szetschuan und Kansu ander Ostgrenze Tibets gegründet.

Die tibetischen Machthaber und Geschichtsschreiber habenihrerseits den muslimischen Völkern in ihrer Auffassung undihrer Vorstellung von der Welt und deren Geschichte einen Platzeingeräumt. Solcher buddhistischer Überlieferung gemäß, die

übrigens von muslimischen Autoren im 9. und 10. Jahrhundertaufgenommen wurde, sind die Muslime die Nachbarn Tibets imWesten; Muslime besiedeln auch Tazig, das heißtannäherungsweise den Iran, der nicht so genau von Byzanzunterschieden wurde, und noch näher Kaschmir. Ein arabischerText aus dem 10. Jahrhundert, der  Hudud-Al-Alam, berichtetvon in Tibet ansässigen Muslimen. Doch erst im 17. Jahrhundertfinden sich etwas solidere Zeugnisse.

Der fünfte Dalai Lama (1618-1682) soll Muslimen aus

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Kaschmir die Niederlassung bewilligt haben. Die goldeneLegende berichtet, er habe ihnen ein Quartier im Westen vonLhasa zugewiesen und vom Potala aus vier Pfeile abgeschossen,

um den Ort und dessen Abgrenzung festzulegen. 1624 meldetein Jesuit, Pater de Andrade, Händler aus Kaschmir hätten sichangesiedelt, besäßen aber zu dieser Zeit noch nicht das Recht,sich dauerhaft niederzulassen. 1627 schreibt sein OrdensbruderPater Carella aus Bhutan: »Der hiesige Handel mit den Völkernin Kaschmir wird von ausländischen Händlern kontrolliert, diesich nach Gyantse und Lhasa begeben.« Laut einem anderenJesuiten, Pater Desideri, der sich von 1716 bis 1721 in Lhasa

aufhielt, besaßen die Händler aus Kaschmir in Lhasa undSchigatse Agenturen oder kleine Läden. Sie waren auf direktemWeg durch Ladakh und Westtibet hierhergelangt. Späterbenutzten sie jedoch als regelmäßigen Handelsweg die Routedurch Nepal, das Tal von Katmandu, und anschließend durch dienordindischen Städte Patna, Delhi, Agra und Lahore. Zu Beginndes 18. Jahrhunderts berichtet ein Kapuzinermissionar von

sechsundfünfzig Kaschmiri in Lhasa. Andere kleine Kolonienwaren längs der Wege nach Nepal und im Westen, im Yarlung-Tal, entstanden. Insgesamt dürfte es sich um Gemeinschaftenvon einigen tausend Menschen gehandelt haben. Sie warenderart in die tibetische Gesellschaft integriert, daß sie alsGeldwechsler und Mittelsleute für Handelsgeschäfte reicherTibeter oder der Klöster eine nicht unbedeutende Rolle spielten.Pater Huc hat festgehalten, daß sie von einem weltlichen und

einem religiösen Oberhaupt (Pascha und  Mufti) regiert wurden,dessen Autorität von der tibetischen Regierung anerkannt war.Die von Marc Gaborieau übersetzte Erzählung desmuslimischen Reisenden vermittelt ein anschauliches Bild ihrerreligiösen Bräuche: strikte Beachtung der täglichen Rituale, derBeschneidung, der Wallfahrt nach Mekka, des Fastens währenddes Ramadan, der Verehrung der heiligen Gründer derQadiriyah- und Naqshbandiyah-Gemeinschaften. Ein Imam

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leitete die Gebete und lehrte an der Koranschule. Eine aus demImam und drei gewählten Mitgliedern bestehende Kommissionverwaltete eine fromme und gemeinnützige Stiftung (Waqf).

Für die religiösen Unterweisungen wurde nicht so sehr auf arabische, sondern auf persische und in Urdu geschriebeneBücher aus Bihar zurückgegriffen, die somit den nordindischenIslam vermittelten. Meinungsverschiedenheiten zwischenKaschmiri und Tibetern wurden von einem gemischtenGerichtshof geregelt. Die meisten Ehen wurden innerhalb derGemeinschaft geschlossen, bisweilen mit chinesischenMuslimen.

Im Bericht von Kwajah Ghulam Muhammad werden zweiweitere Gruppen von Muslimen in Lhasa erwähnt, die Ghariboder Armen, vermutlich Angehörige von Randgruppen,Verbannte oder Verurteilte, die von reichen Kaschmiriunterstützt wurden, und die Ho-Pa-Ling, Muslime chinesischerAbstammung. Die letzteren hatten ihre eigenen Quartiere,meistens auch besondere Berufe, zum Beispiel Fleischer und

Gastwirt; an ihren Kleidern und ihrer Nahrung ließ sich nochihre Herkunft erkennen.

Die muslimische Überlieferung hat in ihrem Überschwangsogar die Idee verbreitet und wachgehalten, der fünfte DalaiLama habe sich nach einer Begegnung mit dem heiligen KhairUd-Din, der als Händler verkleidet aus Patna hergereist sei,heimlich zum Islam bekehrt. Das ist freilich nur eine Legende.

Man muß sie in einem doppelten Zusammenhang sehen.Einerseits waren die Kaschmiri und die muslimischen Chinesenin die Gesellschaft integriert, und andererseits befleißigte sichder tibetische Buddhismus den Glaubensgemeinschaften undGeisteshaltungen von universalistischem Anspruch gegenüberintelligenter Toleranz.

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Das Christentum 

Aus Legenden, Überlieferungen, Geschichte und Archäologieergeben sich keinerlei Hinweise auf das Christentum in Tibet.Während der großen Zeit der nestorianischen Kirche inZentralasien, nach deren Verurteilung auf dem Konzil vonEphesus (431), gelangten um das Jahr 635 Missionare an denHof der T'ang, wo sie sich gegen die in China schon festetablierten Buddhisten wandten. Doch durch Tibet sind sie

höchstens aus Neugierde gereist, wie später die Jesuiten im 17.und zu Beginn des 18. Jahrhunderts, die Kapuziner etwas späterund der Lazarist Evariste Huc mit seinem Begleiter Gabet in denJahren 1845/1846.

In seiner Geschichte der Kirche29 erwähnt Daniel-Rops, ohnefreilich genauer darauf einzugehen: »Noch heute lassen sichSpuren des Nestorianismus bei verschiedenen lamaistischen

Sekten erkennen; es gibt bei ihnen eine geheime Zeremonie, dieaus der Eucharistie hervorgegangen zu sein scheint und die auf einer geheimnisvollen Kraft des Senfkorns beruht.« Vielleichtbesteht eine Analogie, zweifellos aber keine direkte Beziehung,denn dafür ist das tibetische Ritual zu reichhaltig, vielfältig unduniversell.

Den Jesuiten gelingt es nicht, in Tibet das Bekehrungswerkfortzusetzen, das Pater Matteo Ricci in China begonnen hat.

1721 werden sie von Kapuzinern abgelöst, die in Lhasa die erstekatholische Kapelle errichten und um die dreißig Gläubigetaufen. Die Mission bleibt jedoch eine kurzlebige Episode.Schon 1745 verschwindet sie auf chinesischen Druck und auseher politischen denn religiösen Motiven endgültig aus dergeistlichen Landschaft Tibets.

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Die außenpolitischen Beziehungen (China, Indien, Nepal) 

Ein eigentlicher politischer Raum ist, wie wir gesehen haben,in Tibet mit der Institutionalisierung der Königsmacht um dasJahr 600 unserer Zeitrechnung entstanden. Zuvor hatten sich dieBeziehungen zu den Nachbarn bestenfalls auf Zusammenstößezwischen Stämmen bei der Abgrenzung ihrer Lebensräumebeschränkt.

Im Norden und Westen des Hochlandes sind die Tibeter durchdie beweglichen Nomaden, deren plötzlichen Aufstieg zumächtigen Gemeinschaften, die sich wie Brandungswellen in dieNachbarschaft ausbreiteten, mit verschiedenen Völkerschaftenin Berührung gekommen, deren Namen in der tibetischenÜberlieferung und Sprache mit Begriffen wie Armee undPferde, Wildheit und Gewalt verbunden sind - »fast wie Gog

und Magog in unserem Mittelalter« laut Rolf A. Stein. Von denOasen (Turfan, Kucha, Khotan) abgesehen, die rasch derchinesischen Lehensherrschaft unterworfen wurden, vermochtendie Tibeter den Expansionsdrang mächtiger Kriegervölkereinzudämmen: der Turkvölker vom Orkhon und vom Ili, derUiguren aus dem Tarimbecken.

Weiter im Westen faßt die tibetische Überlieferung den Iran,Byzanz und die großen Oasen von Sogdiana, freilich ohnegenaue Ortsangabe, unter der Bezeichnung Tazig zusammen.Dieser Name ist vermutlich vom persischen Volk derTadschiken, den Ta-Che der Chinesen, abgeleitet. Beziehungenzu noch weiter entfernt liegenden Gebieten sind eher alsMärchen aufzufassen, die von abenteuerlichen Erlebnissenwaghalsiger Händler genährt wurden.

Indien im Süden, das nach der Invasion der Hephthaliten oder

Weißen Hunnen in viele kleine Dynastien zerfiel, bestand für

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die Tibeter bloß aus den Königreichen der Harsha, der Kanauam Oberlauf des Ganges und der Pagh in Bengalen. (An derHimalaja-Kette hörte die begrenzte militärische Macht dieser

Fürstentümer auf; doch sie haben Tibet etwas gebracht, was imLand eine unauslöschliche Spur hinterlassen und ihm seineEinheit und seine Macht verliehen hat: den Buddhismus.)

Letzten Endes hatten die Tibeter keine andere Wahl, als sichmit zwei Nachbarn, China und Nepal, zu schlagen oder zuverständigen. Als Songtsen Gampo das tibetische Königreicheinigte und organisierte, bestimmte er durch seine doppelteHeirat mit einer nepalesischen und einer chinesischen Prinzessindie Beziehungen zu diesen beiden Staaten. Von da an habenimmer mehr indische und chinesische Reisende Tibet besucht.Offizielle Delegationen haben in immer größerer ZahlInschriften oder Berichte in den Archiven hinterlassen.

Zu Nepal, das dem brahmanischen Glauben immer treugeblieben ist, bestanden nur lockere Beziehungen. Pilger auf dem Wege zu den heiligen buddhistischen Orten von Bodhgaya

und Händler kamen über die Grenze. Eine kleine nepalesischeGemeinschaft hat schon immer in Lhasa und in einigenwichtigeren Orten an dieser Verbindungsstraße gelebt; dieseBeziehung ist noch immer daran zu erkennen, daß es in Lhasaeine einzige ausländische Vertretung gibt, nämlich dasnepalesische Konsulat.

China war und ist noch immer für Tibet das grundlegende

Koexistenzproblem. Die Geschichte der Beziehungen zwischenden beiden Ländern - man kann sogar von Staaten sprechen, seitdas tibetische Königtum den Sippen eine einheitliche Strukturaufzuzwingen und eine Verwaltung zu organisieren vermochte,die zwar noch feudalistisch strukturiert, aber doch auch schon zunationalistischen Reaktionen imstande war ist geprägt durchKriege, Austausch von Delegationen, Verträge, Ehen. Diechinesischtibetischen Beziehungen lassen sich nicht ohne

weiteres in eine Kategorie einordnen, die den durch die

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Entwicklung des internationalen Rechts geschaffenen Normenentsprechen würde. In der Nachbarschaft eines chinesischenImperialismus leben zu müssen, der von den

aufeinanderfolgenden Dynastien mit bemerkenswerterKontinuität betrieben wurde (noch im 19. Jahrhundert hattePeking die Tendenz, das viktorianische England als einenpotentiellen Vasallen zu betrachten), war keine geruhsameAngelegenheit; dafür wurde mehr Geschick als Macht, mehrÜberzeugungskraft als Kompromißbereitschaft benötigt. Darausist eine äußerst vieldeutige Situation entstanden, die sich sowohlaus den Dokumenten als auch aus den Ereignissen herauslesen

läßt und die alle möglichen Interpretationen zuläßt.Die erste chinesische Prinzessin, die Königin von Tibet

geworden ist, Wen Cheng, hat ihren Gatten um mehr als dreißigJahre überlebt; bevor sie im Jahr 680 verschied, lernte sie zweiweitere Könige kennen, die nicht von ihr abstammten, die sieaber immer geachtet haben. Ein Vierteljahrhundert später setzteKönig Tride Tsukten, wie wir gesehen haben, die von seinem

Großvater begonnene Heiratspolitik mit China fort. Es stellt sichdie Frage, ob die Prinzessin Kin Ch'eng, die ihm zur Gattingegeben wurde, eine Adoptivtochter oder eine Großnichte desKaisers Chong-Tson war. Der Kaiserhof in Peking hatte größteSchwierigkeiten mit der Nachfolgeregelung, als die tibetischeDelegation die Braut abholte. Diese brach, wie wir gesehenhaben, mit einer genauen Beschreibung der ihr aufgrund der ihrzugedachten Funktion und aus Gründen der Staatsräson

zustehenden Titel und Privilegien nach Tibet auf. Und KaiserJui Tsung, der wahrlich Mühe hatte, seine Autoritätdurchzusetzen, verlor die tibetischen Angelegenheiten nie ausden Augen. Im Jahr 711 entsandte er eine Delegation mit demText eines Erlasses nach Lhasa, welcher der Prinzessin höchstoffiziell kaiserliche Legitimität zuerkannte. Hinter dieseranscheinend rein formalen Anerkennung zeigt sich ein Wille,die politischen Privilegien, die sich aus der ehelichen

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Verbindung ergaben, auf eine unanfechtbare legale Weisefestzuschreiben. Mit dem Hinweis auf die durch dieAbstammung bestehende Beziehung wird eine Abhängigkeit

durch familiäre Bindung festgelegt. Die Tibeter wurdenumgekehrt durch diese Bindung zu Gleichberechtigten, denn einSchwiegersohn ist nicht bloß ein Vasall. Diese unterschiedlicheInterpretation zog einen Austausch von gereizten und beidseitsarroganten diplomatischen Depeschen nach sich. Lhasa fordertedas Recht auf Nutzung der Güter der Prinzessin, die ausfruchtbaren Grundstücken am linken Ufer des Gelben Flussesbestanden. Peking wollte jedoch keine Feudalrechte zugunsten

der Tibeter zulassen und überhäufte den tibetischenAbgesandten mit ablehnenden Argumenten; der unglücklicheDiplomat, seine Exzellenz Li Kuei, starb, noch während er mitseinem Auftrag beschäftigt war, an Erschöpfung. Die PrinzessinCh'eng überlebte die Meinungsverschiedenheiten bis zum Jahr739; sie hatte Tibet einen Sohn geschenkt, der zum großenKönig Trisong Detsen werden sollte.

Von Grenzkonflikten geprägte Jahre gingen dahin, bevor einneuer Vertrag die chinesischtibetischen Beziehungen durcheinen präziseren historischen Inhalt ergänzte. In diesem Text,den wir schon kennengelernt haben, kamen die beiden Parteienüberein, die Harmonie ihrer wechselseitigen Beziehungen durchden ausdrücklichen Hinweis zu untermauern, daß zwischenMitgliedern ein und derselben Familie, in diesem Falle Onkelund Neffe, eine ganz besondere Beziehung bestünde. Die beiden

Staaten anerkannten ihre Grenzen auf der Grundlage der zudieser Zeit von den beiden Partnern besetzten Territorien; dieserBegriff einer bloßen Besetzung ermöglichte es China, dieSchwächung der königlichen Macht zur Zeit des angefochtenenMonarchen Langdarma dafür zu nutzen, um 850 die Gebietezurückzuerobern, die nach Meinung seiner Herrscher von denTibetern widerrechtlich in Besitz genommen worden waren.

Die mongolische Dynastie war mit ihren

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Vorherrschaftsansprüchen gegenüber Tibet noch weitergegangen; sie hatte Volkszählungen veranlaßt undVerwaltungsreformen durchgeführt, die zunächst ihren

Schützlingen, der Sakyapa-Gemeinschaft, nützten, wie wirgesehen haben. Sie wird noch einmal in bezeichnender Weisebei der Entstehung einer religiösen und politischen Institutionintervenieren, durch welche die tibetische Landschaft ein neuesGepräge erhält; die Bekehrung der Mongolen zum Buddhismuswird umgekehrt zu einer Art Patenschaft für die kommendeInstitution des Dalai Lama.

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Zweiter Teil: DER BEGINN 

  In einem Zustand reiner Geistigkeit nimmt der Buddha dassichtbare Leben an, um mitzuwirken für das Heil aller. 

Aus einem Gesang Marpas

Der Aufbau einer zentralen Staatsgewalt und die Ausbreitungdes Buddhismus waren in Tibet zwei eng miteinanderverkoppelte Vorgänge. Weil sich zwischen der Struktur und derOrganisation der Gesellschaft auf der einen und der Ausbreitungder Religion auf der anderen Seite eine vollkommene Symbioseausgebildet hatte, läßt sich unmöglich ein Unterschied zwischeneinem weltlichen Bereich und einer geistlichen Sphärefeststellen. Als sich unter dem Schutzmantel des Christentums

die europäischen Nationen bildeten, war genau dasselbegeschehen; das römische Pontifikat hat mit der Taufe vonChlodwig die Herausbildung einer Dynastie beeinflußt, unddasselbe geschah 751 mit der Legitimierung von Pippin demJüngeren durch Papst Zacharias, diesen scharfsinnigen Papstgriechischer Abstammung; durch die Belehnung des HausesAnjou mit Sizilien und 962 bei der Wiederherstellung desWestreiches durch Otto den Großen hat die Kirche ebenfalls inweltlichen Fragen eingegriffen, vom Schiedsspruch, den PapstAlexander VI. 1498 über die Aufteilung des neu entdecktenKontinents Amerika zwischen Spanien und Portugal gefällt hat,gar nicht zu sprechen.

»Überall und jederzeit hat sich das Priestertum bemüht, diezeitliche Macht in seine Hand zu bekommen und die weltlicheRegierung der Religion unterzuordnen.«30 In unserer Zeit könnte

man, obwohl von der Größe her erhebliche Unterschiede

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I Gendün Drub 1391-1475 

Heiligkeit war nicht bloß ein Ehrentitel des ersten geistlichenOberhaupts der Tibeter.

Gendün Drub wurde noch nicht als Dalai Lama bezeichnet;dieser Titel ist erst 1578 eingeführt worden, wie wir noch sehenwerden; seine Biographen bezeichnen ihn als  Mahatma, mit

einem Ausdruck aus der indischen Philosophie, der sich mit»große Seele« übersetzen ließe.

Zwei Biographien des »ersten Dalai Lama« sind bis in unsereZeit erhalten geblieben. Die eine, Juwelen-Kette (String of Jewels), wurde ungefähr zwanzig Jahre nach seinem Tod voneinem Mönch in Tashilhunpo verfaßt, in jenem Kloster, dasGendün Drub gegründet und errichtet hatte. Der Autor, Ye-SheTse-Mo, war ein Jünger des gelehrten Heiligen gewesen. Er

stützte sich zusätzlich auf Notizen von jungen Mönchen; diesehatten Belehrungen aufgezeichnet, die sie von ihrem Meisterzum Überdenken erhalten hatten.

Die andere ist ebenfalls das Werk eines Mönchs, KüngaGyaltsen; sie wurde 1497 verfaßt. Diese Schrift hält sich nichtan den zeitlichen Ablauf, sondern behandelt in zwölf Kapitelnverschiedene Aspekte aus dem Leben und der Tätigkeit von

Gendün Drub; dem Verfasser, der seinem in einem anregendenund poetischen Tonfall geschriebenen Werk den bezeichnendenTitel  Die zwölf hervorragenden Taten des allwissenden Gendün

 Drub gegeben hat, ging es darum, eine Art Handbuchvorzulegen, das die Verhaltensweise auf dem Weg zurHeiligkeit aufzeigte.

Der Mann, welcher der erste in der Reihe der geistlichenFührer Tibets werden sollte, ist als Kind einer bescheidenen

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Familie in der Provinz Tsang zur Welt gekommen, im zentralenTeil des Landes, nicht weit von Sakya entfernt. Seine Eltern,Hirten-Nomaden, gaben ihm den Namen Padma Dorje, »Lotus

und Blitz«. Sie hatten bereits zwei Söhne und bekamen späternoch eine Tochter.

In der Nacht, als das Kind geboren wurde, überfielenBanditen das Lager. Die Mutter wickelte ihren Sohn in eineDecke und versteckte ihn in einer Felsenhöhle, bevor sie in dieHügel floh. Als sie am folgenden Tag zurückkehrte, um dasKind zu holen, erschrak sie, denn um die Stelle, wo sie das Kindversteckt hatte, hatten sich Raben und Schakale angesammelt.Sie ging auf die Höhle zu: Ein riesiger schwarzer Vogel wachteneben dem Säugling und schützte ihn vor den anderenRaubtieren. In seinem Kommentar bezeichnet der Verfasser denRaben als eine Inkarnation von Mahakala, dem Bodhisattva derWeisheit31, und er schließt daraus, daß Gendün Drub schon beiseiner Geburt von göttlichem Segen und vom Schutz derhöheren Mächte getragen war. Im 15. Jahrhundert sind in Tibet

alle spirituellen Werke von wunderbaren Geschehnissendurchdrungen. Gilt aber nicht dasselbe auch für die literarischenund spirituellen Werke im christlichen Europa? In seinerBeschreibung des Lebens des heiligen Remigius berichtetErzbischof Hinkmar 878 im Zusammenhang mit der TaufeChlodwigs, an diesem Tag habe man vom Himmel eine Taubeherabfliegen sehen, die weißer als Schnee war und in ihremSchnabel ein Gefäß mit geweihtem Öl herbeitrug; das heilige

und wundertätige Öl für die Salbung der Könige soll sich indiesem Gefäß fortwährend erneuert haben.

Fraglich ist, ob Gendün Drub wirklich ein Neffe vonTsongkhapa war; die Wahrscheinlichkeit ist nicht sehr groß,denn die beiden Persönlichkeiten stammen aus weit voneinanderentfernten Regionen und Familien; nur die äußeren Anzeichenhätten darauf hinweisen können. Die Geburt und die ersten

Lebenstage des Kindes waren zwar durch wunderbare

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Geschehnisse geprägt gewesen, aber man unterzog es nichtschon in frühester Jugend dem Verfahren für die Erkennungeiner göttlichen Reinkarnation; diese Methode wurde erst später

für die Suche eines Nachfolgers für einen verstorbenen DalaiLama entwickelt. Aufgrund der wunderbaren Vorkommnisse imLeben des jungen Mannes läßt sich aber vermutlich kaumbestreiten, daß eine moralische und religiöse Autorität über ihngewacht hat.

Er war erst sieben Jahre alt, als sein Vater starb. Seine Mutterbrachte ihn im Kloster Narthang unter; einer der Würdenträgerdieser Gemeinschaft, der Mönch Geshe-Choshe, gehörte ihrerFamilie an. Die außergewöhnliche Intelligenz und diezartfühlende Empfindsamkeit des Knaben fielen seinen Lehrernvon allem Anfang an auf. Schon bald wurde er in eine Vorstufedes Noviziats aufgenommen, womit der lange Weg dermönchischen Unterweisung begann. Grundwissen und Stil,Bedeutung und Form waren in der vom Buddhismus für dieintellektuelle und künstlerische Ausbildung entwickelten

Methode eng miteinander verquickt. Zur Belehrung gehörtenicht nur das Studium der Schriften, sondern auch dieKalligraphie, die Illustration von Texten und die Malkunst. AlsFünfzehnjähriger erbat sich der Knabe von seiner Mutter dieErlaubnis, die Mönchsweihe empfangen zu dürfen; als sie ihmgewährt wurde, erhielt er auch einen neuen Namen: GendünDrub.

Noch fünf Jahre lang vertiefte Gendün Drub seine Kenntnissein den heiligen Büchern und übte sich im Dharma ein, derGesamtheit der Regeln, die den Weg zur Weisheit und zurBuddhaschaft aufzeigen; gleichzeitig beteiligte er sich auchschon an der Ausbildung der jüngeren Schüler. Mit zwanzigJahren trat er endgültig der Mönchsgemeinschaft bei.

Die ausführliche Biographie enthält eine Liste der sechzigMeister, die ihm ihre Belehrungen zuteil werden ließen. Man

darf annehmen, daß aus einer derart spirituellen und

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intellektuellen Atmosphäre eine Persönlichkeit von zu dieserZeit seltenem Bildungsniveau hervorgegangen ist; natürlicheVoraussetzungen beim betreffenden Menschen mußten

selbstverständlich einen günstigen Nährboden bilden; nur sokonnte die Gesamtheit der verfügbaren Kenntnisseaufgenommen und für Handlungen genutzt werden, die in dieserGeschichtsperiode, die durch die Entstehung eines neuenMachtgefüges geprägt war, Tibet dann die entscheidende Wendegaben.

Die Könige und ihre Minister behielten ihre Funktion; sietrugen die Verantwortung für das richtige Funktionieren einerweltlichen Verwaltung, die für die Gesellschaft offenbar vongeringer Bedeutung war; in der Geschichtsschreibung habendiese Männer und ihre Politik keine Spuren hinterlassen. Dieganze Aufmerksamkeit des Volkes galt den mönchischenInstitutionen, die für die Struktur der tibetischen Gemeinschaftund das Alltagsleben jedes einzelnen Menschen bestimmendwaren.

Gendün Drub konzentrierte sich bei seinen Studien und inseiner Lehre auf die Sutras, die den sogenannten »Korb«(Pitaka) der Disziplin (Vinaya) bilden; die Einübung in dieMeditation wurde unterbrochen durch Zusammenkünfte fürDiskussionen und den Austausch von Erfahrungen und Ideen. Inder Person und in den Auffassungen von Gendün Drub findetdie Lehre des Mahayana-Buddhismus möglicherweise ihrenklarsten Ausdruck.

Ich habe nicht die Absicht, mich in den Einzelheiten mit denGrundsätzen der buddhistischen Religion in ihrer spezifischtibetischen Ausprägung zu befassen. Es sei nur festgehalten, daßdie tibetischen Mönche dem vom Buddha Shakyamuniformulierten Ideal voll nachgelebt und es fortwährend im Alltagangewandt haben: »Keines der Wesen aufgeben und in Wahrheiterkennen, daß alle Dinge leer sind.«32 Der Begriff der Leere -

die Entleerung des Universums von den Wirklichkeiten - ist die

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Voraussetzung für die Loslösung von der Welt und führt zurSelbstauslöschung. Gendün Drub hat das Ideal der Liebe unddes Mitgefühls mit allen Wesen folgendermaßen in die höchste

Form gebracht und in seinen Werken zusammengefaßt:Man muß sich bemühen, zur Erleuchtung zu gelangen, und

zwar nur deshalb, damit letztlich alle profitieren.

Die religiöse Praxis und das Denken sind untrennbarmiteinander verquickt; alles trägt zur Konzentration und zurLoslösung bei. Gendün Drub und seine Jünger schritten imTempel auf und ab, wobei sie fortwährend diesen grundlegenden

Vers wiederholten:Die allwissenden Buddhas kümmern sich nicht um die Sorgender Welt; Verlust oder Gewinn, Behaglichkeit oder Unbehagen,Bekanntheit oder Unauffälligkeit, Ruhm oder Tadel bedeutenihnen wenig; diese acht Eigenschaften sind für sie wertlos, undsie schenken ihnen keine Beachtung.

Gendün Drub steht in diesem Stadium der Erkenntnis demReformer Tsongkhapa nahe, der, wie wir gesehen haben, direktoder durch Vermittlung seiner Jünger eine große Aktivität beider Gründung neuer Klöster entfaltet hat.

Eine weitere Eigenschaft zeichnet sich im Leben und in derLehre von Gendün Drub ab: Toleranz gegenüber anderenAuffassungen. Er selbst hat sich nie davon abhalten lassen,anderen zuzuhören, die nicht wie er dachten, und er hat esseinen Jüngern nie untersagt, sich von Anhängern anderer

Schulen des tibetischen Buddhismus belehren zu lassen. Wichtigwar ihm, die satte Selbstzufriedenheit auszulöschen, daEgoismus der schlimmste Feind ist; seiner Meinung nach kannund muß jeder Weg zur Erleuchtung führen, sofern man nie vonder Wertschätzung des anderen abweicht und den Lebewesenwohlwollend gesinnt ist.

Trotz aller Aufmerksamkeiten und Gunstbezeugungen, mitdenen er überhäuft wurde und die man als ein Zeichen seiner

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göttlichen Auserwählung betrachten darf, ist er dennoch nie vonder Tugend der Demut abgewichen. Während seines ganzenLebens hat er sich Zeit genommen, sich in die Stille und die

Meditation zu versenken. Durch nichts hat er sich von seinerspirituellen Konzentration abhalten lassen. So hat er sich imAlter von fünfzig Jahren in eine Einsiedelei beim KlosterNarthang zurückgezogen; im Gebiet brach aber ein bewaffneterKonflikt aus, der ihn zwang, seinen Wohnsitz zu wechseln. Dervom Biographen Gendün Drubs verfaßte Bericht über diesenZwischenfall beweist, daß er, der später als der erste Dalai Lamaanerkannt werden sollte, sich in keiner Weise in die weltliche

Staatsführung einmischte. Offenbar war es eine Hauptsorge derreligiösen Persönlichkeiten, die mönchischen Einrichtungen ausden Umwälzungen in der weltlichen Gesellschaft herauszuhaltenund sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, nämlich dieErhaltung des buddhistischen Ideals und den Schutz der Klöster- die Tempel des Denkens und der Religion scheinen von denKampfparteien immer respektiert worden zu sein; die

politischen Ereignisse waren für die tibetischenGeschichtsschreiber bedeutungslos, denn sie berichten in ihrenDokumenten nicht über die Wechselfälle in der weltlichenGesellschaft und die Rivalitäten unter den Machthabern.

Gendün Drub hat sich nicht damit begnügt nachzudenken, zumeditieren und zu lehren. Er hat auch die mönchischen Bautenin Tibet um ein wahres Juwel bereichert: Im Jahr 1447 beganner in der Umgebung der Stadt Shigatse mit dem Bau des

Klosters Tashilhunpo. Mit seiner persönlichen Ausstrahlung undseinem Ansehen vermochte er die Gläubigen dazu zu bewegen,die dafür benötigten Geschenke und Geldmittel aufzubringen.

Dem Tempel und seinem Gründer sind viele Gabenzugeflossen. Gendün Drub behielt nichts für sich, er führte eineinfaches und anspruchsloses Leben. Alle Güter, die er erhielt,wurden für die Gemeinschaft verwendet; neue Bauten wurden

damit errichtet und die Kosten gedeckt für die großen

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Mit dieser Arbeit wurde sogleich nach der Weihe der Statuedes Buddha Maitreya begonnen. Zuerst wurden die beidengrundlegenden und umfangreichen Sammlungen der heiligen

Schriften Tibets, Kangyur  und Tengyur , gedruckt. Dieursprünglich in Sanskrit verfaßten Schriften waren vom Abt undvon den Mönchen des Klosters Shalu übersetzt und geordnetworden. Dieses Kloster Shalu, zweiundzwanzig Kilometer vonShigatse entfernt, war 1040 von adligen Familien in der ProvinzTsang gegründet worden. Durch ein Erdbeben war es 1329zerstört worden, es wurde aber auf Befehl eines Kaisers derchinesischen Mongolendynastie 1333 wieder aufgebaut. Der

erste Abt von Shalu, Butön, der von 1290 bis 1364 lebte, hatnicht nur die bereits erwähnten Übersetzungen angefertigt,sondern auch eine Geschichte des Buddhismus in Indien und inTibet verfaßt.

Gendün Drub selbst schrieb ebenfalls zahlreiche Bücher; zuseinem Werk gehören Kommentare zu den heiligen Texten,Essays, Gebete und sogar Gedichte. Das war einer der Gründe,

weshalb er als der erste Dalai Lama anerkannt wurde, denn erhat, und seine Nachfolger haben ihn darin bestätigt, dieTradition begründet, daß der Mönch, der Tibet verkörpert, vorallem ein Schriftsteller und ein Prediger ist.

Für seinen Biographen ist sein reiches schöpferisches Werkzuallererst ein Ausfluß des von ihm angehäuften Wissens. Wasihm seine Meister im Kloster Narthang und später Tsongkhapa,der Reformator und Gründer der Gelugpa-Mönchsgemeinschaft,aus der die spätere Linie der Dalai Lamas hervorgegangen ist, anWissen weitergegeben hatten, ergänzte er durch eigeneForschungen. Dabei hielt er sich mit offensichtlicher Vorliebean den ersten Reformator des tibetischen Buddhismus, diesenMönch bengalischer Herkunft, der, wie wir gesehen haben, 1042nach Lhasa gekommen war: Atisha, auf den die vom Kadampa-Orden weitergepflegte Liturgie und mönchische Disziplin

zurückgeht. Es ist zu einem großen Teil der Energie von Gendün

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zusammentreffen mußte. Der Obere eines abgelegenen Klosters,in dem er sich aufhielt, als er das fünfzigste Lebensjahr erreichthatte, erklärte ihm, er habe eine himmlische Botschaft erhalten,

die ihm den Befehl erteile, in das zentrale Hochland Tibetszurückzukehren; und wenig später mußte er dort tatsächlich mitden Arbeiten am Kloster Tashilhunpo beginnen.Achtundzwanzig Jahre seines Lebens widmete er diesem Bau,der Anfertigung der Statuen und der heiligen Bilder, derNiederschrift von Texten und der Ausbildung der Novizendieser Gemeinschaft.

Im Jahr 1474 feierte Gendün Drub das große Gebetsfest.Anschließend zog er sich sieben Tage lang zur Selbstbesinnungzurück, worauf er sich entschloß, noch einmal das KlosterNarthang aufzusuchen, wo er sein geistliches Leben begonnenhatte. Bei seiner Rückkehr nach Tashilhunpo vor demWintereinbruch mußte er auf einer Sänfte getragen werden, weilsich sein Gesundheitszustand verschlechtert hatte. Kaumangekommen, wollte er die Jahresversammlung der Mönche

leiten; als er immer schwächer wurde, beteten seine Mitbrüderfür ihn; sie leiteten die Rituale für Gesundung und langes Lebenein. Gendün Drub gab ihnen den Rat, sich lieber den von derOrdensregel für die bevorstehende Versammlungvorgeschriebenen Arbeiten und spirituellen Übungen zuwidmen. Er selbst fand noch die Kraft, vor der Versammlung zupredigen. Er legte seinen Mönchen vor allem die Meditation ansHerz. Um die Mitte des ersten Wintermonats rief er die

wichtigsten Meister seines Klosters zu sich, um ihnen seineletzten Ermahnungen mitzugeben:

Widmet euch zuallererst den Tätigkeiten, die auf den Weg derErweckung führen. Ich wäre gerne für immer bei euchgeblieben, doch für mich ist die Zeit gekommen, da ich euchverlassen muß. Das soll für euch keine Quelle von Bedauernsein; es ist der natürliche Lauf der Dinge. Nach meinem

Weggang wird es nicht notwendig sein, die üblichen Rituale zu

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vollziehen oder ein Grab für meine Überreste auszuheben.Verbrennt meinen Leib, vermischt die Asche mit Ton und formtdaraus Bilder des wundertätigen und unerschütterlichen Buddha.

Es wäre gut, diese Bilder in einem einfachen Unterstandaufzubewahren. Wenn nicht, so sollt ihr nur die Gebete für dieVerwirklichung der Wünsche und der Gelübde lesen, die icheuch immer empfohlen habe. Falls ihr mir treu bleiben wollt undspürt, daß meine Arbeit mitten unter euch für euch nützlich war,so bleibt im Kloster Tashilhunpo beisammen, arbeitet für dasWohl der Gemeinschaft und für die Erhaltung und Verbreitungder Botschaft des heiligen Dharma.

Er übergab ihnen die Schlüssel des Klosters. Der Mönch, derseinen Lebenslauf verfaßt hat, betont die besondere Tragweiteund Bedeutung dieser Geste34: Alle im Zimmer anwesendenMitglieder des Klosterkonvents, so berichtet er, hatten Angstdavor, die Verantwortung für das Kloster zu übernehmen. »Wiesollen wir es leiten und verwalten?« fragten sie ihr Oberhaupt.Gendün Drub gab ihnen zur Antwort: »Ihr müßt den Rat der

Ältesten einholen und gemeinsam die Entscheidungen fällen, dieihr für zweckmäßig haltet.«

Der älteste der Mönche blieb bei seinem im Sterben liegendenAbt. Während der ersten Nachthälfte beteten die beiden Männer,sie konzentrierten ihre Gedanken mit Hilfe der Technik destantrischen Yoga auf eine intensive Meditation. Um Mitternachtschlummerte Gendün Drub für einige Stunden ein. Vor demMorgengrauen konnte er noch einmal meditieren und seineAtmung unter Kontrolle bringen. Als der Tag sich ankündigte,zeigten sich alle Anzeichen einer Verwirklichung dervollständigen Leere des Geistes: Er hatte den Punkt der Weisheitund der Vollkommenheit erreicht. Das geschah in den erstenJanuartagen 1475.35 

Dreizehn Tage lang, bis zum ersten Vollmond des neuenJahres, legte sich völlige Stille über die Region; nicht der

geringste Windhauch, kein Vogelgesang. Der Himmel blieb

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gleichförmig und intensiv blau, ohne die kleinste Wolke. AlleZeugen sahen darin ein Zeichen, daß der Mann, der die Welt derLebenden verlassen hatte, ein Weiser gewesen war, der den

höchsten Grad der Erkenntnis erreicht hatte.An den Trauerzeremonien und -gebeten beteiligte sich eine

riesige, innerlich gesammelte Volksmenge. Auf dieAufforderung der Mönche hin brachten die Gläubigen Gaben fürdie Errichtung eines Klosters. Der Leib des Verstorbenen wurdemit auserlesenen Wohlgerüchen gesalbt und in feineSeidentücher gehüllt. In seinem mit kostbaren Steinengeschmückten Holzsarg wurde er von Mönchen und Pilgernverehrt. Gleichzeitig wurde ein silberner Stupa errichtet. Imfolgenden Jahr wurde sein Körper in den Stupa gebracht, wozudie Mönche Texte aus den heiligen Schriften rezitierten.

Gendün Drub ist der einzige Dalai Lama, der in Tashilhunpobestattet worden ist.

Möge die Erzählung, die ich zusammengestellt habe, zumDurchbruch der Wahrheit und der Güte in der Welt beitragen;

und dafür, daß ich sie geschrieben habe, hoffe ich auf denSchutz von Gendün Drub in allen meinen künftigen Leben.

Mit diesen Worten schließt die vom Mönch Künga Gyaltsenverfaßte Biographie. Wie er getreulich berichtet hat, ist der ersteDalai Lama nicht in der Pracht königlicher Paläste geborenworden; er stammt aus den bescheidensten Kreisen dertibetischen Gesellschaft. An die Spitze seiner Zeit und seines

Landes gelangte er durch fortwährendes Bemühen um geistigeund geistliche Erkenntnis und durch bedingungslose Beachtungder Regeln für das Mönchsleben, zu dem er durch eigeneEntscheidung und seine Vorbestimmung geführt worden war.Der Bericht über seine Werke trägt zweifellos hagiographischeZüge, doch in ihm widerspiegelt sich auch das reiche geistigeLeben der tibetischen Gesellschaft im 14. und 15. Jahrhundert.Weil er sein Leben ganz der Botschaft des Buddha geweiht

hatte, wurde er zu einer Quelle von Anregungen für seine Jünger

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und das tibetische Volk. In der Geschichte Tibets hat erunzerstörbare Spuren hinterlassen, die noch jetzt in denReaktionen und Bestrebungen der Tibeter sichtbar sind. Das

Wunderbare im tibetischen Buddhismus ist um das Beispielseines Übergangs vom Leben zum Tod in einer Phase tieferMeditation bereichert worden. Seine Schriften haben diereligiöse Literatur beeinflußt; und die von ihm angeregten undgeförderten architektonischen und künstlerischen Leistungenhaben eine Periode des Wiederaufschwungs in der KulturZentralasiens eingeleitet.

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II Gyalwa Gendün Gyatso 1475-1542/1543 

Im Anschluß an die Bestattungsrituale bestimmten dieMönche von Tashilhunpo eine Delegation, die die Reinkarnationihres verstorbenen Meisters aufzufinden hatte. Ihre aus dengelehrtesten und geachtetsten Mönchen ausgesuchten Mitgliederstudierten die Prophezeiungen in den heiligen Schriften undmeditierten während ihrer Übungen, um ihre Gedanken auf denihnen erteilten Auftrag zu konzentrieren und ihren Weg durchdie himmlischen Offenbarungen zu suchen; sie hörten sich auchdie Erzählungen von Pilgern und Mönchen an, die von Klosterzu Kloster zogen und so am Gewebe einer kollektiven Mystikmitarbeiteten.

Zehn Monate nach dem Tod von Gendün Drub wurde imKloster bekannt, daß vom Dorf Tanak Dorje Den und der Geburt

eines Kindes gesprochen wurde, die mit Zeichen und Wundernverbunden gewesen war.

Die Eltern gehörten zu einer Familie von Adligen undGelehrten. Der Vater Dorje Chang Künga Gyaltsen war eineinflußreiches Mitglied der Nyingmapa-Schule, der Schule der»Alten«, also der Schüler von Padmasambhava, die die Reformnicht nachvollzogen hatten. Er war aber auch den anderenbuddhistischen Schulen bekannt, deren Schriften und religiösePraktiken er gewissenhaft studiert hatte. Die Mutter, Ma-ChikKünga Palmo, war mit der Disziplin und der Lehre der Yoga-Tradition sehr verbunden.

Der Mönch Desi Sangye Gyatso, der Biograph des zweitenDalai Lama, hat die Quellen der mündlichen Überlieferung unddie von ihm zusammengefaßten Schriften des zweiten DalaiLama in einer Schrift mit dem Titel Ein aus Seide gewobenes

Kleid vereinigt. Er war damals Regent des fünften Dalai Lama,

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das heißt, daß er sein Werk ungefähr ein Jahrhundert nach demTod von Gyalwa Gendün Gyatso verfaßt hat. Er gibt getreulichalle Berichte wieder, die er über die Geburt und die ersten

Lebensjahre der neuen Reinkarnation von Avalokiteshvaragesammelt hatte.

In der Nacht, als die Mutter das Kind empfing, sah sie imTraum viele vergoldete Schriftbände, die eine Art Kronebildeten und in ihr verschmolzen. Später sagte ein Bodhisattvaim Traum zu ihr: »Das Kind, das du in dir trägst, ist dazuberufen, die buddhistische Botschaft weiter auszubreiten; gibihm den Namen Sangye Pel.«

Dem Vater träumte, er statte dem allwissenden Gendün Drubeinen Besuch ab; er war ihm nie persönlich begegnet, aber erhatte sein Tun und Lassen aufmerksam verfolgt und seineSchriften studiert. Er sah ihn zuerst in der Gestalt eines jungenMönchs, der ihn aufforderte, ihm in das Innere eines Tempels zufolgen, wo er sich in einen Greis verwandelte und sagte: »Ichhabe soeben eine lange Periode der Abgeschiedenheit beendet

und Tara um ihren Schutz für das Kloster Tashilhunpogebeten.«36 

Für die Mutter war die Geburt mit keinerlei Schmerzenverbunden. Der Körper des Neugeborenen war so hell wie einBergkristall und von einem Lichterkranz umgeben. Schon nachwenigen Minuten wandte das Kind seinen Kopf in Richtung desKlosters Tashilhunpo; es faltete seine Hände zu einer Geste des

Gebets. Aus seinem Gemurmel hörte sein Vater Mantras heraus,die der Tara gewidmet waren; er sprach sie zu Ende, um derenSegen auf seinen Sohn zu lenken.

Sobald das Kind zu sprechen begann, hörte man von ihmimmer wieder den Namen des Klosters Tashilhunpo. SeinemVater, der sich um seine erste Unterweisung kümmerte, erklärtees eines Tages: »Nach meinem Tod, am Ende meinesvorangegangenen Lebens, ist mein Leib einbalsamiert worden.

Der Bodhisattva der Weisheit, Mahakala, ist zu mir gekommen,

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hat das Leichentuch geöffnet und mich mit sich fortgenommen.Er hat mich zum Buddha Maitreya, zu Atisha und dessenJüngern und zu Tsongkhapa gebracht. Dieser sagte zu mir:

›Deine ganze Tätigkeit wird zum Nutzen der ganzen Welt demDharma geweiht sein.‹« Das alles kam den Mönchen vonTashilhunpo zu Ohren. Sie forderten die Eltern auf, mit ihremKind das Kloster aufzusuchen. Der junge Knabe nannte einigeMönche, die er zum erstenmal sah, bei ihrem Namen; als er demSessel gegenüberstand, auf den sich Gendün Drub bei seinenLehrveranstaltungen gesetzt hatte, ging er darauf zu underklärte, er habe sich oft auf ihn gesetzt, wenn er über die Lehre

gepredigt habe. Er wurde als die Reinkarnation des Lamaanerkannt, aber er ließ sich erst im Alter von elf Jahren imKloster nieder. Damals erhielt er die Weihe zum Novizen undden Namen, der in der Geschichte erhalten geblieben ist:Gendün Gyatso.

Für ihn folgte nun die lange und sorgfältige Einführung in diegrundlegenden Erkenntnisse: das Studium der heiligen Texte,

die Einübung in die Yoga-Meditation und -Disziplin, das Hörenauf die Lehren der Mönche, die das Beste vom Glauben, derPhilosophie und den Wissenschaften der damaligen Zeit in sichvereinigten, das Erlernen der Techniken für die Konzentrationder Persönlichkeit. Es galt, ein starkes, in seinem Glaubenunerschütterliches, seine Gemütsbewegungen beherrschendesWesen zu schmieden, einen Menschen, der sich vor der Leerheitder wirklichen Dinge und vor der unausweichlichen Tatsache

des Todes nicht fürchtete, denn für den, der sich darauf vorbereitet hat, wird durch diesen Tod der Weg zur Erweckunggeöffnet. Man fragt sich, wie ein Karl Marx, offensichtlich ausvoller Unkenntnis des Inhalts und der Methoden des religiösenGlaubens und der religiösen Vorstellungen, sich um die Mittedes 19. Jahrhunderts zur Formulierung versteigen konnte: »DerBegriff des Göttlichen hindert den Menschen daran, seine eigeneVervollkommnung zu verwirklichen.« Und sein Zeitgenosse

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Ludwig Feuerbach überbot ihn noch: »Religion ist nichtsanderes als die versteckten Wünsche des menschlichenEgoismus.« Bei den Mönchen des Mahayana-Buddhismus

bewirkt die Religion im Gegenteil ein außergewöhnlichesVerhalten, ein Streben nach Heiligkeit auf der doppeltenGrundlage von Wissen und Ausstrahlung.

Wissen allein genügt nämlich nicht. Alle Menschen müssenaus der Überzeugungskraft, aus den eingedämmtenLeidenschaften und der inneren Reinheit ihres geistlichenFührers Nutzen ziehen können.

Laut einem vom Hinduismus übernommenen Prinzip kann derMensch die Gottheit nur erfassen, hochachten und anbeten,indem er selbst eine Gottheit wird. Diese Botschaft hat derBuddhismus durch die Feststellung ergänzt, daß die Buddha-Natur in jedem Menschen vorhanden ist. Einige seiner Anhängersind so weit gegangen, die Buddhaschaft auch Tieren und sogarMineralien zuzusprechen, doch die Mahayana-Lehre hat sich auf den Menschen konzentriert. Mit der Vorstellung einer

Übertragbarkeit der Gnade, ein Begriff, der auch vomChristentum her bekannt ist, hat diese Lehre die Übertragungvon Verdiensten zu einer Grundlage ihres Wesens erhoben:»Die Jünger werden aufgefordert, ihre Verdienste für dieErleuchtung aller Wesen einzusetzen und ihr zu weihen«,schreibt Mircea Eliade, der zur Begründung seiner Aussage dennachfolgenden Text von Shantideva, einem mystischenSchriftsteller aus dem 7. Jahrhundert, zitiert:

Durch das Verdienst, das von allen meinen guten Handlungenausgeht, will ich das Leiden aller Geschöpfe lindern, will ich derArzt, der Heiler, die Amme des Kranken sein, solange esKrankheit gibt. Mein Leben mit allen meinen Wiedergeburten,allem meinem Besitz, allen Verdiensten, die ich erworben habeoder erwerben werde, all das gebe ich auf ohne Hoffnung auf Gewinn für mich selbst, damit das Heil aller Wesen gefördert

werden kann.37

 

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Das ganze Tun des jungen Novizen im Kloster Tashilhunpowar auf dieses doppelte Ziel konzentriert: Wissen erwerben unddie dadurch erworbenen Verdienste auf seinen Nächsten

übertragen. Der junge Mann förderte dadurch auch seineintellektuellen Möglichkeiten; mit sechzehn Jahren war GendünGyatso dazu imstande, hundert geschriebene Zeilen in derselbenZeit, die man benötigt, um eine Tasse Tee zu trinken, in seinGedächtnis aufzunehmen; Gedichte über jedes beliebige Themavermochte er spontan und ohne jede Anstrengung zu schreiben.

Er wurde anschließend in das Kloster Drepung versetzt, einegewissermaßen für alle Lamas als Pflicht betrachtete Übung.Die Jünger von Tsongkhapa, der das Kloster 1416 errichtethatte, bewahrten hier die Werke des großen Gelugpa-Reformators und des berühmt gewordenen Milarepa, desmystischen Dichters und Meisters der Meditation.

Damit begann für Gendün Gyatso die Vertiefung in die letzteVollendung des Mahayana, in das Vajrayana, das»Diamantfahrzeug«, das Kernstück des tantrischen Buddhismus.

Nur Initiierte finden ihren Weg in diesem Komplex vonmeditativen und subtilen psychophysischen Techniken, in denendie Methode mit Weisheit verbunden wird, damit sich derBuddha-Zustand rascher erreichen läßt.

Er erhielt jetzt die volle Weihe und verbrachte eine lange Zeitin innerer Zurückgezogenheit, bevor er selbst zu lehren begann.Mehrere Monate wallfahrte er von Kloster zu Kloster; er sprach

zu den Mönchen, gleichzeitig vervollkommnete er seineKenntnisse der heiligen Schriften und sein Wissen über dieKomplexität der Wesen, die er auf den Weg der Erleuchtung zuführen hatte. Seine Reisen und sein Forschen führten ihn in dieProvinz Tsang in Zentraltibet zurück, wo er mit seinem Vaterzusammentraf, um mit ihm über ihre jeweiligen spirituellenErfahrungen zu diskutieren.

Im alten Kloster Yarlung verfaßte er ein Werk über

Manjushri, den Glorreichen Bodhisattva, der das mystische

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Wissen, die höchste Erkenntnis, verkörpert.38 

Er zog sich anschließend in das Kloster Radeng zurück, woihm prophetische Visionen zuteil wurden. Hier wurde ihm

kundgetan, daß er ein Kloster beim Lhamoi-Latso, dem See derVisionen, etwa hundertfünfzig Kilometer südöstlich von Lhasa,zu errichten habe.

Unter den zahlreichen heiligen Seen Tibets hatte dieser denbesonderen Ruf, er offenbare jenen Menschen, die zu lesen undzu deuten vermochten, in die Zukunft weisende Zeichen. - Wiewir noch sehen werden, ist dieser See auch ein vorgeschriebenes

Ziel für die Persönlichkeiten, die damit beauftragt sind, dieReinkarnation des Dalai Lama zu finden.

1509 errichtete Gendün Gyatso neben dem Dorf Me-Tok-Tang am Ufer dieses Sees das Kloster Chökhorgyal; wie schonsein Vorgänger für Tashilhunpo erhielt auch er dafür großeGeschenke, dank denen er die Arbeiten rasch abschließen unddas Innere des Klosters reich ausschmücken konnte.

Vielfältige mystische und literarische Aktivitäten,Neugründungen von religiösen Institutionen: Das war damals inTibet vor einem äußerst wirren weltlichen Hintergrund möglich.Die tibetische Überlieferung hat sich auf den geistlichen undkulturellen Aspekt konzentriert, doch historische Quellen ausChina erinnern daran, daß das Land zu dieser Zeit in eineVielzahl von Sippen, Familien, feudalen Kleinstaaten zerfallenwar, die einander ununterbrochen bekämpften. Die Königsmacht

fiel dem zu, der sich ihrer bemächtigte, und doch blieb kaumeiner dieser Namen in einer verworrenen Genealogie derNachwelt erhalten. Die Chinesen nutzten die Gelegenheit fürInterventionen und weiteten ihre Herrschaft auf tibetischeGrenzgebiete aus, ohne auf nennenswerten Widerstand zustoßen. Und die Lamas hatten andere Sorgen, als mit ihrenPredigten zu Kreuzzügen oder nationalistischen Aufständenaufzurufen, denn in der damaligen Zeit spielten sie noch keine

entscheidende Rolle im Staat. Man kann höchstens darauf 

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hinweisen, daß Gendün Gyatso eine Einladung des Kaisers U-Tsong (1505-1521) nach Peking ablehnte. Die Vertreter derMing-Dynastie verfügten um diese Zeit kaum über besonders

überzeugende Machtmittel. Der folgende Kaiser, Süan Tsong(1522-1567), hatte zudem für den Buddhismus nicht viel übrig;er ließ sogar einen Tempel schleifen, der in der Nähe seinesPalastes in Peking errichtet worden war.

Es muß auch gesagt sein, daß in Tibet nicht nur eine gewissepolitische Anarchie herrschte. Der stille und unmerklicheAufstieg derer, die noch keine eigentlichen Dalai Lamas waren,nämlich Träger sowohl der geistlichen als auch der weltlichenMacht, vollzog sich in einer Umwelt rauher Rivalitätenzwischen den religiösen Orden. Vor allem die jüngsteMönchsgemeinschaft, der Gelugpa-Orden, wurde unterdrücktund in Verruf gebracht; es fand eine Art Machtkampf zwischenden Traditionalisten und den Progressiven statt. Die Ereignisseentwickelten sich zum Unguten, denn der Karmapa-Orden, der1147 von Düsum Khyenpa gegründete und von der älteren

Schule der Kagyüpa abgetrennte Zweig, nahm für sich dieWiedereinführung des Mönlam Chenmo in Anspruch, desgroßen Gebetsfestes im ersten Mondmonat des Jahres. DiesesFest war von Tsongkhapa eingeführt worden; die »Gelbmützen«waren aber davon ausgeschlossen, ihnen drohte Gefängnis odersogar der Tod. Solche Verhältnisse dauerten beinahe zwanzigJahre lang. Auf die Initiative von Gendün Gyatso hin bildetendie Klöster Sera und Drepung ein Mönchskomitee, womit

wieder allen die Teilnahme am großen Fest ermöglicht wurde.Einen Beitrag dazu leistete auch er selber, der später als derzweite Dalai Lama anerkannt werden sollte; beim Fest las er ausden heiligen Schriften vor. Gendün Gyatso kommt das Verdienstzu, die Geister beruhigt und die verschiedenen Orden einandernähergebracht zu haben, damit sie ihre rituellen Funktionenwieder gemeinsam ausführen konnten. Dieser besondere Aspekt,daß es ihm nämlich gelungen ist, die verschiedenen Orden durch

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seine Persönlichkeit miteinander zu versöhnen, wird von seinemBiographen ausführlich betont und verherrlicht; man kann sichdurchaus vorstellen, der Eindruck, den diese Tat im Geiste des

tibetischen Volkes hinterließ, sei der Hauptgrund dafür gewesen,daß sich das Amt des Dalai Lama in Zentralasien mit solcherAutorität und Popularität durchzusetzen vermochte.

Ein anderer Streit über die Lehre war um die gleiche Zeitzwischen zwei Denkschulen ausgebrochen, nämlich zwischenden Anhängern der Sutras, der Sutrayana-Tradition, und derTantra-Schule.39 Die Tantra-Tradition bildete die Basis derSakyapa-Gemeinschaft, die zu dieser Zeit sich nicht nur auf geistlicher Ebene durchsetzen, sondern auch die politischeMacht an sich reißen wollte und alle anderen Schulen zuverdrängen versuchte. Der Tantrismus - im eigentlichenWortsinn: Zusammenhang, Kontinuum - beruht auf demStudium, der Analyse und der Auslegung der Schriften undäußert sich in einer dreiteiligen geistigen Tätigkeit: Lehre,Diskussion und Vergleich. In der Sutra-Tradition hingegen, die

von der Gelugpa-Reformbewegung zwar nicht ausschließlich,aber doch als Ergänzung zum Bücherwissen gepflegt wird, wirddurch spirituelle Formung und esoterische Riten eineSelbstübersteigerung angestrebt, was zu spirituellerÜberspanntheit führen kann, die bei den TraditionalistenBeunruhigung, ja Verdacht auszulösen vermochte. Rolf A. Steinfaßt diese Rivalität in einer Studie über die tibetischeGesellschaft folgendermaßen zusammen:

Zu dieser Doppelspurigkeit kommt eine andere, auf der einenSeite ein Lernen aus Büchern, das mit diskursivem Denken, mitLogik und Dialektik zu tun hat, und auf der anderen Seite einemündliche, auf Geheimwissen und Initiation beruhendeBelehrung, die grundsätzlich mit einer Einübung in dieMeditation gleichzusetzen ist. Dieser Unterschied ist im Prinzipnicht gleichbedeutend mit der Aufspaltung in reformierte und

nichtreformierte Orden. Die Nyingmapa-Gemeinschaft betont

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unermüdlich ihre Verachtung für die Bücher und dieNutzlosigkeit des Wissens; was sie nicht daran gehindert hat,eine umfangreiche Literatur hervorzubringen. Ein Blick in eine

ältere Periode macht diesen doppelten Aspekt der mönchischenUnterweisung besser verständlich. Denken wir an dieSchenkungen, die unter Trisong Detsen den Mönchen vonSamye gemacht wurden: Die Mönche erhielten jährlich Papierund Tinte, die Einsiedler und Meditierenden aber nicht.

Der Streit drehte sich nicht nur um Grundsätze; es galt auchherauszufinden, welche Denkschule am besten der Situation inTibet entsprechen würde, in einem Land mit einer intellektuellenMinderheit religiöser Observanz und einer großen Mehrheit vonMenschen, deren naturgegebener Hang zur Mystik durch reinmündliche Überlieferungen gefördert worden war; einMittelding zwischen Vernunft und Wunderglauben, zwischenPoesie und Sakralität, mit anderen Worten: auf der einen Seitesterile Gebildete und auf der anderen Seite ungebildeteMeditierende. Gendün Gyatso war der Meinung, Tibet benötige

beide Schulen, denn die der Sutras befasse sich mit denGrundlagen des buddhistischen Lehrgebäudes, während die derTantras die höheren Stufen der Erkenntnis darstelle. Durch dieVerschmelzung dieser beiden Strömungen hat er einen tiefenEinfluß auf die Kulturgeschichte Tibets ausgeübt.

Gendün Gyatso blieb noch Zeit, um innerhalb des riesigenGrundstücks des Klosters Drepung den Ganden-Podrang-Tempel zu errichten. Dieses Gebäude wurde später Sitz dertibetischen Regierung, denn hier wohnte 1642 der fünfte DalaiLama während der Bauarbeiten am Potala; später wurden hierwährend einer gewissen Zeit die noch jugendlichen Dalai Lamasunterrichtet.

Gendün Gyatso vermochte seine Todesstunde vorauszusagenund den Tod in einem Zustand völliger Ausgeglichenheit zuerleben; auch das ist für die Tibeter ein unanfechtbares Zeichen

von Heiligkeit. Im Kreise seiner Jünger erklärte er auf dem

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Totenbett: »Dieser Leib ist jetzt alt und gebeugt; er ist nichtmehr imstande, mir oder jemand anderem zu dienen. Ich hatteeine mystische Verbindung zum Kloster Drepung; heute morgen

habe ich, obwohl es keine Teezeremonie gab, gehört, wie dieheilige Muschel die Mönche zu dieser Versammlung rief... Undich habe geträumt, ich sei von fünf Siegesfahnen umgeben.«

Seine Zuhörer begriffen, daß er damit seine letzten Worteausgesprochen hatte. Noch eine Woche lang konzentrierte sichder Meister auf Meditation und Gebet. Am achten Tag setzte ersich hin, und in dieser Haltung hörte er auf zu atmen. Dasgeschah in seinem achtundsechzigsten Lebensjahr.

Der zweite Dalai Lama wurde im Kloster Drepung beigesetzt,ebenso wie seine beiden unmittelbaren Nachfolger.

Es gibt einen See, dessen Wasser im Sommer anschwellen,[...]

Durch zahllose mystische Zeichen verherrlicht.

Seine Mitte ist wie die Nabe eines Rades,Von der die Wellen in Kreisen ausgehen,

Sie breiten sich aus und verschmelzen

Am Rande des Rades ineinander.

Sie lehren den Dharma, ohne Worte zu benötigen.

Gendün Gyatso hat seinen Platz in der Geschichte als Gründerdes Klosters Chökhorgyal und als Entdecker des Sees derVisionen, mit dessen Unterstützung alle nachfolgenden DalaiLamas entdeckt und in ihr Amt eingesetzt worden sind.

Sein Leben und sein Wirken sind beispielhaft für den Ordender »Tugendhaften«, der Gelugpa-Gelbmützen. Er hat aber seinemoralische und spirituelle Autorität auch dafür eingesetzt, umdie Denkschulen und die verschiedenen Mönchsgemeinschaften

des tibetischen Buddhismus zu einer Einheit zu verschmelzen.

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sprach verständig über die schwierigsten Themen derbuddhistischen Lehre. Die letzten Zweifel waren ausgeräumt, alses eine Krone aus Kristallrosen und eine Tara-Statuette

erkannte, die Gendün Gyatso gehört hatten. Der junge Knabewurde ins Kloster gebracht; und in der Ganden-Podrang-Residenz, die von jenem Mönch errichtet worden war, der von

 jetzt an als sein Vorgänger galt, wurde er auf dem Löwenthroninstalliert. Sein Lehrer wurde der Panchen Sonam Drakpa, derhöchste und gelehrteste Jünger des zweiten Dalai Lama; vonihm erhielt er die erste Weihe und seinen neuen Namen: SonamGyatso. Daß der alte Guru ihm nicht als ersten Teil des Namens

den Titel Gendün (»Mönch«) verliehen hatte, wie eineProphezeiung, in der die Namen der ersten Dalai Lamasfestgehalten waren, nahegelegt hatte, erstaunte die tibetischenExegeten im folgenden Jahrhundert und insbesondere denfünften Dalai Lama. Doch niemand hat je herausgefunden,welche tiefere Absicht hinter dieser in Widerspruch zu denSchriften stehenden Namensgebung stand. 1547 begab sich der

 junge Knabe zum erstenmal für seine Andachtsübungen zu denheiligen Stätten in Lhasa. Und ein Jahr später legte er vorseinem Lehrer die Gelübde als Getsul ab.

Damit begannen die langen und sorgfältigen Studien, mitdenen sich die Lamas die Summe der mystischen,philosophischen, wissenschaftlichen und künstlerischenKenntnisse ihrer Epoche aneigneten. Der Mönch Tsechog-LingYeshe Gyaltsen, der rund dreihundert Jahre später Sonam

Gyatsos Lebensgeschichte schrieb, als er selbst der Betreuer desachten Dalai Lama war, berichtet in allen Einzelheiten über dieLehrveranstaltungen und die studierten Werke. Eine derartgenaue und detaillierte Beschreibung der Reisen undWallfahrten des dritten Dalai Lama war damals möglich, weilzusätzlich zu den mündlichen Quellen, die von tibetischenChronisten nie vernachlässigt wurden, noch zahlreicheschriftliche Dokumente vorhanden waren, die jedoch seit 1959,

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nach den Ausschreitungen der chinesischen kommunistischenTruppen, zum großen Teil verschwunden sind; in der kurzenBiographie, die der fünfte Dalai Lama seinem Vorgänger

gewidmet hat, werden beispielsweise ein rundes Dutzendfrühere Werke erwähnt, die es heute nicht mehr gibt.

Sonam Gyatso machte es sich schon in seiner Jugend zurGewohnheit, die Klöster zu besuchen. Er bemühte sich, soscheint es, mehr als seine beiden Vorgänger um die Verwaltungder Klostergüter, die allmählich zu erheblicher Größeangewachsen waren. Schon im Jahr seiner Weihe zum Gelongübertrug ihm im übrigen die Mönchsgemeinschaft in Drepungdie Verantwortung sowohl für das geistliche als auch dasmaterielle Wohlbefinden des Klosters. Während einiger Jahreverbrachte er seine Zeit je zur Hälfte in Drepung und inChökhorgyal. Unterwegs knüpfte er viele Kontakte und hieltauch Predigten. Durch seine Tätigkeiten erwarb er sich einCharisma, das seinen Absichten und den Bestrebungen dertibetischen Gemeinschaft sehr rasch förderlich war.

Der junge Mönch hatte freilich seine Ausbildung noch nichtabgeschlossen. Zum letzten Stadium der mystischen Erfahrunggehörte eine intensive Meditationsdisziplin durch Einübung indas Vajrayana. Den spirituellen Meistern fiel die Aufgabe zu,darüber zu wachen, daß diese Methode der buddhistischenBotschaft treu blieb und nicht durch Vermischung mitmagischen Bräuchen und Verfahren oder heidnischenEmblemen entartete.

Der jetzige Dalai Lama hat das Vajrayana40 gerafft definiert:

Schlechte Karmans41  sind für die Übel verantwortlich, unterdenen wir leiden. Sie erwachsen aus der Unwissenheit, unddiese rührt vor allem von einem undisziplinierten Geist her: Manmuß deshalb den Geist unter Kontrolle bringen, indem man denStrom von negativem Denken aufhält. Und dieser Strom kanneingedämmt werden, die Unruhe des Geistes kann besänftigt

werden, indem man sich auf das physische Aussehen seines

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eigenen Körpers oder auf die psychologische Struktur seineseigenen Geistes konzentriert. Unter Zuhilfenahme kraftvollerKonzentrationsmittel kann der Geist auch auf außerhalb der

Meditation befindliche Gegenstände gelenkt werden; für dieseAufgabe eignen sich am besten die Bilder von Gottheiten; undaus diesem Grunde sind solche Götter im Vajrayana inunüberblickbarer Zahl vorhanden. Es handelt sich dabei nichtum willkürliche Schöpfungen, in ihrer Vielgestaltigkeit wollensie vielmehr den physischen, geistigen und sinnlichenEignungen der verschiedenen Individuen entsprechen, die sichauf der Suche nach dem letzten Zweck befinden. Die Götter

dienen als bildhafte Gegenstände für die Kontemplation, um denKörper, den Geist und die Sinne zu reinigen. Es sind Bilder miterschreckendem ebenso wie mit friedlichem Aussehengeschaffen worden, und bisweilen sind sie mit vielen Köpfenund zahllosen Armen ausgestattet. In einigen Fällen ermöglichtein starkes Hingabe- und Glaubensvermögen den allmählichenZugang zu diesem letzten Zweck (Reinigung und Erleuchtung),

doch im allgemeinen ist die Vernunft der Weg dazu. Und wennman systematisch dem Weg der Transzendenz folgt, ist es dieVernunft, die einen authentischen Glauben hervorbringt.

In diesem Sinne erforschte Sonam Gyatso zielstrebig dieverschiedenen Wege der Erkenntnis, Sutrayana und Vajrayana,und gleichzeitig nahm er auch die grundlegenden Schriften insich auf, insbesondere die ursprünglichen Texte der Kadampa-Lehre. Und er vermochte so eine Synthese dieser Lehren durch

intensive Meditation und Yoga-Einübung zu verwirklichen.Auf diese Weise gelangte er in den vollen Besitz seiner

physischen und intellektuellen Mittel, und er nutzte diese füreinen ersten Versuch einer Friedensstiftung. Im Gebiet von Nub-Hor im Norden des tibetischen Hochlandes lebtenNomadenstämme mit gewalttätigen und barbarischen Sitten.Sonam Gyatso begab sich zu diesen Völkern und brachte es

fertig, ihnen ihre Fehler bewußtzumachen und die Eintracht

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Altan Chagan entsandt worden, dem Fürsten der Tümed-Mongolen, die sich im Gebiet von Amdo im Norden Tibetsangesiedelt hatten. Dieser Khan aus den weiten Steppen, ein

Enkel von Dayan Khan (1470-1543), hatte drei Jahre vorher, alser einen siegreichen Feldzug gegen den rivalisierendenNomadenstamm der Tangüt unternommen hatte, unter seinenGefangenen auch zwei Gelugpa-Mönche vorgefunden. Diesevermochten die Aufmerksamkeit des alternden Prinzen (er war1506 zur Welt gekommen) auf sich zu lenken; in Gesprächenüberzeugten sie ihn davon, daß er und sein Volk ihr Verhaltengrundsätzlich verändern müßten. Haben sie vielleicht mit ihren

Reden und der von ihnen gelehrten Methode, wie man demKörper seinen Willen aufzwingen kann, die Beschwerden desGreises lindern können? Jedenfalls steht fest, daß sie seinInteresse für den »Meister der Weisheit und der Erkenntnis«weckten, auf den sie immer wieder zu sprechen kamen.

Die von der mongolischen Delegation überbrachte Einladungließ sich nicht einfach stillschweigend übersehen; die

Abgesandten beharrten derart darauf, daß man schon beinahevon einer Vorladung hätte sprechen müssen. DieMönchsgemeinschaft in Drepung reagierte eher bestürzt darauf.War es klug, den Abt in ein fernes Land ziehen zu lassen, mittenunter rohe und wilde Völker? Boten aus anderen Klöstern,Vertreter der weltlichen Macht - weil diese so schwach war,benötigte sie die Unterstützung durch die religiöse Hierarchie -und Hunderte von einzelnen Menschen flehten den Lama an, in

Tibet zu bleiben.Sonam Gyatso hingegen fühlte sich durch die Einladung in

seiner inneren Berufung angesprochen. Er empfand diesenAuftrag als eine ihm zugefallene Herausforderung, neue Jüngerzum wahren Glauben zu führen. Oder gab es vielleicht nochandere Gründe für seine Entschlossenheit?

Obwohl er seine ganze Autorität eingesetzt hatte und sich in

seiner unermüdlichen missionarischen Aktivität nie hatte beirren

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lassen, blieb die Rivalität zwischen den Orden bestehen; siewurde sogar noch durch Ereignisse gefördert und geschürt, dienichts mit der Religion zu tun hatten. So hatte sich in der

Provinz Tsang die von den Phagmodupa abstammendeHerrscherfamilie mit den »Rotmützen«43 verbündet. Der Krieg,den die verschiedenen Parteien und Klöster im ersten Drittel des14. Jahrhunderts gegeneinander geführt hatten, war zwar zuEnde, doch »die Ungewissen Zukunftsaussichten derzeitbedingten Bündnisse und örtlichen Auseinandersetzungenwurden durch den abermaligen Auftritt der Mongolen auf derpolitischen und militärischen Ebene entschieden«44.

Nicht zum erstenmal riefen die tibetischen Hierarchenausländische Schutzmächte zu Hilfe. Im 13. Jahrhundert hattedie Sakyapa-Gemeinschaft ihren Aufstieg und die Erhaltungihrer Lehensherrschaft der Unterstützung zu verdanken, die sievon den Mongolen erbeten hatte. Wir haben gesehen, daßKublai Khan, seine Nachkommen und später seine Nachfolgerin der Ming-Dynastie noch so gerne diesem Hilferuf 

entsprochen hatten, verlieh er ihnen doch die Möglichkeit, sichin tibetische Angelegenheiten einzumischen und gleichzeitig dieaufsässigen Völkerschaften im Auge zu behalten, die den vonihnen angeblich errichteten Frieden störten. Im Zusammenhangmit diesen Ereignissen hatten sich die Mongolen von TschingisKhan zum Buddhismus bekehrt. Sonam Gyatso betrachtete sichals Vorboten einer zweiten Bekehrungswelle. Nichts läßt jedochdarauf schließen, daß er die Bestätigung seines messianischen

Unterfangens, die ihm auf seiner Reise zuteil wurde,vorausgefühlt oder gar gesucht hatte. Was jedoch auf dieserReise geschah, sollte die ganze spätere Geschichte Tibetsentscheidend und unauslöschlich prägen.

Als erstes erteilte er seinem wichtigsten Jünger undpersönlichen Berater, Tsöndru Sangpo, den Auftrag, sich an denHof von Altan Chagan zu begeben, der damals in Tso-Kha,

nicht weit vom Kukunorsee entfernt, residierte, dort eine

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Botschaft einzurichten und sein Kommen vorzubereiten. ImHerbst 1576 machte er sich selbst auf den Weg, nachdem ernoch in Lhasa das große Gebetsfest gefeiert hatte, dessen

Zeitpunkt er umständehalber bedenkenlos vorverlegt hatte. DieReise würde lange dauern: ungefähr tausendfünfhundertKilometer Weg durch wenig besiedelte und deshalb auch weniggastfreundliche Gebiete mit der fortwährenden Drohungunerfreulicher Zusammenstöße. Sobald er in unbekannteRegionen vorstieß, verlieh er seiner Reise mit viel Geschick denNimbus des Wunderbaren; himmlische Zeichen häuften sich, sodaß ihm der Ruf eines Wundertäters vorauseilte. Unterwegs

stürzte er die falschen Götter und Dämonen, die den Geist derNomaden schwer belasteten.

Als die schwerfällige Karawane das Ufer des Oberlaufs desYangtse Kiang erreichte, wälzte der Fluß tobende undbedrohliche Wassermassen talwärts. Die Reisegesellschaft wieauch die hier ansässigen Menschen sahen darin ein Zeichen, daßübelwollende Kräfte die Weiterreise zu verhindern versuchten.

Sonam Gyatso warf einen scharfen, mit allen Geheimkräftenseines mystischen Wesens ausgestatteten Blick auf den Fluß,und schon beruhigten sich die tobenden Wassermassen.Dasselbe Ereignis wiederholte sich, als die Karawane denOberlauf des Huang Ho überquerte. Der Gelbe Fluß führteHochwasser, und das Lager wurde so eingerichtet, als erwarteman einen mehrtägigen Unterbruch. Doch schon am folgendenTag gingen die Wassermassen zurück, verwandelte sich der

reißende Strom in einen ruhigen Bach.Einige Tagereisen danach wurde Sonam Gyatso in einem

luxuriösen Feldlager, das Altan Chagan hatte errichten lassen,von seinem Sondergesandten und einigen tausend mongolischenReitern empfangen. Eine große Volksmenge hatte sich bei denZelten für die Ehrengäste eingefunden, und die Tibeter wurdenmit Geschenken, worunter ganzen Tierherden, überhäuft. Die

Karawane nahm beeindruckende Ausmaße an, als man sich von

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neuem auf den Weg machte; ein langes Band schlängelte sichdurch die Wüste, mit Fahnen, die im Wind flatterten, undHörnern, deren Töne in der Luft widerhallten und die das bunte

Gemisch von mongolischen, chinesischen und tibetischenReitern antrieben. In der Biographie wird die Szene zusätzlichmit Regenbogen ausgeschmückt, aus denen sich schließen ließ,daß auch wohlwollende Götter sich dem Zug angeschlossenhatten.

Altan Chagan hatte sich in seiner Hauptstadt auf den Empfangseines verehrten Gastes vorbereitet: Das ganze Jahr 1577 überwar der Bau eines Tempels vorangetrieben worden, der nur nochauf buddhistische Künstler und Lehrer wartete.

Die Begegnung zwischen dem Mongolenherrscher und demDalai Lama fand zu Beginn des Jahres 1578 statt. Als äußeresZeichen seiner Absicht, sein Volk von seinem finsterenAberglauben zu befreien, trug der mongolische Khan eine Robeaus weißer Wolle; er war von seiner Gattin und seinem Hofstaatumgeben; ein Dolmetscher sorgte für die Verständigung.

Zunächst wurden in einem langen Zug die Geschenkevorbeigetragen, die man dem illustren Besucher übergebenwollte: eine mit kostbaren Steinen gefüllte goldene Schale, »sogroß wie vier Hände«, Rollen von Seidentüchern und gefärbtenBaumwollstoffen, Pferde mit reichgeschmücktem Zaumzeugund Geschirr. Sonam Gyatso wurde aufgefordert, auf einemgoldenen Thron Platz zu nehmen und Gebete und Anrufungenzu sprechen, welche vom Dolmetscher übersetzt wurden. Seineersten Worte gingen geradewegs auf das Ziel zu, das er sichgesetzt hatte: »Ihr müßt«, so sprach er, »dem Bösen entsagenund dem vom Buddha vorgeschriebenen Weg des Guten folgen.Mord, Plünderung, Frauenraub bei anderen Stämmen müssenaufhören, ihr solltet im Gegenteil lernen, das Leben, dasEigentum und die Rechte aller zu achten.«

Mehrere Monate lang predigte Sonam Gyatso über dieselben

Themen. Und es war für ihn eine große Befriedigung, als Altan

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Chagan das Gesetzbuch des Stammes Chakhar, dem KaiserKublai angehörte, abschreiben und veröffentlichen ließ. DiesesGesetz sollte von jetzt an auf alle Untertanen seines

Herrschaftsgebietes, Mongolen, Chinesen, Tibeter, Sogdier(westliche Mongolen), angewendet werden. Von den neuverfügten Maßnahmen seien insbesondere erwähnt:

• Anstatt daß beim Tode eines Familienoberhauptes seineFrau, seine Sklaven und seine Pferde geopfert werden, ist einTeil seiner Güter den Mönchen zu schenken, die Gebete für denVerstorbenen sprechen sollen.

• Wer einen Menschen tötet, muß selbst sterben; wer ein Pferdoder ein Nutztier tötet, die einem anderen gehören, geht seinerGüter verlustig.

• Wenn jemand seine Hand gegen einen Mönch erhebt oderdiesen beleidigt, so sollen sein Haus zerstört und seine Felderbeschlagnahmt werden.

• Es ist verboten, traditionellen Gottheiten Opferdarzubringen; für jedes geopferte Tier muß eine Buße imzehnfachen Wert des Tieres bezahlt werden.

• Die Bilder der alten Gottheiten müssen verbrannt werden;die Häuser derer, die diesem Gebot nicht nachkommen, werdenzerstört. Umgekehrt wird empfohlen, Bilder und Statuen desBeschützers der Weisheit, Mahakala, aufzuhängen undaufzustellen.

• Die Mönche sind von Steuern und im Falle eines Krieges

vom Militärdienst befreit.• Alle Bewohner haben ein tugendhaftes Leben zu führen und

die Drei Juwele zu ehren: Buddha, Dharma und Sangha (dasheißt Buddha, seine Lehren und die Versammlung seinerJünger).

Auf die Empfehlung von Sonam Gyatso hin hatten alleNeubekehrten mehrmals täglich die sechs heiligen Silben: Om

  Ma Ne Pad Me Hum (»Oh Du, Juwel in der Lotusblüte«, die

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Anrufung, mit der sich die Tibeter jeweils an Buddha wenden),und das Gebet   Mik Tse Ma, das von Tsongkhapa eingeführteMantra, zu sprechen.

Schließlich verlieh Altan Chagan, um seinen Gast mit einerWürde auszuzeichnen, die ihn über die gewöhnlichen Menschenerheben würde, Sonam Gyatso den Titel Talai, was in dermongolischen Sprache »Ozean« (worin »Weisheit«eingeschlossen ist) bedeutet. Dieser Ausdruck entspricht demtibetischen Gyatso, und das Wort ist im Alltagsgebrauch in derForm von »Dalai Lama« erhalten geblieben und hat dadurcheine besondere Weihe erhalten.

Aus Bescheidenheit und um die beiden Lamas, als derenReinkarnation er sich betrachtete, in die ihm zuteil gewordeneEhrung einzubeziehen, setzte sich Sonam Gyatso dafür ein, daßGendün Drub und Gyalwa Gendün Gyatso als der erste und derzweite Dalai Lama anerkannt wurden.

So entstand der Titel, der in der späteren Geschichte Tibetsnoch durch die zeitliche Macht ergänzt wird.

Gegen Ende Sommer in diesem Jahr 1578 erhielt der DalaiLama im Mongolenlager eine Einladung zu einem Besuch inPeking. Der Ming-Kaiser Shen Tsung (1573-1620) hatte seinenBotschaftern Geschenke für Sonam Gyatso mitgegeben. Dieserwollte jedoch keinen Streit zwischen Mongolen und Chinesenheraufbeschwören und bei Altan Chagan auch nicht denEindruck erwecken, er strebe nach weiteren Ehrungen und

Anerkennungen. Er ließ deshalb den Kaiser wissen, er habe einneues missionarisches Werk im Norden und Osten Tibetsbegonnen und müsse es in den Regionen Amdo und Khamweiterführen. Was er auch tat. Ein zahlreiches Gefolge gab ihmdas Geleit, weshalb sich diese Reise über mehrere Jahre hinzog;neue Mühen und Arbeiten kamen auf den Dalai Lama und seineMitarbeiter zu. So wurden mehrere Klöster gegründet;besonders hervorgehoben seien Lithang und Kumbum (nicht zu

verwechseln mit der großen Pagode, die zu Beginn des 15.

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Jahrhunderts auf Befehl des Prinzen Chögyal Rabten in Gyantseerrichtet wurde; sie ist in nepalesischem Stil gebaut und reichmit Wandmalereien verziert, unter anderem mit rund

sechsundzwanzigtausend Darstellungen von Göttern undLamas). In Lithang gab es Platz für mehr als dreitausendMönche, Kumbum wurde beim Geburtsort von Tsongkhapa inder Provinz Qingha'i, südlich des Kukunorsees, gebaut. Die hieransässigen Mönche zeigten Sonam Gyatso einen mächtigenSandelholzbaum, der, so sagten sie, an der Stelle gewachsenwar, wo bei der Geburt des Reformators ein Blutstropfen aus derNabelschnur des Kindes auf den Boden gefallen war. Der Dalai

Lama ließ zum Schutze des Baumes um ihn herum einen Stupaerrichten.

Doch die Mönchsgemeinschaften in Zentraltibet machten sichSorgen, weil ihr Lama so lange abwesend war, und schicktenihm eine Bittschrift, um ihn zur Rückkehr zu bewegen. SonamGyatso ließ sich überzeugen und nahm seine Lehrtätigkeit unterseinen Jüngern wieder auf. 1583 wurde er von einer

mongolischen Delegation gebeten, dem Hof abermals einenBesuch abzustatten. Altan Chagan war gestorben. Bemühtensich seine Nachfolger um Anerkennung bei dem Mann, dermaßgeblich zur Einführung der neuen Gesetze im Königreichbeigetragen hatte?

Sonam Gyatso fühlte sich zu alt, um noch einmal eine langeund gefahrvolle Reise in den Norden zu unternehmen. Erversuchte deshalb, der Einladung auszuweichen. Doch neue undimmer inständigere Bitten erreichten Lhasa. Der Dalai Lama sahein, daß der Wankelmut der mongolischen Prinzen die Früchteseiner jahrelangen missionarischen Tätigkeit zunichte machenkönnte und die Mongolei für den Buddhismus verlorengehenwürde.

Er machte sich auch Sorgen wegen der politischenUnterstützung, die er für die innere Organisation seines Landes

und dessen Schutz gegen außen benötigte. Und so machte er

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sich noch einmal auf den Weg zum Lager der Mongolen.

Dort wartete bereits eine weitere Einladung auf ihn: Derchinesische Kaiser Shen Tsung erneuerte seinen Wunsch, ihn in

seinem Palast in Peking empfangen zu dürfen. Die Botschaftwar in goldenen Lettern verfaßt und von reichen Geschenkenbegleitet. Diesmal wollte Sonam Gyatso die Einladungannehmen, und er ließ dem Kaiser eine Antwort in diesem Sinnezukommen. Doch sein Gesundheitszustand verschlechterte sichrasch.

Anfang 1588 schrieb er seinen Jüngern einen langen Brief mit

seinen letzten Empfehlungen. Wie seine Vorgänger hauchte ersein Leben während einer Meditation aus. Das war am Morgendes 20. April 1588.

Ein schwerfälliger Leichenzug brachte seinen toten Leib zumKloster Drepung, wo er bestattet wurde.

Sonam Gyatsos Leben und Werk haben der tibetischenGeschichte eine neue Richtung gegeben. Von da an war ihr derWeg gewiesen, den sie bis in die heutige Zeit gegangen ist. Mitihm ist der Titel Dalai Lama zu einer Institution geworden, auchwenn deren Funktion erst durch spätere Entwicklungen genauerumschrieben worden ist. Als höchster Lama hat er einen großenTeil seiner Energie und seiner Arbeitskraft für den Erwerb desmystischen Wissens, für dessen Anwendung und Weitergabe aneine neue Generation von Jüngern aufgewendet. Seine Schriftensind weniger umfangreich als die seiner Vorgänger; doch seine

Abhandlung über die Essenz des feinen Goldes gilt als einevorzügliche Einführung in die Stufen des geistlichen Lebens biszur Erleuchtung.

Doch der Dalai Lama nahm auch zu weltlichen StreitigkeitenStellung, in denen sich oft Auseinandersetzungen zwischenMönchsgemeinschaften um mehr Einfluß widerspiegelten. Daswar der Grund, weshalb er die bereits in der Vergangenheiteingeleitete Politik fortsetzte und bei den Mongolen äußeren

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Schutz gegen die inneren Auflösungstendenzen suchte, die sichin der tibetischen Gesellschaft bemerkbar machten. So ließ essich vermeiden, daß er sich an die Chinesen hätte wenden und

deren Drängen hätte nachgeben müssen; er fürchtete sich vorden hegemonistischen Ansprüchen Pekings auf Tibet. Auch indiesem Sinne war er ein Vorläufer in der Geschichte seinesLandes, indem er den politischen Bereich als bloßes Element derbuddhistischen Lehre behandelte.

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in den heiligen Schriften enthaltenen Wahrheiten die Machthaben, die Pforten zum Himmel zu öffnen«45. Diesemongolische Schule und ihre weltlichen Beschützer pflegten

regelmäßige Beziehungen zu den tibetischen Klöstern. Diesenfiel die Verantwortung zu, die Echtheit des neuen Dalai Lamafestzustellen. Der Dekan der »Gelbmützen«-Schule, derregierende Abt in Ganden, war zu alt, um persönlich diekomplexen Prüfungsrituale auszuführen und die Authentizitätder Reinkarnation zu proklamieren. Er ließ sich durch seinenVerwalter vertreten, der alsbald in die Länder des Nordensaufbrach.

Konnte Diplomatie bei der Auserwählung eines mongolischenKindes für die höchste tibetische Funktion verbürgen, daß diegeistlichen Aspekte gebührend beachtet worden waren? Wirwollen uns lieber nicht in den ureigenen Bereich der Mystikvorwagen. Wir stimmen vielmehr den tibetischen Abgesandtenzu, die davon überzeugt waren, die Kraft des von Sonam Gyatsoausgebreiteten Glaubens sei stark genug gewesen, um aus dem

Kreise der bekehrten Mongolen einen Sproß hervorgehen zulassen, der würdig war, die Reihe der Buddhas fortzusetzen, diesich nicht nur für die bereits auf dem Weg des Lichtsbefindlichen Privilegierten, sondern für die gesamte Menschheitreinkarnieren.

1602 mußte sich der Junge endgültig von seinem Heimatlandund von seinen Eltern trennen, um sich dem harten Schicksal zustellen, das ihn erwartete. Wie vor einem Vierteljahrhundert, alsdie Reise des tibetischen Religionsführers in den fernen Nordenbeschlossen worden war, weckte auch der bevorstehendeAufbruch der Fackel des Glaubens Befürchtungen; zunächst beiden Mongolen, die damit das kostbare Unterpfand aus ihrerHand gaben, das die Anwendung der auf Anregung von SonamGyatso eingeführten Gesetze gewährleistete; aber auch bei denTibetern, die immer eine gewisse Angst vor einem möglichen

Meinungsumschwung bei ihren neuen Glaubensbrüdern und

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Verbündeten hatten. Man beschloß, der Dalai Lama habe einenStellvertreter zurückzulassen; man wählte für diese Funktion einanderes Kind aus, das bis 1635 die Eigenart des tibetischen

Buddhismus unter den Mongolen verkörperte.Eine Delegation reiste dem jungen Dalai Lama entgegen. Sie

traf mit ihm in Kuei-Suei, dem heutigen Khökh Khoto, in derInneren Mongolei zusammen. Ihr gehörten nicht nur Möncheaus dem Kloster Drepung an, die sich geschäftig um ihren hohenMitbruder kümmerten, sondern auch Fürsten aus derZentralprovinz U, die Unterstützung in den nicht endenwollenden Rivalitäten um die weltliche Macht zu finden hofften.Andere fürstliche Familien, die wie sie die tibetischeSouveränität praktisch untereinander aufgeteilt hatten, taten esihnen bei den anderen religiösen Schulen gleich. So wird es dieKarmapa-Gemeinschaft, die eifersüchtig auf den Aufstieg desGelugpa-Ordens war und von den mächtigen Tsang dazugedrängt wurde, für richtig halten, ebenfalls einen religiösenOberen in den Reihen der mongolischen Fürsten zu suchen,

Ligdan Khan aus dem Chakhar-Stamm. SolcheAuseinandersetzungen, die sogar zu bewaffneten Konfliktenausarteten, vergifteten die ersten Jahre Yönten Gyatsos nachseiner Amtseinführung, doch seine mongolische Familie wachteüber ihn. Sie war sich ihrer Aufgabe als Beschützerin dergeistlichen Oberhäupter in Lhasa bewußt und tat alles, wasnotwendig war, um eine drohende politische Spaltung oder auchein religiöses Schisma zu verhindern.

Unterwegs hielt sich der junge Mann, nachdem er an derGroßen Mauer entlanggeritten war, einen Monat lang in derGegend des Kukunorsees auf, wo mehrere Klöster entstandenwaren. Hier weihte er Mönche und Priester und hielt seine erstenPredigten; er war noch nicht einmal dreizehn Jahre alt.

In Lhasa wurde er von einer riesigen und andächtigenVolksmenge erwartet. In Drepung war der alte Abt gestorben,

der sich dafür entschieden hatte, in Yönten Gyatso die

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Diesem wurde der Titel Maidari-Hutuketu verliehen, und diesesAmt blieb bei den buddhistischen Mongolen mehrereJahrhunderte lang erhalten. Der erste Titular übte seine

Funktionen bis 1635 aus. Während seiner Herrschaft wurdenKlöster gegründet, wobei vor allem das in Urga Erwähnungverdient, das bis in jüngste Zeit Sitz der mongolischenPatriarchen blieb. Die Neubekehrten begnügten sich jedochnicht damit, Gebäulichkeiten zu errichten, Bilder zu malen unddie Rituale ihres Glaubens zu feiern. Sie benötigten auchSchriften in ihren eigenen Sprachen und entwickelten, zumgrößten Teil auf Uigurisch, eine Sammlung buddhistischer

Werke im Sinne ihrer Völker. Einer der mongolischen Jüngerdes dritten Dalai Lama übersetzte zudem eine Biographie vonMilarepa aus dem Tibetischen. Eine derart beeindruckendeLeistung in einem intellektuell wenig anregenden Umfeld wiedem der Nachkommen von Tschingis Khan beweist, wie tief diebuddhistische Botschaft Menschen beeinflussen kann und daßsie sich in ihrer tibetischen Version den Völkern der asiatischen

Steppe ohne weiteres anzupassen vermochte.Den Wegen der Nomaden folgten die Predigten, dieBelehrungen und ihre Träger; sie brachten den tibetischenBuddhismus bis zu den fernsten Steppen, die von mongolischenStämmen durchwandert wurden: den Oiraten (oder Altaiern),den Dsungaren, den Türgüt, den Kalmüken usw. Marco Polo hatauf seinen Reisen die Zeichen dieser Ausbreitung gesehen. Deraktivste und eifrigste Kern lebte in der Nähe des Kukunorsees.

Insgesamt aber breitete sich der Buddhismus vom Karakorum-Gebiet im Norden bis zum chinesischen Huang Ho im Osten,vom Oberlauf des Yangtse Kiang bis zu den Grenzen derislamischen Welt im Westen aus, also bis zum Pamir-Gebirge,bis Khotan und Kaschgar. Im oberen Indus-Tal schloß deritalienische Entdecker Bekanntschaft mit dem Buddhismus vonLadakh, der sich auf den Spuren von Padmasambhava ausIndien bis hierher ausgebreitet hatte.

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hatte ihn vorsichtig werden lassen. Er war sich auch der miteiner Wahl verbundenen Risiken bewußt, denn zwischen denverschiedenen buddhistischen Schulen herrschte eine

Atmosphäre der Rivalität, weil alle gerne die dynastischen undnationalistischen Querelen zu ihren Gunsten ausgenützt hätten.Das Jahr 1622 war angebrochen; der vierte Dalai Lama warbereits seit fünf Jahren tot, eine Entscheidung drängte sichdeshalb auf. Mit einem zahlreichen Gefolge von Mönchen undPriestern begab er sich zu einem der Kinder. Sobald dieser nochnicht einmal fünf Jahre alte Knabe den alten Mann sah, sagte erzu ihm: »Weshalb kommst du erst jetzt hierher?«, worauf er sich

ihm auf die Knie setzte. Alle Zeugen wußten sogleich, daß sieauf den richtigen Weg geführt worden waren. Die Delegationkehrte nach Ganden zurück, wo die lange Ausbildung des

 jungen Lama begann.

Außerhalb der Klöster war die politische Situation in Tibetaußerordentlich gespannt.

Der dynastische Wechsel hatte eine politische Krise ausgelöst.

Die Spaltung in der regierenden Klasse und im tibetischen Adelhatte sich auf den religiösen Bereich ausgedehnt. Die Karmapa-Schule, die überzeugt war, sie verkörpere die reinsteLehrtradition, so, wie sie sich aus den heiligen Schriftenherleite, hatte mit Unwillen den Aufstieg des Gelugpa-Ordensverfolgt, der seine Kraft und seinen Einfluß der Strenge seinerdisziplinarischen Regeln und der geistlichen Würde seinerLamas verdankte. Doch ihre Meditationsübungen und Visionenrückten sie in die Nähe der Magie und erregten Verdacht. Einederart esoterische Auseinandersetzung vermochte freilich dieöffentliche Meinung und die tibetischen Volksmassen kaum zumobilisieren. Und so ging das Gerücht um, die Gelugpa-Gemeinschaft habe sich mit den Fremden, den Mongolen undden Chinesen, verbündet, um ihre Macht auszudehnen.Zwischen der neuen Herrscherfamilie der Tsang und dem

Karmapa-Orden bahnte sich, von solchen nationalistischen

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Themen beflügelt, eine Annäherung an.

Nachdem die Tsang die Provinz Lhasa unter ihre Herrschaftgebracht hatten, beging der vierte Dalai Lama, Yönten Gyatso,

einen Fehler, denn er weigerte sich, den neuen König, KarmaPhuntsog Namgyal, zu empfangen; eine solche Haltung undseine mongolische Abstammung verliehen der These einerZusammenarbeit mit dem »fremden Feind« eine gewisseGlaubwürdigkeit. Die Folge waren offene Angriffe auf dieGelugpa-Klöster, insbesondere die beiden wichtigsten, Sera undDrepung; zahlreiche Mönche wurden getötet. Eine mongolischeArmee griff ein und stellte die Ordnung wieder her, aber um denPreis mehrerer tausend tibetischer Kämpfer im Solde der Tsang.Die Besetzung durch eine fremde Armee und die dadurchausgelösten Unruhen zogen sich über einen großen Teil derHerrschaftszeit von Phuntsog Namgyal (1611-1621) hin. Dochdie Tümed-Sippe verlor in der Mongolei ihre Machtstellung,ihre Armee zog sich deshalb zurück, und der neue tibetischeKönig, Karma Tenkyong, welcher der letzte weltliche Herrscher

sein sollte, war so klug, die Wahl der Mönche des KlostersDrepung zu billigen und die Reinkarnation des geistlichenOberhauptes des Landes anzuerkennen.

1625 leitete der Abt von Tashilhunpo die Weihezeremonie fürden jungen Mönch, und er verlieh ihm bei diesem Anlaß auchseinen endgültigen Namen: Ngawang Lobsang Gyatso. Bis 1627studierte der neue Dalai Lama unter der Aufsicht der höchstenPersönlichkeit in der Hierarchie der Gelugpa-Mönchsgemeinschaft, Lingme Köntchok Chöspel, diePhilosophie und die als grundlegend betrachteten Disziplinender Astrologie, der Medizin und der Dichtkunst; er lerntezusätzlich auch Sanskrit. Der fünfte Dalai Lama war von einemuniversalistischen und nach einer Einigung der Gegensätzestrebenden Geist beseelt; das bewog ihn, sein Wissen nicht auf das Erbe des Gelugpa-Ordens zu beschränken; er umgab sich

auch mit Meistern der nichtreformierten Nyingmapa-

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Gemeinschaft; diese umfassende Bildung prägte seinePersönlichkeit sehr tief, sie förderte auch seine visionärenNeigungen.

Schon in jungen Jahren wurden Lobsang Gyatso, der in einermystischen Familienatmosphäre erzogen worden war, göttlicheOffenbarungen zuteil, die sein Verhalten bestimmten. Währendseines ganzen Lebens wiederholten sich solche Phänomene,insbesondere wenn wichtige Entscheidungen bevorstanden. Inseinem erhalten gebliebenen autobiographischen Werk berichteter von seinen Visionen, die ihn seit seinem sechsten Lebensjahrbis zu seinen letzten Lebenstagen begleiteten.47 Er war sichvollauf bewußt, daß derartigen Erinnerungen etwasUngewöhnliches anhaftet, denn er setzt seinen Berichten diefolgende Bemerkung voran:

Als ob die Illusionen des Samsara nicht ausreichten,

Wird mein beschränkter Geist auch noch von denillusorischsten Visionen angezogen,

Denn es wäre zweifellos absurd zu sagen, das Bild desMitleidens des Buddha

Könnte sich im Spiegel der Karma-Existenz widerspiegeln.

Dennoch möchte ich die folgenden Seiten schreiben.

Sie werden alle jene nicht enttäuschen, die zum Glaubenneigen, die Fata Morgana in der Wüste sei wirklich ein See,

Ebensowenig alle jene, die sich von Märchen bezaubernlassen,

Oder alle jene, die sich ganz einfach an den sommerlichenWolken erfreuen.

Doch die mit der Verwaltung der weltlichen Dingeverbundenen Sorgen erforderten bereits die volle

Aufmerksamkeit des geistlichen Oberhauptes Tibets. Klöster

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waren wiederaufzubauen und instand zu setzen, sie benötigtenmehr Räumlichkeiten, um den Erwartungen vieler Anwärter auf ein Mönchsleben zu genügen. Lobsang Gyatso hatte das Glück,

daß er einen ebenfalls außergewöhnlichen Menschen, SonamChöpel (1595-1657), fand, der ihn bei dieser Aufgabeunterstützte; er war nicht nur sein Schatzmeister, sondern auchder starke Mann sowohl in geistlichen als auch in weltlichenAngelegenheiten, und in der Folge leitete er als politischerWegbereiter den endgültigen Sturz der tibetischen Monarchieein.

Der Dalai Lama war noch zu jung, um mit einer schwierigenSituation fertigzuwerden, die zusätzlich durch äußere Ereignissebelastet wurde. Die zugleich politischen und religiösenRivalitäten zwischen den Fürstenfamilien und denbuddhistischen Schulen waren einzudämmen. In diesemunruhigen Umfeld, wo alle Bündnisse mit außenstehendenMachthabern das Risiko von Verdächtigung nach sich zogen,mußte er sich insbesondere um seine eigenen Beziehungen zu

den Mongolen kümmern. Doch auch in der Mongoleientzündeten sich Zerwürfnisse zwischen den einzelnen Sippensowohl an hegemonistischen Ambitionen als auch anUneinigkeit in geistlichen Fragen.

Die Qoshot-Stämme hatten sich unter einem energischenAnführer, Gushri Khan, neu formiert. Unter dem Vorwand, dierivalisierende Sippe der Kalmüken habe Partei für die Karmapa-Mönchsgemeinschaft ergriffen, mobilisierte er 1636 eine starkeArmee, mit der er ihr Gebiet angriff.

1657 entschloß sich Gushri Khan zu einer Wallfahrt nachLhasa. Er wurde von Lobsang Gyatso mit einem besondersherzlichen Zeremoniell empfangen. Im Jokhang-Tempel wurdefür ihn ein Thron aufgestellt, damit er dem Gottesdienstbeiwohnen konnte, ein Privileg, das bis dahin noch niemandemzugestanden worden war. Als Geschenk wurde ihm eine goldene

Statue von Tsongkhapa überreicht. Gushri Khan und der Dalai

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Lama stimmten in ihren Meinungen zu politischen undreligiösen Problemen vollkommen miteinander überein. Ausdieser persönlichen Begegnung erwuchs ein gegenseitiges

Verständnis, das historische Ereignisse von allergrößterBedeutung für Tibet auslösen sollte.

Das Mönchsleben von Lobsang Gyatso unterschied sich innichts von dem seiner Vorgänger. 1638 erhielt er im Jokhang-Tempel die endgültige Weihe nach dem bereits fest etabliertenRitual der Gelugpa-Schule.

Der Besuch des Mongolenführers in Lhasa beeindruckte

weder die Tsang-Monarchie noch die Karmapa-Mönchsgemeinschaft. Hatte er aber deren Groll gegen dieGelbmützen neu entfacht? Jedenfalls kam es zu neuenVerfolgungen. Für Gushri Khan war dies ein Vorwand für eineweitere Intervention. Er teilte dem Dalai Lama mit, er habe dieAbsicht, die von ihm als Ungläubige betrachteten Machthaberauszuschalten. Zuerst griff er Beri an, den tibetischen Fürsten inder Region Kham, der nicht nur ein Verbündeter der Tsang-

Dynastie war, sondern auch ein Anhänger der alten Bon-Religion, die er in ganz Tibet wieder einführen wollte. Das warzumindest in den Lageberichten nachzulesen, welche GushriKhan Argumente für sein Vorgehen geliefert hatten. DerMongolenfürst drang folglich 1640 in das Gebiet Kham ein,beseitigte Beri und annektierte dessen Herrschaftsgebiet.

Während dieser Ereignisse verhielt sich Lobsang Gyatso

neutral. Seine persönliche Neigung zur Vorsicht war dafürebenso maßgebend wie eine gewisse Nachsicht den altenMönchsgemeinschaften gegenüber, die wie beispielsweise dieNyingmapa-Lehrer zu seinem Wissen beigetragen hatten. SeinSchatzmeister und Berater, Sonam Chöpel, hatte jedoch denPlänen des Mongolenführers ausdrücklich zugestimmt; er hatteihm sogar vorgeschlagen, seine Intervention bis nach Lhasaauszudehnen. Da ihm jedoch am Einverständnis des Dalai Lama

lag, bat er diesen, die ihm vertrauten magischen Rituale

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auszuführen, um dem mongolischen Unterfangen zum Erfolg zuverhelfen. Lobsang Gyatso reagierte ohne zu zögern: »Wiekönnen Sie so etwas von mir erbitten, wenn Sie doch für solche

Rituale nichts übrig haben?«1641 wurde in Lhasa gleichzeitig bekannt, daß Beri eine

Niederlage erlitten hatte und daß eine mongolische Armee vondreißigtausend Kriegern, die keine große Mühe hatte, dieTruppen der Tsang zurückzudrängen, im Anmarsch war. DerPremierminister wurde gefangengenommen und ins Gefängnisgeworfen. Gushri Khan annektierte kurz entschlossen das vonden Tsang beherrschte Hochland. Er richtete in Gyantse seineHauptstadt ein und vertraute die weltliche Herrschaft über dasGebiet von Shigatse dem Großlama von Tashilhunpo an, dersich dieses Privileg bis in unsere Zeit zu wahren vermochte. Derletzte König, Karma Tenkyong, ergab sich seinem Besieger.Angesichts des offenkundigen Verfalls der tibetischen Dynastieproklamierte Gushri Khan sich selbst zum neuen Herrscher desLandes und zum Schutzherrn der Religion.

Sonam Chöpel, der einflußreiche Schatzmeister, sah jetzt ein,daß sich die Dinge nicht so entwickelt hatten, wie er es sichvorgestellt hatte, und daß Tibet seine Unabhängigkeit zuverlieren drohte. Er drängte den Dalai Lama, seinen Einflußgeltend zu machen, um die mongolischen Machtgelüsteeinzudämmen. Lobsang Gyatso entschied sich für eine langeMeditation, um das göttliche Licht um seinen Beistand zu bitten.Als er eingeladen wurde, die Orte zu besuchen, in denen sich dieMongolen festgesetzt hatten, sagte er bereitwillig zu. Diesorgfältig und umsichtig vorbereitete Begegnung wurde miteinem beeindruckenden Zeremoniell eingeleitet. Alle in dertibetischen Geschichte agierenden Personen nahmen daran teil,der Dalai Lama, die übriggebliebenen Höflinge des abgesetztenKönigs, die Vertreter der verschiedenen buddhistischen Schulenund die Mongolen. Eine Eskorte von sechshundert reich

ausstaffierten Reitern geleitete Lobsang Gyatso nach

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Tashilhunpo. Hier erklärte der Khan der Mongolen, erüberantworte Tibet den Händen des Dalai Lama, und dieser seivon jetzt an als der Souverän des Landes zu betrachten.

Das geschah 1642. Nach der Bekehrung Kublai Khans, desBegründers der Yuan-Dynastie, durch den tibetischen MönchPhagpa, nach der geistlichen und politischen Annäherungzwischen dem dritten Dalai Lama und Altan Khan, dem Führerder Tümed-Mongolen, ging damit der dritte Akt des eng mit denMongolen verquickten tibetischen Schicksals zu Ende.

Am regionalen politischen Gleichgewicht in Zentralasien war

freilich noch eine weitere Macht beteiligt. In Peking näherte sichdie Ming-Dynastie ihrem Ende. Durch die Palastrevolte, die1644 die Mandschu-Dynastie der Qing (Ching) an die Machtbrachte, war die kaiserliche Macht völlig gelähmt worden; siekonnte nur passiv verfolgen, was Gushri Khan alles unternahm.Sobald sich Kaiser Shun Chih fest im Sattel fühlte, riß er dieInitiative wieder an sich. Von der neuen Situation konnte erfreilich nur Kenntnis nehmen: Weder frühere Entwicklungen in

den chinesischmongolischen Beziehungen noch seinegegenwärtigen Machtmittel hätten es ihm ermöglicht, seinenNachbarn eine Lehensherrschaft aufzuzwingen, wie sie vonchinesischen Historikern aufgrund von diplomatischen Aktenoder Korrespondenzen aus dieser Zeit immer wieder behauptetwurde. Auch die Herrscher der Nachbarländer, der indischenund nepalesischen Königreiche, verhielten sich, das darf manruhig sagen, nicht anders: Alle hatten es eilig, Delegationen undGeschenke zu den siegreichen Mongolen zu entsenden, wobeisolche Gesten nicht als Anerkennung einer Vasallenschaftinterpretiert werden dürfen.

Gushri Khans gesamte Politik ist ein Beispiel für die inZentralasien so tief verankerte Vorstellung von denBeziehungen zwischen dem »zeitlichen Beschützer« und dem»geistlichen Oberhaupt«; als Gegenleistung für die

Unterstützung durch die religiöse Führung wird dieser ein

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Beziehungen und die Vermeidung weiterer Interventionenwichtiger gewesen sein dürften als ein Gefühl derUnterordnung; als geschickter Staatsmann stimmte er sein

Verhältnis zu diesem Nomadenherrscher auf dessen Charakterab. Gushri Khan gebärdete sich bisweilen sehr mißtrauisch undfühlte sich noch immer als Eroberer, wobei jedoch dieserAnspruch durch seinen von Ehrfurcht geprägten Respekt voreiner mystischen Macht in Schranken gehalten wurde.

Im Dalai Lama, der Verkörperung des tibetischenBuddhismus, fanden somit die Interpretation des Rechts und dieeigene schicksalhafte Vorbestimmung zu einer Einheitzusammen.

Nach den Zeremonien in Shigatse kehrte der Dalai Lama nachDrepung zurück. Hier gab er seiner Regierung, dem GandenPodrang, die Form, die sie bis 1959 beibehielt, und er bestätigteauch die Institution des Regenten, der die Funktion einesPremierministers ausübte.

1643 begann der unermüdliche Lobsang Gyatso auf Ersuchen

seines Schirmherrn Gushri Khan mit der Abfassung einerGeschichte Tibets.

1645 kam er zur Überzeugung, das Kloster Drepung sei nichtder geeignete Sitz für die Regierung und die Verwaltung. Erbeschloß, diese nach Lhasa zu verlegen und auf einem Hügel ander Stelle, wo 1300 Jahre früher ein tibetischer König einenMeditationspavillon gebaut hatte, einen Palast zu errichten. »Es

ist eines der größten Gebäude der Welt. Auch wenn man sich  jahrelang darin aufgehalten hatte, konnte man unmöglich alleSchlupfwinkel kennen.«49 Er baute den »weiß« genanntenmittleren Teil des Gebäudes; der rote Teil wurde 1690 vomRegenten Sangye Gyatso (1653-1705) angefügt. Im Potala-Palast befinden sich außer der Regierung auch die Gräber desfünften und der folgenden Dalai Lamas (mit Ausnahme dessechsten Dalai Lama). Der Namgyal, die 1574 in Drepung vom

dritten Dalai Lama gegründete Hochschule für die Ausbildung

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der Mönche, und alle Ministerien wurden 1649 hierher verlegt.

Als ein seiner Verantwortung bewußter Verwalter ließLobsang Gyatso eine Zählung der Klöster vornehmen. Er

reglementierte auch deren Einnahmen und Beiträge an dieStaatsausgaben.

Als universaler Geist weitete er die kulturellen Aktivitätenaus. Das von ihm geförderte Bauwesen verlieh der Architekturneuen Schwung. Ebensowenig vernachlässigte er dieWissenschaften; er gründete beispielsweise auf dem Hügel inder Nähe des Potala, wo Tsongkhapa seinen Jüngern

medizinische Kenntnisse vermittelt hatte, eine Ärzte-Schule, diebis in die jüngste Zeit erhalten geblieben ist (sie wurde nach derchinesischen Invasion zerstört), und ein Krankenhaus, wo nochheute altbewährte Methoden praktiziert werden, etwa diePulsdiagnose oder die Behandlung mit Bergpflanzen. Eine Serievon sechsundsiebzig Seidenmalereien, die mit mehr alsachttausend Einzelbildern die wesentlichen Kenntnisse über denmenschlichen Körper und die Lebensfunktionen darstellt, war

1688 fertiggestellt worden; diese bemerkenswerten Tafeln, auf denen das Wissen der damaligen Zeit in Medizin, Chirurgie undGeburtshilfe zusammengefaßt ist, sind sorgfältig konserviertworden; für die Besucher des Krankenhauses in Lhasa sindKopien angefertigt worden.50 

Als Ordensmann und Diplomat organisierte der fünfte DalaiLama die religiöse Hierarchie Tibets und kümmerte sich, zum

größeren Nutzen sowohl des Landes als auch des Buddhismus,auch um die außenpolitischen Beziehungen.

Die religiöse Hierarchie erweiterte er durch das Amt und dieWürde des Panchen Lama.

Der geistliche Vorsteher von Tashilhunpo, Lobsang ChökyiGyaltsen, der von 1570 bis 1662 lebte und die Stellung einesAbtes seit 1600 bekleidete, hatte den Dalai Lama in seinemAufstieg und seinen Pflichten unterstützt. Dieser verehrte ihn

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deshalb als seinen Meister und sein Vorbild. Das in allenEreignissen der tibetischen Geschichte gegenwärtigeGeheimnisvolle enthüllte ihm »geheime Texte«, in denen

festgehalten war, daß der ehrwürdige Abt eine Reinkarnationvon Amitabha war, des Buddhas des unendlichen Lichts, dessenLehre Zugang zum ewigen Paradies verleiht. Durch neueEntdeckungen und Visionen vermochte er die ganze Reihe derfrüheren Reinkarnationen bis zu einem direkten SchülerTsongkhapas, Kedup Dje, zurückzuverfolgen, der von 1358 bis1438 gelebt haben soll. Deshalb wurde beschlossen, daß dieserMönch als der erste Panchen Lama zu betrachten sei, womit

Lobsang Chökyi Gyaltsen zum vierten wurde. Der Titel soll eineAbkürzung von Pandita-Chenpo, »Großer Gebildeter Weiser«,sein. Ab jetzt gab es in Tibet zwei sich gegenseitig ergänzendeHierarchien, wobei die ältere als Beschützerin und Begründerinder anderen anzusehen ist. Manche Tibeter halten den PanchenLama für eine noch spirituellere Persönlichkeit als den DalaiLama, weil er angeblich keinerlei zeitlichen Bindungen oder

Tätigkeiten unterworfen sei; in Wirklichkeit haben aber beideInstitutionen in zeitliche wie auch religiöse Angelegenheiteneingreifen müssen. Im geschichtlichen Ablauf habenausländische Mächte sogar versucht, sie gegeneinanderauszuspielen. Die Nachfolgeregelung durch Reinkarnation giltfür beide. Als Lobsang Chökyi Gyaltsen starb, wurde ein Kindaus einer Familie, die noch im Bönpo-Glauben verhaftet war,vom Dalai Lama als der neue Leib von Amitabha anerkannt,

womit er seiner toleranten Haltung religiösen Gruppierungengegenüber treu blieb. Er gab dem neuen Panchen Lama denNamen Lobsang Yeshe (1663-1737).

Der Dalai Lama war sich seiner Verantwortung Tibet alsNation gegenüber bewußt und kümmerte sich deshalb persönlichum die Beziehungen zu den Nachbarn und der Außenwelt.Dabei kamen ihm die Umstände und die Ausstrahlungskraftseiner Persönlichkeit entgegen.

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Im Westen mußten sich die Steppenvölker und die Himalaja-Königreiche dem Druck des Islam stellen. Kaschmir undBaltistan waren im 16. Jahrhundert bekehrt worden. Sultane

übernahmen die Regierungsgewalt und versuchten, noch weiternach Osten vorzustoßen; Sultan Said Khan von Kaschgar undsein General, Mirza Haidar, unternahmen sogar 1531 bis 1533eine Expedition bis nach Zentraltibet. Ladakh und Gugevermochten sich ihre Unabhängigkeit zu bewahren. DieBuddhisten mußten darauf achten, daß sie sich nichtverzettelten. Ein Zweig der Kagyüpa-Gemeinschaft setzte sichin Ladakh fest; er vergrößerte und verschönerte zwischen 1602

und 1642 das Kloster von Hemis in der Nähe der HauptstadtLeh.51 

In Nepal war das Königsreich der Malla-Dynastie entstanden;die Angehörigen dieser Sippe hatten die Gebiete im Tal vonKatmandu untereinander aufgeteilt. Zwischen Nepal und Tibetbestanden seit dem frühen 17. Jahrhundert Handelsbeziehungen.Die Reise durch die Bergketten war kein einfaches Unterfangen,

doch die Interessen der Händler überwanden alle Hindernisse.Ein Mitglied der königlichen Familie und Staatsminister, BhimaMalla, begab sich persönlich nach Lhasa; er schloß sogar einenHandelsvertrag ab, in dem festgehalten wurde, die Güter von inTibet verstorbenen Nepalesen seien der Regierung Nepalsauszuhändigen. Der Handel war derart rege, daß König SiddhiNarasimha Malla (1620-1657), ein konservativer Anhänger desBrahmanismus, der Krishna so tief verehrte, daß er sich selbst

entsetzliche Entbehrungen auferlegte, um 1650 ein besonderesReinigungsreglement für die einheimischen Händler erließ, dieaus Tibet kamen; denn durch diese Reise außerhalb derrechtgläubigen Länder und durch den Kontakt mit einer Rasse,die von den Brahmanen als unrein deklariert worden war,kehrten sie besudelt nach Hause zurück und brauchten eineentsprechende Reinigung.52 Da die gegenseitigen Beziehungennicht so sehr auf rechtlichen Grundlagen, sondern auf der

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Dynamik der Tibeter, Händler wie Mönche, beruhten, konntendie Nepalesen die Ausbreitung des Buddhismus auf ihrTerritorium nicht verhindern. Sogar im Tal von Katmandu war

König Pratapa Malla, gleichzeitig Dichter und Mönch, geneigt,allerlei göttliche Kombinationen vorzunehmen; er praktizierteeinen wohlanständigen Synkretismus und umgab sich mit viergeistlichen Beratern, unter ihnen war der buddhistische PriesterJamana; er gestattete den Mönchen und ihren Gläubigen,Tempel in Bodnath und Swayambhu zu errichten, die zuWallfahrtsorten für die Buddhisten aus den benachbartenGebieten wurden. In den Bergen suchten Mönche abgelegene

und bereits zum Buddhismus bekehrte Völkergruppen,beispielsweise Gurungs, Tamangs und Sherpas, auf; siebeteiligten sich am Bau und Unterhalt von Klöstern, die es nochheute gibt und die immer Kultur- und Glaubenszentren gewesensind.

Die Himalaja-Völker verspürten das Bedürfnis, dem Druckdes Brahmanismus zu widerstehen, der sich von Indien aus

gegen Norden ausbreitete; dabei ging es nicht nur um ihre innereÜberzeugung, sondern auch um ihre politische Unabhängigkeit.

Die Völkerschaften Bhutans, die von ihrer Herkunft und ihrerLebensweise her viele Gemeinsamkeiten mit den Tibeternaufweisen, hatten sich schon seit langem zum Buddhismusbekehrt. Die Schule der Rotmützen war in dieser Region seit derersten Hälfte des 16. Jahrhunderts vorherrschend. Um das inPunakha errichtete Kloster herum hatten die Mönche einentheokratischen Staat aufgebaut, der mit Tibet regelmäßigeBeziehungen unterhielt. Dasselbe gilt für Sikkim: Dieses Landwar von einem tibetischen Missionar, Lhatsün (1597-1655), zumBuddhismus bekehrt worden und gab sich mit König PhuntsogNamgyal 1657 eine stabile Dynastie.

Der fünfte Dalai Lama stellte seine Klugheit in menschlichenAngelegenheiten und seine Toleranz gegenüber anderen

Glaubensformen unter Beweis, als sich ihm Gelegenheit zu

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Kontakten mit dem Islam bot. In seiner Arbeit über die Sufi imHimalaja-Gebiet erwähnt Marc Gaborieau einen Muslim ausKaschmir, Maulana Bashir Ahmad, der sich in Lhasa aufhielt:

Zu dieser Zeit verbrachte ein Heiliger, der sich ausschließlichdem Denken an Allah geweiht hatte, seine Tage auf dem Gipfeleines Berges, der dem Palast (Potala) gegenüberliegt. Immerwenn der Dalai Lama durch sein Fenster in diese Richtungblickte, sah er diesen Mann [...]. Eines Tages schickte er seineDiener mit einem Pferd aus, sie sollten diesen Mann zu ihmbringen. Der Heilige erwiderte ihnen: »Kehrt zum Palast zurück,ich komme nach.« Während sie dem Dalai Lama Auskunft überihr Erlebnis gaben, erschien der Heilige plötzlich vor ihnen. DerDalai Lama äußerte seinen Wunsch, sich mit ihm zu unterhalten.Der Heilige legte ihm ausführlich die Religion der Muslime darund schilderte ihm, wie schwierig es für sie sei, ihre Toten inLhasa zu bestatten, weil sie keinen Friedhof besäßen. EinigeTage später schoß der Dalai Lama Pfeile ab, und zwar in vierRichtungen auf ein flaches Grundstück hinter seinem Palast.

Dann sagte er den Muslimen: »Nehmt das ganze Grundstückzwischen diesen vier Pfeilen als Friedhof.« Seit diesem Tag istdiese Parzelle Eigentum der Muslime.

Die Öffnung des Daches der Welt unter dem Druckpolitischer Ambitionen oder religiöser Kräfte, im einen wie imanderen Sinne, fällt mit der Ausbreitung des europäischenChristentums zusammen. Auf die Händler, Soldaten und Priesterfolgten die Reisenden in hellen Scharen.

Trotz intensiver Forschungen und vieler Zeugnisse, die denArchiven entrissen wurden, läßt sich die Frage nichtbeantworten, wer als erster Europäer nach Lhasa gelangt ist.Man glaubte lange Zeit, Odorich von Pordenone sei dieserMann, ein Franziskaner aus dem Friaul, der im April 1318 ausPadua aufbrach, um zur Missionsstation des Johannes vonMontecorvino zu reisen, der sich 1289 in China niedergelassen

hatte. Sein Rückweg führte ihn durch Zentralasien, genauer

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gesagt durch den Norden Tibets, und zwar längs dermongolischen Oasenstrasse nach Badakhschari und Khorasan.

Die portugiesischen Jesuitenpatres Antonio de Andrade und

Marquez, die sich am 30. März 1624 von der indischen StadtAgra aus auf den Weg gemacht hatten, durchquerten Kaschmirund Ladakh, gelangten aber nicht über Tsaparang, dieHauptstadt von Guge, hinaus. In ihrem Bericht bezeichnen siedieses Land als Tibet, und sie beschreiben darin Szenen, wieman sie tatsächlich in Shigatse oder Lhasa antreffen kann:

Die Einwohner zeichnen sich im allgemeinen durch

hervorragende Eigenschaften aus, sie sind gut, tapfer und sehrfromm. Sie legen wenig Wert auf ihre Kleidung, geben sich abersehr viel Mühe bei der Verschönerung ihrer Kirchen. Priester,die sie  Lambon nennen, gibt es in großer Zahl. Die einen lebenin Gemeinschaften, wie unsere Mönche, die anderen habenHäuser, wie unsere Weltpriester. Sie legen alle das Gelübde derArmut ab; sie leben nur von Almosen; ihre Lebensweise isterbaulich; sie halten sich an den Zölibat, widmen den größten

Teil des Tages dem Gebet und pflegen auch den Gesang, wiewir, um dem Allerhöchsten ihre Huldigung darzubringen.

Die beiden Jesuiten geben zu, daß sie auf ihrer Reise nichtdurch ganz Tibet gekommen sind:

Noch weiter entfernt, im Inneren dieser Gebiete, gibt esandere, an China angrenzende Königreiche, die dieselbe Spracheund Religion wie Tibet haben. Während wir uns in Tsaparang

aufhielten, begegneten uns mehr als zweihundert Händler mitvielen Waren, welche Chinesen in ihr Land gebracht hatten.

Am 11. April 1626 legten sie, in Anwesenheit des Königs vonGuge, den Grundstein zu einer Kirche; sie hatten den Zweckihrer apostolischen Reise nicht vergessen; sie glaubten, ihnleicht erreichen zu können, weil die Bewohner eine gewisseVorliebe für religiöse Themen zeigten und weil sie auch vieleAuffassungen entdeckt hatten, in denen zwischen der

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christlichen Religion und dem tibetischen Buddhismus kaumUnterschiede zu erkennen waren.

Zwei andere portugiesische Missionare, Cabral und Cacella,

gelangten auf demselben Weg durch die Himalaja-Kette bisnach Shigatse (1626-1632).

Zwei Patres der Jesuitenmission in Peking, der ÖsterreicherJohannes Gruber und der Belgier Albert d'Orville, erhielten1661 den Befehl, nach Rom zurückzukehren, um dort neueInstruktionen ihres Generals entgegenzunehmen. Sie konntennicht den üblichen Seeweg benutzen, weil die Holländer die

Häfen blockierten, und entschlossen sich deshalb für denLandweg. Sie verbrachten zwei Monate in Lhasa und reistenanschließend durch Nepal nach Indien weiter. Sylvain Lévi53 berichtet, die Malla-Könige im Tal von Katmandu hätten sichgegenseitig bekriegt, während die beiden Jesuiten unterwegswaren; sie liehen dem König von Patan ein Fernrohr, durch daser die Stellungen des Königs von Badghaon beobachten konnte;aufgrund solcher Feststellungen gruppierte er seine Truppen um

und vermochte seinen Feind zum Frieden zu zwingen. Der eineder beiden Jesuiten starb Anfang 1662 in Agra, der andere 1665,als er versuchte, über Rußland und Sibirien nach Chinazurückzukehren. Es blieb ihnen keine Zeit, Berichte über ihreErlebnisse zu schreiben, und von ihrem Weg durch Tibet weißman überhaupt nichts. Sie hatten sich im übrigen nicht als sehrneugierig erwiesen und kaum versucht, ihre Kenntnisse über dasLand und seine Bewohner zu vertiefen, ganz im Gegensatz zurweltoffenen Tradition, die ein Kennzeichen der GesellschaftJesu seit ihrer Gründung, ein Jahrhundert zuvor, war; ausdogmatischen Gründen hatten sie darauf verzichtet, einGespräch mit dem Dalai Lama anzustreben, denn sie hielten esfür von vornherein ausgeschlossen, sich mit einem Menschen zutreffen, »der sich mit Gottvater gleichsetzt«.

Die Klänge aus den langen kupfernen Hörnern unterbrachen

in regelmäßigen Abständen die Gesänge der Mönche; Köpfe

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erforderte vom Dalai Lama höchste geistige Konzentration beider Vorbereitung. Die politische Theorie des chinesischenReiches war ihm restlos vertraut. Welche Dynastie gerade die

Herrschaft ausübte, war völlig gleichgültig, das Prinzip, daß ihreMacht sich über die ganze Erde ausbreiten müsse, blieb immerdasselbe. Die zwischenstaatlichen Beziehungen und die Gradeder Abhängigkeit anderer Staaten von China waren bloß eineSache der zeitbedingten Umstände. Der Dalai Lama wußtedeshalb, daß er sich bei den geringfügigsten Gesten undVorschlägen so zu verhalten hatte, daß der Status Tibets nicht inFrage gestellt wurde, dessen weltliches und gleichzeitig

geistliches Oberhaupt er erst seit zehn Jahren war.Lobsang Gyatso verließ Lhasa mit einem Gefolge von

dreitausend Personen; Aufenthalte in den Klöstern am Wegeverzögerten die Reise, weshalb seine große Delegation nurlangsam vorwärts kam. Als sie zehn Monate nach dem Aufbruchendlich China erreichte, bat der Dalai Lama den Kaiser um einTreffen an der gemeinsamen Grenze zwischen den beiden

Territorien. Mühselige Verhandlungen und ein mehrfacherAustausch von Botschaften waren notwendig, bis sich dieDiplomaten über dieses heikle Protokollproblem einigenkonnten. Der Kaiser hätte von sich aus die Forderung des DalaiLama akzeptiert, aber sein Hofstaat und seine Rechtsberaterwaren dagegen. Die offizielle tibetische Delegation wurde auf rund dreihundert Personen reduziert und legte noch einigeTagesetappen zurück; bei allen diesen Zwischenhalten wurde sie

von chinesischen Emissären gebührend empfangen. Schließlichfand das Treffen in Chenlo'u statt, wobei ein minutiösausgearbeitetes Zeremoniell befolgt wurde, das denAnforderungen zu genügen hatte, welche die beiden Parteien fürdie Wahrung ihrer langfristigen Interessen als notwendigerachteten.

Der Dalai Lama stieg von seinem Pferd; der Kaiser erhob sich

von seinem Thron und begrüßte seinen illustren Gast.

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Dolmetscher halfen beim Austausch derBegrüßungshöflichkeiten. Daraufhin setzte der Dalai Lama seineReise fort, er kam 1653 kurz nach Neujahr in Peking an; ein

ganzes Jahr lang war er unterwegs gewesen. Ein Palast, derGelbe Tempel, war ausdrücklich für ihn errichtet worden. Diebeiden Monate, die er in Peking verbrachte, waren mitEmpfängen, Banketten und Festlichkeiten ausgefüllt, dieeinander an Pracht zu überbieten versuchten.

Die Bedeutung des Ereignisses mußte durch die Abfassungeines schriftlichen Dokuments unterstrichen werden. Mitwelchen Worten aber? Das war eine schwierige Aufgabe für denDalai Lama. Schließlich löste er sein Problem auf der religiösenEbene, indem er den Wunsch formulierte, die Stellung seinerSchule möge unter dem Schutz des Kaisers erhalten bleiben. DieAntwort bestand aus einer Urkunde, deren TextAuseinandersetzungen über den Status des Dalai Lama undTibets gegenüber China auslöste.54 

Schon in der Präambel stellt sich der kaiserliche Text auf 

einen intellektuellen Standpunkt, wie es der Dalai Lamagewünscht hatte: Der chinesischen politischen Theorie wirddurch die Aussage Genüge getan, daß ein Unterschied bestehtzwischen der Funktion, die Völker zu lenken, und dem Auftrag,die geistliche Leitung auszuüben, die Seelen zu führen, würdenwir sagen; weil die beiden Aufgaben einander ähnlich sind, ist

  jedoch eine offizielle Verquickung zulässig. Mit anderenWorten: Die beiden Aspekte der Aufgabe liegen auf verschiedenen Ebenen; die eine Funktion als irdischer Souveränist auf das Gemeinwohl bedacht, die andere als geistlichesOberhaupt kümmert sich um eine Vervollkommnung in einemBereich jenseits der sinnlich faßbaren Welt; nicht zwischen denbeiden Machtbereichen besteht eine innere Beziehung, wohlaber zwischen zwei weisen Führungsmethoden, die beidedasselbe Ziel haben, nämlich »dem Wohl zu dienen«. Der Text

dieser Urkunde unterscheidet sich von vielen anderen offiziellen

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chinesischen Dokumenten mit ähnlichem Inhalt dadurch, daßder tibetische Hierarch als eine unabhängige Größe betrachtetwird, daß er als dem ethischen und religiösen Bereich zugehörig

definiert und nicht in die Sphäre des universellen kaiserlichenEinflusses einbezogen wird.

Im zweiten Paragraphen wird als theoretische und allgemeinePräambel eine genaue Umschreibung der besonderen Stellungdes Dalai Lama hinzugefügt: Dank seiner hervorragendeninneren Eigenschaften, seines Konzentrationsvermögens undseiner Weisheit ( prajna in der Originalversion, was sowohlWissen als auch Weisheit bedeutet) ist es ihm gelungen, sowohldie empirische als auch die transzendentale Welt zu übersteigenund den Buddhismus auszubreiten. Dabei fand er Zugang zu denUngebildeten in den Ländern des Ostens und reformierte dieLehre in den Ländern des Westens, womit auf die religiöseReform der »Gelbmützen«-Schule und seinen Aufstieg zumtibetischen Souverän angespielt wurde.

Anschließend würdigt der Text, daß der Dalai Lama seine

faktische Stellung als ein Ergebnis der himmlischen Absichtenbegriffen habe, was er damit bewies, daß er die vom Vater desKaisers, Tai Tsong, dem Begründer der Mandschu-Dynastie,ergangene Einladung annahm. In diese wörterbuchartigeAufzählung haben somit die chinesischen Verfasser des Texteseine Darstellung ihres grundlegenden politischen Prinzipseingeflochten: Der Kaiser hat vom Himmel den Auftragerhalten, die Erde zu lenken; unter seinem Einfluß bemühen sichdie umliegenden Völker, den Weg in Richtung einerHöherentwicklung einzuschlagen; der Höhepunkt dieserEntwicklung ist der persönliche Kontakt mit der Quelle, dieumgekehrt das bereits Erreichte bestärkt und ihm neuenSchwung für eine Weiterentwicklung verleiht. Dadurch erhältdie Reise des tibetischen Machthabers eine einzigartigeBedeutung: Sie trägt zur Vervollkommnung des Dalai Lama und

gleichzeitig zur Verstärkung der kaiserlichen Macht bei.

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In der herkömmlichen politischen Theorie Chinas hat eineReise an den Kaiserhof dieselbe Bedeutung wie die Aufnahmediplomatischer Beziehungen oder ein Vertrag in der heutigen

Praxis des internationalen Rechts. In der traditionellenchinesischen Auffassung von den Beziehungen zur äußerenWelt bedeutet China die Kultur, während die ganze restlicheWelt mehr oder weniger unter dem Begriff »Barbaren«zusammengefaßt wird; so gesehen ist der Besuch einesausländischen Würdenträgers eine Offenlegung, eineReinkarnation der potentiellen Beziehungen zwischen Chinaund den Barbaren. Am Ende erklärt sich der Kaiser schließlich

als derart befriedigt und glücklich, daß er das ausgearbeiteteDokument zusammen mit einer überschwenglichen Aufzählungvon Titeln aushändigt.55 

Es muß angemerkt werden, daß dieser Überschwang vonTiteln eine Folge der vorangegangenen Ereignisse ist, nämlichder Reise des Dalai Lama und der Zufriedenheit des Kaisers,und nicht etwa mit dem Status des Empfängers etwas zu tun hat;

eine solche Interpretation drängt sich aufgrund der traditionellenpolitischen Theorie Chinas auf; sie hat derartige Titel nie alsUmschreibung für den Status des Empfängers, sondern immerals ein Zeichen kaiserlichen Wohlwollens aufgefaßt.

Daraus ergibt sich, daß der Besuch des Dalai Lama für KaiserShun Chih ein besonders bewegendes Ereignis war. Zunächstwar er selbst ein eifriger Buddhist; von ihm wird berichtet, erhabe gegen das Ende seines Lebens den Hof verlassen, umMönch zu werden. Darüber hinaus hatte er die höchste Stellungerreicht, nämlich die universelle Herrschaft über die Erde, undder offizielle tibetische Besuch bedeutete eine Anerkennungseiner Legitimität. Durch solche Überschwenglichkeit und dieHofetikette hatte das Ereignis seine einzigartige Bedeutungerhalten. Die chinesischen Kommentatoren haben versucht,diesen spontanen Enthusiasmus in chinesischem Sinne zu nutzen

und die Ergüsse der beiden Staatsoberhäupter, mit denen sie sich

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gegenseitig überhäuften, als eine einseitigeBestätigungszeremonie zu interpretieren, was sie offensichtlichnicht war.

A. S. Martynow ist der Meinung, aus einer Analyse deschinesischen Textes ergebe sich keinerlei Hinweis auf einewechselseitige Beziehung zwischen der religiösenVerwandtschaft und der weltlichen Schirmherrschaft, dieUrkunde enthalte keine Aussagen über die territoriale Integritätoder über eine politische Annäherung zwischen China undTibet, der Besuch des Dalai Lama in Peking habe folglich vonden chinesischen diplomatischen Dokumenten her gesehendieselbe Bedeutung wie andere ausländische Besuche.

Lobsang Gyatso verband den Rückweg nach Lhasa wiederummit Aufenthalten in den bereits berühmt gewordenen Klösternam Rande des Weges. Der indische Historiker Sarat ChandraDas erwähnt in einer zu Beginn unseres Jahrhundertsentstandenen Studie über die Hierarchie der Dalai Lamas, daßsich der Kaiser nach den Zeremonien in Peking zum Grab seiner

Ahnen in Mukden begeben habe und auf seiner Reise vom DalaiLama begleitet worden sei. Nach der Rückkehr nach Lhasawidmete sich der Dalai Lama, nachdem die Stellung TibetsChina und seiner neuen Dynastie gegenüber gesichert war, vonneuem seinen religiösen Aufgaben. Er begann mit derAbfassung seiner geheimen Autobiographie, einer Arbeit, in derer vor allem die geheimnisvollen Visionen analysierte, die seinHandeln während seines ganzen Lebens bestimmt hatten. Nichtnur als Staatsmann, sondern auch als Literat ermutigte undbeaufsichtigte er alle entstehenden literarischen Werke; dieAutoren profitierten von der allgemeinen kulturellenEntwicklung, um auch andere als nur religiöse Themen zubehandeln; man kann noch nicht von einer eigentlichen profanenPoesie sprechen, wie sie dann unter dem sechsten Dalai Lamaaufblühte, aber die Dichter ließen sich von der reichen Folklore

der tibetischen Gesellschaft inspirieren.

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Die Außenpolitik beanspruchte von neuem seineAufmerksamkeit und nötigte ihn zum Eingreifen. SolangeGushri Khan, das Oberhaupt der Qoshot-Mongolen, noch gelebt

hatte, fühlte sich Lobsang Gyatso aus Dankbarkeit für dessenUnterstützung und ebenso aus diplomatischem Geschickverpflichtet, ihn über die weiteren Entwicklungen der Situationin Tibet zu informieren und ihn um seine Meinung zu fragen.Der Mongole hatte keine Einwände gegen den Besuch in Chinaerhoben. Peking nahm den Mongolen gegenüber dieselbeHaltung eines zumindest nominalen Imperialismus ein, was

  jedoch die Herrscher der Steppenvölker nicht daran hinderte,

ihre Angelegenheiten nach eigenem Gutdünken zu regeln. Alsaber Gushri Khan starb56, hielt der Dalai Lama die Zeit fürgekommen, diese aus Huldigungen bestehende Beziehung etwaszu lockern. Die äußeren Umstände kamen ihm zu Hilfe. Zweider Söhne von Gushri Khan hatte sich die Erbschaft geteilt: Der

  jüngere, Bagathur, herrschte über das Gebiet Kukunor, derältere, Dayan Khan, wurde der neue König-Protektor Tibets. Der

von Gushri Khan 1642 ernannte  Desi, Sonam Chöpel, hatteseinen Förderer nicht lange überlebt. Dayan Khan ernannte denLama Trinle Gyatso zu seinem Nachfolger. Und 1659 begab ersich persönlich nach Lhasa, um dem Dalai Lama bei derNiederschlagung eines Aufstandes in der Provinz Tsang zuhelfen.

Von solchen kurzen Hilfeleistungen seines Protektorsabgesehen, hatte Lobsang Gyatso die Regierung des Landes in

seine Hand genommen, und zwar zur großen Befriedigung derBevölkerung, die in Frieden leben durfte und sich amWohlergehen erfreute, welches daraus hervorgegangen war.

1668 starb Trinle Gyatso, ohne besondere Spuren hinterlassenzu haben. Im folgenden Jahr entsandte Dayan Khan alsNachfolger einen Laien, genauer gesagt einen General, der eineseiner Armeen kommandierte, Chöpön Depa. Streitigkeiten

zwischen dem Regenten und dem Dalai Lama ließen nicht lange

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auf sich warten. Da sich Dayan Khan immer mehr mit demsymbolischen Charakter seines tibetischen Königtumszufriedengab, griff er nicht in die Auseinandersetzungen ein. Er

starb im übrigen schon 1670. Lobsang Gyatso nahm einenSkandal oder eine Intrige (der Regent wurde verdächtigt, eineNonne verführt oder, nach einer anderen Version, die Gattineines Adligen aus der alten Familie der Phagmodu entführt zuhaben) zum Vorwand: 1673 enthob er Chöpön Depa seinerAufgaben und internierte ihn in einer Festung. Der in derZwischenzeit neu an die Macht gekommene Mongolenherrscher,Erdeni Dalai Khan, war eine derart schwache und

bedeutungslose Persönlichkeit, daß der Dalai Lama keine Mühehatte, sich die ungeteilte Macht anzueignen. Zwei Jahre langbehielt er sie für sich, dann ernannte er, um den Schein zuwahren, am 15. Oktober 1675 selber einen Regenten, wobei ernach sorgfältiger Abwägung den Vorsteher des Potala, denLama Lobsang Jinpa, für diese Aufgabe auswählte. Dieser tratauf eigenen Antrieb 1679 zurück, um sich der Meditation zu

widmen und insbesondere sein Amt seinem Neffen abzutreten.Dieser junge Mann übte jedoch beim Dalai Lama schon seitmehreren Jahren wichtige weltliche Funktionen aus. Erkümmerte sich um die Finanzen und die innere Verwaltung.57 Für Sangye Gyatso begann damit eine lange politische Karriere,in deren Verlauf er für die weitere Geschichte Tibetsbedeutsame Entscheidungen traf.

Um diese Zeit scheint Lobsang Gyatso seine vollengeistlichen und diplomatischen Fähigkeiten und den Höhepunktseiner Macht und seines Einflusses erreicht zu haben. Diedamaligen politischen Ereignisse in Zentralasien erforderten denganzen Einsatz seiner Talente und seiner Tatkraft.

In Peking stand Kaiser Kangxi (1663-1722), der Nachfolgervon Shun Chih, größten Schwierigkeiten gegenüber. Er mußtesich nicht nur die letzten Anhänger der Ming vom Halse

schaffen, sondern auch Generäle, die versucht hatten, ihre

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Unabhängigkeit zu proklamieren, beispielsweise Wou San Kuei,der sich in Yünnan und im Süden von Szetschuan ein eigenesKönigreich aufbauen wollte. Der Dalai Lama hatte sogar daran

gedacht, diese Gelegenheit zu nutzen, um die chinesischeVormachtstellung abzuschütteln, weil er befürchtete, einweiterer Machtzuwachs könnte die von ihm errungeneUnabhängigkeit gefährden. Er hatte sich einverstanden erklärt,eine Delegation mit reichen Gesehenken zu empfangen, die deralte chinesische Rebellengeneral ihm zukommen lassen wollte.Später wurde ein Brief, der zwar vom Regenten, aber im Namendes Dalai Lama, geschrieben worden war, an den Kaiser

gesandt, um von ihm Milde für Wou San Kuei zu erbitten. Alsdie Chinesen 1680 die Festung in Yünnan überrannten, in dernoch Wous Sohn, Wou Shi Pan, Widerstand leistete, fanden siesogar einen an den Regenten in Lhasa adressierten Brief vor,worin der General vorschlug, dem Dalai Lama die DistrikteChung-Tien und Wei-Hsi in West-Yünnan zu überlassen, fallsTibet den Rebellen Unterstützung gewährte. Doch schließlich

gelang es Kangxi, alle Revolten niederzuschlagen: Es war somitnicht die geeignete Zeit, um sich mit dessen Feinden zuverbünden.

Eine andere und ernsthaftere Gefahr bedrängte die kaiserlicheMacht, nämlich das kriegerische Erwachen der Dsungaren, einesMongolenvolkes; die Horden dieser Steppenkrieger hatten schonein großes Gebiet von Turkestan im Westen bis zu den Grenzendes von anderen Mongolenstämmen im Osten besiedelten

Territoriums in ihre Gewalt gebracht. Diese bedrohtenMongolenvölker appellierten sowohl an Peking als auch anLhasa. Der Dalai Lama verfügte bei den Dsungaren über einenstarken Einfluß; er hatte sich insbesondere um die Ausbildungeines Prinzen aus einer der bedeutenden Familien verdientgemacht, der mehr als dreißig Jahre lang in Tibet gelebt hatte. Erversuchte deshalb, deren expansionistische Gelüsteeinzudämmen; Kaiser Kangxi überließ ihm diese heikle

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Aufgabe, bis er glaubte, die dsungarischen Ambitionen seiengenügend zurückgebunden worden, um einen Waffenstillstandabzuschließen; danach bat er Lobsang Gyatso, von weiteren

Verhandlungen abzusehen.Der Dalai Lama nutzte seine verbliebenen Kräfte, um die

Arbeiten am Potala voranzutreiben. Anzeichen von Schwächehäuften sich, und Visionen ließen ihn sein nahes Lebensendeahnen. Während der langen Krankheit, bevor er 1682 starb, übtesein Regent Sangye Gyatso die Macht aus.

Die beiden Männer waren so eng miteinander verbunden

gewesen, daß der Schüler im Prägstock des Meisters völligseinem Vorbild entsprechend geformt worden war. Er dachte garnicht daran, einen Teil der Macht, die er von jetzt an alleinausübte, an andere abzutreten; zudem hielt er es für seineAufgabe, das doppelte Anliegen des fünften Dalai Lamaweiterzuverfolgen: einerseits die Erhaltung der Unabhängigkeitsowohl den Mongolen als auch den Chinesen gegenüber undandererseits die Vollendung des Potala. 1693 war der Bau mit

dem von einem goldenen Dach gekrönten roten Palast und demSaal, in dem künftig die Dalai Lamas beigesetzt werden sollten,fertiggestellt.

Um sich einen gewissen Handlungsspielraum zu wahren, ließSangye Gyatso das Gerücht verbreiten, der Dalai Lama habesich zu einer tiefen Meditation entschlossen und das Gelübdeabgelegt, sich zwölf Jahre lang nicht mehr in der Öffentlichkeit

sehen zu lassen. Sangye Gyatso selbst, der nicht Mönch war,kleidete sich wie ein Lama, um noch mehr dem Bild ähnlich zuwerden, das sich das tibetische Volk von seiner Persönlichkeitmachen sollte.

Und so geschah es, daß der Tod des fünften Dalai Lama,Ngawang Lobsang Gyatso, rund fünfzehn Jahre langgeheimgehalten werden konnte!

In seinem Buch  Mein Land und mein Volk erklärt der jetzige

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Dalai Lama, seinem Vorgänger habe viel daran gelegen, daß derPotala vollendet werde:

Als er fühlte, daß sein Ende nahe war, bat er seinen

Premierminister, seinen Tod geheimzuhalten, weil erbefürchtete, eine solche Todesmeldung könnte zu einerEinstellung der Bauarbeiten führen. Der Premierminister fandeinen Mönch, der dem Lama glich, und dadurch gelang es ihm,den Tod dreizehn Jahre lang, bis zur Vollendung des Werks, zuvertuschen, jedoch nicht ohne zuvor auf einem Stein ein Gebetum Reinkarnation eingravieren zu lassen; diesen Stein ließ er indie Mauer im zweiten Stockwerk einsetzen, wo man ihn nochimmer sehen kann.

Nach dem Dreißigjährigen Krieg ging 1648 aus demWestfälischen Frieden ein neues Europa hervor. Die Mächte, dieeinander bekämpft und miteinander verhandelt hatten, um zudiesem Ziel zu gelangen, wußten nicht, daß gleichzeitig derBuddhismus mit seiner politischen Organisation Tibet mehr alsein halbes Jahrhundert lang Wohlbefinden, gutes Einvernehmen

und eine kulturelle Blütezeit geschenkt hatte. Das war das Werkdessen, der als der »Große Fünfte« in die Geschichteeingegangen ist.

Seine Herrschaft, und dieser Ausdruck ist für ihn angebracht,hat beträchtliche Errungenschaften hinterlassen: Das Land, dasseit dem Ende des Königtums im 9. Jahrhundert gespalten war,ist wieder geeint, und die Feudalfamilien sind bereit, sich den

Gesetzen einer Zentralregierung zu unterwerfen. Diese ist ausDrepung in den Potala umgezogen, wird jetzt von Laiengetragen und hat sich strukturiert. Ihr steht im Prinzip derRegent vor, aber sie ist vor allem für die Anwendung derDirektiven des Dalai Lama besorgt; ihre Tätigkeit wird voneiner religiösen Grundhaltung geleitet, was nur eine wohltätigeWirkung haben kann.

Das ist darauf zurückzuführen, daß Lobsang Gyatso, der sich

mit weltlichen Geschäften befassen mußte, nie von seinen

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strengen Grundsätzen abgewichen und seinen Mönchsgelübdennie untreu geworden ist. Während seines ganzen Lebens ist erzuinnerst ein Mystiker geblieben. Daß er sich auf die göttliche

Inspiration seiner Handlungen, seiner Entscheidungen undseiner Methode, mit denen er gleichzeitig die buddhistischeSchule und Tibet lenkte, verließ, hat nichts von einemengstirnigen Aberglauben oder einer Ausnützung derLeichtgläubigkeit seines Volkes an sich. Waren seine Visionen,die er sehr genau beschrieben hat, nicht etwas wie die »weißenStrahlen von oben«, von denen der Biograph des Ignatius vonLoyola spricht? Bestätigt nicht auch der Gründer der

Gesellschaft Jesu in seiner Autobiographie, daß ihm so»Einsicht und Wissen in vielen, sowohl geistlichen als auchprofanen und weltlichen Dingen« zuteil geworden war? Ignatiuswie auch der Dalai Lama sahen mit ihren »inneren Augen«. Undsogar mit einem Hinweis auf Descartes räumt Paul Valéry ein,daß es solche Erleuchtungen des Geistes gibt:

Plötzlich wird jemand der Wahrheit gewahr, und diese

leuchtet in ihm auf; eine Intelligenz hat das entdeckt odersichtbar gemacht, wozu sie im Tiefsten geschaffen war; indiesem Moment hat sie, und zwar für immer, das Vorbild ihresganzen künftigen Wirkens hervorgebracht.

Der deutsche Historiker Schulemann, der die Geschichte derDalai Lamas geschrieben hat, ist sehr streng in seinem Urteilüber die Herrschaft des ersten geistlichen Herrschers in Tibet; erverwendet Ausdrücke wie Egoismus und Machthunger. DerItaliener Fosco Maraini ist objektiver:

Die Nachfolge durch Reinkarnation, die eine geheimnisvolleAnziehungskraft auf die Massen ausübte, die strenge kirchlicheOrganisation, das monumentale Bauwerk, die geradezukönigliche Vergrößerung und aufwendige Verschönerung desPotala in Lhasa waren Tatsachen, die eine politische,wirtschaftliche, religiöse und künstlerische Realität schufen, auf 

welche die Tibeter stolz waren.

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Der wirtschaftliche Aufschwung äußerte sich in einemzunehmenden Handelsaustausch mit den Nachbarn und in derrasch wachsenden Bevölkerung der Hauptstadt; in ihr bildeten

sich Kolonien von Ausländern, beispielsweise Nepalesen,Chinesen und Mongolen. Nicht nur der Handel, auch Kunst undWissenschaft profitierten von diesem Gedankenaustausch.

Der Triumph der Gelugpa-Schule war für die anderen Denk-und Mystikströmungen, die im Mahayana-Buddhismus eineRolle spielten, zweifellos nachteilig. Es gereicht LobsangGyatso zur Ehre, daß er diese Entwicklung durch Toleranz undHumanität in Schranken gehalten hat, wodurch Auswüchse wieInquisition oder Religionskriege, welche die Geschichte desChristentums getrübt haben, verhindert wurden.

Schließlich war nun Tibet zu einer Nation geworden; derDalai Lama hatte es verstanden, seinen Weg zwischen denMongolen und den Chinesen zu gehen. Er zählte zwar auf derenmilitärisches Eingreifen, wenn seine fehlenden Machtmitteleinen solchen Einsatz erforderten, aber er setzte nie die

Einzigartigkeit und die Unabhängigkeit seiner Autorität aufsSpiel, die sich nicht nur über die alten Provinzen, sondern auchauf die Regionen Amdo und Kham erstreckte. Für den einzelnenMenschen, so wird behauptet, sei das Glück dasjenige in derWelt, an was man sich am wenigsten gut gewöhne. DerMenschheit als Kollektiv gelingt es nur selten, ein Erbe vonFrieden und Wohlstand zu bewahren, das ihr die Geschichtedurch zufällige Umstände oder die Kraft der Herrscher bescherthat. Nach dem fünften Dalai Lama beginnt für Tibet eineunruhige Zeit, die die Verdienste des »Großen Fünften« in einnoch helleres Licht rückt.

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VI Rigdzin Jamyang Gyatso 1683-1706 

In der Geschichte Tibets kommt nicht selten die Legende derChronologie in die Quere. Es ist kaum anzunehmen, dasGeheimnis des Todes des fünften Dalai Lama habe so langegewahrt werden können. Einige wenige religiöse Würdenträgerkannten die Wahrheit. Für die übrigen Gläubigen, Mönche wieLaien, hatte es nichts Unwahrscheinliches an sich, daß sich einreinkarniertes Wesen aus der Welt zurückzog, um sich einerintensiven Meditation zu widmen. Es war zudem nicht daserstemal, daß ein derartiges Geheimnis hinter Klostermauernund im Schutz ritueller Zeremonien gewahrt wurde. Als dererste Regent, Sonam Chöpel, 1658 nach sechzehn Amtsjahrengestorben war, wurde sein Tod mehr als ein Jahr lang nichtöffentlich bekanntgegeben, und die Gebete für seine Gesundung

gingen weiter, als ob er noch immer am Leben wäre.Man kann sich nach den Gründen für eine solche

Verschwörung des Schweigens fragen. Wurde siemöglicherweise nicht nur vom Regenten durchgezogen, derdamit die Kontinuität der Macht und folglich der tibetischenPolitik gewährleisten wollte, sondern sogar vom chinesischenKaiser unterstützt, dem viel daran gelegen sein mußte, daß er dievon den unruhigen Mongolen respektierte moralische Autorität

der religiösen Institutionen Tibets für sich nutzen konnte, um dieüberbordende Energie der Steppenvölker in Schranken zuhalten? Mehr noch, Kangxi mißtraute dem Regenten. Er hatteihn im Verdacht, er arbeite mit einigen seiner inneren Feindezusammen, und die Fiktion, daß der Dalai Lama noch lebe,konnte ihm deshalb nicht ungelegen kommen.

Wie dem auch sei, von 1682 bis 1705 wurden die

Geschehnisse in Tibet vom Regenten Sangye Gyatso gelenkt,

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Gesellschaftsleben regelten, in eine neue Form, indem erinsbesondere die Strafen kodifizierte; den Bräuchen derdamaligen Zeit entsprechend behielt er freilich alle körperlichen

Strafen und Verstümmelungen bei, sein besonderes Augenmerkgalt dem Schutz der Mönche und der religiösen Würdenträger.

Er selbst blieb dennoch ein den irdischen Freuden keineswegsabgeneigter Laie. Das Volk, dessen Gefühle und Reaktionen ergerne ausforschte, schätzte im übrigen seine Talente alsBogenschütze und Musiker, so wie es auch die dichterischeBegabung des sechsten Dalai Lama zu würdigen wußte; dieTibeter, die sich für alles begeistern können, was ihreTraditionen und ihre Kultur fördert, haben dem einen wie demanderen ihre eher ungewöhnlichen Verhaltensweisen verziehen.

Die mündliche Überlieferung spricht Sangye Gyatso zweiGattinnen zu; die eine wurde Mutter des kurzlebigen RegentenNgabang Rintchen, den er zu seinem Nachfolger ernannte, als ersich 1705 für kurze Zeit von den Regierungsgeschäftenzurückzog; die andere wurde Mutter zweier Kinder, die 1706

zusammen mit dem sechsten Dalai Lama gefangengesetzt undnach China deportiert wurden; sie sollen noch 1717 in Pekinggelebt haben, als der siebente Dalai Lama die chinesischeHauptstadt besuchte, denn ihre Namen stehen, wie einigeKenner der chinesischen Archive herausgefunden haben, auf derListe der Persönlichkeiten, die zum offiziellen Empfangeingeladen waren.

Der Regent soll darüber hinaus auch Mätressen gehabt haben;eine dieser Geliebten, die er mit dem Mongolen Lhabsang Khangeteilt, aber zuletzt fallengelassen haben soll, hat sich, wennman den Quellen Glauben schenken kann, an ihm gerächt,indem sie von Lhabsang Khan, der den Regenten 1705 insGefängnis warf, dessen Tod forderte.

Doch zu der Zeit, in der wir uns gerade befinden, hatte derRegent eben die makabre Komödie zu Ende gebracht, die er

vorbereitet hatte, um den Tod von Lobsang Gyatso

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geheimzuhalten. Moralisch fühlte er sich aber so sehr denRegeln für die Weitergabe der lamaistischen Macht verpflicht,daß er auch an alle Erfordernisse für die Reinkarnation des

Verstorbenen dachte. Wer auf zwei derart verschiedenenEbenen, auf der einen Seite die Verwaltung der Staatsgeschäfteund auf der anderen Seite die Beachtung der mönchischen undgeistlichen Disziplin, zu leben und zu handeln vermag, mußvermutlich ein außergewöhnlicher Mensch sein - und das war er,was auch die verschiedenen Historiker über ihn sagen mögen.

Unmittelbar nach dem Tod des Dalai Lama schickte SangyeGyatso mehrere Gruppen auf die Suche nach dem neuen DalaiLama. Er ließ keinen Hinweis unbeachtet und überzeugte sichpersönlich von den erforderlichen Erkennungszeichen. 1685berichtete eine der Gruppen von einem Kind, das am 1. März1683 (am 28. März laut der von Luciano Petech aufgestelltenChronologie) auf übernatürliche Weise zur Welt gekommen sei,und zwar in der Gegend von Möun, in der Nähe des OrtesTawang, der jetzt nicht weit von der Ostgrenze Bhutans entfernt

auf indischem Gebiet liegt. Die Familie gehörte zu einemeinflußreichen Geschlecht in diesem strategisch wichtigenGebiet Südtibets; die Geschichte berichtet von einem Ahnen, derim 15. Jahrhundert eine Festung errichtet habe, mit der sich derZugang zum Möun-Tal kontrollieren ließ. Ihre Überreste sind

  jetzt noch zu sehen. Auch das Geburtshaus des sechsten DalaiLama soll angeblich noch stehen. Sein Vater Rigdzin Trachi undseine Mutter Tsewang Lhamo gehörten der nichtreformierten

Richtung der Nyingmapa an, als Anhänger vonPadmasambhava, der den Buddhismus in die bevölkertenGebiete des Himalaja-Massivs gebracht hatte. Laut dem Berichtder Suchgruppe soll das Kind schon bei seinen ersten SchrittenFußabdrücke im Stein hinterlassen und mit bloßen Fingernmystische Zeichen in den Fels eingeritzt haben.

Der Regent nahm alle vom Ritual vorgeschriebenen

Konsultationen vor und unterzog das Kind allen Prüfungen, die

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der für die endgültige Auswahl verantwortliche Panchen Lamavorbereitet hatte. Nachdem er sich von der Echtheit derReinkarnation überzeugt hatte, ließ er das Kind und seine Mutter

in das Kloster Tsöna, einige Tagesreisen nördlich von Tawang,bringen. Seine Vorschriften für die Ausbildung und dieÜberwachung des jungen Knaben wurden von den mönchischenund weltlichen Autoritäten des Ortes minutiös befolgt. Und dasGeheimnis blieb so gut gewahrt, daß wir über die zwölf JahreAufenthalt in diesem Kloster sozusagen nichts wissen.

Doch der intellektuellen und religiösen Erziehung des Kindeswurde unter solchen Umständen offensichtlich nicht dieselbeAufmerksamkeit geschenkt, wie sie bei den früheren geistlichenOberhäuptern beachtet worden war. Die Meister für dieverschiedenen Lehrbereiche mußten sorgfältig ausgewähltwerden, doch die Verpflichtung zur absoluten Geheimhaltungdürfte dazu beigetragen haben, daß eher die zuverlässigsten alsdie geschicktesten unter ihnen auserkoren wurden. InWirklichkeit dürfte das Kind meistens sich selbst überlassen

gewesen sein. Vermutlich hat auch seine Mutter einen starkenEinfluß ausgeübt. Das würde seine ausgeprägte Einfühlsamkeiterklären, aber auch sein langes Zögern, als es sich zwischen denbeiden Schulen der Nyingmapa und der Gelugpa zu entscheidenhatte. Sein Einfühlungsvermögen dürfte seine Neigung zu einerdurch Zartgefühl und Ergriffenheit gekennzeichneten Poesiegefördert haben, seine mangelnde Entscheidungsbereitschafthinderte es daran, sich aus ganzem Herzen und mit vollem

Einsatz der »Gelbmützen«-Schule zuzuwenden, so daß es amEnde sogar darauf verzichtete, die Mönchsgelübde abzulegen.Schon in Tsöna war es ungenügend betreut und motiviertworden, und jetzt überließ es sich völlig seinen natürlichenNeigungen. Als das Kind vom Regenten in die Hand genommenwurde, war es bereits zu spät.

In Lhasa blieb das Volk ruhig, weil der Schein eines noch

lebenden Dalai Lama sorgfältig gewahrt blieb. Daß in weltlichen

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Belangen Frieden herrschte, war sowohl auf die autoritäreHerrschaft des Regenten als auch auf seine strengen undpeinlich genau ausgeführten Vorschriften zurückzuführen:

Alle Rituale, aus denen hervorging, daß sich der Dalai Lamazur Meditation zurückgezogen habe, wurden täglich beachtet;die Mahlzeiten wurden regelmäßig in sein Zimmer gebracht;sein Siegel fehlte auf keinem der offiziellen Dokumente. Beibesonders wichtigen Gelegenheiten wurde seine Zeremonialrobeim Audienzsaal auf den Thron gelegt, und alle offiziellenPersönlichkeiten beachteten das übliche Protokoll. WichtigenJüngern und Prinzen, die aus der Mongolei kamen, konnte manunmöglich eine Audienz verweigern. In solchen kritischenFällen hatte ein alter Mönch mit dem Namen Terab, deräußerlich dem Dalai Lama sehr ähnlich sah, den Auftrag, dieGäste zu empfangen. Er trug bei solchen Gelegenheiten dieZeremonialrobe und dazu eine Art Visier vor dem Gesicht undeinen Hut auf dem Kopf, vermutlich um zu verheimlichen, daßdieser falsche Dalai Lama nicht den gleichen freien,

durchdringenden und alles erfassenden Blick des fünften DalaiLama hatte.58 

Dennoch gelangten Gerüchte in Umlauf; sie wurden bis anden Hof in Peking kolportiert, und Kaiser Kangxi nahm sie umso bereitwilliger zur Kenntnis, als er Sangye Gyatso gegenüberäußerst mißtrauisch war. 1690 entschloß er sich, eine Delegationnach Lhasa zu entsenden, um Erkundigungen einzuziehen undwenn möglich die Wahrheit herauszufinden. Seinen offiziellenAbgesandten gab er Lamas als Begleiter mit, die in Pekinglebten und den Dalai Lama 1652 bei seinem Besuchkennengelernt hatten. Sangye Gyatso inszenierte für sie einewahre Theatervorstellung. In einem kleinen Zimmer im oberstenStockwerk des Potala bekamen die kaiserlichen Emissäre hintereinem Schleier aus rötlicher Seide einen von einerWeihrauchwolke umhüllten und in einem ekstatischen Zustand

befindlichen Lama zu sehen. Kangxi schickte Lobsang Gyatso

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noch mehrere Jahre lang Briefe, um von ihm Hilfe zu erbittenund sich die Vollmacht erteilen zu lassen, bei den Streitigkeitenzwischen den aufsässigen Mongolenherrschern zu vermitteln.

Diese Konflikte und die militärischen Feldzüge, die man fürderen Schlichtung unternehmen mußte, gaben den Gerüchtenüber die sonderbaren Vorgänge innerhalb des Potala neuenAuftrieb. 1693 enthüllten mongolische Kriegsgefangene denchinesischen Offizieren, die sie gefangengenommen hatten,derart eindeutige Tatsachen, daß der Kaiser eine zweiteDelegation nach Lhasa entsandte. Sie kehrte mit dem gleichenBescheid wie die frühere nach Peking zurück. Doch der Druck

der immer stärker gespaltenen und streitsüchtigen Mongolenbrachte nun sehr rasch die Dinge ins Rollen.

Die dsungarischen Mongolen aus dem Ili-Tal, die seit 1676von einem energischen und ehrgeizigen Herrscher, GaldanKhan, angeführt wurden, hatten in Turkestan ein Königreich miteiner soliden Grundlage errichtet. Ihre wachsende Machtbeunruhigte sowohl die Chinesen als auch die Tibeter. Der

fünfte Dalai Lama hatte geschickt seinen Einfluß geltendgemacht, um ein ausgewogenes Machtverhältnis unter denSippen aufrechtzuerhalten, was auch der kaiserlichen Politik desMandschu-Hofes in Peking entsprach. Doch das Erbe vonGushri Khan war zwanzig Jahre lang von schwächlichenHänden verwaltet worden. Galdan Khan verstand diese Situationzu nutzen; er sammelte alle Mongolen in einem neuen Reich,indem er die Qoshot in Kukunor, die Chakhar und die Khalka

seinen Gesetzen unterwarf. Der Desi Sangye Gyatso war sounvorsichtig, sich auf dieses Spiel einzulassen, weil er dieMongolen, selbst wenn sie sich unter einer einzigen Herrschaftzusammengefunden hatten, weniger als die Chinesen fürchtete.Eine gewisse Zeit lang war dieses Bündnis für Tibet nützlich,weil sich sein Territorium durch mönchische und militärischeExpeditionen in westlicher Richtung erheblich vergrößerte. Daseigentliche Ziel war die Einverleibung von Ladakh, doch zuletzt

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mußte man sich mit der Annexion des Königreichs Gugebegnügen, das von einer völlig heruntergekommenenHerrscherfamilie regiert wurde.

Im Osten ersuchten benachbarte Mongolenstämme denchinesischen Kaiser um Unterstützung gegen dieexpansionistische Politik von Galdan Khan. Dessen militärischerErfolg gegen die Khalka-Mongolen zwang 1690 Peking zueinem militärischen Eingreifen. Ein erster Feldzug vermochtedie Dsungaren nicht einzuschüchtern, und ebensowenig Erfolghatte ein Verhandlungsangebot. Kangxi entschloß sich deshalb,selbst einen Feldzug in den Norden der Mongolei zuunternehmen; am 16. Juni 1696 brachten seine Truppen GaldanKhan bei Terelgi, in der Nähe des Kerulu-Flusses südlich vonUrga, eine schwere Niederlage bei. Der Dsungaren-Herrscherfloh und starb ein Jahr später.

Während dieser militärischen und diplomatischenOperationen war das Mißtrauen des Kaisers dem Desi SangyeGyatso gegenüber noch gewachsen, und die Enthüllungen der

mongolischen Kriegsgefangenen über den Tod des fünften DalaiLama ließen seine letzten Zweifel verblassen. Ende 1696schickte er durch seinen Bevollmächtigten Pho-Chu einen Brief nach Lhasa, worin er vom Regenten gebieterisch eine Erklärungforderte. Sein Botschafter Pho-Chu hatte den Befehl, sichwährend seiner ganzen Reise in den Klöstern und auch beimgewöhnlichen Volk über das wirkliche Schicksal von LobsangGyatso zu informieren und, wenn nötig, den Regenten zu einemBesuch in Peking einzuladen, damit er am Königshof dieWahrheit darlege.

Sangye Gyatso hatte, als vorsichtiger Mensch, bereits seineMaßnahmen getroffen. Im April 1697 hatte er angeordnet, daßder junge Dalai Lama unter guter Bewachung und noch immerin Begleitung seiner Mutter von Tsöna nach Nakartse gebrachtwurde. Gleichzeitig entsandte er einen seiner engsten

Mitarbeiter, den Minister Nyimathang Shabdrung, an den

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Kaiserhof. Dort sollte er bekanntgeben, daß die Reinkarnationdes Dalai Lama gefunden worden sei und daß der erst fünfzehnJahre alte Nachfolger jetzt damit beginne, seine Funktionen

auszuüben; dem Kaiser hatte er zu erklären, es sei nicht möglichgewesen, den wirklichen Todestag des fünften Dalai Lamabekanntzugeben, bevor alles Notwendige für dessen Nachfolgein die Wege geleitet worden sei; er hoffe auf die Unterstützungdes Kaisers für den noch unerfahrenen jungen Lama. Kangxi,der soeben erfahren hatte, daß Galdan Khan gestorben war, undvon Lhabzang Khan, dem neuen Herrscher der Qoshot-Mongolen, die Zusicherung seiner Loyalität erhalten hatte, hielt

damit die Intrigen und Interventionen in Kukunor und Tibet fürabgeschlossen; er war so weise, sich mit den von Lhasagegebenen Erklärungen zu begnügen. Er entsandte sogar einenLama nach Tibet, der dem Regenten die Bestätigungüberbrachte, daß er den neuen Dalai Lama anerkenne.

Im September 1697 kam der Panchen Lama Lobsang Yeshe,der zweite Titular der vom fünften Dalai Lama neu eingeführten

Funktion, nach Nakartse, wo er dem jungen Dalai Lama denersten Grad der Weihe erteilte. Nachdem er von ihm das Getsul-Gelübde empfangen hatte, gab er ihm seinen religiösen Namen,Lobsang Rigdzin Jamyang Gyatso: »Ozean der Melodie«. EinSekretär, ein Kammerherr und andere Bedienstete wurdenernannt. Die ganze Gesellschaft begab sich von Nakartse nachNyethang. Dort fand die Begegnung mit dem Regenten SangyeGyatso statt, der mit den hohen Staatsbeamten und den Äbten

und Mönchen der drei wichtigsten Klöster in Sera, Ganden undDrepung aus Lhasa hierhergekommen war. Vor einer riesigenVolksmenge wurde dem neuen Dalai Lama das Mandala desLangen Lebens überreicht. Nach der Zeremonie hielt der DesiSangye Gyatso eine lange Ansprache; er stellte die Ereignisseder vergangenen Jahre ausführlich dar, seit der fünfte DalaiLama ihm den Auftrag hinterlassen hatte, seinen Tod bis zurEntdeckung des sechsten Dalai Lama und der

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Literatur erhalten hat.

Im Unterschied zu Milarepa ist aber der sechste Dalai Lamader erste Verfasser von Liebeslyrik. Die Anmut und die

schmerzliche Melancholie, die sich in seinen Gesängenwiderspiegeln, haben sozusagen nichts mehr von dermetaphysischen Grundhaltung an sich, die man vom Werk einesgeistlichen Oberhauptes erwarten würde, aber sie erklären,weshalb sie im Herzen des gewöhnlichen Volkes und vor allemder Jugend einen besonderen Platz erhalten haben, denn in ihnenäußert sich Liebesfreude, gleichzeitig aber auch durchEinsamkeit und Entmutigung gekennzeichnete Trauer.

Über dem Gipfel des Hügels im Osten

Steigt lächelnd das Antlitz des Mondes empor;

Es nimmt in meinem Herzen

Die süßen Züge meiner Geliebten an.

Die Blüten des Frühlings verkümmern im Herbst,

Den türkisfarbenen Bienen bereitet das keinen Kummer;Unser Liebesschicksal ist die Trennung,

Darüber zu weinen ist unnötig.

Manchmal löst sich die Leidenschaft von ihrem Gegenstand,so daß nur noch der Eindruck von Trauer bleibt:

Liebhaber des Sees,

Möchte der Schwan auf ihm noch verweilen;

Eis hat die Wasser überdeckt,

Und der Schwan, klaglos,

Fliegt fort.

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Sanft lasse ich mich gleiten ins Glück.

Sie hatte mein Herz so erfreut,

Daß ich sie bat, mein zu werden.

»Nur der Tod kann uns auseinanderbringen«, sagte sie,

»In diesem Leben kann nichts uns trennen.«

In der mündlichen Überlieferung Tibets lebt die Legendedieser unmöglichen Liebe weiter: Das Volk, das noch immerBewunderung und Wertschätzung für Jamyang Gyatso

empfindet, glaubt, wenn er die junge Frau geheiratet hätte, sowäre die Institution der Dalai Lamas durch ihre Söhne erblichund Tibet unbesiegbar geworden.

Damit haben wir uns weit von der metaphysischenReinkarnation, dem Fortleben durch die Seelen, den Geist, dieMeditation und die Disziplin entfernt!

Die Gedichte des sechsten Dalai Lama sprechen von seinerEntmutigung und grenzen fast an Häresie, an Gotteslästerung:

Ich gebe mir Mühe,

Den Belehrungen des Lama zuzuhören,

Aber mein Herz bricht insgeheim aus

Zu meiner Geliebten.

In ihm ist ein Konflikt zwischen der transzendentalen undvergeistigten Liebe zu allen Seienden und der Hinwendung zueiner einzelnen Person entstanden. Vom Wunsch nach Leben,nach irdischen Freuden getrieben, muß der Mönch entschiedenund bewußt hinter dem Dichter zurücktreten:

Wenn ich die Wünsche meiner Geliebten erfülle, zerstöre ich

Meine Möglichkeit, mich vor dem Dharma zu verneigen;

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Doch der Rückzug in die einsame Einsiedelei

Bricht das zerbrechliche Herz meiner Geliebten.

Deshalb verläßt er den Weg des Mitleidens mit allenMenschen und geht den Weg der Zuwendung zu einem einzigenMenschen:

Ich bin zu meinem Meister gegangen, voller Ergebenheit,

Um die Lehre des Herrn Buddha zu lernen.

Mein Meister belehrte mich, aber was er sagte, entging mir,Denn mein Geist war voll von Mitgefühl,

Voll von der Mitfühlenden, die mich liebt.

Das Mitgefühl hat meinen Geist gestohlen.

Doch Jamyang Gyatso ist in seinem Leben und seinenSchriften noch weiter gegangen; von der enttäuschten Liebe

ging er den Weg zur Ausschweifung. War das keineswegsvorbildliche Leben des Regenten, seines Meisters im Denken,eine Entschuldigung dafür? Der wirkliche Grund dafür dürfteeher gewesen sein, daß während der Ausbildung in seinerKindheit und seiner Jugendzeit die wirkliche Disziplin fehlte;durch nichts sind seine Neigungen rechtzeitig eingegrenzt, seinVerlangen nach Liebe in richtige Bahnen gelenkt worden.Deshalb:

Ich habe mich ein für allemal entschieden,

Die reifen Äpfel vor mir zu pflücken. [...]

Die Geliebte erwartet mich in meinem Bett

Und bietet mir zärtlich ihren süßen Körper dar.

Ist sie als Verräterin gekommen,

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Um mir meinen Schatz von Tugenden zu rauben?

Er gibt seinen Sündenfall ohne Zögern zu:

In meinem Palast, dem Ort des Himmels auf der Erde,

Nennt man mich Rigdzin Jamyang Gyatso,

Den reinkarnierten Chenresi.

Doch unten an meinem Palast,

In der kleinen Stadt Shol,

Nennt man mich Chelpo Dangzang Wangpo, Wüstling,Denn zahlreich sind meine Mätressen.

Und er gesteht ohne Gewissensbisse:

Man spricht viel von mir,

Untröstlich über mein Benehmen!Drei leichte Schritte

Haben mich zur Taverne meiner Mätresse gebracht.

Der Schritt ist getan; er und seine Freunde verkehren in denverrufenen Lokalen von Lhasa:

Wenn die Serviererin ewig lebt,

Wird der Weinstrom nicht versiegen.

Die Taverne ist meine Zuflucht,

Beim Wein bin ich zufrieden.

Das Leben, das die Reinkarnation von Avalokiteshvara, der

nächste in der Reihe der Dalai Lamas, das geistliche Oberhaupt

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des Mahayana-Buddhismus und der weltliche Souverän Tibetsgewählt hat, ist außergewöhnlich, und zwar so außergewöhnlich,daß kein Bannspruch gegen seine mit der höchsten Funktion

identifizierte Person zustande kommt. - Ich komme auf dieoffiziellen Reaktionen zurück, sobald von seiner Absetzunggesprochen wird. - Das tibetische Volk hatte ihm nicht nurVerständnis entgegengebracht, sondern schenkte ihm weiterhinVertrauen. Viele Häuser in Lhasa, in denen er mit seinenFreunden und Mätressen fröhlich gefeiert hatte, viele Tavernenwurden gelb, in der Farbe der Mönche der Gelugpa-Schule,angestrichen. Mehr noch, die Gebildeten sprechen seinen

erotischen Abenteuern eine tantrische Nebenbedeutung zu,stellen sie über die gewöhnlichen menschlichen Beziehungen;sie setzen bei der Familie des jungen Mannes an, in der nochimmer die tantrischen Gebräuche der Nyingmapa gepflegtwurden. Und der Tibetologe Jacques Bacot kommt zum Schluß:»Diese Nachsicht stimmt mit den Glaubensgrundsätzen überein.Es gibt einen Grad von Reinheit, bei dem diese unverwüstlich

ist; die Sünde kann sie nicht mehr besudeln. Der Lotuswiderspiegelt sich im Schlamm, der ihn trägt.«

Wird aber Jamyang Gyatso nicht auch dadurch gerechtfertigt,daß er Gefühle zum Ausdruck bringt, in denen sich das Volkwiedererkennt? Laut L. S. Savitski, einem russischenTibetologen, spürt man in seinen Versen oft eine Reaktion auf die Feudalordnung, die dem gewöhnlichen Volk den Weg zumGlück verbaute, ja eine Auflehnung gegen die Ungerechtigkeit

der Gesellschaft, als deren Opfer der sechste Dalai Lama sichselbst empfindet:

Für die Flügel dieses Adlers

Waren Wind und Felsen grausam;

Mir haben die Kriecher und die Intriganten unaufhörlichzugesetzt.

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Yama, Spiegel des Karma,

Du, der du im Reich des Todes wohnst,

Du mußt mit Gerechtigkeit richten;

Als ich hienieden lebte, hatte ich kein Recht auf Gleichheit.

Man könnte dem jungen Dalai Lama vorwerfen, er habe seineMacht nicht dazu benutzen wollen, Dinge neu zu ordnen, die erin seinem Inneren selbst ablehnte. War er intelligent genug, umeinzusehen, daß die Zeit für ein solches Unterfangen noch nichtreif war, daß sein Handlungsspielraum äußerst klein war? DerRegent versuchte gar nicht, ihn an der Regierung zu beteiligen.Er bemühte sich viel eher darum, ihn fest im religiösen Bereichzu verankern. Nicht so sehr die Sorge um die Rechtgläubigkeitwar dafür entscheidend, sondern es ging darum, die Autoritätund den Einfluß des Dalai Lama bei den Mongolen undinsbesondere beim Oberhaupt der Qoshot, Lhabsang Khan, zusichern, dessen Ehrgeiz, die wirkliche weltliche Herrschaft über

Tibet auszuüben, ihn beunruhigten. Er drängte deshalb den  jungen Mann, sein endgültiges Gelübde als Gelong abzulegen.Zu diesem Zweck schrieb er im Mai 1702 dem Panchen Lamaeinen Brief, worin er diesen bat, seinen Einfluß geltend zumachen, um seinen Schüler davon zu überzeugen, daß es Zeitsei, die Weihe seines unwiderruflichen Eintritts in dasMönchsleben zu empfangen. Er lud ihn ein, für diese Zeremonienach Lhasa zu kommen. Der junge Jamyang Gyatso, der

zweifellos von diesem Brief gehört hatte, kündigte an, er werdesich nach Tashilhunpo zum Panchen Lama begeben. Der Desigab ihm ein Gefolge von zahlreichen Mönchen hohen Rangesund weltlichen Persönlichkeiten mit. Doch der junge Mann ließsich nicht im Kloster Tashilhunpo nieder, sondern nahmWohnsitz im bescheideneren Kloster Shigatse. Der PanchenLama stattete ihm mehrere Besuche ab und tat sein Bestes, umdas Verhalten seines Schülers zu beeinflussen und ihm seine

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Pflichten »gegenüber der Religion und den Lebenden«bewußtzumachen. Doch keines dieser Argumente konnte den

 jungen Mann dazu bewegen, die Richtung zu ändern, welche die

Ereignisse und später er selbst seinem Leben gegeben hatten.Eines Tages war die Bestürzung vollkommen: Er kam in dasKloster, warf sich dreimal vor dem Panchen Lama nieder undbat ihn um Verzeihung für sein Unvermögen, dem Wunschseines verehrten Beschützers zu entsprechen; er erklärte ihmklar und unmißverständlich, daß er nicht nur seine Gelübde alsGelong nicht ablegen wolle, sondern auch sein früheres Gelübdebei seiner Weihe zum Getsul zurückziehe. Diese Rückkehr in

den Laienstand schien ihm ehrenhafter zu sein als eineabgeschmackte Doppelzüngigkeit, mit welcher der äußereSchein gewahrt bliebe; sein Lied ist auch da ein Geständnis:

Die rosafarbenen Wolken

Verdecken den Himmel und den Hagel.

Ein halber Mönch

Ist ein heimlicher Feind des Dharma.

Oder auch:

Das Siegel, das die Register verschließt,

Vermag kein Wort als Zeugnis zu sagen.

Besser ist es, seinem Gelübde das sprechende SiegelDer Wahrheit und der Gerechtigkeit aufzudrücken.

Als erster unternahm der Desi Sangye Gyatso einen Versuch,den Dalai Lama umzustimmen. In seinem Bestreben, dasfortzuführen, was er für das Wesentliche an seiner Politik hielt,nämlich die Souveränität und die religiöse Autorität des

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geistlichen Gelugpa-Oberhauptes über Tibet, brachte er auch dieÄbte der drei größten Klöster dazu, in diesem Sinne auf denDalai Lama einzuwirken. Obwohl er insgeheim Lhabsang Khan,

dem Oberhaupt der Qoshot-Mongolen, der noch immer auf seineVorrechte als nomineller König Tibets pochte, nicht über denWeg traute, appellierte er auch an ihn. Vergeblich. Und so berief er schließlich eine Synode der bedeutenden Lamas ein, um vonihnen die Absetzung des Dalai Lama zu erreichen. Die Priester,Gelehrten und Gebildeten vermochten sich nicht einig zuwerden. Daß ein Mönch seine religiösen Gelübde zurücknahm,war nicht neu; bis jetzt waren alle, die ihren Verzicht erklärt

hatten, von ihren Verpflichtungen befreit worden; weil er alsInkarnation eines Lama anerkannt worden war, verlor er jedochdiese Eigenschaft nicht, sondern er behielt den Titel Tulku. Diereligiöse Überlieferung war sich darin einig, daß auchvollkommen vollendete Menschen ganz unterschiedliche Wegewählen können, um ihr Ziel zu erreichen, und daß diese Wegefür die anderen Menschen nicht immer verständlich sind. Auch

die Christen beurteilen dieses Problem nicht anders, wenn sieauf die »unerforschlichen Wege des Herrn« hinweisen! Das galtvor allem für den Dalai Lama, denn niemand wagte zubezweifeln, daß er tatsächlich die Reinkarnation des »GroßenFünften« sei, nachdem das klar festgestellt worden war.

Offen war noch die Frage der weltlichen Vorrechte. JamyangGyatso übte sie zwar nicht aus, hatte aber auch nichtausdrücklich auf sie verzichtet. Er lebte weiterhin im Potala,

kleidete sich in Seide, meistens in hellblau gefärbte, trug langeHaare und an den Fingern auffällige Ringe. Am Abend spazierteer mit seinen Freunden durch die Straßen von Lhasa und Shol,er trank und sang in den Tavernen. Die vier Minister in derRegierung schlugen dem Regenten ein Attentat vor, und zwarzunächst gegen den engsten Freund des Dalai Lama, DrungkhorThargyen, der ihrer Meinung nach seine Ausschweifungenorganisierte und ihm seine Mätressen zuhielt. Eines Nachts, als

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die Gruppe von jungen Leuten nach dem üblichenAbendbummel zum Potala zurückkehrte, stürzten sichbewaffnete Männer in der Dunkelheit auf sie. Doch an diesem

Abend hatte man zur allgemeinen Belustigung die Kleidervertauscht. Ein Diener, der das Gewand von DrungkhorThargyen trug, der seinerseits die blauen Kleider des DalaiLama angezogen hatte, wurde getötet. Am folgenden Morgensprach ganz Lhasa nur von diesem Überfall; man verlangte eineUntersuchung des Verbrechens. Jamyang Gyatso ließ das Orakelbefragen, und dieses beschuldigte den Minister Abo Ngazom.Dieser wurde dazu verurteilt, sich in allen Straßen der

Hauptstadt zu zeigen, damit alle Leute ihn verhöhnen konnten.Seine fanatischen Anhänger wurden hingerichtet, aber manvermutete allgemein die Hand des Regenten hinter demKomplott.

Von da an war eine Koexistenz unmöglich geworden.

Zur gleichen Zeit hatte sich Lhabsang Khan über die Intrigendes Regenten bei anderen mongolischen Stammesoberhäuptern

erzürnt. Er hatte die Absicht, Tibet seine Auffassung vonOrdnung aufzuzwingen. Der Regent versuchte, den lästigenMongolen vergiften zu lassen, doch dieser wurde im allerletztenAugenblick gerettet. Und so entschloß er sich zu einem anderenManöver: 1703 verzichtete er offiziell auf alle seine Befugnisseund setzte seinen ältesten Sohn, Ngawang Rintchen, alsRegenten ein, obwohl er in Wirklichkeit weiterhin die Machtselber ausübte. Das war für Lhabsang Khan zuviel, denn er warnicht einmal konsultiert worden. Nachdem er sich in Pekingvergewissert hatte, daß der Kaiser nicht eingreifen werde, zog ereine größere Armee zusammen, mit der er gegen Lhasamarschierte. Die Äbte der drei Klöster sahen das Unheilkommen und versuchten etwas zu unternehmen; der PanchenLama persönlich schrieb Lhabsang Khan einen Brief, worin erihn bat, von einer blutigen Konfrontation abzusehen. Ohne diese

Bitten ausdrücklich abzulehnen, setzte der Mongole seinen

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Marsch gegen Lhasa fort. Der zurückgetretene Regent schloßsich in der Festung Dongkar Dzong ein und lehnte alleKompromißvorschläge ab. Die Truppen, mit denen er den

Vormarsch der Mongolen aufhalten wollte, wurden vernichtendgeschlagen; ihr General, Dordje Rabten, und vierhundert Mannwurden getötet. Sangye Gyatso beschloß, sich zu ergeben. Erwurde gefangengesetzt und einige Monate später, am 6.September 1706, in Tölung Nangtse, einem Hügel in der Nähedes Klosters Kyomulong, enthauptet. War seine Tötung vomKaiser gewollt und von Lhabsang Khan ausgeführt worden?Darüber gehen die Meinungen auseinander. Laut den einen soll

seine Hinrichtung von der Frau des Mongolenführers, GyalmoTsering Tachi, befohlen worden sein, die bei ihrem Gattenerreicht hatte, daß sie das Kommando über eine der in Tibeteinmarschierenden Kolonnen erhielt; sie soll Rache dafür geübthaben, daß der Regent in den Jahren besten Einvernehmens ihreAnnäherungsversuche ausgeschlagen hatte. Nach den anderensoll der dem Anschlag entronnene Freund des jungen Dalai

Lama dem Khan geschrieben und von ihm die Exekution desRegenten verlangt haben. Die Tibeter beweinten den tragischenTod des Desi, den sie als fähiges Staatsoberhaupt und gebildetenMenschen achteten. Von da an übte der mongolische Khan dieKontrolle über das Land aus, er überwachte genau die hohenBeamten und Mönche. Ihm stand nur noch Jamyang Gyatsogegenüber, den er ebenfalls zu beseitigen wünschte, während dieTibeter ihrem Lama, in dem sie die letzte Bastion gegen die

fremde Invasion sahen, die Treue hielten.Lhabsang Khan kam auf den früheren Vorschlag, den Dalai

Lama abzusetzen, zurück. Zunächst ergriff er die notwendigenVorsichtsmaßnahmen. Er schickte ungünstige Berichte, in denendie frevlerischen Handlungen des jungen Mannes übertriebendargestellt wurden, an den Mandschu-Hof in Peking. KaiserKangxi, der mit Befriedigung von der Beseitigung des RegentenKenntnis genommen hatte, vertraute dem mongolischen Khan;

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er entsandte schließlich den General Hsi-Chu und den LamaChagne Dordje mit dem Befehl zu ihm, den Dalai Lama nachChina zu bringen. Weil Lhabsang Khan heftige Reaktionen der

Tibeter befürchtete, versuchte er den Lama zur Abdankungwegen Unwürdigkeit und Verkommenheit zu bewegen. Erglaubte, die Äbte der drei großen Klöster für sich gewinnen zukönnen, indem er deren Einkünfte und Ländereien vergrößerte.Zum Panchen Lama entsandte er seine eigene Gattin, die diesemihre Hochachtung aussprechen und kostbare Geschenkeüberbringen sollte. Im Glauben, seine Partie gewonnen zuhaben, berief er eine Synode ein, die zweite zum gleichen

Thema. Er hatte aber nicht mehr Erfolg als der Regent einigeJahre zuvor. Die Lamas kamen zum Schluß, wegen seines»fehlenden Geistes der Erleuchtung« verliere Jamyang Gyatsonicht seine Eigenschaft als Reinkarnation des BodhisattvaChenresi.

Und so blieb nur noch das gewaltsame Eingreifen übrig.Niemand hätte es noch verhindern können, weil der Desi bereits

gefangengenommen worden war und kurze Zeit später sterbenmußte. Der Befehl des Kaisers, den Dalai Lama nach China zubringen, wurde sehr großzügig interpretiert. Am 27. Juni 1706gab Lhabsang Khan durch einen Erlaß bekannt, der sechsteDalai Lama sei abgesetzt worden, und er ließ ihm den von denAbgesandten Kangxis überbrachten kaiserlichen Befehlaushändigen. Der junge Dalai Lama fand sich damit ab undfolgte den mongolischen Soldaten, die seine Gefängniswächter

geworden waren. Als er den Potala verließ, hatte sich eineriesige Menge von Mönchen und Laien versammelt; vorerstbegleitete sie ihn schweigend auf seinem Weg. Als dieVolksmenge in der Nähe von Drepung angelangt und durch alleBauern aus der Umgebung verstärkt worden war, begann siegegen die mongolische Eskorte ausfällig zu werden. Dieseversuchte, die wütende Menge zu zerstreuen. Voller Zorn undHoffnungslosigkeit durchbrach das Volk mit Steinen und

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Stöcken den Schutzring der Wächter, bemächtigte sich des DalaiLama und führte ihn triumphierend in seinen Sommerpalastinnerhalb des Klosters. In der Nacht sprachen sich die Mönche

ab, und sie konsultierten das Orakel; am folgenden Tag gabensie bekannt, Jamyang Gyatso sei wirklich die Reinkarnation desfünften Dalai Lama, und sie fügten hinzu, »wer auch immerdiese Tatsache leugnet, ist einem teuflischen Selbstbetrugverfallen«. Die Tibeter waren jetzt entschlossen, ihr geistlichesOberhaupt und ihren Souverän bis zuletzt zu verteidigen.

Als Lhabsang Khan von diesen Ereignissen hörte, durchwelche die Absetzung des Dalai Lama rückgängig gemachtwurde, entsandte er in seinem Zorn bewaffnete Truppen nachDrepung; diese schlossen das Kloster ein, stellten Geschütze auf und bereiteten sich darauf vor, die Gebäude zu stürmen. DieMönche hätten dem Angriff unmöglich standhalten können, abersie waren dennoch zum Widerstand entschlossen. Der DalaiLama sah ein, daß dieser Kampf ungleich und unnütz war. Miteinigen Getreuen zusammen verließ er das Kloster und begab

sich zu den Mongolen. Obwohl er sich freiwillig ergeben hatte,wurden mehrere Mönche getötet und das Kloster geplündert,weil es dem Flüchtling Schutz gewährt hatte…

Jamyang Gyatso setzte seine erzwungene Reise nach Chinafort. Als die Kolonne das Ufer des Gunganor, eines kleinen Seessüdlich des Kukunor, erreichte, verschwand der Dalai Lama. Dieletzte Spur seines Lebens, die seine Biographen fanden, datiertvom 14. November 1706. Er war noch nicht einmalvierundzwanzig Jahre alt. Er ist als einziger Dalai Lama Laiegeblieben, und er ist auch der einzige, der kein Grab hat.

Die Legende hat sich des außergewöhnlichen Schicksals vonJamyang Gyatso angenommen. Chinesische und tibetischeQuellen erwähnen, er sei an einer Krankheit gestorben; vonWassersucht wird gesprochen. Doch vor allem von denKapuzinermissionaren Giuseppe d'Ascoli und Francois de

Tours, die sich 1707 in Lhasa aufhielten, verbreitete Gerüchte

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wollen wissen, er sei von den mongolischen Soldaten ermordetworden. Alle diese Erklärungen genügten der volkstümlichenÜberlieferung nicht; für alle Tibeter ist die Echtheit der

Reinkarnation des sechsten Dalai Lama über alle Zweifelerhaben. Da die erste Hälfte seines Lebens durchAusschweifungen befleckt gewesen war, muß man ihm einezweite zugestehen, damit er sich rehabilitieren und die Funktionübernehmen kann, für die er ausgewählt worden war. Lautdieser Version soll er noch lange gelebt haben und erst 1746gestorben sein, nachdem er sich mit voller Kraft für dieAusbreitung des Buddhismus eingesetzt hatte. Nach Wallfahrten

in die Region Kham, nach Indien und Nepal, nach einergeheimen Reise nach Peking soll er in Urga Zeremonienmeistergeworden sein und im Norden der Mongolei, wo ihm in Alak-Shya ein Grab zugeschrieben wird, mehrere Klöster geweihthaben.

Laut K. Dhondup sind in Tibet bis heute Legenden vonJamyang Gyatso im Umlauf:

Es wird erzählt, bevor er sein Geburtsdorf Tawang verließ,habe er noch als ganz kleines Kind drei Sandelholzbäumenebeneinander gepflanzt und erklärt, diese drei Bäume würdengleich groß sein, sobald er nach Tawang zurückkehre. 1959bemerkten die Dorfbewohner zu ihrer großen Verwunderung,daß die drei Sandelholzbäume dieselbe Höhe erreicht und diegleiche Form angenommen hatten. Eine seltsame Ergänzung:Die drei Bäume fingen Feuer, was die Leute in Angst versetzte.Kurze Zeit später erfuhren sie von den Unruhen, die durch diechinesische Invasion in Tibet ausgelöst worden waren. EineWoche lang herrschte in der Region eine ungewöhnlicheAufregung. Indische und ausländische Journalisten eilten herbei,indische Sicherheitskräfte wurden entsandt; dann erkannte man,daß der Dalai Lama tatsächlich nach Tawang zurückgekehrtwar, und zwar in der Person des vierzehnten, Tenzin Gyatso, auf 

seinem Weg ins indische Exil.

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Hat Jamyang die Glückseligkeit gefunden, die ihn in seinenTräumen quälte?

Im Zeitraum dieses kurzen Lebens hatten wir unseren Teil an

Freude.

Hegen wir die Hoffnung, daß wir uns

In der Jugend des anderen Lebens wiederfinden.

Doch er hat auch nie vergessen, daß er der sechste in der

Reihe der Dalai Lamas war; in seiner dichterischen Botschaftkündigte er seine Rückkehr an, um den Tibetern die Hoffnungzu erhalten:

Weißer Kranich,

Leihe mir deine Flügel.

Ich fliege nicht weit,

Und von Lithang kehre ich zurück.

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Dritter Teil DIE SUKZESSION 

In diesem Jahr 1707 herrscht auf der politischen und derreligiösen Szene in Lhasa bedrückte Ruhe. In den Klösternwerfen Butterlampen ihr flackerndes Licht auf die Buddha-Statuen und die bemalten Wände, die von der Welt und denHeiligen erzählen. Hinter ihren Gebetstruhen sitzend, die

  jüngsten nahe beisammen um dasselbe heilige Buch sichdrängend, blättern die Mönche die mit Bildern geschmücktenSeiten um; ihre Gesänge werden unterbrochen von den Klängender Hörner und den harten Tönen der kupfernen Schallbecken.In den gemauerten Häusern der Stadt und in den bescheidenerenHütten in den Dörfern bereiten die Familien denjenigen unter

ihren Söhnen vor, der das Ordenskleid anziehen und dieGelübde ablegen wird; sie träumen davon, einer von ihnenwerde die Reinkarnation eines Lama oder, wer weiß, desverschwundenen Dalai Lama sein.

Das Oberhaupt der Mongolen, Lhabsang Khan, Herr imPotala, glaubt auch Herrscher über das Land und die Seelen zusein. Er weiß aber, daß die Macht nicht mehr nur eineAngelegenheit der Fürsten ist oder durch einen militärischen

Sieg errungen werden kann. In der Medizinschule auf demNachbarhügel lebt ein Mönch, den er kennt; er istfünfundzwanzig Jahre alt, und man erzählt von ihm, er sei seineigener Sohn. Ein Gefälligkeitsorakel will wissen, er sei dieerwartete Reinkarnation des Dalai Lama. Und Lhabsang Khansetzt ihn voller Stolz im Potala ein. Sein Name ist PadkarDzinpa Ngawang, doch sein Name steht nicht in der historischen

Liste der Dalai Lamas: Der Panchen Lama hat sich nicht dazu

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geäußert, der Klerus aller Mönchsgemeinschaften hat ihn nichtanerkannt, für die Tibeter auf der Straße und auf den Feldern hater sich die Würde eigenmächtig angemaßt.

Bald macht das Gerücht die Runde, die wahre Reinkarnationvon Jamyang Gyatso sei in einem Weiler in der Region Kham,nahe bei Lithang, gefunden worden.

Weißer Kranich,

Leihe mir deine Flügel. [...]

Von Lithang kehre ich zurück.

Das prophetische Gedicht des sechsten Dalai Lama genügtdem Volk als Beweis für die Echtheit. Vom Kukunor bis nachGyantse kehrt zusammen mit der Hoffnung auch die Freudezurück. Die Mönche und Bauern müssen sie jedoch währendJahren heimlich und still in sich weitertragen.

Das Oberhaupt der Mongolen weiß davon. Der Khan weiß

auch, daß der Kaiser von China die weitere Entwicklung dertibetischen Krise aufmerksam verfolgt. Für den Augenblick sinddie beiden von der Sache her gesehen Verbündete. Für Kangxiund seinen durch das Alter geschliffenen Scharfsinn wäre einminderjähriges religiöses Oberhaupt in Lhasa bloß ein Spielzeugin den Händen von Lhabsang Khan. Doch er benötigtandererseits den Mongolenführer auf seinem weltpolitischen

Schachbrett, um die ohne ihn beunruhigenderen Ansprüche dermongolischen Dsungaren vom Ili einzudämmen; derenAnführer, Tsewang Rabtan, hat die alte Ideewiederaufgenommen, die mongolischen Sippen in einemeinzigen Bündnis zu vereinigen. Für Peking ist es vorteilhafter,einen bereits auf dem Höhepunkt seiner Macht befindlichenKrieger zu unterstützen, und das um so mehr, als LhabsangKhan so geschickt war, das chinesische Ränkespiel

mitzumachen: Er hat dem Kaiserhof angeboten, er werde einen

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Tribut bezahlen; für China ist das endlich der Beweis, daß Tibetein Vasallenstaat des Reiches sei - was freilich durch dieGeschichte nicht belegt ist, denn ein mongolischer Besetzer hat

diesen Tribut veranlaßt, er ist nicht durch einen offiziellenBeschluß einer tibetischen Regierung sanktioniert worden, weiles eine solche zur damaligen Zeit gar nicht gab.

Doch das Kind in Lithang beunruhigt dennoch die politischenMächte. Lhabsang Khan entsendet von ihm bestimmte Mönche,die überprüfen sollen, ob der Reinkarnierte tatsächlich dieZeichen einer Auserwählung trägt. Ihr Bericht kommtzurückhaltend zum Schluß, sie hätten keine ausreichendenBeweise gefunden, um die Frage beantworten zu können. AusVorsicht beschließen die Eltern des Kindes, aus Kham inRichtung Amdo auszuwandern. Diese »Flucht nach China« wirdauf Anordnung des Kaisers abgebrochen: Die kleine Familiewird unter sicherer Bewachung im großen Kloster Kumbumuntergebracht, das 1577 vom dritten Dalai Lama am Geburtsortvon Tsongkhapa bei Xining (Sining) in der heutigen

chinesischen Provinz Qinghai (Tsinghai) gegründet worden war.In der Zwischenzeit sind nämlich zahlreiche Klagen im

Mandschu-Hof in Peking eingetroffen. Sie stammen nicht nurvon Tibetern, sondern auch von rivalisierenden mongolischenSippen, die von der Vorstellung eines Usurpators auf dem Throndes Dalai Lama in Lhasa nicht erbaut sind. 1708 entsendetKangxi seinen Groß-Sekretär, La Tu-Hun, in Begleitung vonVertretern der mongolischen Fürsten aus der Region Kukunornach Lhasa, um die wirkliche Lage zu sondieren. Die Delegationliefert ihren Bericht im folgenden Jahr nach ihrer Rückkehr inPeking ab; nach Meinung der Untersuchungskommission sinddie für die Auffindung des neuen Dalai Lama vorgeschriebenenPrüfungen den Regeln entsprechend durchgeführt worden; sieempfiehlt deshalb dem Kaiser, den Schützling von LhabsangKhan zu anerkennen. Weil aber die mongolischen Fürsten in

Kukunor, fügen sie hinzu, von der Art, wie Lhabsang Khan die

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tibetischen Angelegenheiten behandelt, nicht befriedigt sind,soll er nicht auf sich allein gestellt bleiben, sondern durch einenoffiziellen Abgesandten unterstützt werden. Der Kaiser stimmt

den Schlußfolgerungen seiner Botschafter zu; er beordertdaraufhin einen hochrangigen Vertreter, Ho-Shou, nach Lhasa.Dies ist der erste offizielle chinesische Eingriff in die innerenAngelegenheiten Tibets.

Mit der formellen Anerkennung des Dalai Lama wartet derKaiser noch ein Jahr zu. Schließlich unterzeichnet er am 10.April 1710 einen Erlaß, der zusammen mit den üblichenGeschenken, einem goldenen Siegel und Ehrentiteln für dasOberhaupt der Mongolen und seine Getreuen, nach Lhasagebracht wird.

Die kaiserliche Intervention vermochte den Willen des Klerusund des tibetischen Volkes nicht ins Wanken zu bringen. DieÄbte der großen Klöster führten geheime Verhandlungen mitden mongolischen Dsungaren, um Lhabsang Khan zu beseitigen.1714 war die Verschwörung organisiert. Man war

übereingekommen, dsungarische und tibetische Truppenzusammenzuziehen. Ihr erstes Ziel sollte es sein, sich des inKumbum gefangenen Kindes zu bemächtigen, dann gegenLhasa vorzurücken, um die Herrschaft des echten Dalai Lamawiederherzustellen, und zwar durch Beseitigung von LhabsangKhan und seines falschen Dalai Lama. Das tibetischeKontingent von sechstausend Kämpfern hatte sogar in derPerson eines früheren Mönchs von Tashilhunpo, TseringDöndrup, einen Anführer gefunden. Alle dieseTruppenbewegungen und Aufstandspläne blieben freilich derchinesischen Regierung nicht verborgen. Der Kaiser warnteLhabsang Khan vor der Verschwörung und den Gefahren, dieihm drohten. Der alternde und dem Trinken verfallene Mongoleschlug diese Warnungen in den Wind. Im Juni 1717 entschied ersich für seine übliche sommerliche Beschäftigung, die Jagd in

der Region von Nagchukha, etwa zweihundertfünfzig Kilometer

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nördlich von Lhasa. Dort wollte er sich mit seinem Sohn treffen,der einige Jahre zuvor die Tochter von Tsewang Rabtangeheiratet hatte, der als Oberhaupt der Dsungaren inzwischen

sein Feind geworden war. Ein anderer seiner Söhne warnte ihnebenfalls, es handle sich um eine Falle, eine starke Armeenähere sich von Kukunor her. Lhabsang Khans Eskortevermochte diese Truppe beim Gebirgspaß Tengri-Nor für kurzeZeit zu stoppen, mußte sich dann aber in Richtung Lhasazurückziehen.

Unterdessen waren die Verschwörer, welche versucht hatten,sich des gefangenen Kindes zu bemächtigen, von den Chinesenzerstreut worden. Um die Moral seiner Truppen nicht zuschwächen, hielt der Kommandant Tsering Döndrup dieseNiederlage geheim. Er befahl den Marsch auf die Hauptstadt.Der erste Angriff erfolgte am 21. November. Die Einwohner,die glaubten, sie hätten es mit Befreiern zu tun, öffneten in derNacht des 30. November eines der Stadttore. Die mongolischenDsungaren, vom leichten Sieg berauscht und entfesselt,

plünderten die Stadt und übten drei Tage lang eineSchreckensherrschaft aus. Lhabsang Khan hatte sich mit seinerFamilie in den Potala geflüchtet. Am 3. Dezember wurde derPalast von den vereinten Kräften der Dsungaren und der Tibeterumzingelt. Lhabsang Khan gelang die Flucht, aber er wurde imanschließenden Kampf getötet. Der falsche Dalai Lama, der niebesonderen Enthusiasmus für seine Funktion gezeigt hatte, batdarum, sich als schlichter Lama in ein Kloster zurückziehen zu

dürfen; er wurde einige Zeit später auf kaiserlichen Befehl nachChina deportiert und starb dort 1725.

Einmal mehr hatte ein politisches und religiösesMachtvakuum in Tibet für Unordnung gesorgt. Das nur durchdie Umstände zustande gekommene Bündnis mit denmongolischen Dsungaren blieb nicht lange erhalten. LobsangYeshe, der noch vom »Großen Fünften« eingesetzte Panchen

Lama, warf seinem inzwischen Krieger gewordenen früheren

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Mönch Tsering Döndrup vor, er sei an den Ausschreitungen beider Eroberung der Hauptstadt beteiligt gewesen und habe dasSpiel der Mongolen mitgemacht, ohne an die Interessen der

buddhistischen Schule und des tibetischen Staates zu denken.Döndrup hatte zwar der Frau und den Kindern von LhabsangKhan das Leben gerettet, aber die Plünderungen hatte er nicht zuverhindern vermocht. Denn die neubekehrten Dsungaren hattenin ihrem Eifer versucht, alles auszurotten, was ihnen alsketzerisch erschien, was von der Bon-Religion übriggebliebenwar ebenso wie die Klöster der Nyingmapa-»Rotmützen« imTsangpo-Tal, insbesondere Mindröling mitsamt seinen Priestern

und Gläubigen. Schon bald verblaßte für sie der Unterschiedzwischen einem von Idealen getragenen Kampf und einem allzumenschlichen Zerstörungstrieb und systematischer Plünderung.Der Potala blieb nicht verschont, die Juwelen, die das Grab vonLobsang Gyatso schmückten, wurden weggerissen undmitgenommen, um damit angeblich die Schätze der Klöster amIli zu mehren. Von Zentraltibet weitete sich das Wüten in

Richtung Shigatse aus; der Panchen Lama, der nachTashilhunpo zurückgekehrt war, mußte kämpfen, um seinKloster zu retten, doch die Stadt wurde zu einem großen Teilzerstört.

Einmal mehr richteten sich die Blicke nach Peking. DerMandschu-Hof verfolgte diese Ausweitung der mongolischenMacht auf die Hochebenen Zentralasiens mit einigerBeunruhigung. Unter den politischen und militärischen

Maßnahmen, die Kaiser Kangxi ergriff, um sie aus Lhasa zuvertreiben, war eine Trumpfkarte besonders wertvoll: das Kindaus Lithang, die Reinkarnation des Dalai Lama. Damit konnte erdie Tibeter auf seine Seite ziehen, aber gegen die Mongolendrängte sich ein Kraftakt auf.

Im Frühjahr 1718 marschierte eine Kolonne von einigentausend Mann, die unterwegs durch eine Abteilung Qoshot-

Mongolen aus dem Kukunor-Gebiet verstärkt worden war,

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durch die Region Amdo in Richtung Zentraltibet. Sie erreichteden Nagtschu-Fluß erst im August 1719, als ein großer Teil derLebensmittelreserven bereits aufgebraucht war. Dem ersten

Angriff der noch miteinander verbündeten Dsungaren undTibeter hatte sie nichts Gleichwertiges entgegenzustellen. Fastalle chinesischen Kämpfer wurden massakriert, nur einigewenige Überlebende gelangten nach Peking zurück. Auf dieseKatastrophe reagierte der Kaiser energisch. Er stellte eineArmee von zehntausend Mann auf und setzte sie in zweiKolonnen in Richtung Tibet in Marsch, die eine über Ta-Chien-Lu und Chamdo (Changdu), die andere auf dem direkten Weg

durch das Kukunor-Gebiet. Er stellte den ganzen Verband unterdas Kommando seines Sohnes, der damals freilich erst vierzehnJahre alt war. Seinen Truppen wurde das Gerüchtvorausgeschickt, man wolle endlich den wahren Dalai Lama auf den Thron im Potala bringen. Die tibetischeWiderstandsbewegung, die sich gegen die dsungarischenEindringlinge formiert hatte, konnte den Untergrund verlassen;

sie hatte jetzt ein Motiv für ihren Kampf und verbündete sichmit früher noch unentschlossenen Landsleuten. Im Herbst 1720vereinigten sich die beiden Marschkolonnen der chinesischenArmee in der Nähe von Lhasa. Der Mongolenführer TsewangRabtan und sein tibetischer Pseudogeneral Tsering Döndrup flohmit der übriggebliebenen Hälfte ihrer Truppen in das ferne Ili-Gebiet. Die Chinesen marschierten, als Befreier empfangen, inLhasa ein. Laut einem Zeugnis des Jesuitenpaters Ippolito

Desideri, der seit mehreren Jahren im Einverständnis mit demvon ihm im übrigen positiv beurteilten Lhabsang Khan in Lhasalebte, haben sich die Chinesen korrekt und maßvoll verhalten.Sie töteten zwar alle Tibeter, die sich an der Rebellion gegen dieetablierte Macht des Qoshot-Mongolen beteiligt hatten, denndieser war von den Chinesen anerkannt worden, obwohl er sichselbst eingesetzt hatte und von chinesischen und dsungarischenKriegern bekämpft worden war. Der Kaiser respektierte die von

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ihm eingegangene Verpflichtung: Am 16. Oktober 1720 wurdeKelsang Gyatso, der siebente Dalai Lama, im Potala-Palast mitdem für seine Vorgänger eingeführten Zeremoniell inthronisiert.

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VII Kelsang Gyatso 1708-1757 

Geburt und Kindheit des siebenten Dalai Lama waren vonVorzeichen begleitet, die kaum Hoffnungen auf ein glücklichesund friedliches Leben zuließen. Unter seiner Herrschaft erlebteTibet tatsächlich eine Zeit voller Unordnung und Prüfungen.Das gemeinsame Ziel und das gleiche Schicksal von Volk undHerrscher sind jedoch ein Zeugnis dafür, daß das Land und seinehöchste Institution unauflöslich miteinander verbunden sind. DieGedichte, die der Dalai Lama hinterlassen hat, sind inständigeGebete um Erlösung von den irdischen Wechselfällen. DieTibeter, ob Laien oder Mönche, haben sie bei späterenVerwicklungen und Schwierigkeiten fast zweihundert Jahre langimmer wieder rezitiert. Doch nichts geschieht vergeblich. DerName, der sich seinen geistlichen Paten aufgedrängt hatte,

bezeichnet ihn für die Geschichte als »Ozean derGlückseligkeit«.

Das Kind war am 3. September 1708 zur Welt gekommen.Sein Vater, Sonam Dhargye, war Lama im Kloster Drepunggewesen: aus Gründen, die nie aufgeklärt wurden, hatte er dasKloster verlassen; vermutlich dürften mangelnde Disziplin undein Hang zu Intrigen eine gewisse Rolle gespielt haben. SolcheEigenschaften machten sich leider auch bemerkbar, als er sich

mit seinem Sohn in der Hauptstadt niederließ. Von der Mutterweiß man kaum etwas, eigentlich nur, daß sie die religiöseErziehung ihres Kindes äußerst sorgfältig überwacht hat; ihrwaren auch zuerst seine besonderen Eigenschaften offenbartworden; seine ersten Worte, als es zu sprechen begann, waren,es sei die Reinkarnation des Dalai Lama. Noch bevor es fünf Jahre alt war, sah das Wunderkind in einer Vision den Buddha

Shakyamuni, und später erschien ihm auch Tsongkhapa, der ihm

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bestätigte, es sei dazu bestimmt, in Zentraltibet den Dharma zupredigen.

Seine Familie mußte, wie wir gesehen haben, während Jahren

unter strenger Überwachung durch die kaiserliche Polizei imGrenzgebiet Chinas im Exil leben, weil der Sitz in Lhasa voneinem Usurpator eingenommen worden war. Ganz anders als beiseinem Vorgänger waren jedoch für seine Bildung undErziehung hochqualifizierte Meister verantwortlich, undkeinerlei profane Tätigkeiten hielten es von vertieften religiösenStudien ab; wie die ersten Dalai Lamas hatte es sich einumfassendes Wissen über die Lehre und die Kunst, dieseweiterzugeben, erworben, als es seine Aufgabe übernehmenmußte. Im Alter von sechs Jahren wurde es vom Lama TsaganNo-Mon Han in die heiligen Schriften eingeführt. Mit achtJahren schnitt man ihm seine langen Haare ab und kleidete es indas gelbe Ordensgewand, worauf es seine ersten Gelübdeablegte. Im gleichen Jahr 1716 erlaubte man ihm, die Klöster inder Region Amdo zu besuchen, wo ihm Gelegenheit geboten

wurde, seine ersten Predigten über die Deutung der Mandalasund die Beachtung der disziplinarischen Vorschriften zu halten;alle Zuhörer waren von der Weisheit in den Aussagen eines so

  jungen Menschen beeindruckt. Weitere vier Jahre waren demStudium der grundlegenden indischen und tibetischen Textegewidmet. Unter der beharrlichen und energischen Führungseines Lehrers arbeitete es sich umfassend in die Fünf KostbarenJuwelen des Buddha ein: Pramana, Prajnaparamita,

 Madhyamika, Abhiddarma und Vinaya. Diese Texte sind, wieMircea Eliade darlegt, sehr verschieden lang und schwerverständlich; sie stammen aus den ersten Jahrhunderten unsererZeitrechnung und bilden die Grundlage der höchsten Lehre desMahayana. Das Kind hatte selbst verlangt, in diese Texteeingeführt zu werden, und es brachte den Mut und die Ausdauerauf, sie in sich aufzunehmen, bevor es durch die weiterenEreignisse gezwungen wurde, sich intensiv mit den weltlichen

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Angelegenheiten zu befassen.

In Lhasa griffen, wie wir gesehen haben, die Chinesen ein,weil sich die allgemeine Lage verschlechtert hatte und Gefahr

bestand, daß sich die Unruhen auf andere RegionenZentralasiens ausbreiten könnten. Die kaiserliche Politik richtetesich vor allem gegen die Mongolen; weil sich diese aber in Tibetfestgesetzt hatten, mußte zuerst dieses Gebiet unter Kontrollegebracht werden. Um Mongolen und Tibeter zu entzweien,wurde die wahre Reinkarnation des Dalai Lama nach Lhasazurückgebracht. Das Kind war damals zwölf Jahre alt. VorTausenden von Mönchen und Gläubigen, die derInthronisationszeremonie beiwohnten, hielt es eine Anspracheüber religiöse Fragen: Nach vielen Jahren voller Unordnung undUnruhen wehte ein Hauch von Reinheit und ausgewogenerHeiterkeit über die aufmerksam zuhörende und innerlichgesammelte Volksmenge. Einige Tage später weihte derPanchen Lama Lobsang Yeshe den jungen Knaben zumNovizen, und bei dieser Gelegenheit erhielt er auch seinen

neuen Namen: Lobsang Kelsang Gyatso. Bevor der PanchenLama nach Shigatse zurückkehrte, führte er den jungen Mann indas Studium der Wege der Tantras und Mantras ein. Der Novizewurde vom Oberen des Klosters Drepung betreut; dank dem,was er schon während seiner ersten Ausbildungsphase inLithang gelernt hatte, benötigte er nur wenige Monate, um einLernprogramm zu bewältigen, für das üblicherweise mehrereJahre beansprucht werden. Zwischen seinem fünfzehnten und

achtzehnten Lebensjahr versenkte sich der junge Mönch in dieLehre von der universellen Leerheit, die »von ihrer Tiefe undihren philosophischen Schwierigkeiten her einzigartig ist«60. Erstudierte das Erbe Nagarjunas, des indischen Gelehrten aus demersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung, und versenkte sich indessen vielschichtige Unterscheidungen zwischen denkonventionellen Wahrheiten und der letzten Leerheit. Nursorgfältig vorbereitete Menschen dürfen sich in diesen Bereich

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  jenseits aller Logik vorwagen, um zur Erkenntnis zu gelangen,daß die totale Leere, die Negation aller Zustände, mit der Liebezum Mitmenschen nicht unvereinbar ist; weil der in tiefe

Ekstasen versunkene Bodhisattva weiterhin mit denGegenständen seiner Wünsche verbunden bleibt, erlangt er zwarseinen Zugang zum Nirvana, wird aber nicht vom Samsarabefreit, dem Kreislauf der Geburten und der Tode, der dieMitmenschen, die er bekehren und zum Licht führen soll, nochimmer an das Diesseits kettet; so erfüllt er den ihmzukommenden Auftrag. Die von langen Meditationsphasenunterbrochene Belehrung durch die höchsten Lamas vermittelte

Kelsang Gyatso die volle Kenntnis des Madhyamika, des»Weges der Mitte«.

1726 empfing der siebente Dalai Lama die volle Weihe alsBhikshu; im Jokhang-Tempel legte er seine endgültigenGelübde als buddhistischer Mönch ab; in Gegenwart voneinunddreißig Äbten der wichtigsten tibetischen Klöster führteder Panchen Lama bei dieser Zeremonie den Vorsitz.

Anschließend nahm Lobsang Yeshe im Potala Wohnsitz, umden Dalai Lama in langwieriger Arbeit in das Erbe von Marpaeinzuführen, der im 11. Jahrhundert nach einem zwölfjährigenAufenthalt in Indien Werke über die Kunst der Übertragung desbewußten Prinzips in einen anderen Körper oder in dieUnendlichkeit der Wohnstätten des Buddha und mystischeLieder der tantrischen Dichter in Bengalen nach Tibet gebrachthatte. Ein beträchtlicher Arbeitsaufwand war notwendig, um

sich sowohl das Wissen in diesen grundlegenden Werkenanzueignen, als auch alle indischen und tibetischen Kommentarezu studieren, die im Laufe der Jahrhunderte darüber geschriebenworden waren. Die Konzentrationsfähigkeit und das Verständnisdes siebenten Dalai Lama sind um so erstaunlicher, als diepolitischen Ereignisse in seiner Umgebung ihm nicht die für einsolches Unterfangen notwendige Ruhe und Muße gewährten.

Durch ihre militärischen Operationen gegen die Mongolen

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hatten die Mandschu-Generäle der kaiserlichen Armee auch dieöffentliche Ordnung in Lhasa und in ganz Tibetwiederhergestellt. Den Königstitel und das Amt des Regenten

gab es nach dem Tode der letzten Titulare nicht mehr. - Mangewinnt nicht den Eindruck, als habe Kaiser Kangxi die Absichtgehabt, ein eigentliches Protektorat über Tibet zu errichten. DieMandschu-Dynastie befürchtete wie ihre Ming-Vorgänger, eskönnte ein Mongolenreich entstehen. Der Sieg über dieDsungaren und die Wiederherstellung der religiösen Legitimitätin Lhasa, ein nicht zu vernachlässigendes Element, um sichEinfluß auf die mit dem Buddhismus und dessen äußerlichen

Zeichen verbundenen Mongolen zu sichern, scheinen vorerst derkaiserlichen Macht genügt zu haben. Man gab sich mitstrategischen Anordnungen zufrieden, welche eine ständigeVerbindung mit Tibet gewährleisteten. Das war nichts Neues inder chinesischen Politik. Schon 1700 war in Ta-Chien-Lu,einem wichtigen Knotenpunkt an der Straße zwischen Chengdu,der Hauptstadt der Provinz Szetschuan, und Lhasa, eine

chinesische Garnison eingerichtet worden. Nach dem 1720ausgebrochenen Konflikt wurden Truppenkontingente inanderen wichtigen Orten an dieser Straße stationiert, in Lithang,Bathang, Derge und Chamdo. Der chinesischeMilitärgouverneur in Lhasa hatte als Vorsichtsmaßnahmezweitausend Mann zurückbehalten, die Stadtmauern wurdengeschleift.

Die zivile Macht blieb tibetischen Persönlichkeiten anvertraut,

die für Kontinuität in Verwaltungsangelegenheiten besorgtgewesen waren. Die Regierung bestand aus vier Kalöngenannten Ministern; der Premierminister, Sonam Gyalpo, derschon zur Zeit des Qoshot-Mongolen Lhabsang Khan eineMinisterfunktion bekleidet hatte, wurde gleichzeitig mit demAmt eines Gouverneurs über Vordertibet mit der HauptstadtLhasa und die östlichen Landesteile betraut; der zweite Minister,Sonam Topgyal, wurde zum Gouverneur über Hintertibet mit

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Shigatse und den westlichen Landesteilen ernannt. Die vierRegierungsmitglieder erhielten chinesische Titel, durch die siegleichrangigen Amtsgenossen in der Hierarchie des

Kaiserpalastes in Peking gleichgestellt wurden, aber sie wurdennicht formell vom Kaiser ernannt.

Diese ganze Organisation war nie durch einen Vertrag odereinen Briefwechsel mit dem Dalai Lama, der von jetzt an alsSouverän betrachtet wurde, oder mit seiner Regierungeingeführt worden. Als Zeichen seiner Intervention, vielleichtsogar auch zu deren Rechtfertigung, ließ Kangxi jedochunterhalb des Potala eine Säule mit eingravierten chinesischenund tibetischen Texten aufrichten, die an die besonderenBeziehungen zwischen Tibet und den Mandschu-Kaisernerinnerten, seit T'ai Tsung (sein Vater) die tibetischenAbgesandten empfangen hatte. Erwähnt wurden auch diereligiösen und politischen Wirren, die sein Eingreifen notwendiggemacht hatten, die Zustimmung Tibets zu diesen Aktionen unddie Wiederherstellung des Friedens.

Diese einseitige Erklärung wurde von der Regierung und demtibetischen Volk ohne Proteste und Kommentare aufgenommen.Das Land erlebte während einiger Jahre eine ruhige, für dieEntwicklung der Geschäfte und der außenpolitischenBeziehungen günstige Zeit. Wir haben bereits gesehen, daß sichchristliche Missionare niederließen, und wir werden auf ihreEinrichtungen und ihre Tätigkeit noch zurückkommen.Ausländische Geschäftsleute aus Indien und Nepal organisierteneinen für beide Seiten fruchtbaren Handelsaustausch mitchinesischen und tibetischen Partnern. Das Land war damalssogar für Reisende aus weit entfernten Ländern offen, falls dieseden Mut und die Kraft aufbrachten, die Gefahren undSchwierigkeiten eines solchen Unterfangens auf sich zunehmen. Ein reicher und abenteuerlustiger holländischerHandelsmann, Samuel Van der Putte, hielt sich 1725 während

einer Reise von Indien nach China in Lhasa auf. Zehn Jahre

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später, bei seiner Rückkehr, kam er dort noch einmal vorbei;leider hat er keine schriftlichen Notizen über seine Erinnerungenund Eindrücke hinterlassen.

Dank politischer Ruhe und allgemeinem Wohlergehenkonnten die während der Kriegsjahre angerichteten Schädenbeseitigt werden. Die Schatzmeister der Klöster erhielten für dieRestaurierung ihrer Gebäulichkeiten großzügige Geschenke. DieBekehrung der mongolischen Stämme zum Buddhismus durchLamas, die ebenso beweglich und wagemutig wie diechristlichen Missionare waren, und die Verbundenheit dieserGläubigen mit ihrem Oberhaupt in Lhasa wurden auf ebensoerstaunliche wie ergreifende Weise bestätigt: Die in das Wolga-Becken emigrierten Kalmüken schickten einen Beitrag an dieRestaurierung des Jokhang-Klosters.

Aus der chinesischtibetischen Koexistenz erwuchsen freilichProbleme, die schließlich die offiziellen Beziehungenbeeinträchtigten. Die tibetische Regierung erzürnte sich über dieEinmischung chinesischer Offizieller in örtliche

Angelegenheiten. Auf Befehl des Kaisers war beispielsweise einacht Kilometer langer Damm errichtet worden, größtenteils ausSteinen der abgebrochenen Stadtmauer, um die Stadt vorÜberschwemmungen zu schützen, die bei jeder Schneeschmelzeeine große Gefahr darstellten. Man hatte sich vorgestellt, jederPilger, ob Mönch oder Laie, der zur religiösen Erbauung nachLhasa komme, habe zumindest einen Stein für den Bau und denspäteren Unterhalt der Anlage mitzubringen. Eine andere Quellevon Reibereien war die Mandschu-Garnison, einerseits weil sieüberhaupt vorhanden war und andererseits weil die Tibeter fürihren Unterhalt sorgen mußten; nicht nur für derenVerwaltungsausgaben mußte die tibetische Staatskasseaufkommen, die Einkäufe auf dem örtlichen Markt für dieVersorgung der Truppe lösten zudem einen Preisanstieg aus. Mitdiesem Problem hatte jedoch die Wirtschaft im Himalaja-Gebiet

fortwährend zu kämpfen. Außerordentlich schwierige

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Produktionsbedingungen und örtlich beschränkteAnbaumöglichkeiten verhinderten jegliche Elastizität beimNahrungsangebot. Der überraschende Zuzug ausländischer

Konsumenten brachte das zerbrechliche wirtschaftlicheGleichgewicht völlig durcheinander. Die Klagen derBevölkerung wurden von der Regierung an den kaiserlichen Hof weitergeleitet. In Peking war Kangxi soeben gestorben, und seinSohn, Yung Ch'eng, beschloß 1723, seine Truppenzurückzuziehen und den Militärgouverneur durch einen zivilenBerater abzulösen.

Der noch junge und vollauf mit Studien und Meditationbeschäftigte Dalai Lama mischte sich nicht in die politischenAngelegenheiten ein. Hatte er auch keine Kenntnis von denPalastintrigen, die schon bald einen tiefen Zwist zwischen demPremierminister und den anderen Kalön heraufbeschworen?Gewisse Würdenträger waren nicht bereit, sich mit denSparmaßnahmen - und vielleicht auch dem Autoritätsanspruch -des alternden Sonam Gyalpo abzufinden. Der Vater des Dalai

Lama, Sonam Dhargye, scheint Drahtzieher einer eigentlichenVerschwörung gewesen zu sein, deren Ziel der Sturz derbestehenden Regierung war. Schon Anfang 1727 informierte diein Lhasa residierende chinesische Delegation Peking überSpannungen innerhalb der tibetischen Regierung; die Berichteprangerten zwei der Regierungsmitglieder als schwächliche undunausgewogene Persönlichkeiten an. Der Kaiserhof versuchtezunächst, die Spannungen durch wohlwollende Gesten zu

mildern: Ein hoher Staatsbeamter wurde mit Botschaften für diewichtigsten Staatsmänner und einige Familienangehörige desDalai Lama und, wie es sich gehörte, auch mit Geschenken nachLhasa beordert.

Nichtwiedergutzumachendes ereignete sich einige Monatespäter, am 5. August 1727, mit der Ermordung desPremierministers. Der zweite Kalön, Sonam Topgyal,

mißbrauchte seine Funktion als Gouverneur von Hintertibet, um

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Truppen auszuheben. Aus der allgemeinen Verwirrung wurde  jetzt ein Bürgerkrieg. Mit neuntausend Mann marschierte ernach Lhasa, wo er die Kontrolle über die Stadt übernahm. Er

informierte Peking über die innere Lage und bat ausdrücklichum die Entsendung einer chinesischen Armee zu seinerUnterstützung, damit er die öffentliche Ordnungwiederherstellen und eine notwendige Reform der Institutionenvornehmen könne. Die über die Nordroute, Xining (Sining) unddie Provinz Qinghai (Tsinghai), nach Tibet marschierendeArmee erreichte Lhasa erst 1728. Und jetzt wurde einumfassender chinesischer Plan in die Tat umgesetzt.

In einem ersten Akt wurden die Verantwortlichen bestraft.Die beiden rebellierenden Kalön wurden in Stücke gehauen, ihreSöhne enthauptet. Die Chinesen überließen es den tibetischenBehörden, die Schuldigen von niedrigerem Rang zu verurteilen.

Peking hatte beschlossen, die zivile und die militärischeOrganisation Tibets in die eigenen Hände zu nehmen. Für densiegreichen General wurde wieder der Titel Regent eingeführt.

In den chinesischen Jahrbüchern wird er mit dem Namen PholaTedji erwähnt; in der tibetischen Geschichte heißt er GyalpoMiwang. Er führte den Vorsitz im obersten Rat, doch für alleGeschäfte war Zustimmung der beiden residierendenchinesischen Vertreter, der  Amban, erforderlich. DieEinmischung in die tibetischen Angelegenheiten wurde durchden Beschluß des Kaiserhofes noch verschärft, die höchsteMacht aufzuteilen und dadurch einen Keil zwischen die beidenOberhäupter der lamaistischen Schulen, den Dalai Lama undden Panchen Lama, zu treiben. Damit wurde eine Politikbegründet, die China bis in unsere Zeit hinein in seinenBeziehungen zu Tibet immer wieder anwandte. Peking hoffte,auf diese Weise nicht nur die Machthaber, sondern auch dasganze Land zu spalten. So wurde dem Panchen Lama angeboten,die direkte Verwaltung der östlichen und zu einem großen Teil

auch der zentralen Gebiete Tibets zu übernehmen. Doch der

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Lebenszeit ernannt werden; der erste ist für den staatlichenGrundbesitz und die Steuern, der zweite für Rechtsfragen undder dritte für die innere Verwaltung zuständig. Ihre Kleidung

und ihre Arbeitsgewohnheiten sind minutiös geregelt: Jedemvon ihnen unterstehen vier Sekretäre, mit denen er die laufendenGeschäfte täglich von neun Uhr morgens bis zwei Uhrnachmittags zu besprechen hat. Was den Grundbesitz betrifft,sind die Aufgaben der Behörden nach chinesischem Vorbildgeregelt, wobei Angehörige des örtlichen Adels und des Klerusfür die Amtsgeschäfte verantwortlich sind.

An der Spitze der Armee steht ein General, dem sechs weitereGeneräle und Offiziere unterstellt sind; einige von ihnen führendas Kommando über die Festungen. Längs der gemeinsamenGrenze ist Peking dafür besorgt, daß die Amtsinhaber ausgroßen Familien ausgewählt werden, die oft Interessen beidseitsder Grenze haben: In Xining (Sining) erhält der chinesischeResident den Auftrag, die Region Amdo und den ganzentibetischen Nordwesten zu überwachen. Die Kontrolle an der

Südgrenze zu Indien und Nepal wird von einem in Shigatseansässigen Assistenz-Amban wahrgenommen, zu dessen Stabchinesische Generäle und Kommandanten gehören. Einzweitausend Mann starkes Detachement der Militärmacht, dasden Amban zur Verfügung steht, ist dauernd in Shigatsestationiert.

Damit die Entfernungen zwischen den Entscheidungszentrennicht zu groß sind, wird verfügt, daß die Amban demGeneralgouverneur von Szetschuan unterstellt sind und sich nurin besonders wichtigen Fällen direkt an Peking zu wendenhaben.

Schließlich, und das wiegt am schwersten, werden dieGrenzen verändert. Große Teile von Osttibet, insbesondereBathang und Lithang, werden Szetschuan und Yünnanangegliedert. Tibet verbleibt nur ein ganz kleiner Teil seiner

Provinzen Kham und Amdo.

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Der siebente Dalai Lama war von allen diesen Anordnungennicht betroffen. War es wegen einer mutmaßlichen Beteiligungam Komplott gegen den früheren Premierminister, war es, um

die Angelegenheiten des Landes mit freierer Hand regeln zukönnen oder, wie gewisse chinesische Dokumente erwähnen,um ihn vor ernsthafteren Wirren eines neuen Bürgerkriegs odereines neuen Mongoleneinfalls zu schützen? Jedenfalls wurde erweggebracht, und zwar weit über sein Heimatdorf Lithanghinaus, in die Kloster-Festung Kahdag bei Ta-Chien-Lu. Dortblieb er sechs Jahre lang.

Aus Gründen der Schicklichkeit und geistlicher wie auchweltlicher Notwendigkeit benötigte die Gelugpa-Schule der»Gelbmützen« ein neues Oberhaupt; man traf eine geschickteWahl: Auf Anordnung des Kaisers wurde ein Lama vonehrwürdigem Alter und makellosem Ruf in dieses Amteingesetzt. Der einfache Mönch Tri Rimpoche aus dem KlosterChöding in der Zentralprovinz, einige Tagereisen von Lhasaentfernt, nahm diese Aufgabe bis zur Rückkehr von Kelsang

Gyatso wahr.Die Entfernung aus Lhasa und die strenge Überwachung

durch seine chinesischen Wächter scheinen für den Dalai Lamakeine harte Prüfung gewesen zu sein. Er widmete sich wiederganz seinen Studien und seinem transzendentalen Suchen. Seingeistlicher Meister, der Abt des Klosters Ganden, PaldenDrakpa, war ihm ins Exil gefolgt. Doch er lebte nicht mehrlange und wurde auf Bitten des Dalai Lama durch seinenNachfolger in Ganden, Ngawang Chokden, ersetzt. KelsangGyatso war offensichtlich gewillt, seine religiösen Übungen unddie mystische Yoga-Praxis kontinuierlich weiterzuverfolgen;daran spürt man, daß er von seiner Persönlichkeit her vor allemdanach strebte, die Verantwortung in seiner Funktion alsgeistliches Oberhaupt zu übernehmen, und sich weniger umseine Stellung als weltlicher Souverän kümmerte. Hier wird

abermals das Geheimnisvolle an der Einheit der Souveränität in

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der Zweiheit des tibetischen Machtgefüges sichtbar. Hinter denMauern seiner Festung, hinter den Waffen seiner Bewacher, dieihn zugleich bedrohten und schützten, betete der Dalai Lama,

und dadurch offenbarte er seinen Gläubigen und seinem Volk,daß er noch immer gegenwärtig war; wie bei seinen Vorgängernstanden in allen seinen Gebeten das Mitleiden und dieNächstenliebe im Vordergrund. Das wurde auch in denGedichten sichtbar, die er von nun an zu verfassen begann:

O Manjusri, Glorreicher, gewähre mir die kraftvolle Hilfe

Deiner geheimnisvollen Substanz, deiner Worte und deinesGeistes,

Damit all mein körperliches, sprachliches und geistliches Tun

Den Wesen durch meine Belehrungen zum Nutzen wird.

Während der Dalai Lama die wohlwollenden Kräfte anrief,sorgte der interimistische Vorsteher der »Gelbmützen«-Schule

mit Autorität und Kompetenz für die Einhaltung derMönchsregeln. In Tashilhunpo hütete sich der Panchen Lama,am labilen geistlichen und politischen Gleichgewicht dertibetischen Institutionen zu rütteln und insbesondere sich inirgendwelche Machenschaften verwickeln zu lassen, welche denZugriff der Chinesen auf Tibet hätten verstärken können. Überdie staatlichen Angelegenheiten wachte noch ein dritter Greis.Es war der Mann, der das Vertrauen des Mandschu-Hofes inPeking genoß, Phola Tedji (der auch Gyalpo Miwang genanntwird), der Desi, der die Regierung unter dem fünften DalaiLama und nach dessen Tod geleitet hatte. Ihm gelang es wiezuvor Sangye Gyatso, durch politisches und diplomatischesFeingefühl das Vertrauen unter den Tibetern wiederherzustellenund die Rivalitäten zwischen den Mönchsgemeinschaften inGrenzen zu halten, wenn auch nicht vollständig zu überwinden,

wie wir leider noch sehen werden. Dank ihm wurde schließlich

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die Bevormundung durch Peking zu einer reinen Formsache.Der von seinen Sorgen wegen der Mongolen und um Tibetentlastete Kaiser zeigte ihm seine Dankbarkeit, indem er ihm

1740 den Titel eines Prinzen im zweiten Rang verlieh - einenTitel, der großen Feudalherren zustand, die mit der Regierungeiner Provinz betraut waren.

Nach einigen Jahren solcher weiser und entschlossenerHerrschaft wurde die Lage neu beurteilt; der Dalai Lama durftenach Lhasa zurückkehren. Doch der Befehl des Kaisers gab ihmseine zeitlichen Befugnisse nicht zurück, für sie war noch immerPhola Tedji zuständig. Nach dessen Tod wurde sein zweiterSohn, Gyurme Namgyal, von Peking mit den gleichen Titelnwie sein Vater und, so scheint es, auch mit dem gleichenVertrauen eingesetzt, obwohl man ihn verdächtigte, alsKomplize oder sogar Drahtzieher am Tod seines älteren Brudersbeteiligt gewesen zu sein, der eigentlich das väterliche Amthätte übernehmen sollen.

In Peking war der neue Kaiser, Ch'ien Lung (1745-1796), dem

Buddhismus sehr wohlgesinnt. Im Jahr seiner Thronbesteigungempfing er den Panchen Lama mit großem Zeremoniell anseinem Hof. Jacques Bacot schreibt in seiner Geschichte Tibetsdazu: »Die Gunstbezeugungen dieses Herrschers für denLamaismus haben dauerhafte materielle Spuren hinterlassen. Siesind noch in den vielen zweisprachigen, auf chinesisch undtibetisch beschrifteten Stelen sichtbar, die man in vielenPagoden in der Umgebung von Peking antrifft und die an einEreignis, einen Besuch oder ein Geschenk erinnern.« Um seineHochachtung zu bezeugen, vielleicht auch um den chinesischenEinfluß in Tibet zu feiern, ließ er 1745 in Peking im Bereich derKaiserstadt den »Tempel des Höchsten Glücks« errichten, derbei einem Brand im Dezember 1901 zu einem großen Teilzerstört wurde.

Während seiner Rückkehr in die Hauptstadt machte Kelsang

Gyatso in vielen Klöstern halt, um die Mönche und die

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Gläubigen zu segnen, die in Scharen zusammenkamen, wenn erdort vorbeizog. An einem dieser Etappenorte wurde er gebeten,einen besonders intelligenten und frommen Mönch zu weihen,

dem wir später wieder begegnen werden, Demo Tulku. Nachseiner Ankunft in Lhasa soll der Dalai Lama gewünscht haben,seine geistlichen Übungen mit dem Panchen Lama fortzusetzen.Doch der alte Lobsang Yeshe, der eben von Pekingzurückgekehrt war, konnte Tashilhunpo nicht mehr verlassen.Und so ließ sich der Dalai Lama bei ihm nieder. Täglichunterhielten sich die beiden Würdenträger über grundlegendeFragen der Lehre. Kelsang Gyatso begann um diese Zeit, selbst

zu lehren und eigene Werke zu verfassen.In Lhasa hatte sich das Kloster Sera einen Ruf als Zentrum

der tantrischen Lehre erworben, der ihm bis heute erhaltengeblieben ist. Sein Abt bat den Dalai Lama, die Erwartungen derMönche zu erfüllen, die in Scharen dem Kloster zuströmten.Mehr als tausend von ihnen legte Kelsang Gyatso seinumfassendes Wissen über die Schriften des großen Reformators

Tsongkhapa dar. Gleichzeitig vervollkommnete er seine eigeneAusbildung in Gesellschaft von Ngawang Chokden, des Abtesdes Klosters Ganden, der seit den Exiljahren sein Beratergewesen war. Obwohl der Dalai Lama von seinenVerpflichtungen voll beansprucht wurde, fand er dennochimmer auch Zeit für die Verbreitung der Lehre und dieAbfassung seiner Gedichte.

Der Panchen Lama verschied 1737. Im folgenden Jahr wurdeseine Reinkarnation in einem Kind aus einem zentraltibetischenDorf entdeckt und nach Lhasa gebracht. Der Dalai Lama weihtees persönlich und verlieh ihm seinen Namen: Lobsang JebtsunPalden Yeshe (1738-1780); er verfolgte auch aufmerksam seineErziehung während der ersten Jahre seiner religiösenAusbildung.

Als sein hochgeschätzter, damals fünfundsiebzig Jahre alter

Berater Anzeichen von Schwäche zu zeigen begann, verließ der

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Dalai Lama den Potala, um sich in Ganden in seiner Näheniederzulassen. Ngawang Chokden wollte sich freilich in dieAbgeschiedenheit des Klosters Reting, etwa zweihundert

Kilometer nördlich von Lhasa, zurückziehen, um sich auf dengroßen Übergang vorzubereiten. Der Dalai Lama respektiertediesen Willen. Als sich die beiden buddhistischen Oberhäuptermit einer besonders ergreifenden Zeremonie voneinandertrennten, gaben sie sich gegenseitig ihren Segen. Der alte Lamastarb wenige Tage nach seinem Eintreffen im Kloster. Als derDalai Lama im Potala die Nachricht von seinem Tod und dievon den Mönchen in Reting zugesandten Reliquien erhielt, ließ

er diese in ein kostbares Kästchen legen, und er betete mehrereTage lang ganz allein in einer Kapelle des Palastes. Er ließ eineUrne aus Silber anfertigen und schickte sie dem Kloster, damitdie Überreste seines geistlichen Führers in den schwierigstenAugenblicken seines Lebens nach der Einäscherung seinerkörperlichen Hülle darin aufbewahrt würden. Für den Guru desachten Dalai Lama und Biographen von Kelsang Gyatso ist

dessen Verhalten gegenüber seinen Ahnen und Betreuern einunanfechtbares Zeichen von Heiligkeit. Obwohl dieser religiöseEifer infolge der politischen Ereignisse und der inneren Vorliebedes Dalai Lama selbst vom bläulichen Rauch in den Kultstättendiskret verdeckt wurde, hat ihn das tibetische Volk als diehöchste Autorität im religiösen wie auch politischen Bereichanerkannt. Die besondere Aufmerksamkeit, mit der er diereligiöse Formung des jungen Panchen Lama verfolgte, hat nicht

unwesentlich zur Erhaltung des Zusammenhalts sowohl derbuddhistischen Institutionen als auch des tibetischen Staatesbeigetragen.

Im Frieden und in der Toleranz dieser Jahre erlebte auch diekatholische Mission in Lhasa eine Zeit der Prosperität. Esscheint, daß die tibetischen Behörden mehr an den politischenAuswirkungen der Präsenz von Missionaren auf dieBeziehungen zum Ausland interessiert gewesen waren als an der

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religiösen Botschaft, die sie mit sich brachten. Den Schutz, derihnen gewährt wurde, hatten sie im übrigen eher dem Regentenund Regierungschef als dem Dalai Lama zu verdanken, dem sie

nie persönlich begegneten.Wie in Japan und in China waren die Jesuiten die ersten, die

mit der Evangelisierung Zentralasiens begannen. Die PatresIppolito Desideri und Manuel Freyre, die vom Orden mit dieserAufgabe betraut wurden, benötigten zwei Jahre, um ihrenBestimmungsort zu erreichen. Ihre Reise begann am 26. März1714 in Surat an der indischen Küste und ging über Delhi,Lahore, Kaschmir und Ladakh weiter. Am 18. März 1716 trafensie in Lhasa ein. Es war die Zeit des mongolischen»Protektorats« von Lhabsang Khan. Die beiden Missionarenahmen die letzte Etappe in Zhaxigang, einem Ort in derRandzone (der Begriff Grenze mit seiner politischen undmilitärischen Nebenbedeutung war damals noch nicht sehr klardefiniert) zwischen Ladakh und Guge in Angriff, und zwar unterdem Schutz einer Qoshot-Prinzessin, deren Gatte, Kommandant

der Besatzungstruppen in dieser Region, gestorben war und diedurch Tibet zu ihrer Familie in der Mongolei zurückkehrte. Diebeiden Missionare wußten aus der Erfahrung ihrer Vorgänger,daß man bei Bekehrungen unbedingt mit hochrangigenPersönlichkeiten beginnen mußte. Sie hatten deshalb versucht,die lange Reise und eine gewisse mystische Neigung ihrerSchutzherrin dafür zu nutzen, um sie zum Christentum zuführen. In seinem Bericht gesteht Pater Desideri seinen

Mißerfolg ein, denn die Prinzessin »trat in ein Kloster ihrerReligion ein und wurde Nonne«.

1719 trafen die italienischen Kapuzinerpatres Orazio DellaPenna und Domenico Da Fano in Begleitung einiger Fratres inLhasa ein. Um einen Kompetenzkonflikt zu vermeiden, wurdeder Fall der römischen Kurie vorgelegt. Die Jesuiten waren umdiese Zeit in eine Polemik verwickelt, weil gewisse kirchliche

Würdenträger ihr Verständnis für den Konfuzianismus als

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laxistisch beurteilten; es ist deshalb nicht verwunderlich, daß dieKurie in ihrer Voreingenommenheit gegenüber dermissionarischen Tätigkeit der Jesuiten deren Standpunkt, sie

seien zuerst in Lhasa gewesen, nicht unterstützte. 1721 fiel dieEntscheidung zugunsten der Kapuziner, die von den tibetischenBehörden ohne weiteres die Erlaubnis erhielten, eine Kapelle zubauen. Man gewinnt den Eindruck, es habe nicht zahlreicheBekehrungen gegeben; nur einige Chinesen und Newar-Kaufleute aus Nepal ließen sich taufen. 1737 kehrte der Superiorder Mission, Orazio Della Penna, nach Rom zurück. PapstBenedikt XIV. gab ihm einen Brief an den Dalai Lama mit, ein

frühes Zeichen einer ökumenischen Bewegung, die erst im 20.Jahrhundert richtig aufblühte. Der Kapuziner machte sich vonneuem auf den Weg, kam aber in Tibet nicht mehr an; er starb1747 in Indien, nicht ohne zuvor noch vom Mißerfolg seinerOrdensbrüder erfahren zu haben.

In Lhasa zählte die katholische Mission sechsundzwanzigKonvertiten. Einer von ihnen, ein auf den Namen Tomaso

getaufter tibetischer Bediensteter der Patres, der früher Tenzingeheißen hatte, verursachte einen schweren Zwischenfall. Erwar von seinen Patres in den Potala geschickt worden, um beieiner öffentlichen Audienz des Dalai Lama Geschenke zuüberbringen, weigerte sich aber, sich vor diesemniederzuwerfen, wie es unter Tibetern üblich war. DieEmpörung im Potala war groß, Drohungen, alle Christen seienhinzurichten, wurden herumgeboten. Die Patres wandten sich an

politisch einflußreiche Freunde und erreichten, daß die Strafeauf zwanzig Peitschenhiebe reduziert wurde, ein für diedamalige Zeit wirklich mildes Urteil. Die Strafe wurde von denChristen mit großem Mut ertragen. Doch das Volk wandte sichvon ihnen ab, weil sie sich so schwer gegen althergebrachteSitten vergangen hatten; vor allem aber entzogen ihnen dieAdligen und Lamas, die gebildet genug waren, um den fremdenMissionaren mit Höflichkeit zu begegnen, von da ab ihren

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Schutz. Als die Kapelle der Kapuziner bei einerÜberschwemmung beschädigt wurde, deutete man diesesEreignis als ein himmlisches Zeichen dafür, daß ihre

Anwesenheit nicht mehr genehm sei. Da überdies die Chinesenzu einer Politik der Abschottung Tibets gegen fremde Einflüssetendierten, wurde die katholische Mission aufgefordert, dasLand zu verlassen. Die von finanziellen Sorgen geplagten Patres- aus Europa kamen keine Gelder mehr - zogen sich 1745zurück, die Kapelle wurde dem Erdboden gleichgemacht.

Ein letztes Zeichen christlicher Präsenz ist von 1769überliefert: Einige überlebende Gläubige schickten einen Brief nach Rom und baten um die Entsendung eines Priesters. In derNähe von Jokhang ist bis heute eine Glocke mit der Inschrift Te

 Deum laudamus zu sehen, die vermutlich aus der Kapelle derKapuziner stammt.

Zwei Jahre später, nach dem Tode des weisen undenergischen Phola Tedji, wurde Peking abermals auf die innereSituation in Tibet aufmerksam.

Gyurme Namgyal, der die weltliche Macht als »Regent« oder»Vizekönig« übernommen hatte, setzte vorerst die Politik seinesVaters fort. Er hatte den Chinesen seine Regierungsfähigkeitund seine Loyalität in den Beziehungen zum Kaiserhof inPeking bewiesen und ersuchte um den Rückzug der beidenchinesischen Residenten und der in Tibet stationierten Truppen.Kaiser Ch'ien Lung war aber nur damit einverstanden, das

militärische Kontingent auf fünfhundert Mann zu verkleinern,die gleichmäßig auf Lhasa und Shigatse verteilt wurden.

Der Regent, der dadurch eine gewisse Bewegungsfreiheitzurückgewonnen hatte, scheint mehr von seinem persönlichenEhrgeiz als von den Landesinteressen getragen worden zu sein.Er nahm Kontakte zu den dsungarischen Mongolen am fernen Iliauf. Ein Plan für eine Intervention von außen wurdeausgearbeitet, der die militärische und die zivile Präsenz der

Chinesen beenden und Tibet, genauer gesagt dem Regenten, die

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völlige Unabhängigkeit zurückgeben würde. Das Geheimniskonnte nicht lange gewahrt werden. Gyurme Namgyal hatte sichinnerhalb des Palastes viele Feinde geschaffen, indem er ihm

nahestehende Leute, die ihm seiner Meinung nach vor der Sonnestanden, vertrieb oder sogar hinrichten ließ. Solche Auswüchseund sein brutales und arrogantes Verhalten brachten ihm auchden Groll eines Teils der Bevölkerung ein. Diese Vorkommnissewie auch die allgemeine Stimmung blieben den chinesischenAmban nicht verborgen, sie berichteten darüber regelmäßig undgetreulich dem Kaiser. Dieser beachtete freilich ihre Warnungennicht. Die beiden Residenten entschlossen sich daraufhin zu

einer Aktion in eigener Verantwortung, durch die einekaiserliche Reaktion ausgelöst werden sollte. Sie waren derMeinung, durch das Verschwinden des Regenten würde dasKomplott beendet. Bei ihrer Analyse der öffentlichen Meinunghatten sie aber eines übersehen: Die Tibeter waren ihrenInstitutionen und ihren Machthabern, so unvollkommen dieseauch sein mochten, stärker verbunden als den chinesischen

Schutzherren und einer Kolonie von militärischen und zivilenMitarbeitern, die ihr Alltagsleben schwer belasteten.

Auf die ungeschickte Verschwörung des Regenten reagiertendie beiden Amban mit einem ebenso gewagten Komplott. Derdoppelte Trick mußte notwendigerweise mit einer Katastropheenden. Am 13. November 1750 luden sie Gyurme Namgyal inihre Residenz ein und töteten ihn »eigenhändig«. In deranschließenden Verwirrung gelang es einem Offizier, der den

Regenten begleitet hatte und dem ebenfalls vorgesehenenMassaker an der tibetischen Eskorte entgangen war, dieöffentliche Meinung in Lhasa aufzuwiegeln; man hatte nur auf ein Zeichen gewartet, um sich gegen die Fremden zu erheben.Der Lärm des sich zusammenrottenden Volkes war bis in denPotala zu hören; der Dalai Lama versuchte mit Hilfe der zivilenBeamten und der Äbte, die bei ihm lebten, die Revolteaufzuhalten. Es war zu spät. Die erregte Menge stürmte in

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Richtung der Residenz der beiden Amban. Als diese sahen, wieihre Wächter massakriert wurden, gaben sie sich, nachdem siebereits Verletzungen erlitten hatten, selbst den Tod.

Der Dalai Lama hatte noch nie Gelegenheit gehabt, politischeVerantwortung zu übernehmen, aber jetzt erwies er sichunversehens als energische und geschickte Persönlichkeit. Erernannte den amtsältesten Minister zum Vorsitzenden derRegierung und schickte einen Brief an den Kaiser, worin erseine Version der Ereignisse darlegte. Noch bevor diesesSchreiben in Peking ankam, war Ch'ien Lung von denÜberlebenden des blutigen Herbstes in Lhasa informiert worden.Die Armee, die er sofort in Marsch setzte, hatte keine Kämpfezu bestehen; nur die Hauptstadt war in die Affäre verwickeltgewesen, und hier war bereits wieder Ruhe eingekehrt. Aber diechinesische Garnison in Tibet wurde auf tausendfünfhundertMann vergrößert.

Die beiden Amban wurden postum in den Rang vonMandarinen erster Klasse erhoben. 1795 ließen ihre Nachfolger

in Lhasa eine Stele errichten, auf der an ihr Opfer erinnertwurde.

Auf politischer Ebene verwickelte sich China fortan nochgründlicher in die tibetischen Angelegenheiten. Der Titel»Regent« oder »Vizekönig«, der seit dem fünften Dalai Lamamehr oder weniger mißbräuchlich verwendet worden war,wurde endgültig abgeschafft. Der kaiserliche Erlaß vom 23.

April 1751 sah eine Regierung unter der Autorität des DalaiLama vor, der von vier Ministern, den Kalön, unterstützt wird;von jetzt an war jeder von ihnen nicht mehr bloß für einenbestimmten Verwaltungsbereich, sondern darüber hinaus auchfür das ganze Land verantwortlich. Der Dalai Lama erlangte indiesem System seine Oberhoheit über die Regierungsgeschäftezurück und übernahm juristisch und praktisch wieder dieLeitung der Staatsverwaltung; aber auch die Stellung der beiden

Amban wurde verstärkt; sie hatten von jetzt an ein »begrenztes«

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Recht, sich an der Regierung des Landes zu beteiligen, wobeidas Ziel dieser Neuerung darin bestand, eine Kontrolle über dieaußenpolitischen Beziehungen Tibets auszuüben.

Durch diese neuen Reformen erhielt die Theokratie wiederihren Platz in den tibetischen Institutionen. Das höchste religiöseOberhaupt stand jetzt wieder dem ganzen Land vor; durch seineStellung dämmte der Dalai Lama, obwohl er sich nurzurückhaltend in die weltlichen Angelegenheiten einmischte,den Machthunger eines Adels ein, der durch Gewöhnung anseine immer wieder mißbrauchten Privilegien zu einemdestabilisierenden Faktor geworden war.

Kelsang Gyatso spürte seine Kräfte schwinden, obwohl er erstachtundvierzig Jahre alt war. Als er 1756 davon überzeugt war,der Ministerrat sei imstande, die Zügel der Regierung fest inseinen Händen zu halten, ohne daß ein Ausrutscher zubefürchten wäre, bereitete er sich auf einen Besuch im KlosterChökhorgyal, hundertfünfzig Kilometer südöstlich derHauptstadt, vor. Es war 1509 vom zweiten Dalai Lama in der

Nähe des »Sees der Visionen« errichtet worden, wo Menschenmit ausreichender geistlicher Vorbereitung Zukünftigesankündende Zeichen sehen können. Er nahm sich noch die Zeit,den tausenddreihundert Mönchen im Sera-Kollegium seineLehre darzulegen. Dann zog er sich für mehrere Monate von derÖffentlichkeit zurück, um bei seinem Meister seit je,Tsongkhapa, neue Inspirationen zu suchen. Weil er ausErfahrung wußte, wie schwierig es war, das Land und seineBewohner auf dem Weg des Dharma und der Praxis desMitleidens zu halten, verehrte er den großen Reformator ganzbesonders; ohne ihn, so glaubte er, hätte der Buddhismus nichtden Zusammenhalt und die Festigkeit, dank derer er denMittelpunkt der tibetischen Gesellschaft bildete.

Anfang 1757 zog sich Kelsang Gyatso zu einer langenMeditation zurück; zuvor hatte er seine Umgebung darauf 

hingewiesen, daß sein Wirken auf dieser Erde demnächst zu

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Ende gehe. Er starb am 22. März und wurde im Potalabeigesetzt.

Die politischen Ereignisse während der Herrschaft des

siebenten Dalai Lama haben seine Rolle und seinePersönlichkeit etwas in den Hintergrund verdrängt. Das Licht,das von seinem religiösen Wissen (der Buddhismus und dieöstlichen Religionen im allgemeinen empfinden es keineswegsals schockierend, wenn man die beiden Begriffe Religion undWissen miteinander verbindet, die von Agnostikern und auchwestlichen Gläubigen eher als Gegensätze verstanden werden)ausstrahlt, trägt in dieser düsteren Periode der tibetischenGeschichte den Stempel einer althergebrachten Kultur und destraditionellen Glaubens. In der Ikonographie, in der sich für dastibetische Volk das Urteil der Geschichte widerspiegelt, wirdKelsang Gyatso mit einem Buch und einer Lotusblüte in derHand dargestellt. Als Schriftsteller ist er anerkannt; laut demdeutschen Tibetologen G. Schulemann besitzt das Asien-Museum in Sankt Petersburg sein vollständiges Werk. Seine

Gedichte, die in Tibet so bekannt sind wie die des sechstenDalai Lama, zeugen von großer Heiterkeit undunerschütterlicher Gewißheit eines ewigen Heils dank dermitleidenden Hilfe der Bodhisattvas; in ihnen stellt er dieenttäuschten Illusionen der Welt den Wohltaten einervollständigen und endgültigen Befreiung für diejenigengegenüber, die den Weg zu finden verstehen:

Zeigen wir Aufmerksamkeit für andere,

Begegnen wir Gereiztheit.

Streben wir nach Reichtum,

Geht er den anderen verloren.

Bemühen wir uns,

Glück zu erlangen,

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VIII Jampel Gyatso 1758-1804 

Die Suche nach der Reinkarnation des verstorbenen DalaiLama führte die damit beauftragten Mönche durch die dreigroßen Klöster im Dorf Thobgyal in der Provinz Ober-Tsang,die verwaltungstechnisch als Hintertibet bezeichnet wird. DasKind, das sie mit sich brachten, war am 29. Juli 1758 zur Weltgekommen; das befragte Orakel bestätigte seine Echtheit, unddie Wahl wurde vom Kaiserhof anstandslos bestätigt. DieInthronisations-Zeremonie fand am 28. August 1762 inGegenwart aller Behörden im Potala statt. Der Panchen Lamakümmerte sich um die Ausbildung des Kindes; ihm legte es dasGetsul-Gelübde ab, wodurch es 1764 zum Novizen wurde; beidieser Gelegenheit erhielt es auch seinen endgültigen NamenJampel Gyatso: »Ozean der Sanftmut und des Ruhms«.

Die in den vorausgegangenen Jahren eingeführtenInstitutionen funktionierten reibungslos. Die innere Lage Tibetserforderte keine besonderen Eingriffe der Machthaber in dasAlltagsleben des Volkes, das sich um Ackerbau, Handwerk,Handel, ebenso um den Unterhalt der Mönchsgemeinschaftenkümmerte, welche die Tradition und das kulturelle Lebenverbürgten. Mit einem Wort, es herrschte Frieden im Lande.

Peking begegnete der weltlichen Macht gegenüber nochimmer mit Mißtrauen und hatte die Funktion des Regentenaufgehoben. Auf den Vorschlag des Panchen Lama hin, dem derKaiserhof mit großem Respekt folgte, wurde ein Mönchbestimmt, der während der Minderjährigkeit des Dalai Lama indessen Namen und an dessen Stelle zu handeln hatte. DieseAufgabe wurde Demo Tulku anvertraut, einem der Novizen, dievom siebenten Dalai Lama bei dessen Besuchen in den Klöstern

die Mönchsweihe erhalten hatten; dieser Mönch-Regent übte

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sein Amt bis 1777 aus. Dann wurde er durch einen anderenMönch ersetzt, Ngawang Tsultrim, der 1721 in der RegionAmdo zur Welt gekommen und später fünfzehn Jahre lang einer

der Hauslehrer des Kaisers Ch'ien Lung gewesen war; derchinesische Souverän hatte großes Vertrauen zu diesem Berater,vor allem natürlich in allen buddhistischen und tibetischenAngelegenheiten.

Einmal mehr muß auf Unterschiede zwischen westlichen undöstlichen Auffassungen hingewiesen werden. Für Peking wie fürLhasa ging es nicht so sehr um eine Rechtsfrage, sondern umeine Berücksichtigung der Umstände. Überlassen wir das Wortzu diesem Thema dem jetzigen Dalai Lama:

Zweieinhalb Jahrhunderte lang, beinahe bis an das Ende des19. Jahrhunderts, bestanden zwischen den Kaisern Chinas undden Dalai Lamas auf gegenseitiger Achtung beruhendeBeziehungen, also ein Verhältnis, das auf der einen Seite auf dergeistlichen Autorität und auf der anderen Seite auf dermaßvollen Ausübung einer weltlichen Macht gründete. [...] Und

da das Leben unserer Nation der Religion geweiht war,verfügten wir nur über sehr beschränkte materielle Mittel. Seitvielen Jahrhunderten war Tibet keine militärische Macht mehr,denn wir glauben an den Weg des Friedens, und wir habenimmer versucht, uns an ihn zu halten.

Im 18. Jahrhundert hatte sich Tibet um so leichter derchinesischen Schutzherrschaft gefügt, als diese flexibel war und

nur zu bestimmten Zeiten wirksam wurde; sie machte sich erstbemerkbar, wenn die Situation es erforderte und die Kaiser nichtanderweitig beschäftigt waren.

In den ersten Jahren der Herrschaft von Jampel Gyatso durftedie tibetische Regierung dank guten äußeren Bedingungen nochin aller Freiheit ihre Entscheidungs- und Verwaltungsautonomieausüben. Der Novize gab sich unter der Anleitung untadeligerund talentierter geistlicher Meister mit Eifer dem Studium der

grundlegenden Texte hin. Seine Familie war weder lästig noch

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ehrgeizig. Die wirkliche Macht lag in den Händen des PanchenLama, Rimpoche Lobsang Jebtsun Palden Yeshe, der bis zuseinem Tod im Jahre 1780 den Schlußstein im institutionellen

System bildete, und zwar als geschickter Künstler in denBeziehungen zum Hof in Peking, dem er Sicherheit verbürgte,um die kaiserliche Macht auf Distanz zu halten. Waren auch diechinesischen Amban diesen Umständen entsprechendausgewählt worden? Jedenfalls handelte es sich umunbedeutende Persönlichkeiten, die weder von Peking noch vonLhasa zum Eingreifen aufgefordert wurden.

Ereignisse außerhalb Tibets beanspruchten dieAufmerksamkeit Pekings. Der Expansionsdrang europäischerReiche, Rußlands und Großbritanniens, brachte Dinge inBewegung und schuf neue Beziehungen, die von Peking nichtgerne gesehen wurden.

Seit Beginn seiner Herrschaft hatte sich Ch'ien Lung mit denmongolischen Kalmüken auseinandersetzen müssen; durchFeldzüge und abwechslungsweise auch durch gütliches

Einvernehmen hatte er sie immer mehr gegen Westenzurückgedrängt. Als sich die Russen ihrerseits allmählich in dasGebiet zwischen Don und Wolga ausbreiteten, wo sich dieKalmüken, von den Chinesen Türgüt genannt, niedergelassenhatten, dachten diese voller Wehmut an ihre früherenLändereien in Asien zurück, und damit kam eine Wanderung inumgekehrter Richtung in Gang. Die Russen schätzten dieseAbsetzbewegung gar nicht, denn dadurch gingen ihnenArbeitskräfte und Abgaben verloren, die sie von denunterworfenen Völkern verlangen konnten. Als sich im Winter1770/1771 mehr als vierhunderttausend dieser Mongolen mitihren riesigen Viehherden auf den Weg nach Osten machten,wurden sie von russischen, mit Kirgisen und Kosakenverstärkten Truppen verfolgt. Viele von ihnen wurden zurRückkehr gezwungen. Wer die Wanderung fortsetzen konnte,

wurde von Ch'ien Lung freundlich empfangen. Der Kaiser hatte

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den Befehl erteilt, diesen Mongolen jede notwendige Hilfe zuleisten. Und da diese verlorenen Söhne der Steppe Buddhistenwaren, wurde die kaiserliche Politik auch von den tibetischen

Lamas unterstützt, die ebenfalls nicht vergessen hatten, daß dieKalmüken, wie wir bereits gesehen haben, ihren Beitrag an denWiederaufbau der Tempel in Lhasa nach den Zerstörungen inden zwanziger Jahren des 18. Jahrhunderts geleistet hatten. Lautden Schätzungen der Historiker, die recht unterschiedlichausfallen, ließen sich zwischen siebzigtausend unddreihunderttausend Mongolen von neuem imchinesischtibetischen Grenzgebiet nieder; und dort leben sie

auch heute noch.Auf dem indischen Subkontinent mußte man von jetzt an mit

den Repräsentanten ihrer britischen Majestät rechnen. DerMachtzuwachs der Engländer in dieser Region ging mit einerentsprechenden Schwächung des Mogulenreichs einher. Dieseneuen vollendeten Tatsachen weckten andere politische Gelüste.So glaubte der Radscha von Bhutan, möglicherweise angeregt

vom Beispiel seines nepalesischen Nachbarn, der eben einKönigreich gegründet hatte - ich werde noch auf ihnzurückkommen -, Rechte auf die weiten Ebenen im OstenBengalens zu haben. Sogleich entsandte er seine Armee in diefragliche Gegend. Warren Hastings, der soeben sein Amt alsGouverneur von Bengalen angetreten hatte und im folgendenJahr Generalgouverneur von Indien werden sollte, reagierteunverzüglich und bot seinerseits zwei Infanterie-Bataillone auf,

um die Eindringlinge zu vertreiben. Der unterlegene Bhutaneseerinnerte sich nun seiner politischen und religiösenVerwandtschaft mit Tibet und wandte sich an den PanchenLama. Jebtsun Palden Yeshe spürte, daß ein neuer Vorwand füreine chinesische Intervention vermieden werden mußte. Mandarf annehmen, daß er mit seiner Intelligenz und seinem feinenGespür einen gewissen Geschmack am Mitmischen ininternationalen Angelegenheiten entwickelt hatte, zudem

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gewährte ihm das Vertrauen Pekings eine gewisseHandlungsfreiheit. Er ließ am 4. März 1774 Warren Hastings,zusammen mit reichen Geschenken, einen Brief zukommen,

dessen Inhalt ein Musterbeispiel von Takt und Würde ist. Erbegann mit der Erklärung, daß er nur den Frieden und dieAusübung seiner religiösen Verantwortung im Auge habe. Dannbeschrieb er die Bhutanesen als rohe und unwissende Menschen,aber auch als Vasallen des Dalai Lama. Er räumte ein, daß ihrVorstoß eine Provokation gewesen sei, und anerkannte, daß siegeschlagen wurden, aber er forderte für sie aufgrund dieserLehensbeziehung Milde des Siegers. Gewiß, damit manipulierte

der Panchen Lama ein wenig die politische Geschichte, dennBhutan war nie von Tibet abhängig gewesen. Wie dem auch sei,seine Demarche wurde wohlwollend aufgenommen und hatteden ersten Tibet-Besuch eines britischen Untertanen zur Folge.Warren Hastings wählte George Bogle für diese Mission aus.Trotz seines jugendlichen Alters spielte dieser Diplomat seineRolle glänzend; er hinterließ einen Bericht, dank dem man sich

eine genaue Vorstellung von der politischen Atmosphäre inTibet und insbesondere von der Persönlichkeit des PanchenLama bilden kann: »ein Mensch, in dem man vergeblich nachdem geringsten Makel suchen würde«. Bogle wurde inTashilhunpo empfangen; hier blieb er während seines ganzen,fast einjährigen Aufenthalts (1774/1775). Er bemühte sich umziemlich vertrauliche Kontakte zur Familie des Panchen Lama.Laut Hugh E. Richardson heiratete er eine Tibeterin, vielleicht

eine Schwester oder eine Nichte seines Gastgebers.61

Man darf annehmen, daß diese eheliche Verbindung aus typisch britischerZurückhaltung unerwähnt bleibt. Doch der Bericht enthält vieleEinzelheiten über seine Begegnungen mit verschiedenenPersönlichkeiten und insbesondere mit den Eltern des PanchenLama, und in der Erzählung wird auch Gefühlen undEindrücken Platz eingeräumt. So hat ihn beispielsweise dieStellung der Schwägerin des Panchen Lama beeindruckt; sie war

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Nonne gewesen, als sie sich in einen Novizen verliebte. Beideverließen ihre Orden. Der Unwille des berühmten Schwagersschwand jedoch beim Tode des Gatten, und die Kinder aus

dieser Verbindung wurden mit großem Wohlwollen behandelt.Als Bogle, wie es Brauch war, dieser sympathischen FamilieGeschenke überreichen wollte und sich für deren Schlichtheitentschuldigte, erhielt er eine Antwort, in der sich die tibetischeGastfreundlichkeit widerspiegelt: »Sie kommen aus einemfernen Land; es ist unsere Aufgabe, Ihnen den Aufenthaltangenehm zu gestalten; weshalb wollen Sie uns Geschenkemachen?«

Bogles Mission beschränkte sich nicht auf Liebesbeziehungen. Palden Yeshe hatte eingesehen, daß Tibetdurch eine Öffnung nach Süden und in noch weiterer Ferne nachEuropa möglicherweise das erzwungene Zusammenleben mitChina überwinden könnte. Die Organisation der Institutionenund die Aufteilung der Kompetenzen zwischen ihm und derZentralregierung in Lhasa ließen ihm genügend Spielraum, um

den Meinungsaustausch zu verstärken. Es ging dabei nicht umetwas Neues, weder auf intellektueller Ebene noch imAußenhandelsbereich: Geschäftsreisen und Pilgerfahrtengehörten seit langem zum Alltag, und in diesem stetigen Flußgab es nur durch politische und militärische Krisen Unterbrüche.Ein Beauftragter des Radscha von Benares, Purangir Gosain,hatte im übrigen bei der Vermittlung des Panchen Lama in derBhutan-Affäre als Mittelsmann gedient, indem er die

entscheidende Botschaft des religiösen Oberhaupts vonTashilhunpo dem Gouverneur Warren Hastings überbracht hatte.Die Agenten der britischen Ostindischen Kompanie erinnertensich an eine Idee, die seit fast hundert Jahren in ihren Bürosherumgeisterte: nämlich die Idee einer Handelsverbindung mitChina quer durch Tibet; unterwegs würden sich die Geschäftedurch Ankäufe von kostbaren Metallen, Gold und Silber,ausweiten lassen, die angeblich auf den Hochebenen

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Zentralasiens überreichlich vorhanden waren. Die Geschäfte dernepalesischen Handelsleute, die sich als erste um solcheBeziehungen bemüht hatten, entwickelten sich vortrefflich;

dieser kommerzielle Aufschwung war übrigens einige Jahrespäter einer der Gründe, die zur Intervention der nepalesischenGurkha-Macht in Tibet führten. Zum jetzigen Zeitpunkt kamenalle auf ihre Rechnung, und der religiöse Aspekt blieb in diesemneuen politischen Umfeld nicht vernachlässigt: In Kalkuttawurde ein buddhistischer Tempel errichtet, der aus TashilhunpoMönche als Lehrer, Bücher, Statuen und Kultgegenständeerhielt.

Warren Hastings hatte keinerlei expansionistische Absichten.Das Ansehen und die Autorität des Panchen Lama wuchsendank diesen neuen Beziehungen, und das wurde in Lhasa wedervon den chinesischen Amban noch von den Kalön dertibetischen Regierung gerne gesehen. Die einen wie die anderenwidersetzten sich entschieden einem Ersuchen Bogles um eineAudienz beim Dalai Lama, das von Shigatse nachhaltig

unterstützt worden war.Bestand die Absicht, dem Panchen Lama die territoriale

Jurisdiktion zu entziehen, oder war es besondere Hochachtungfür diesen außergewöhnlichen Mann, daß der Kaiser auf seinemBesuch in Peking beharrte? Ch'ien Lung hatte, seit er dieHerrschaft ausübte, aufrichtiges Interesse am Buddhismusgezeigt. Auf seine Anordnung hin waren mongolische undtibetische Texte übersetzt worden; er ließ in Peking einenganzen Häuserkomplex mit Tempeln, Wohnungen für dieMönche, Fakultäten und Schulen errichten. 1745, zehn Jahrenach seiner Thronbesteigung, wurde offiziell das ersteNeujahrsfest, Mönlam, gefeiert. Später ließ er nordwestlich vonPeking, in Jehol (heute Cheng-De), ein weiteres Kloster bauen,in dem er gerne die Sommermonate verbrachte. Nicht zuletzt umden religiösen Behörden Tibets alle diese Werke zu zeigen, hatte

er 1765 den Panchen Lama eingeladen, denn der Dalai Lama

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war damals noch ein siebenjähriges Kind gewesen. JebtsunPalden Yeshe hatte jedoch unter Hinweis auf seine geistlichenund weltlichen Verpflichtungen die Reise aufzuschieben

versucht. 1778 nahm er schließlich die Einladung an, und imSommer 1779 machte er sich auf den Weg. Er wurde vonseinem Bruder - Chanzo Cusho in der Transkription Bogles,Chumba Hutuketu für die Chinesen - begleitet, seinemSchatzmeister, und von einem Gefolge von tausendfünfhundertMönchen und Bediensteten. Der indische Mittelsmann PurangirGosain, den wir schon kennen, gehörte ebenfalls der Delegationan. Bei seinem Aufenthalt in Lhasa empfing der Panchen Lama

vom Dalai Lama Jampel Gyatso das Gelang, den zweitenWeihegrad. Der lange Zug wählte den üblichen Weg inRichtung Nordosten, am Kukunorsee vorbei. Er überwinterte imKloster Kumbum. Der Panchen Lama nutzte diesen Aufenthalt,um jungen Mönchen die Weihe zu erteilen, sie zu belehren undzu segnen, vor allem aber um lange zu meditieren. DieBegegnung mit dem Kaiser fand im Juni 1780 im Kloster Jehol

statt. In Peking wurde der Panchen Lama im Palastuntergebracht, der 1650 für den Besuch des fünften Dalai Lamaerrichtet worden war.

Ch'ien Lung behandelte seinen Gast mit auserlesenerHochachtung. Bei der ersten Begegnung machte er einigeSchritte auf ihn zu. Beim Empfang in Peking hatte er vor seinemganzen Hofstaat befohlen, daß dem Panchen Lama ein Sitzneben ihm zugewiesen wurde. Auf den Brauch, sich vor dem

Kaiser niederzuwerfen, war verzichtet worden, der PanchenLama hatte bei der Begrüßung nur ein Knie gebeugt.

Was haben die beiden Männer bei ihren langen undzahlreichen Gesprächen miteinander erörtert? Zweifelloswurden philosophische und religiöse Fragen behandelt, aberweder der eine noch der andere konnte die Sorgenverschweigen, die sie beschäftigten. Der Panchen Lama betonte,

es wäre zweckmäßig, den tibetischen Lamas die früheren

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Vollmachten zurückzugeben, insbesondere das Recht, die hohenWürdenträger der weltlichen Verwaltung frei zu bestimmen. Ersoll auch darum ersucht haben, daß die tibetische Regierung ihr

erwünschten Personen den Aufenthalt in Tibet erlauben dürfe.Der indische Mittelsmann Purangir Gosain behauptet, er selbsthabe dem Panchen Lama vorgeschlagen, diesen Punkt zurSprache zu bringen und das Anliegen der Engländer in Indien zuerwähnen.

Am 13. August wohnten der Kaiser und sein Gast den Feiernzum siebzigsten Geburtstag von Ch'ien Lung bei. Dasgegenseitige Vertrauen schien ungetrübt zu sein, und zwarderart, daß der Panchen Lama sogar dem kaiserlichen Haremeinen Besuch abstatten mußte, weil die Prinzessinnen undKonkubinen aus Neugierde auf einer solchen Begegnungbestanden hatten; während des Gesprächs verhinderte freilichein Schleier aus Tüll, daß der Lama durch den Anblick und dieBlicke der hübschen Sünderinnen besudelt wurde.

Im Oktober zeigten sich beim Panchen Lama die ersten

Symptome einer Pockenerkrankung. Ch'ien Lung ließ ihn mitallen Mitteln der chinesischen Medizin behandeln. Gebete undOpfergaben wurden Tag und Nacht in den Kultstättendargebracht. Doch am 27. November 1780 erlag der PanchenLama seiner Krankheit. - In seiner Biographie wird erwähnt, erhabe dem Kaiser, neben anderen Gegenständen, eineuropäisches Gewehr geschenkt. Diese Gabe soll als einschlimmes Vorzeichen oder, mehr noch, als eine versteckteDrohung betrachtet worden sein; der in Schrecken versetzteKaiser habe deshalb veranlaßt, daß sein Gast mit Erregerninfiziert werde. - Ch'ien Lung ordnete eine hunderttägigeTrauerzeit an. Ein Trauerzug unter Führung des Bruders desPanchen Lama brachte die leibliche Hülle des Verstorbenennach Tibet zurück. Die Leiche wurde im Herbst 1781 in einemMausoleum in Tashilhunpo beigesetzt; das Grab ist bis jetzt

eines der schönsten Denkmäler in diesem Kloster. Kurze Zeit

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später wurde die Reinkarnation des dritten Panchen Lama ineinem Kleinkind entdeckt, einem Vetter von Jampel Gyatso. Eserhielt den Namen Tenpai Nyima. Der vierte Panchen Lama

hatte nicht mehr so viele Gelegenheiten wie sein Vorgänger, denLauf der Geschichte zu bestimmen, aber auch er genoß beimHof in Peking großes Ansehen.

Das politische Geschick Palden Yeshes hatte Peking ebensowie die britischen Diplomaten beeindruckt; ihm lag vor allem aneinem beispielhaften und reibungslosen Funktionieren dertibetischen Institutionen. Der Panchen Lama hatte, da der DalaiLama noch minderjährig war und die Vollmachten derchinesischen Amban beschränkt waren, die Lücken in denMachtstrukturen Lhasas gefüllt. Er ließ die kleinlichen Intrigenunbeachtet, die in den Wandelgängen des Potala von machtlosenund auf das geistliche Oberhaupt von Shigatse neidischen Kalönausgeheckt wurden; diese sahen in ihm nur einen Rivalen, dermit den von ihnen als verdächtig beurteilten Beziehungen zuChina und zu den Briten in die Irre gegangen war.

Die öffentliche Meinung in Tibet hat sich allem Fremdengegenüber tatsächlich immer sehr mißtrauisch verhalten; dasVolk spürte die Schwächen der Theokratie und hatte untermilitärischen Einmärschen gelitten, ohne etwas dagegenunternehmen zu können. Der zweite englische Besucher, SamuelTurner, den Warren Hastings 1783 als Nachfolger des imVorjahr verstorbenen Bogle nach Tibet entsandte, erwähnt diesausdrücklich in seinem Bericht. Auch er wurde ein Opfer dieserfremdenfeindlichen Voreingenommenheit und des noch immerandauernden Streits zwischen Lhasa und Shigatse, denn erkonnte seine Reise nicht über diese Stadt hinaus fortsetzen. Erhatte auch nicht das Glück, daß er vom Panchen LamaProtektion erhielt; der vierte Titular in diesem Amt, den erwährend seines Aufenthalts zu sehen bekam, war erst achtzehnMonate alt. Das Ergebnis seiner vom unvermeidlichen Purangir

Gosain unterstützten diplomatischen Bemühungen ging nicht

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über das hinaus, was Bogle erreicht hatte.

Für die politischen Initiativen aus Shigatse waren nicht mehrdieselben Männer zuständig. Die Brüder des verstorbenen

Panchen Lama, von denen einer offiziell zum Gouverneur vonHintertibet ernannt worden war, wollten die Macht undinsbesondere das Vermögen, das ihnen als Erben der weisenVerwaltung von Palden Yeshe zugefallen war, nicht aufgeben.Diesen Streit versuchten einige Lamas dafür auszunützen, umder Schule der »Rotmützen«, die von Cha-Mar-Pa, einem derverfeindeten Brüder, bevorzugt wurde, neues Ansehen zuverleihen. Shigatse wurde zu einem Zentrum von Zwietracht,wo einige schlecht beratene Verschwörer plötzlich auf die Ideeverfielen, die Nepalesen zu Hilfe zu rufen.

Das Himalaja-Königreich wurde seit 1769 von PrithiviNarayan mit autoritärer Faust regiert. Der neue Herrscher hattedie Einheit des Landes wiederhergestellt und die Toleranz derMalla-Könige den Fremden im allgemeinen und deren Religionim besonderen gegenüber durch einen hinduistischen

Integralismus und einen sich vor allem auf den Bereich derHandelsbeziehungen auswirkenden Nationalismus ersetzt. Diefinanziellen Bedürfnisse des Monarchen, vor allem für denUnterhalt seiner Truppen, führten zu einer Steuererhöhung undzu diskriminierenden Maßnahmen gegen die ausländischenHandelsleute. In der Zwischenzeit hatte der dritte Panchen Lamain einem Brief an den nepalesischen König energische Töneangeschlagen: »Alle Händler, Hindus wie Muslime, habenAngst vor Dir. Niemand will mehr Dein Land betreten.«Verschiedene Grenzstreitigkeiten dienten dem ambitiösenPrithivi Narayan als Vorwand, zunächst gegen Sikkimvorzugehen. Die von Bogles Mission herrührendenHandelsverträge mißfielen ihm gründlich. Er sandte an dietibetischen Behörden eine ungeschickt abgefaßte Depesche,worin er ihnen vorschlug, an bestimmten Grenzposten

Agenturen für den Warenaustausch einzurichten; er verlangte

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von Tibet ein Einreiseverbot für Ausländer, ob Inder oderEuropäer (die er Fringhis nannte). Vor allem aber forderte er,daß geschäftliche Transaktionen mit Münzen abgewickelt

werden könnten, die er mit seinem Bild hatte prägen lassen,deren Annahme aber die tibetischen Händler verweigerten. SeinTod brachte 1775 eine gewisse Entspannung in diesenstürmischen Beziehungen.

Neue Unstimmigkeiten machten sich aber im Frühjahr 1788bemerkbar; das Münzenproblem war nie geregelt worden, einneuer Vorwand ergab sich aus einer Erhöhung der Abgaben auf dem von Nepal eingeführten Salz und einerMeinungsverschiedenheit über die Qualität dieses Produkts.Jetzt hielt der Intrigant Cha-Mar-Pa die Gelegenheit für eineIntervention für günstig. Er stachelte die Habgier der Gurkhasauf, indem er ihnen die Reichtümer Tibets mit seinemUntergrund voller kostbarer Metalle und seinen mitwunderbaren Dingen vollgestopften Klöstern vorspiegelte. Daswaren für die Krieger des nepalesischen Königs Gründe genug,

um im April 1790 über die Himalaja-Pässe in Tibeteinzudringen. Sie trieben die tibetischen Truppen und das kleinechinesische Kontingent zurück, besetzten Nyalam, Zhongba,Kyirong und machten schließlich in Chekar-Dzong halt,halbwegs zwischen der Grenze und Lhasa. In der Hauptstadtherrschte ein wahres Durcheinander. Die beiden Amban und derchinesische General Pa-Chung, der das kleine Kontingentkommandierte, wollten sich ihrer Verantwortung entledigen,

bevor der Kaiser über die Lage unterrichtet wurde. Sie drängtendie Tibeter zu Verhandlungen, wobei sie den nepalesischenEindringlingen eine für sie vorteilhafte Lösung versprachen. DieGespräche fanden in Kyirong zwischen einem der Kalön ausLhasa und den Gurkhas statt, deren Delegation auch der

  jämmerliche Cha-Mar-Pa angehörte. Die Nepalesen stelltenenorme Forderungen, worunter die Abtretung der erobertenGebiete. Die Tibeter lehnten ab und erklärten sich schließlich zu

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einem jährlichen Tribut von fünfzigtausend Rupien (oderfünfzehntausend chinesischen Tael) bereit. General Pa-Chungkonnte einen triumphierenden Bericht über die Ereignisse nach

Peking schicken, worin er versicherte, daß er nicht eineneinzigen Soldaten verloren habe, und hinzufügte, die Gurkhaswürden sich persönlich in Peking für ihren Überfall auf Tibetentschuldigen. Als aber der Kaiser die Wahrheit über dieseVerhandlungen erfuhr, blieb dem General nichts anderes übrig,als seinem Leben selbst ein Ende zu setzen, indem er sichertränkte.

Der König von Nepal beschloß nach der Rückkehr seinersiegreichen Soldaten, eine Delegation nach Peking zu entsenden.Ch'ien Lung empfing sie und ließ, entsprechend derchinesischen Interpretation einer solchen Demarche, dem Königvon Nepal ein großartiges Gewand und eine Bestätigung seinerköniglichen Eigenschaften überbringen.

In Peking wie in Lhasa herrschte völlige Verwirrung. Dietibetische Regierung entrichtete zwar den ersten Jahrestribut,

verweigerte aber unter dem Vorwand, der Dalai Lama habe denVertrag nicht ratifiziert, weitere Zahlungen. Die wütendenNepalesen machten sich von neuem auf den Weg nach Tibet.1791 marschierte eine Armee von achtzehntausend Mann inRichtung Shigatse, das am 28. September eingenommen undzerstört wurde. Die Gurkhas nahmen sich vorerst Zeit, um dieBeute in ihr Land zu schaffen. Sie hatten einen chinesischenAbgesandten schonungslos mißhandelt, der einem Befehl desKaisers gemäß vor dem zweiten Überfall von ihnen verlangthatte, daß sie den Verräter Cha-Mar-Pa auslieferten, der alsUrheber der Unruhen betrachtet wurde. Dieser neue Verstoßgegen die kaiserliche Würde bedeutete das Ende aller Versuche,in Peking wie in Lhasa, die Tragweite des nepalesischen Einfallsherunterzuspielen. Am Mandschu-Hof verdächtigte man dieEngländer in Indien, die Gurkhas angestiftet zu haben, ein

Verdacht, der von den Amban und den Kalön noch genährt

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wurde, weil diese den diplomatischen Initiativen aus Shigatsezugunsten der Ausländer wenig abgewinnen konnten. Ch'ienLung beauftragte General Fu Kiang An mit der Operation.

Dieser brach mit fünftausend Soldaten auf, mobilisierte beimVormarsch zweitausend zusätzliche Steppenkrieger undergänzte seine Streitmacht mit den dreitausend Soldaten derregulären Garnison in Tibet; laut gewissen Historikern, vorallem G. Schulemann, soll die chinesischtibetische Armee überinsgesamt siebzigtausend Mann verfügt haben.

Der General war am 25. Dezember 1791 in Xiningaufgebrochen und schaffte den Marsch nach Lhasa in nurfünfzig Tagen. Dann nahm er sich Zeit für die Ausarbeitungeiner Strategie, die seinen Sieg sicherstellen würde. Zum erstenZusammenstoß mit den Gurkhas kam es im Mai 1792 bei Tingrizwischen Chekar-Dzong und Nyalam. Die besiegten Nepalesenzogen sich, verfolgt von den Chinesen und Tibetern, zurück. DieÜberquerung der Himalaja-Kette wurde für sie zu einer hartenPrüfung. Die Stürze in die Abgründe, als die Monsunregen aus

dem Süden einsetzten, waren mörderischer als die Kämpfe.Immerhin erreichten sie am 4. September 1792 Nuwakot, nureinen Tagesmarsch von Katmandu entfernt. Nach einemVersuch, bewaffnete Hilfe von den Briten zu erhalten, die aberder neue Gouverneur von Bengalen, Lord Cornwallis,verweigerte, blieb ihnen nichts anderes übrig, als zu verhandeln.Fu Kiang An, dessen Truppen sich weit von ihren Stützpunktenentfernt hatten, unter den klimatischen Bedingungen litten und

völlig erschöpft waren, stellte keine übermäßigen Forderungen.Die Nepalesen verzichteten auf die 1790 von den Tibeternerpreßten, aber vom Dalai Lama nicht anerkanntenKonzessionen und gaben alles zurück, was sie bei ihrenPlünderungen erbeutet hatten; sie ließen auch zwei Lamas frei,die sie gefangengenommen hatten. Der glücklose Cha-Mar-Pa,der die Nepalesen auf ihrem Rückzug begleitet hatte, nahm Gift,ob freiwillig oder gezwungenermaßen, bleibt offen; seine Leiche

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wurde den Chinesen übergeben. Der König von Nepal wardamit einverstanden, einen Tribut zu entrichten, der alle fünf Jahre von einer Delegation nach Peking zu bringen war. Der

Vertrag, dessen Wortlaut altem Brauch gemäß auf einer inLhasa errichteten Stele eingraviert wurde, regelte in allenEinzelheiten die Liste der Abgesandten, die Geschenke für denDalai Lama und den Kaiser und ebenso den Hin- und denRückweg der Delegation.

In seiner Geschichte Nepals berichtet Sylvain Lévi, die Ehre,die Reise nach Peking unternehmen zu dürfen, sei bei denGurkha-Beamten sehr begehrt gewesen, weil sich damit einprivater Schleichhandel betreiben ließ; während derachtzehnmonatigen Reise wurden die Kosten für Unterkunft undVerpflegung von der chinesischen Staatskasse getragen, und dasgesamte von den Delegierten mitgeführte Gepäck war von denAbgaben bei der Ein- und Ausreise befreit. Umgekehrt mußtensich die Abgesandten, wie schon die nepalesischen Händler zurZeit von Narasimha Malla, des Königs von Patan um 1650, bei

ihrer Rückkehr Reinigungsriten unterziehen, damit sie wieder zuihrer Kaste zugelassen waren.

Dieser Vertrag wurde mehr als ein Jahrhundert langrespektiert: Die letzte nepalesische Delegation traf 1908 inPeking ein.

Alle diese Ereignisse veranlaßten Ch'ien Lung, sich nochstärker in die tibetischen Angelegenheiten einzumischen. Er

befahl zunächst die Bestrafung derer, die ihm falsche Berichteabgegeben hatten. Wie wir schon gesehen haben, kam GeneralPa-Chung seinem Schicksal zuvor, indem er Selbstmord beging.Die Familie des Verräters Cha-Mar-Pa mußte alle ihr Güterabtreten, die eine Hälfte wurde den Klöstern gegeben, die anderevon den Chinesen konfisziert. Die in die Verschwörungverwickelten Verwandten wurden nach Peking gebracht undenthauptet. Vor allem lag aber dem Kaiser an einer

grundsätzlichen Reform der Institutionen. General Fu Kiang An,

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der den Auftrag erhalten hatte, Vorschläge in diesem Sinne zuunterbreiten, und der schon den Umständen entsprechend inNepal scharf durchgegriffen hatte, setzte auch in Tibet radikale

Maßnahmen durch. Von jetzt an erhielten die kaiserlichenRepräsentanten, die zudem nach strengeren Kriterien als früherausgewählt wurden, die Kompetenz, in allen administrativenAngelegenheiten Entscheidungen zu fällen, freilich imEinverständnis mit dem Dalai Lama und dem Panchen Lama.Alle tibetischen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, obLaien oder Mönche, hatten die wichtigeren Fragen,beispielsweise rechtliche und finanzielle, aber auch personelle

Vorschläge für höhere Staatsämter, den Amban vorzulegen.Diese waren auch für die Verteidigung, die Finanzkontrolle unddie Steuern, den Handel und natürlich auch die Beziehungenzum Ausland verantwortlich. Um dieMeinungsverschiedenheiten über Handel und Geldtransaktionenzu beenden, welche die Ursache für den Krieg mit Nepalgewesen waren, wurde in Lhasa eine Art Münzen-

Emissionsinstitut gegründet, das eigene Geldstücke prägte.Die wichtigste Veränderung betraf jedoch die Vorschriften fürdie Auswahl der kirchlichen Würdenträger. An den Regeln,welche die buddhistische Schule für die Auffindung derReinkarnationen der wichtigen Lamas und die Prüfung ihrerEchtheit aufgestellt hatte, war im Laufe der Zeit einigesmanipuliert worden. Man hatte den Eindruck, unterwunderbaren Umständen geborene Kinder würden fast

ausschließlich und immer häufiger bei einigen einflußreichenund begüterten Familien gefunden. War nicht schon der vierteDalai Lama, allem Anschein nach aus Gründen politischerOpportunität, in einer mongolischen Fürstenfamilie entdecktworden? Eine solche Verfälschung des ursprünglichen Ritualsmußte Mißbräuche geradezu fördern: Die Tendenz, gewisseTitel erblich zu machen, hatte zur Folge, daß inkompetente undunwürdige Männer in wichtige Ämter eingesetzt worden waren;

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daraus waren Rivalitäten entstanden, die nicht mehr durch dasPrinzip der Respektierung der kosmischen und religiösenOrdnung beigelegt werden konnten.

Um derartigen Mißbräuchen in der religiösen Hierarchie dermongolischen Völker einen Riegel zu schieben, hatte Ch'ienLung schon 1754 verfügt, daß zwischen den zuvor ausgewähltenKandidaten das Los zu entscheiden habe.

In einem sehr ausführlichen Erlaß hatte er minutiös dasVerfahren festgelegt, um jedes Risiko eines Betrugsauszuschalten. Die Gründe für den kaiserlichen Text, der 1793

für Tibet ausgearbeitet worden war, werden dargelegt; dasDokument zeugt von hohem juristischem und philosophischemSachverstand:

Der Dalai Lama und der Panchen Lama sind die höchstenJünger von Tsongkhapa. Sie waren während Jahrhunderten dieOberhäupter der Schule der »Gelbmützen« und werden von denMongolen und Tibetern tief verehrt. In jüngster Zeit waren dieMethoden für die Auffindung ihrer Reinkarnationen nicht sehr

glücklich, was ihr geistliches Ansehen geschwächt hat. Mehrnoch, persönliche Bevorzugungen hatten zur Folge, daßAngehörigen der Khan-, Fürsten- und Herzogsfamilien religiöseÄmter zugesprochen wurden, die bloß noch erbliche Pfründensind. Das buddhistische Gesetz anerkennt keine derartigenGrundsätze.

Anschließend zitiert der Kaiser zwei Beispiele, zunächst Cha-

Mar-Pa, der das Amt und die Macht des Panchen Lama ausEigennutz an sich gerissen und die Auseinandersetzungen mitden Gurkhas ausgelöst hatte, und anschließend den Sohn einesKalön, der zur Reinkarnation eines Lama erklärt worden war.

Als Schutzherr der Schule der »Gelbmützen« und aus demWunsch heraus, solche seit zu langer Zeit geduldetenMißbräuche zu unterbinden, haben Wir eine goldene Urneanfertigen lassen und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens

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bestimmt, die sie nach Lhasa begleiten und im Tempel vonJokhang aufstellen sollen. Wenn sich, wie es Brauch ist, derDalai Lama, der Panchen Lama oder ein anderer bedeutender

Lama (Hutuketu bei den Mongolen) reinkarniert, so soll eineAuswahl unter den Kindern vorgenommen werden, bei denensich Anzeichen dieser Reinkarnation zeigen; die Namen und dieGeburtsdaten aller dieser Kinder werden auf Täfelchenaufgeschrieben und in die Urne gelegt. Eine Woche lang werdenreligiöse Feiern abgehalten. Dann wird in Gegenwart der Ambanein Täfelchen aus der Urne herausgenommen und allenAnwesenden öffentlich gezeigt; das so bestimmte Kind soll die

Reinkarnation sein.Da es immer verführerisch ist, Vergleiche anzustellen und

Analogien zu suchen, sei hier auf Kaiser Otto den Großenhingewiesen; er hatte in seinem Reich Regeln für die Ernennungder Bischöfe aufgestellt; und als er nach Rom gerufen wurde,um dort Ordnung zu schaffen, bestätigte er zwar den Landbesitzund die weltlichen Vollmachten des Papsttums, aber er

bestimmte auch, daß die Päpste erst nach der Genehmigung derWahl durch den Kaiser geweiht werden dürfen, womit er diekirchlichen Oberhäupter unter die Schutzherrschaft desrömischdeutschen Reiches stellte.

Interventionen im militärischen, politischen und religiösenBereich: Die Chinesen griffen gründlich in die tibetischenAngelegenheiten ein. Wie Hugh E. Richardson, Diplomat undTibetologe, anmerkt, hatte nach dem Mongolen Kublai Khanabermals ein nichtchinesischer Kaiser enge Beziehungen mitTibet geknüpft. Verstanden die Dynastien am Rande deschinesischen Reiches die Steppenvölker und die Menschen auf den Hochebenen Zentralasiens besser als die aus dem Volk derHan hervorgegangenen Kaiser? Hatten sie offenere Augen fürdie Probleme, die durch die Expansion anderer Mächte, durchdie Umkehrung der früheren Wanderungen von Osten nach

Westen, durch das Auftreten von menschlichen Gesellschaften,

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buddhistischen Schule. Dabei muß man, wie H. Stoddard betont,zurückgreifen auf die für den tibetischen Buddhismuskennzeichnende Auffassung, wonach der Lama, als geistlicher

Priester und Verkörperung des Buddha, die höchste Autoritätdarstellt. Der weltliche Schutzherr wird, immer unter diesemtibetischen Gesichtspunkt gesehen, tiefer eingestuft, und zwarselbst wenn es sich um einen Kaiser handelt. Der Schutzherrkommt für die materiellen Bedürfnisse des Kirchenmannes auf -Bau und Unterhalt der Klöster, Beiträge an die Gemeinschaftender Mönche, Reiseunkosten des Meisters, wenn nötigmilitärische Verteidigung usw. -, während der Kirchenmann für

die geistlichen Anliegen seines Schutzherrn zuständig ist:Belehrung, Amtseinführung, Rituale, Bestattung usw. DieVerkoppelung dieser Rolle mit der des politischen Gouverneursin kaiserlichem Auftrag [...] hat den Frieden und die Sicherheitim Hochland mehr oder weniger gewährleistet, ohne daß dieReichsoberhäupter schwere Lasten für militärische Ausgabenauf sich nehmen mußten. Indem die tibetischen Lamas die

geistlichen Meister anderer Völker in Zentralasien wurden,nahm die Gefahr einer Bedrohung durch diese Nomadengleichzeitig ab. In einem derart feindseligen und großen Gebieterwies sich diese Institution als bestens angepaßt. Diepolitischen Historiker haben die Neigung, dieses System vonseiner rein utilitaristischen Funktion her zu beurteilen. DieseInterpretation ist nur teilweise richtig. Eine komplexeVermengung von Wertsystemen mit subtil organisierten

Kulturen, die allen die eigene Würde bewahrt, wird auf dieseWeise zu einfach interpretiert. Hing aber diese Politik nicht auchmit einer wirklichen Sympathie dieser Völker füreinanderzusammen, die von der anderen Seite der Großen Mauerstammten? Hätte eine bloß kalkulierte politische Haltung vom13. bis ins 20. Jahrhundert Bestand haben können?

Alles ist darin enthalten, die geistlichen Gegebenheiten wieauch die geographischen und materiellen Zwänge. Auf 

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chinesischer Seite wissen die von außen gekommenenDynastien, Mongolen wie Mandschu, und ihre einemvorsichtigen Konservatismus zuneigenden chinesischen Minister

um die Grenzen ihrer Möglichkeiten. Ein militärischer Feldzugmit einem klaren Ziel ist das eine, eine dauerhafte Besetzung,eine eigentliche Kolonisierung, etwas ganz anderes. Schon im18. Jahrhundert war die Versetzung nach Tibet für chinesischeBeamte und Militärs keine beliebte Pfründe, und das gilt bisheute. Man mußte einen Anreiz dafür schaffen, und sogar derKommunismus kam nicht um einen Kompromiß mit seinenAgenten herum; Sprache und Klima waren und sind ernsthafte

Hindernisse für die Chinesen; wenige von ihnen verstanden -oder verstehen heute - tibetisch. Das erklärt zu einemerheblichen Teil, wie schwierig es für die kaiserliche Macht war,fähige Repräsentanten für die Ämter des Amban oder einesBeamten für die »Angelegenheiten der Eingeborenen« zufinden.

Für die Tibeter ihrerseits bestanden zwar Beziehungen zum

Mandschu-Reich, nicht aber zu China. Die ständige Präsenzkaiserlicher Beamter und Ratgeber und deren Eingriffe intibetische Belange irritierten auf die Länge die religiösen undweltlichen Würdenträger. Dabei war man sich aber auchbewußt, daß im Notfall nur der Schutz durch chinesischesMilitär die Lücken in den tibetischen Streitkräften füllen konnte.Wie wir noch sehen werden, entschied sich erst der dreizehnteDalai Lama für eine Verteidigungspolitik, die sich auf eine

eigene Berufsarmee stützt.Die Zufallswahl mit der silbernen Urne hat den Lauf der

tibetischen Geschichte nicht behindert. Sie wurde nur dreimalund unter Umständen angewandt, die nicht ganz dem Willennach Unparteilichkeit des Kaisers entsprachen; überdies konntendie drei so bestimmten Dalai Lamas, der zehnte, der elfte undder zwölfte, ihre Herrschaft nicht wirklich antreten, weil sie vor

Erreichung der Volljährigkeit starben.

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Die chinesischen Besatzungstruppen stießen, obwohl vonguten Absichten erfüllt, in den tibetischen Kreisen auf Widerstand und sogar Feindseligkeit. Wirkliche Erfolge waren

weder von ihrer Zahl noch von der eigentlich notwendigenKontinuität ihrer Repräsentanten und ihres politischenProgramms her gesehen denkbar. Ein Musterbeispiel für denUnterschied zwischen einer von außen verfügtenReglementierung und ihrer Anwendung ist der Pocken-Erlaßvon 1794. Ausnahmsweise war der Amban, Ho-Lin, eine fähigePersönlichkeit, und er stand auch dem Kaiser sehr nahe; daß inseinen beiden Amtsjahren, von 1792 bis 1794, etwas historisch

Bedeutsames und Wichtiges geschah, ist ausschließlich seinVerdienst. Er übertrug den Willen seines Kaisers mit wacherIntelligenz auf Tibet und zeigte, wie wir noch sehen werden,sehr viel Sinn für Verantwortung wie auch Interesse an den vonihm regierten Menschen.

Die Pocken waren schon immer eine gefürchtete Geißel derTibeter gewesen; der jetzige Dalai Lama hält in seinen

Kindheitserinnerungen fest, daß diese endemische Krankheitnoch immer eine dauernde Gefahr darstellte, als er im Alter vonzehn Jahren geimpft wurde. Die Kranken und ihre Familienwurden ohne Pflege und ohne Nahrung aus den Städten undDörfern ausgeschafft. Der Amban Ho-Lin äußerte Betroffenheit.Er veröffentlichte den Gebräuchen des Landes entsprechendeinen Erlaß und ließ diesen in eine Stele an der Hauptstrasse inLhasa eingravieren.63 Bei der Darstellung der Hintergründe

erinnert er an die Aufnahme von Beziehungen zwischen Chinaund Tibet unter der Herrschaft des Kaisers T'ai Tsung (Taizong),er beklagt auch die den Praktiken der Tangüt-Mongolennachgeahmte Behandlung der an Pocken erkrankten Personenund kommt zum Schluß, diese Verhältnisse seien »zutiefstbedauerlich«. Den Anweisungen des Kaisers entsprechend, fährtHo-Lin fort, »habe ich angeordnet, daß in einem Tal Häuser fürdie Aufnahme der Kranken gebaut werden. Ich habe Gelder

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zusammengetragen und chinesische und tibetische Soldatenhingesandt, damit sie darüber wachen, daß die Krankengenügend Nahrung erhalten, und einen Friedhof für eine

würdige Bestattung der Toten einrichten.«Diese großherzige Aktion scheint keine Folgen gehabt zu

haben: In seinem Bericht erzählt Pater Huc ein halbesJahrhundert später, daß man die an Pocken erkrankten Personennoch immer gleich behandelte, sie wurden aus der Gemeinschaftverbannt, was einem Todesurteil gleichkam.

Ist das nicht ein Beweis dafür, wie fragwürdig Maßnahmen

sein können, wenn eine fremde Macht in einer gleichzeitigzögernden und schlecht vorbereiteten Umwelt Neuerungendurchzusetzen versucht? Das 20. Jahrhundert wird noch vieleBeispiele dafür liefern.

Ch'ien Lungs politische Anschauungen wirkten sich nochlange auf das Schicksal Chinas und der Völker in seinerUmgebung aus. Er hatte richtig vorausgesehen, daß sich Russenund Briten mit der Absicht trugen, Asien untereinander

aufzuteilen. Deshalb hatte er auch eingesehen, daß in den weitenRäumen jenseits der Großen Mauer ein Verteidigungsdispositivaufgebaut werden mußte. Am Neujahrstag 1795 dankte er nachsechzigjähriger Herrschaft ab. Er starb 1799, nachdem er dieverbleibenden Jahre ganz der einsamen Meditation gewidmethatte.

In Lhasa hatte der achte Dalai Lama die inneren und äußeren

Ereignisse miterlebt, ohne sich in ihre Verkettung und ihrenAblauf einbeziehen zu lassen. Er starb am 19. November 1804so zurückgezogen, wie er gelebt hatte.

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IX Lungtog Gyatso 1806-1815 

Der Name des Kindes, das am 20. Januar 1806 in DenmaThubten Chökor, einem Dorf in der Region Kham am Oberlauf des Yangtse Kiang, zur Welt gekommen war, wurde nicht ausder goldenen Urne des Kaisers Ch'ien Lung gezogen. Die Äbteder großen Klöster wählten es nach dem durch die Überlieferungfestgelegten Ritual aus. Bevor man es aber in den Potalabrachte, hielt man es für eine gute Politik, die Zustimmung deskaiserlichen Hofes einzuholen. Der Große Rat, dem der Mönch-Regent und die Kalön angehörten und in dem auch die beidenunvermeidlichen Amban mitzureden hatten, sandte eineschmeichelhafte Beschreibung des Kindes nach Peking. KaiserChia Ch'ing (1796-1820) begnügte sich mit dem Bericht seinerVertreter und erklärte, die Reinkarnation des Dalai Lama besitze

ohne Zweifel alle Zeichen seiner Eignung, womit die Wahldurch die religiöse und die staatliche tibetische Hierarchiesanktioniert war. Er beorderte einen Sondergesandten nachLhasa, mit Geschenken für den jungen Dalai Lama und einemAdelstitel ersten Ranges für dessen Vater mit dem Recht,Knöpfe aus Edelsteinen und eine Pfauenfeder tragen zu dürfen(die Weisungen der chinesischen Kaiser sind immer vollerpräziser Angaben und Einzelheiten). Der kaiserliche Abgesandte

hatte freilich auch den Auftrag, daran zu erinnern, daß dievorliegende Wahl nicht als Präzedenzfall gelten dürfe und daß inZukunft das System der Auslosung in der goldenen Urnerespektiert werden müsse. Sein Eifer ging so weit, daß er diekaiserliche Mahnung auf einen im Jokhang-Kloster aufgestelltenStein eingravieren ließ.

Am 10. November 1808 wurde das Kind im Potala

inthronisiert. Der Panchen Lama führte es mit dem Namen

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Lungtog Gyatso, »Ozean von Prophetien«, in sein Noviziat ein.

Da das Kind in jungen Jahren starb, sind nur bescheidenebiographische Daten vorhanden. Die meisten Historiker, so auch

Schulemann oder Rockhill, haben sich damit begnügt, denBericht von Thomas Manning zu zitieren, eines etwasexzentrischen britischen Arztes, der von 1806 bis 1817 Indienund China bereist hatte. Ihm war es gelungen, in einerVerkleidung, von der nur er selbst sich täuschen ließ, nachLhasa zu gelangen und dort mehrere Monate zu verbringen.64 Am 17. Dezember 1811 wurde ihm eine Audienz gewährt. Erstieg »etwa vierhundert Treppenstufen hinauf, zum einen TeilSteintritte, die in den Fels gehauen worden waren, zum anderenTeil Leitersprossen, die innerhalb des Potala von einemStockwerk zum anderen führen«, worauf er auf eine weitläufigeTerrasse mit Privatwohnungen gelangte. Manning fährt fort:

Der Dalai Lama nahm meine ganze Aufmerksamkeit inAnspruch. Der erst sieben [in Wirklichkeit fünf] Jahre alteKnabe benahm sich einfach und natürlich wie ein

wohlerzogenes fürstliches Kind; sein Gesicht war auf eineergreifende Art schön, und aus seinen Zügen ließ sich einfröhlicher Charakter herauslesen. Mit seinem Mund lächelte erfortwährend sehr freundlich, was seinem ganzen WesenHelligkeit verlieh. Von Zeit zu Zeit und besonders, wenn ermich ansah, verwandelte sich dieses Lächeln fast in ein zartesLachen; mein Bart und meine Brille amüsierten ihnoffensichtlich. Sobald wir uns auf den Kissen niedergesetzthatten, stellte uns der Lama Fragen, die wir uns anhörten unddann stehend beantworteten. Er fragte mich, ob ich nicht mitallzu vielen Schwierigkeiten zu kämpfen gehabt habe undwährend der Reise nicht zu vielen Schikanen ausgesetztgewesen sei; darauf antwortete ich, ohne zu zögern, ich hättezwar einige Unannehmlichkeiten erlebt, doch diese würden volldurch das Glück aufgewogen, welches mir das

Zusammentreffen mit ihm verschaffe. Meine Worte schienen

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dem Lama und seinem Gefolge zu gefallen.

Man darf annehmen, der Inhalt dieses Gesprächs mit einemfünfjährigen Kind sei wohl eher der Kunst des Dolmetschers als

der Reife des Fragestellers zu verdanken gewesen. Das giltinsbesondere für die Anspielungen auf Schikanen derVerwaltung, womit gewisse Praktiken von Beamten gemeintwaren, welche die Tibeter immer stärker schockierten.

In dieser Hinsicht widerspiegelt Mannings Bericht sehr genaudie Verhältnisse in Tibet während dieser von Kaiser Ch'ien Lungverfügten chinesischen Allgegenwart. Der chinesische Souverän

hatte seine Vertreter sorgfältig ausgewählt. Er sandte Ho-Lin,den Bruder seines bevorzugten Ratgebers, nach Lhasa. Dochschon bald wiederholten sich die früheren Irrtümer, glaubtManning:

Man erhält ganz allgemein den Eindruck, als seien die großenMandarine in Lhasa Halunken und Schurken. [...] Denn Lhasaist eine eher elende Stadt: Für die großen Mandarine bedeutetdie Entsendung in diese Gegend eine Art Verbannung, und wer

so behandelt wird, hat sich in den meisten Fällen einerVerfehlung schuldig gemacht. [...] Dieser systematische Einsatzvon Männern mit doppelter Moral, die Tibet regieren sollen, istfür meine Auffassung verabscheuungswürdig. Diese Politikmißfällt zweifellos dem Großlama und den Tibetern, sie scheintihre Voreingenommenheit gegen die chinesische Regierungnoch zu schüren. Wenn ich mich auf das verlasse, was ich

gesehen und gehört habe, so drängt sich mir die Vermutung auf,die Tibeter würden gerne und ohne großes Bedauern diesenchinesischen Einfluß abschütteln.

Als Beispiel für solches schändliches Verhalten, das sich diechinesischen Beamten bisweilen zuschulden kommen ließen,erwähnt Manning, was wir schon von früheren Perioden herwissen und was immer wieder Ursache von gefährlichenIrrtümern wurde: die ungenauen Berichte, die von den

chinesischen Vertretern in Lhasa nach Peking gesandt wurden

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und die immer darauf abzielten, die eigenen Verdiensteherauszustreichen und vorgekommene Zwischenfälleherunterzuspielen. Damit räumt Manning ein, der Kaiser sei für

eine Gerechtigkeit eingetreten, welche die Fehlerwiedergutmachen und die Schuldigen bestrafen sollte. Und es isttatsächlich dreimal vorgekommen, 1804, 1818 und 1825, daßPeking taktlose und in ihren Rechenschaftsberichten mit derWahrheit »großzügig« umgehende Amban, ohne vielFederlesens zu machen, zurückbeordert und abgesetzt hat.

Der britische Arzt war vom Besuch bei diesem Kind, das ineinem derart gefährlichen Umfeld eine so erhabene Aufgabe zuerfüllen hatte, erschüttert, denn er gesteht selbst: »Ich hättebeinahe geweint, so stark war mein Eindruck, als ich den Potalawieder verließ.«

Es war unübersehbar, daß die fremdländische Oberherrschaftin einer solchen aus mangelnder Kenntnis der komplexenSituation hervorgegangenen Atmosphäre der Angst Intrigengeradezu heraufbeschwören mußte.

Weshalb starb Lungtog Gyatso am 26. März 1815? DieHistoriker und die Neugierigen haben bis jetzt erst indirekteHinweise und Zeugnisse beibringen können. War es einVerbrechen? Pater Huc berichtet von Gerüchten, die nochdreißig Jahre nach dem Ereignis in Lhasa herumgeboten wurdenund die den Regenten beschuldigten, er habe durch kriminellesHandeln nicht weniger als drei Dalai Lamas beseitigt. Doch

Geschichte läßt sich nicht mit Gerede oder mit Anekdotenschreiben, die in den Klöstern bei Lehrveranstaltungenherumgeboten werden, und erst recht nicht, wenn man darandenkt, wie sehr die Tibeter dazu neigen, Legende undWirklichkeit miteinander zu vermengen. Der Regent, von dessenTaten und Untaten der Lazaristenpater berichtet, hat zudem seinAmt erst 1819 angetreten. Es stimmt zwar, daß er von seinemEhrgeiz dazu verleitet wurde, sich sogar um den Preis des

Lebens des zehnten Dalai Lama an der Macht zu halten, als

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dieser 1857 volljährig wurde. Das kann jedoch kaum für einneunjähriges Kind gelten. Wir halten uns deshalb an die Thesevon Wangchuk Deleg Shakabpa, des ersten Tibeters, den man

als politischen Historiker bezeichnen kann: Der kleine LungtogGyatso nahm, was zu seinen Amtspflichten gehörte, amMönlam, am Neujahrsfest, teil; dabei erkältete er sich, undeinige Wochen später starb er an einer Lungenentzündung.

Lassen wir auf dem Grab dieses unschuldigen Kindes, dem esnicht vergönnt war, das Licht des Wissens und derGlückseligkeit, das seine kleinen Hände aus dem Jenseitszurückgebracht hatten, an sein Volk weiterzugeben, diese Versezurück, die sein Vorgänger, der Dichter und sechste Dalai LamaJamyang Gyatso, geschrieben hat:

Liebhaber des Sees,

Möchte der Schwan auf ihm noch verweilen;

Eis hat die Wasser überdeckt,

Und der Schwan, klaglos,Fliegt fort.

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X Tsültrim Gyatso 1816-1837 

Kurz nach dem Tod des neunten Dalai Lama verwüstete einBrand das Kloster Samye, das älteste Kloster in Tibet. Erzerstörte den Tempel und die Bibliothek mit allen seltenenBüchern, die darin aufbewahrt wurden, insbesondere die inSanskrit verfaßten Schriften und zahlreiche Kunstwerke. Solltedas ein Vorzeichen dafür sein, daß Tibet eine Zeit schmerzlicherPrüfungen bevorstand?

Bei der Wahl der Reinkarnation des Dalai Lama lebte der alteStreit zwischen Lhasa und Peking wieder auf. Die Mönche dergroßen Klöster und die Mitglieder der Regierung waren nichtdarauf erpicht, die vom Kaiser aufgezwungene Methode derAuslosung anzuwenden. Sie vermochten einen der Amban fürsich zu gewinnen und gingen noch einmal gleich vor wie 1806.

Ein Bericht wurde nach Peking geschickt, worin als Nachfolgerdes neunten Dalai Lama ein in Lithang geborenes Kindvorgestellt wurde, das von den mit der Suche betrautenPersönlichkeiten als die echte Reinkarnation von Chenresi unddessen Nachfolgern identifiziert worden sei. Die kaiserlicheReaktion traf 1818 ein, und zwar in Form eines Befehls, daßman gemäß der vom verstorbenen Kaiser Ch'ien Lungerlassenen Verordnung vorzugehen habe, andernfalls mit einer

Bestrafung zu rechnen sei:»Vor aller Öffentlichkeit muß der Name des Kindes von

Lithang mit zwei anderen Namen zusammen in die Urne gelegtwerden. Die Täfelchen werden in Gegenwart des Volkes undzum Gesang von Gebeten herausgenommen.« Im Text wurdeder Regent in entschiedenem Ton ermahnt, keine weiterenUnruhen mehr anzuzetteln.

Die vorgeschriebene Zeremonie wurde erst am 6. Februar

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1822 veranstaltet. In Gegenwart zahlreicher Mönche und Laienund vor den Augen der beiden Amban wurde wie durch Zufallals erster Name der des jetzt bereits sechs Jahre alten Knaben

herausgezogen, den die Verantwortlichen im Dorf NastodNorbugron bei Lithang in der Region Kham entdeckt hatten. Fürdie religiöse Erziehung des am 25. April 1816 in einer sehrfrommen Familie des Kleinadels geborenen Kindes waren derMönch-Regent und vor allem, der Vorschrift entsprechend, dervierte Panchen Lama Tenpai Nyima zuständig. Das Kind erhieltden Namen Lobsang Tsültrim Gyatso: »Ozean von Sittlichkeit«;seine endgültigen Gelübde als Lama legte es erst am 15. März

1834 ab.Der zehnte Dalai Lama wird sich an der Ausübung der

weltlichen Macht nicht beteiligen. Von dieser Zeit an wirdbereits eine immer deutlichere Unterscheidung zwischen demreligiösen Bereich und der weltlichen Verwaltungvorgenommen. Man darf nicht von einer Laizisierung oder einerAufteilung der Kompetenzen sprechen. Auch hier wieder hängt

alles mehr von den Umständen und den Menschen als vominstitutionellen System ab, das mit mehr oder weniger Erfolgund Glück versucht, die Überlieferung und die Bestrebungen dertibetischen Gesellschaft auf der einen und die von denchinesischen Kaisern erlassenen Vorschriften auf der anderenSeite miteinander in Einklang zu bringen.

In Peking hatte die Herrschaft von Tao Kuang (1820-1850)unter nicht sehr günstigen Anzeichen begonnen. Die ihrenEinflußbereich ausweitenden westlichen Mächte verlangtenHandelsabkommen, die freilich nicht so sehr ausgehandelt,sondern erzwungen wurden; gegenseitiges Unverständnis führtezum traurigen Opiumkrieg von 1840 bis 1842. Dem Mandschu-Kaiser blieb wenig Zeit, um sich um die tibetischenAngelegenheiten zu kümmern; sein Mißtrauen, ja seineVerachtung für die Religionen, ob Christentum oder

Buddhismus, hielten ihn ohnehin davon ab. Und wirft man ihm

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der aber die von ihm bestimmten Kandidaten von den in Tibetresidierenden chinesischen Ministern bestätigen lassen muß.Faktisch hat sich die Gewohnheit eingebürgert, daß sich die

Regierung mit der mehr oder weniger durch Geld erkauftenZustimmung der Amban selbst erneuert. In den tieferenÄmterklassen bürgert es sich allmählich ein, daß die zuvergebenden Pfründen erblich werden. Doch immer braucht esauch das Einverständnis der Amban, in deren Kompetenz esfällt, die Ämter der dritten bis siebenten Klasse in der demchinesischen System nachgeahmten Hierarchie zu besetzen,während die obersten Grade der kaiserlichen Zustimmung

bedürfen.Die chinesischen Archive haben erstaunlich genaue Angaben

geliefert: über die zivilen und militärischen Beamten,chinesische wie tibetische, deren Befugnisse und sogar die ihnenallen von der chinesischen Staatskasse ausbezahlten Gehälter.Von 1841 an hat der Generalgouverneur von Szetschuan dieAufgabe, die Entschädigungen für die chinesischen Beamten

und die tibetischen Würdenträger zu regeln, zu denen auch derVater des Dalai Lama mit dem Titel eines Herzogs (Fu-Kuo-Fung) gehört. In den Anordnungen ist auch festgeschrieben, daßdie anderen Angehörigen der Familie des Dalai Lama wie auchdes Panchen Lama kein Recht auf eine offizielle Funktionhaben. Die Verteilung der Bestände der chinesischen Armee -insgesamt dreitausend Mann auf die verschiedenen Regionen istebenfalls minutiös festgelegt. Die residierenden Minister sind

verpflichtet, die Truppe jährlich zu inspizieren, und ihreRechenschaftsberichte darüber sind besonders detailliertabgefaßt; darin wird festgehalten, welche Belohnungen undStrafen verfügt wurden. Ebenso wird vermerkt, daß die Kostenfür diese Inspektionen zu gleichen Teilen von der chinesischenund der tibetischen Staatskasse getragen werden.

Die Steuern werden zum größten Teil in Naturalien erhoben:

Getreide, Wolle, Salz, Butter, Tee, Räucherstäbchen,

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Gyatso wurde Tibet das Opfer einer Aggression von Westen her.Der Maharadscha von Kaschmir, Gulab Singh, ließ 1834unvermittelt seine Truppen in Ladakh einmarschieren. Dieses

Königreich, in dem sich 1715 auch Pater Desideri aufgehaltenhatte, war nicht von Tibet abhängig, unterhielt aber engeBeziehungen zu Lhasa, ähnlich denen, die zwischen Tibet undBhutan bestanden. Die beiden Länder fühlten sich durch einegemeinsame Kultur und die buddhistische Religion miteinanderverbunden. Die kaschmirische Invasion bedeutete eine brutaleWende im zwischenstaatlichen Verhältnis, das sich unter dender Religion immer wohlgesinnten Monarchen eingespielt hatte.

Die von der Königsfamilie und dem Adel geförderten undunterstützten Klöster wurden von den Besatzungstruppen mitschweren Steuern belastet; so mußte allein das Kloster Hemis,das mit Hilfe des Königs Senge Namgyal errichtet worden war,den kaschmirischen Truppen zwölftausend Scheffel Getreide,siebzig Pferde und dreihundert Hilfskräfte zur Verfügungstellen. Viele Bewohner Ladakhs, Mönche und Bauern, flohen

damals nach Tibet, und als 1842 die kaschmirischen Truppenmit einem Einmarsch in Tibet drohten, waren Zusammenstößeunvermeidlich. Anscheinend vermochten die tibetischenTruppen damals aus eigener Kraft und ohne Unterstützungdurch das chinesische Kontingent den feindlichen Vorstoßabzuwehren; was freilich den Amban Meng-Pao nicht daranhinderte, einen tendenziösen Bericht nach Peking zu schicken,worin er den Feldzug als seinen persönlichen Sieg darstellte, der

nur dank den von ihm angeblich erteilten geschickten Befehlenerrungen worden war. So sorgten die weit vom Kaiserhof entfernt ihre Aufgabe ausübenden chinesischen Kommissaredurch Eigenlob dafür, daß sie in der Öffentlichkeit bekanntwurden, womit sie die üble Nachrede und die Verleumdungenihrer Neider und Widersacher auszugleichen versuchten. SolcheVorsichtsmaßnahmen waren nicht ganz unnötig, wenn man andie unglücklichen kaiserlichen Beamten denkt, die für

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Maßnahmen bestraft worden waren, um welche sie insbesonderewährend des Opiumkrieges gegen die Engländer gar nichtherumgekommen waren. 1842 wurde ein Vertrag unterzeichnet,

der die Grenze genau festlegte und Kaschmir zu einem alle dreiJahre zu entrichtenden Tribut verpflichtete. Derartigediplomatische Praktiken waren zu dieser Zeit imzentralasiatischen Gebiet offensichtlich weit herum üblich undverbreitet.

Der Dalai Lama erlebte das Ende des Konflikts nicht mehr.Sein Tod am 30. September 1837 bleibt rätselhaft. Laut LucianoPetech soll eine lange Krankheit vorausgegangen sein. G.Schulemann weiß zu berichten, er sei erschlagen worden, als dieDecke seines Zimmers einstürzte, ein Unfall, der zweifellos vomRegenten veranlaßt worden war. Diese These wird auch vonHuc und Gäbet übernommen. Sie wird durch ein Memorandumdes chinesischen Außenministers bestätigt, das am 7. September1977 von der Pekinger Zeitung veröffentlicht wurde. In diesemDokument wird eine Wunde erwähnt, die damals am Hals von

Tsültrim Gyatso festgestellt worden war; zusätzlich wird darauf verwiesen, daß die Amban und der Panchen Lama, welche dieAffäre untersucht hatten, den Regenten einer aktivenKomplizenschaft und nicht nur einer Vernachlässigung desZimmerunterhalts im Potala verdächtigt hatten. Im erwähntenMemorandum wird jedoch nicht behauptet, die festgestellteWunde sei die Todesursache gewesen.

Tsültrim Gyatso ist nur einundzwanzig Jahre alt geworden;seine religiöse Ausbildung war noch nicht abgeschlossen, undseine Biographen sind äußerst zurückhaltend. Man weißimmerhin, daß er Kontakte zu den kleinen Leuten in Lhasasolchen mit seiner aristokratischen Umgebung vorzog. Über daswirkliche Alltagsleben war er deshalb so gut informiert, daß ereines Tages den Regenten und die Mitglieder seiner Regierungmit harten Worten ermahnte: »Ihr behauptet, ihr würdet

Verbesserungen einführen, doch die Lebensbedingungen meiner

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Untertanen verschlechtern sich.« Man könnte auf den Gedankenverfallen, er sei das Opfer einer Intrige der Konservativengeworden.

In den aus seiner dichterischen Inspiration hervorgegangenenAhnungen hatte der sechste Dalai Lama, Jamyang Gyatso, schongespürt, daß Gewaltlosigkeit, selbst wenn sie das Ideal einesganzen Volkes und seiner Philosophie verkörpert, nicht vormenschlichen Begierden schützt:

Jeder beliebige Hund

Läßt sich mit Fleisch und Brot zähmen;Doch die Tigerin in ihrer Höhle,

Selbst wenn man meint, sie sei zahm,

Richtet sich verräterisch auf 

Und sträubt ihre Haare.

Der Dichter hat kein Grab erhalten. Und 1837, als diesterbliche Hülle des zehnten Dalai Lama beigesetzt wurde, standder Nekropole im Potala noch ein drittes Grab bevor, dessenGeheimnis nicht gelüftet worden ist.

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Lazaristenpaters wird ausführlich und amüsant, aber auchlehrreich über die besonderen Merkmale und Eigenschaften dervier Arten von Argol berichtet, welche die verschiedenen

Pflanzenfresser in den Steppen produzieren. Der Mann hatte dreiSöhne; der Zweitälteste war der künftige Dalai Lama, der

 jüngste wurde 1848, als sich die Familie in den Machtzentralender Hauptstadt fest installiert hatte, ebenfalls als Reinkarnationdes Abtes eines Klosters anerkannt, dessen Leitung erzusammen mit den damit verbundenen Einkünften übernahm.

Die Zeremonie mit der goldenen Urne, auch jetzt wiederbloße symbolische Formalität, fand am 8. September 1841 inGegenwart des Sondergesandten des Kaisers, ChangkyaHutuketu, statt, der nach seiner Rückkehr in Peking einenBericht voller Lob über den Charakter und die Intelligenz des

  jungen Lama verfaßte. Dessen Vater, Kongtse Tseten Döndrub(1809-1860), wurde am 10. Oktober desselben Jahres der Titeleines Herzogs zugesprochen, zusammen mit dem Recht auf Korallenknöpfe und die Pfauenfeder, die das chinesische

Protokoll als äußerliche Insignien vorsieht. Der vierte PanchenLama, Tenpai Nyima, kümmerte sich um die Ausbildung deskünftigen religiösen Oberhauptes, wie er es schon beim zehntenDalai Lama getan hatte. Er gab dem Kind den Namen LobsangKedrub Gyatso: »Ozean von Wissen und geistlicherVollendung«, und ließ es im Mai 1842 im Potala inthronisieren.

Der Regent, Samadhi Bakshi, hatte noch lange Jahre vor sich,bevor er die Macht an den neuen Souverän hätte abtretenmüssen. Er neigte aber bei seinen Vorrechten zur Übertreibung,was zu seinem Untergang führte. Vorerst genoß er aber, wie seinVorgänger, noch das Vertrauen des Kaiserhofes, der von denBerichten der beiden Amban, die keinerlei Hinweise auf ungewöhnliche Vorkommnisse enthielten, geblendet wurde. DerRegent hatte die ihm gewährte Gunst genutzt, um beim Kaiserzu erreichen, daß der durch die vielen Geschenke erheblich

belastete Austausch von Delegationen zwischen Lhasa und

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Peking nur mehr alle drei Jahre stattfand, weil während derlangen Reise die Gefahr von Raubüberfallen bestand. Bei derRückkehr der schwer beladenen Karawane konnten sich

übrigens die beiden Lazaristenpatres Huc und Gäbet 1845 derKolonne anschließen und ungefährdet nach Lhasa gelangen.

Als sie dort ankamen, war in der Hauptstadt eben geradewieder Ruhe eingekehrt. Der Machtmißbrauch des Regentenhatte eine eigentliche Revolution heraufbeschworen. Macht imDienste der Habgier hatte einen Diktator hervorgebracht, derauch vor Verbrechen nicht mehr zurückschreckte. Es war einebezeichnende Kleinigkeit, die das Faß der Volksgeduld zumÜberlaufen brachte: Der Regent beanspruchte für seine Gängeeine Sänfte mit einem Baldachin, ein Privileg, das nur demDalai Lama und dem Panchen Lama zustand. Die vier Kalönund die Äbte von Ganden und Drepung beschlossenunverzüglich, sich mit einer Bittschrift an den chinesischenKaiser zu wenden; sie forderten den Schirmherrn zu einerIntervention auf, bevor die Volkswut ausbreche. Tao Kuang

betraute einen Mann mit großen Verdiensten, Ki Chan, mit derAufgabe, die Ordnung wiederherzustellen. Dieser Tataren-Mandschu hatte seine Karriere als Gerichtsschreiber in Pekingbegonnen; nachdem er weitere Stufen in der Beamten-Hierarchie erklommen hatte, wurde er als Gouverneur in dieProvinz Honan (Henan) entsandt; später wurde er als einer deracht persönlichen Berater des Kaisers in die Hauptstadtzurückbeordert. 1839 begab er sich als bevollmächtigter

kaiserlicher Kommissar nach Kanton, um mit den Engländern zuverhandeln. Seine diplomatischen Bemühungen führten zurKonvention vom 30. Januar 1841, die von Kapitän Elliotunterzeichnet, aber sowohl von London als auch von Pekingabgelehnt wurde. Ki Chan fiel beim Kaiser, der weder mit derBezahlung einer Entschädigung noch mit der Abtretung vonHongkong einverstanden war, in Ungnade; sein Vermögenwurde konfisziert. Doch schon 1844 wurde dieser

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außergewöhnliche Staatsdiener vom Kaiser mit der erwähntenneuen Aufgabe betraut.

Die Angelegenheit wurde zügig erledigt. Nach einer raschen

Untersuchung ließ der neue Amban den Regenten verhaften undeinige seiner Diener foltern, um Geständnisse für eine Anklagezu erpressen. Das Kloster Sera, das von der Großzügigkeit desRegenten profitiert hatte, entschloß sich zu einem Protest, derfast zu einer bewaffneten Erhebung ausartete: Zwei derangeklagten Kalön wurden verletzt. Eine militärischeMachtdemonstration der chinesischen und der tibetischenStreitkräfte in der Umgebung des Klosters genügte, um den Mutder Mönche zu dämpfen. Der Regent wurde in einemandschurische Siedlung am Ufer des Amur ins Exil geschickt.Der Panchen Lama übte während acht Jahren, bis 1845 ein neuerAmtsinhaber, Yeshe Rating, ernannt wurde, die Regentschaftaus. Der alte Weise aus Tashilhunpo verfolgte jedoch dieFührung der öffentlichen Angelegenheiten mit wachsamenAugen. Einige Jahre lang funktionierte die tibetische

Verwaltung auf gewohnte Weise. Nach dem Regenten kam anzweiter Stelle der Ministerrat, der Kashag, mit den vier Kalön.Sie standen einer Beamtenschaft von hundertfünfundsiebzigMönchen und hundertfünfundsiebzig Laien vor, was derTibetologe L. Petech als »Partnerschaft zwischen Klerus undAdel« bezeichnet. In den Distrikten - insgesamt zweiundfünfzigDistrikte, hinzu kam das Gebiet, das die Mönche des KlostersSakya verwalteten, das eine Sonderstellung einnahm - übte ein

Gouverneur (Depa) die Zivil- und die Strafgerichtsbarkeit aus;er hatte auch die Steuern einzuziehen. Diese Ämter wurden mitder Zeit erblich, worauf die Amtsinhaber immer häufiger inLhasa residierten und sich in ihren Distrikten von einemIntendanten vertreten ließen.

Nach den Beobachtungen der Patres Huc und Gäbet war dasVerhältnis zwischen den Tibetern und der chinesischen Kolonie

nicht ungetrübt. Zumindest in einem Punkt scheinen jedoch die

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Meinungen der beiden einander nicht unbedingt wohlgesinntenGemeinschaften übereingestimmt zu haben: im Mißtrauengegenüber den Ausländern. Vielleicht liegt der Haltung des

Regenten Yeshe Rating den beiden Lazaristenpatres gegenüberund seinen zwiespältigen Aussagen eine vorsichtigeDoppelzüngigkeit zugrunde. Ihre Bitte um eine Audienz beimerst sieben Jahre alten Dalai Lama wurde unter dem Vorwand,sie könnten das Kind mit den gefürchteten Pocken infizieren,höflich abgelehnt.

Der englische Druck auf China beunruhigte die Tibeter, diesich Sorgen über die von neuem von Nepal her bedrohteSicherheit an ihrer Südgrenze machten. Wie Hugh E.Richardson schreibt: »Die Tibeter ziehen das nicht sehr schwerzu ertragende Joch ihres eher machtlosen Lehensherrn denGefahren vor, die offizielle Beziehungen zu denunternehmungslustigen britischen Nachbarn in sich bergenkönnten.« Und als der Amban Ki Chan die beiden Missionarezwang, auf ihrer Reise nach Kalkutta den langen Weg durch

China anstatt des viel kürzeren über den Himalaja zu wählen,hatten die tibetischen Behörden keinerlei Einwände gegen dieAnordnung des chinesischen Repräsentanten vorzubringen.

1854 starb der Panchen Lama Tenpai Nyima im Alter vonachtzig Jahren. Er hatte vier Dalai Lamas gekannt, zwei Kriegemit Nachbarländern miterlebt und geschickt mehrere Unruhen inder Bevölkerung und die anschließenden Reibereien mit demMandschu-Hof in Peking hinter sich gebracht. Hsien Fong, dereinige Jahre zuvor Tao Kuang abgelöst hatte, schickte einBeileidsschreiben und einen Beitrag an dieBegräbnisfeierlichkeiten nach Lhasa und gab seine Zustimmungzur Wahl eines Nachfolgers, die nach dem Verfahren mit dergoldenen Urne erfolgt war. Die fünfte Reinkarnation desPanchen Lama erhielt den Namen Chökyi Drakpa (1854-1882).

Der Regent Yeshe Rating organisierte am 1. März 1815 im

Potala die Inthronisationszeremonie für den elften Dalai Lama.

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Kedrub Gyatso erlebte das Ende des Krieges nicht. Er starbam 31. Januar 1856. Er war noch nicht einmal achtzehn Jahrealt, und die Ursachen seines Todes sind bis heute nicht

aufgeklärt worden.

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XII Trinle Gyatso 1856-1875 

Was sich innerhalb der Potala-Mauern abspielte, wurdeseltsamerweise im Laufe des 19. Jahrhunderts immerundurchsichtiger. Vom zwölften Dalai Lama ist noch wenigerals von allen anderen bekannt, die ihm vorausgegangen sind.Die chinesischen Geschichtsschreiber wurden angehalten, überdie für ihre Brotherren wichtigeren, das Reich hartdurcheinanderschüttelnden Ereignisse wie beispielsweise dieAufstände im Inneren oder den Einfall der »fremden Teufel« zuberichten. Laut W. W. Rockhill ist in der Zeit zwischen 1859und 1877 kein einziges chinesisches Dokument über dietibetischen Angelegenheiten veröffentlicht worden. Richardsonund Schulemann haben ebenfalls nichts gefunden, waserwähnenswert wäre. Erst die Untersuchungen von L. Petech

und W. D. Shakabpa haben einige Hinweise aus tibetischenQuellen gebracht, die noch nicht vollständig ausgeschöpft sind.

Der Regent Yeshe Rating, der sich zurückgezogen hatte, alsder elfte Dalai Lama den Wunsch nach Machtausübung äußerte,übernahm wieder seine Funktionen, und zwar zur Befriedigungsowohl des chinesischen Mandschu-Kaiserhofes als auch derTibeter, Mönche wie Laien. Er ordnete persönlich an, daß dieReinkarnation des Dalai Lama gesucht wurde, und verfolgte

diese Bemühungen aufmerksam und unparteiisch. Es sieht soaus, als sei das System der Auslosung dieses einzige Mal ohnevorhergehende Manipulationen angewandt worden. DieZeremonie fand am 26. Februar 1858 statt. Drei Kandidatenstanden zur Auswahl. Als erster Name wurde der eines am 25.Dezember 1856 geborenen Kindes von bescheidener Herkunftaus der goldenen Urne gezogen; sein Vater hieß Puntsog

Tsewang; der elfte Dalai Lama soll eines Tages in Gegenwart

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von Gläubigen, die er zu einer Audienz empfangen hatte, auf eine einfache Frau aus dem Volke gezeigt und sie als diekünftige Mutter der Reinkarnation Avalokiteshvaras bezeichnet

haben.Zu dieser Zeit war der Panchen Lama Chökyi Drakpa selbst

noch ein vierjähriges Kind. Der Regent gab deshalb dem neuenDalai Lama seinen Namen: Lobsang Trinle Gyatso, »Ozean vonBuddhas Werken«, und er leitete am 19. August 1860 im Potalaauch die feierliche Inthronisationszeremonie.

»Unglück trifft die Stadt, deren Fürst ein Kind ist!« Einmal

mehr waren schwächliche Hände mit einer Macht ausgestattetworden, die sich nicht einmal mehr auf den kaiserlichen Schutzstützen konnte, da er sich immer weiter entfernte.

Dem zwischen den einzelnen Regierungsinstitutionenbestehenden Gleichgewicht setzten vielerlei Intrigen zu, beidenen nicht mehr philosophische oder gesellschaftlicheAuffassungen aufeinanderprallten, sondern höchst ordinäreEigeninteressen. Der Regent Yeshe Rating beschuldigte einen

der vier Kalön, Gyalpo Shatra, der ungerechten Lastenverteilung- es ging um Getreide, das, wie wir gesehen haben, einenwichtigen Teil der fiskalischen Einnahmen des tibetischenStaates ausmachte - und ließ ihn verhaften. Um die Vorwürfe zuuntermauern, wurde die Beschuldigung um den Vorwurf unmoralischen Verhaltens und verdächtiger Beziehungen zuNepal verschärft, dessen Nachbarschaft noch immer Anlaß zu

Befürchtungen war. Der Regent hatte die vielfältigenBeziehungen des von ihm ins Visier genommenen Gegnersunterschätzt. An der Affäre der Subventionen für das Klosterwar zweifellos etwas Wahres, denn dem Schatzmeister vonDrepung gelang es, seine Mitbrüder zu mobilisieren und fürGyalpo Shatra die Freiheit zurückzugewinnen. Dieserproklamierte sich selbst sogleich zwar nicht zum Regenten (eineFunktion, die im Prinzip nur für die Zeit der Minderjährigkeit

des Dalai Lama geschaffen worden war), aber zum

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Premierminister. Zum Kalön ernannte er seinen Komplizen, denSchatzmeister des Klosters, Palden Döndrup. Die Situation hattesich gekehrt: Jetzt wurde der Regent seinerseits wegen

Veruntreuung verfolgt und insbesondere angeklagt, er habedienstbeflissen dem chinesischen Willen nachgegeben, indemer, wie bereits erwähnt, die Wahl des Dalai Lama nach demaufgezwungenen Verfahren mit der goldenen Urne durchgeführthabe. Der tibetische Nationalismus wurde offensichtlich zueinem Argument, mit dem sich nach Macht streben ließ.

Dem Regenten gelang es zu fliehen, in der Begleitung vonTashi Khangsar, jenes Ministers, der die tibetischen Streitkräftewährend der Kämpfe gegen die nepalesischen Gurkhaskommandiert hatte. Beide begaben sich nach Peking, wo sie vonChina Unterstützung forderten, um die Ordnung in Tibetwiederherzustellen. Der neue Kaiser, T'ung Cheh, hatte im Altervon fünf Jahren den Thron bestiegen, spielte aber nie diegeringste Rolle in Reichsangelegenheiten. Im allgemeinenwurde unter solchen Umständen die Regentschaft von einem

Prinzen ausgeübt, doch in diesem Falle waren alle, die dieseAufgabe hätten übernehmen können, in eine Reihe von Intrigenverwickelt, so daß es der Kaiserhof in Peking vorzog, zweiKonkubinen des verstorbenen Monarchen mit diesem Amt zubetrauen. Die eine gewann schon bald Oberhand über dieandere. Es war die berühmte Cixi (Ts'uhsi), geboren 1835, auseinem Mandschu-Stamm von hohem Rang.66 

Die hohen Mandschu-Mandarine, die mit dem Aufstand derMuslime im Westen und den territorialen und kommerziellenForderungen der Engländer und Franzosen im Osten vollauf beschäftigt waren, begnügten sich damit, dem tibetischenPremierminister unter dem Decknamen der beiden Amban einenBrief mit der Aufforderung zu schicken, dem Regentenwenigstens die konfiszierten Güter zurückzuerstatten. Daschinesische Schreiben wurde der Versammlung der hohen

Beamten und der Mönche von Drepung und Ganden vorgelegt.

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Um die Situation nicht noch mehr zu vergiften und vor allem umeine chinesische Einmischung zu verhindern, wurde dieRehabilitierung des Regenten beschlossen; dieser starb auf der

Rückreise, aber seine Familie erhielt ihren Besitz zurück.Gyalpo Shatra nahm die Staatsgeschäfte in seine Hand; er

dämmte insbesondere die Wirren ein, die im osttibetischenNyarong ausgebrochen waren, indem er einen Kommissardorthin entsandte, um die Arbeit der  Depa, der örtlichenDistriktsvorsteher, zu überprüfen. Als er am 25. September 1864starb, wurde sein Kollege und Freund Palden Döndrup derstarke Mann Tibets. Er sorgte dafür, daß einer seiner Getreuen,ein Mönch aus Drepung, Khenrab Wangchuk, zum Assistentendes erst zwölfjährigen Dalai Lama ernannt wurde. Er selbstergänzte seine Funktion als Premierminister durch das Amteines Kammerherrn, um die Vormundschaft über den jungenTrinle Gyatso fest zu verankern.

In den Gängen des Potala wurde ein neues Netz von Intrigengewoben. Zwischen den Klöstern kam es wieder zu

Streitigkeiten über die Verteilung des Getreides und derSubsidien. Da Palden Döndrup die Steuerlasten erhöht hatte,ließ sich die öffentliche Meinung leicht mobilisieren. DerPremierminister floh vor den Drohungen in das Kloster Ganden.Die Gebäulichkeiten wurden von Truppen eingeschlossen; mangab zwar nicht den Befehl, die heilige Stätte anzugreifen, aberman unterband die Lebensmittelversorgung. Palden und seinBruder versuchten zu entkommen; bevor sie den Soldaten, diesie verfolgten, in die Hand fielen, begingen sie Selbstmord.

Khenrab Wangchuk nutzte seine Stellung beim Dalai Lama,um sich Regierungskompetenzen anzueignen. Als erstes leiteteer eine Reform der Institutionen ein. Bis dahin war es Brauchgewesen, daß die aus den vier Kalön bestehende Regierung, derKashag, einen aus einigen offiziellen Amtsträgern und Mönchenaus den Klöstern Drepung und Ganden zusammengesetzten Rat

konsultierte. Dieser wurde jetzt durch eine

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Nationalversammlung, Tsongdu, ersetzt, der die Äbte undhöheren Lamas der drei wichtigsten Klöster, Drepung, Gandenund Sera, und die Leiter aller Verwaltungsabteilungen der

Regierung angehörten.Die folgenden acht Jahre waren durch verhältnismäßig

friedliche Zustände geprägt. Doch 1872 starb KhenrabWangchuk. Der Dalai Lama war jetzt siebzehn Jahre alt. DieNationalversammlung ersuchte ihn, die Macht direkt auszuüben.Trinle Gyatso hielt sich für fähig, die Verantwortung zuübernehmen. Am 12. März 1873 erfolgte die offizielleMachtübergabe im Potala im Beisein aller bestehendenKörperschaften und der unvermeidlichen Repräsentanten deschinesischen Kaisers.

Der zwölfte Dalai Lama übte seine Funktionen inWirklichkeit nur ein wenig mehr als zwei Jahre lang aus. Dannentschloß er sich zu einer Wallfahrt nach den heiligen Stättenvon Chökhorgyal, ziemlich weit von Lhasa entfernt. WenigeTage nach dem Aufbruch starb er am 25. April 1875 nach

offenbar kurzer Krankheit.Schon wieder ein Tod unter verdächtigen Umständen. Um den

Gerüchten ein Ende zu setzen, durch die nacheinander allewichtigen Amtsinhaber beschuldigt wurden, ließ die Regierungzwei Günstlinge des Dalai Lama verhaften; sie hatten von ihremProtektor Titel und Pfründen erhalten, die Neid und Eifersuchtweckten. Man klagte sie an, sie seien teilweise für die Krankheit

und den Tod ihres Wohltäters verantwortlich; sie wurdeneingekerkert, gefoltert und schließlich verbannt.

Wer hat in der Folge den neuen Regenten, Chökyi GyaltsenKundeling, ausgewählt und ernannt? Es steht fest, daß diechinesischen Schutzherren nichts damit zu tun hatten. DieAmban waren immer stärker auf Distanz zu den Machthaberngegangen; von den seltenen Ausnahmen abgesehen, bei denen esum einen klar umschriebenen Zweck ging, zeigten sie keinerlei

Eile, sich in das komplexe Netz von kirchlichen und weltlichen

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Intrigen in Tibet verwickeln zu lassen. Das chinesische Reichwar schon ausreichend mit seinen inneren Wirren beschäftigt,weshalb aus Peking keine Anweisungen mehr kamen. Deshalb

waren die Amban nicht mehr so stark in die örtlichenAngelegenheiten einbezogen; sie mußten sich aus diesemGrunde auch weniger vor brutalen Reaktionen der Mönchs- undLaienmassen fürchten; ebenso bestand kaum mehr Anlaß, denSchutz der chinesischen Garnison zu beanspruchen. Diese warnie mehr verstärkt worden und hatte eine eigenartigeEntwicklung durchgemacht. Die in Tibet stationiertenchinesischen Soldaten hatten es sich zur Gewohnheit gemacht,

mit Tibeterinnen zusammenzuleben; mit ihnen zusammen hattensie auch Kinder. Pater Huc erwähnt eine solchechinesischtibetische Familie, die er auf seiner Rückreise antraf:

Dieser Chinese war ein ehemaliger Soldat der Garnison vonChamdo; als er seine gesetzlich vorgeschriebenen dreiDienstjahre hinter sich gebracht hatte, erhielt er das Recht, inTibet zu bleiben und sich als Händler zu betätigen. Er hatte sich

dort verheiratet und ein kleines Vermögen erworben. Jetztkehrte er mit seiner ganzen Familie in seine Heimat zurück. Wirhatten größte Achtung vor dem Mut, der Energie und derSelbstlosigkeit dieses braven Chinesen, der sich so vorteilhaftvon seinen egoistischen Landsleuten unterschied, die Frauenund Kinder völlig skrupellos sitzenließen. Er setzte sich nichtnur den Gefahren und Mühsalen einer langen Reise aus, sondernauch dem Spott derer, die nicht den Mut hatten, seinem guten

Beispiel nachzueifern.Eine solche liebevolle Treue beeindruckte auch den Prinzen

Henri d'Orléans, den Enkel von Louis-Philippe, als er dieErzählungen von Reisenden las, bevor er selbst in den achtzigerJahren des 19. Jahrhunderts auf ihren Spuren eine Reise nachTibet unternahm. Unterwegs lernte er ganz andere Dingekennen. Viel öfter war es nämlich vorgekommen, daß die

Chinesen alle Beziehungen zu ihren zeitweiligen Partnerinnen

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abgebrochen und ihre Nachkommenschaft im Stich gelassenhatten. Falls die Söhne zweisprachig waren und weiterhin in derUmgebung der Kasernen oder der Kontrollposten längs den

Straßen für die kaiserlichen Boten lebten, wurden sie vonchinesischen Offizieren oft in die Armeebeständeaufgenommen, ohne daß dadurch der Zusammenhalt und dieDisziplin ihrer Truppen geschwächt worden wären. Das Militärmischte sich jedoch nicht mehr so häufig in die tibetischenAngelegenheiten ein, sondern begnügte sich damit, dieTransporte zu schützen.

Bevor die Archive in den tibetischen Klöstern und in denKellern des Potala ihre Geheimnisse preisgeben, lassen sich nurMutmaßungen über die Hintergründe der frühen Tode von vierDalai Lamas in den Jahren 1815 bis 1875 anstellen. W.W.Rockhill kommt zum Schluß:

Berücksichtigt man, daß die Dalai Lamas ein gegen außenabgeschirmtes und von natürlichen Normen weit entferntesLeben führten, und denkt man an die vielfachen Zwänge, denen

sie ausgesetzt waren, an die ungeheuerlichen Anstrengungen,die ihrer sich erst entwickelnden Intelligenz zugemutet wurden,damit sie von frühester Jugend an auf die später zu spielendeRolle vorbereitet waren, so dürfte es klar sein, daß nur Kindermit robuster Konstitution solche Prüfungen auszuhalten und ihreVolljährigkeit in voller Gesundheit zu erreichen vermochten. Esist durchaus möglich, daß die Dalai Lamas, die im 19.Jahrhundert nicht lange genug gelebt haben, um wirklicherwachsen zu werden, physisch und vielleicht auch psychischnicht genügend widerstandsfähig waren und eines natürlichenTodes gestorben sind.

Schließt man nicht aus, daß menschliche Hände es gewagthaben könnten, sich gegen die Reinkarnation des Buddha desMitleidens zu vergehen und dadurch ein Verbrechen mit einerGotteslästerung zu verbinden, so läßt sich für dieses Verhalten

eine allgemeine Erklärung anbieten. Anderthalb Jahrhunderte

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chinesischer Kolonisierung hatten die festgefügten Fundamentedes tibetischen Buddhismus ausgehöhlt, so löblich die Absichtengewisser Kaiser und insbesondere von Ch'ien Lung auch

gewesen sein mochten. Einer äußeren Macht, die sich in dieInstitutionen und die Strukturen einer anderenGesellschaftsordnung einmischt, muß der Vorwurf gemachtwerden, daß sie den geistigen und politischen Eliten dieEntscheidungsfreiheit wegnimmt; durch dieaufeinanderprallenden gegensätzlichen Vorstellungen undgeistigen Prozesse werden die Geister verwirrt, es entsteht einVakuum, in dem infolge einer Schwächung der sittlichen und

religiösen Grundsätze alle Schändlichkeiten möglich werden.Könnte das nicht im 19. Jahrhundert bei den religiösen und denstaatlichen Würdenträgern Tibets der Fall gewesen sein, beidiesen Regenten und Ministern, die nicht mehr so genau wußten,welchen Herren sie dienten? Als das geduldige Suchen nach derReinkarnation von Chenresi, bei dem göttliche Inspiration undgeheimnisvolle traumhafte Offenbarungen mit durch eine lange

Überlieferung kodifizierten Prüfungen verbunden waren, durcheine bloße Auslosung ersetzt wurde, auch wenn diese in einergoldenen Urne stattfand, mußte sich dieses Verfahren auf diegeistige Haltung auswirken und das Ansehen des vom HimmelErwählten herabsetzen. Von da bis zur Auflehnung gegen ihnund zu einem direkten Angriff auf seine menschlichePersönlichkeit!

Falls man dieser Verbrechensthese beipflichtet, so wäre damit

zu rechnen, daß sie auch in der späteren Geschichte Tibets eineRolle spielen könnte. Doch auf dem auserwählten Boden desvon Shakyamuni einige sechshundert Jahre vor Beginn unsererZeitrechnung begründeten humanistischen Fundaments ist dieNachfolge der vier unglücklichen, minderjährigen oder fastminderjährigen Dalai Lamas gesichert. Möge im Spiegel desSees wiederum ein Abbild aufleuchten, das Hoffnung weckt.

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Vierter Teil IN DER SCHWEBE 

Wenn die Gegenwart durch Gewalt von der Vergangenheit abgetrennt wird, so erwächst daraus nur Unglück. 

Die Wanderungswellen der Menschheit sind dem Lauf der

Sonne von Osten nach Westen gefolgt. Nacheinander sind dieSkythen, die Germanen, die Hunnen, die Mongolen und alle dieslawischen Völkerschaften, die sich zwischen Ural und Adrianiedergelassen hatten, durch Asien und Europa westwärtsgedrängt worden. Als Seeleute noch weiter nach Westenvordrangen, nach dem Indien ihrer Träume, verließen sie sichauf die Westwinde, um zurückkehren zu können, falls ihrSuchen fruchtlos bleiben sollte. Eine erste Umkehrung der

Wanderbewegung fand im 7. Jahrhundert statt, als AllahsReiterscharen zur Eroberung der Welt aufbrachen; von ihrem751 errungenen Sieg über die Chinesen bei Talas erschöpft,gelangten sie jedoch im Osten nicht über Turkestan hinaus. Vom16. Jahrhundert an wurde der Drang nach geistlicher Eroberung,der mit den Kreuzzügen zu Ende gegangen war, vonForschungsreisenden mit wirtschaftlichen Zielen abgelöst. ZuUnrecht hat man angenommen, die langfristigen menschlichen

Visionen seien dadurch eingeengt worden: Noch ist dieGeschichte der Handelsleute, die sich der Gewalt der Monsunestellten und von den langen Wegen zum märchenhaften Orientnicht abhalten ließen, und ihrer Reisen nicht geschrieben. Siewaren die Vorläufer der Handelsagenturen, die später vonwestlichen Regierungen gegründet wurden, um sich dauerhafteStützpunkte in den Ländern zu sichern, von denen sie eine

wunderbare Entfaltung ihrer politischen und strategischen

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Interessen erwarteten.

Bis gegen das Ende des 19. Jahrhunderts war das tibetischeHochland auf den Karten der weltweiten Handelswege ein

Hindernis, das die Karawanen im Norden oder im Südenumgingen. Doch die Geographen, die Handelsleute und dieMilitärs hatten keine Freude an weißen Stellen auf derWeltkarte. Der Kaufmannsfamilie der Stroganow in Sibirien undder Ostindischen Kompanie, ebenfalls einemHandelsunternehmen, sandten Sankt Petersburg und LondonDiplomaten und später Armeen und Flotten hinterher. VomSchock blieb niemand verschont. Von Afghanistan bis in dieMandschurei prallten das russische und das britische Reichaufeinander; man war gezwungen, die Einflußbereichegegeneinander abzugrenzen; weder hohe Berge noch Wüsten,noch die Himalaja-Kette... nicht einmal religiösesEinzelgängertum boten Schutz davor.

Den tibetischen Machthabern war es gelungen, einausgewogenes Verhältnis zu China herzustellen; gewiß, es war

ein labiles Gleichgewicht, geht man von den ungleichenMachtmitteln aus, doch die philosophische und religiöseAusstrahlung bildete ein Gegengewicht zum materiellenÜbergewicht. Peking und Lhasa fanden in einer UngewissenKoexistenz und einem zweideutigen Kompromiß zueinander;zumindest in einem Punkt stimmten die beidseitigen Interessenüberein: im Mißtrauen gegenüber Ausländern und ihrenmissionarischen oder kommerziellen Unternehmungen. DieDalai Lamas und ihre Regenten hatten sich hinter der Macht unddem Willen der Kaiser verschanzt, um ihre Probleme zu regeln;das gilt bis zu den ersten Verträgen, die England infolge einesMißverständnisses über die Natur der Beziehungen zwischenTibet und China unterzeichnete. Doch das Kaiserreich verfügtebereits nicht mehr über die Mittel, um Weltpolitik betreiben zukönnen. Die Mandschu-Dynastie wird wie der Fisch im

Sprichwort vom Kopf her faul; wenn aber Feuer im Hause

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ausbricht, was wird dann aus den Ställen, wie die Franzosensagten, als sie Kanada aufgaben? Und Tibet steht in dervordersten Frontlinie, wenn alle Voraussetzungen gleichzeitig

gegeben sind: Handelskrieg, bewaffnete Konflikte und westlicheAuffassungen, gegen die sich innerhalb des oft enggefaßteninternationalen Rechts kaum etwas unternehmen läßt.

Innerhalb von sechzig Jahren hatte es vier Dalai Lamasgegeben. Nur zwei werden es von 1875 bis an das Ende des 20.Jahrhunderts sein. Möge das Licht des Buddha ihren Wegerhellen! Die Blicke aller Tibeter sind auf sie gerichtet, denn siesind die Inkarnation der Nation und des Glaubens.

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Kristallspiegel des Sees plötzlich eine Mutter sichtbar, die ihrKind an ihre Brust hielt, der daneben stehende Vater betrachtetedie Szene mit liebevollem Blick. Ein rascher Sonnenaufgang

ließ die Vision verblassen; der Mönch war davon noch tief beeindruckt, als er sich auf den Weg machte. Am kleinen WeilerNangdzang vorbei gelangte er in das Dorf Perchösde. Um sichvon den Mühen des Marsches auszuruhen, öffnete er die Türeeines Hauses und bat um Gastfreundschaft. Voller Betroffenheitentdeckte er genau das Bild, das ihm im See der Visionengezeigt worden war. Die Eltern, die Nachbarn und die Möncheeiner kleinen Gemeinschaft in der Nähe wurden befragt. Sie

berichteten, vor und nach der Geburt des Kindes seien dieZeichen und Wunder beobachtet worden, mit denenüblicherweise die Rückkehr eines großen Lama in das Lebenangekündigt werde.

Nach Abschluß der Untersuchung, als alle Elementebeisammen waren, suchten der Regent und die Äbte der großenKlöster das Kind und seine Eltern auf. Die Familie wurde unter

feierlichem Zeremoniell in einen Palast geführt, der in derUmgebung von Lhasa für sie hergerichtet worden war.

An dieser Stelle muß man sich fragen, ob die goldene Urnedes Kaisers Ch'ien Lung benutzt wurde oder nicht. W. W.Rockhill berichtet von dieser Zeremonie. Andere Autoren,insbesondere G. Schulemann, L. Petech und SurkhangWangchen Geleg in einem Artikel im Tibet Journal, wollenwissen, der Regent, Chökyi Gyaltsen Kundeling, habe geschicktnicht nur die Auslosung, sondern auch die Mitwirkung derAmban vermieden.

Das Kind war am 27. Mai 1876 zur Welt gekommen. Am 12.Februar 1878 wurde es offiziell zur Reinkarnation des DalaiLama erklärt. Sein Vater, Künga Rinchen, stieg vom einfachenHolzfäller in den Rang eines Herzogs auf. Am 31. Juli 1879, amTag der feierlichen Inthronisation, blieb ein heller Regenbogen

lange über dem Potala stehen, ein Zeichen, das die Tibeter mit

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Freude erfüllte. Der Panchen Lama, Chökyi Drakpa, gab demdreizehnten Dalai Lama den Namen Lobsang Thubten Gyatso,»Ozean der Lehre«, und wachte persönlich über seine

Ausbildung. 1882 erteilte er dem jungen Dalai Lama den erstenWeihegrad, Getsul. Das war seine letzte Handlung im Lebenseines jungen Schülers, denn er starb Ende Juli 1882 an denPocken.

Der Dalai Lama war sechs Jahre alt, als dem Inder SaratChandra Das, der im Auftrag der britischen Kolonialregierung inDelhi eine geographische Expedition leitete, eine Audienzgewährt wurde. Der Besucher hat eine genaue Beschreibungdieser Begegnung hinterlassen. Er war beeindruckt von derHaltung dieses in sich gesammelten und seiner Rolle schonbewußten Kindes, von seinem leuchtenden und intelligentenBlick; die Stimme des jungen Novizen tönte noch leise undzögernd, als er eine Hymne anstimmte, die von den anwesendenLamas in ernster und tiefer Tonlage aufgenommen wurde.

Der Regent Kundeling übte sein Amt mit so viel Autorität und

Geradlinigkeit aus, daß Tibet einige Jahre des Wohlstandsbeschert waren. 1883 kam es jedoch in Lhasa zu einemAufstand, der sich vor allem gegen die nepalesischen Händlerrichtete; deren Häuser und Eigentum wurden geplündert. DurchVerhandlungen mit der diplomatischen Mission in derHauptstadt wurde eine Regelung ausgearbeitet; damit hatte mankaum Mühe, denn ein reicher mongolischer Pilger, der sichgerade in der Hauptstadt befand, hatte sich anerboten, dieEntschädigungen für die Opfer der Zwischenfälle aus seinerTasche zu bezahlen.

Der Regent Kundeling starb 1886. Sein Nachfolger wurdeDemo Trinle Rabgye. Er wäre an sich ein guter Verwaltergewesen, aber er war mit einer anspruchsvollen Familie undinsbesondere zwei Brüdern belastet, die sich Veruntreuungenzuschulden kommen ließen. Die Zeiten waren vorbei, da die

Höflinge und das Volk einem solchen Verhalten stillschweigend

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zugesehen hatten. Die Justiz und das Gesetz konnten sich jetztauf die Person eines Dalai Lama berufen, dessen Wahl von allenZeichen himmlischen Segens und verheißenen Glücks für das

Land begleitet gewesen war. Zusätzliche Befriedigungverschaffte dem Volk die Reinkarnation des verstorbenenPanchen Lama; 1888 war der Dalai Lama erst zwölf Jahre alt,als er den Vorsitz bei der Erwählung des neuen Großpriestersfür Tashilhunpo, Chökyi Nyima, führte. AußergewöhnlicheZeichen hatten das Kind als den sechsten Panchen Lamaausgewiesen. Es war 1882 als Sohn einer einfachen Magd, dieauf dem Berg Viehherden hütete, zur Welt gekommen. Kurz

nach dem Tod des fünften Panchen Lama hatte sie das Kindgeboren, über dessen Vater sie nichts aussagen wollte oderkonnte. »Dieses Jahr brachte eine überreiche Ernte, prachtvolleWürfe von Färsen und Lämmern, schönere Blumen und Früchteals je zuvor.« Mit diesen Worten wurde die Reinkarnation desBuddha Amitabha vorgestellt.

Die Regentschaft dauerte noch einige Jahre, die freilich nicht

die glücklichsten wurden. Im Umfeld des Machthabersentarteten Rivalitäten bisweilen zu Verurteilungen, zuVerbannungen, sogar zu Hinrichtungen, wobei die Güter jeweilszum Nutzen der augenblicklichen Sieger eingezogen wurden.Schließlich kam noch das Gerücht auf, der Regent und seineBrüder hätten die Absicht, den Dalai Lama aus dem Weg zuräumen, um nicht von der Spitze der Staatsmacht verdrängt zuwerden. War die Erinnerung an die unaufgeklärten

Todesursachen seiner letzten Vorgänger in den Wandelgängendes Potala und im Gedächtnis des Volkes noch wach?Vermochten die Berater des jungen religiösen Oberhauptes diedurch die jüngsten internationalen Entwicklungen geschaffeneneue Situation richtig zu analysieren? Übte der burjätischeMönch Agvan Dorjiev, dem wir noch mehrmals begegnenwerden, schon jetzt einen Einfluß auf den Geist und dieEntscheidungen des Dalai Lama aus? Jedenfalls steht fest, daß

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Thubten Gyatso, kaum hatte er Anfang 1894 die Volljährigkeiterreicht, seinen Wunsch nach dem zweiten Weihegrad, Gelong,äußerte und sich entschloß, selbst die Verantwortung für die

Regierungsgeschäfte zu übernehmen. Alle Zeugen sind sichdarin einig, daß der junge Mann Intelligenz und Geschick mitreligiöser Reinheit und Energie verband, lauter Eigenschaften,die er als Oberhaupt zu nutzen verstand.

Tatsächlich war eine Persönlichkeit von solchem Formatvonnöten, um die neuen Phänomene zu analysieren, die sichdirekt oder rückwirkend auf die tibetische Gesellschaftauswirkten. Es sah so aus, als würden sich alle Problemegleichzeitig auftürmen: in der Außenpolitik durch den Aufstiegvon Mächten, die das ausgewogene chinesischtibetischeGleichgewicht empfindlich störten, und in der Innenpolitik mitdem wachsenden Anspruch des Volkes und der Mittelklasse auf eine Lebensweise, die nicht bloß auf eine Verewigung eines oftdespotischen und auf jeden Fall ungeschicktenKonservativismus ausgerichtet war.

Erstmals wagten es die Angehörigen des tibetischen Klerus,sich zu organisieren und sich mit einer Petition an das neueStaats- und Religionsoberhaupt zu wenden, in der gegen denherrschenden Nepotismus bei der Vergabe der Klosterämterprotestiert und auf die ungenügenden Kenntnisse der Mitgliederdes Rates und der Volksversammlung hingewiesen wurde.

Thubten Gyatso entschied, daß die schon vom siebenten Dalai

Lama festgelegten, aber seit langem nicht mehr beachtetenRegeln wieder angewandt würden:

• Das Erbrecht ist für die Ernennung der Kalön nichtbestimmend.

• In allen anderen Ämtern müssen sich die Kandidaten überihre Ausbildung und genügende Kenntnisse ausweisen.

In einem zweiten, vom japanischen Mönch Tokan Tada67 zitierten Erlaß, von dem aber sonst nirgendwo die Rede ist,

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kommt der Wille des dreizehnten Dalai Lama zum Ausdruck,daß das Land in seiner ganzen Eigenart erhalten bleibe, undzwar sowohl vom Territorium als auch vom tibetischen Volk mit

seiner eigenen Kultur und nationalen Religion her gesehen.Dies alles löste in Peking keinerlei Reaktion aus, obwohl der

Hof von den beiden Amban fortwährend über dieEntwicklungen in Lhasa informiert wurde. China wurde imAugust 1894 in einen Krieg mit Japan hineingezogen, der mitdem verhängnisvollen Vertrag von Shimonoseki beendet wurde;das Kaiserreich mußte Korea und Formosa aufgeben. Rußlandund Großbritannien nutzten die Lage in Asien zu ihrem Vorteilaus. Tibet wurde zu einem vollberechtigten Partner; mit seinemStaatsoberhaupt mußte fortan bei allen Gesprächen gerechnetwerden.

Den Ausländern ganz allgemein und den Europäern imbesonderen begegnete man weiterhin mit Mißtrauen. Einekatholische Missionsstation, welche die Chinesen in Bathangzugelassen hatten, wurde 1887 zerstört. Im Vorjahr hatte ein

erster diplomatischer Zwischenfall gezeigt, welchen Weg dietibetische Regierung einzuschlagen beabsichtigte, vor allemaber, daß sie entschlossen war, ihn auch zu gehen, obwohl nocheine Regentschaft mit ihren bekannten Schwächen bestand. Inder 1876 zwischen Großbritannien und China unterzeichnetenKonvention von Chefuo war festgelegt worden, daß die Pässeder Missionare, die Ihre britische Majestät über tibetischeStraßen reisen zu lassen gedachte, von den in Lhasaresidierenden chinesischen Ministern zu visieren seien. UnterBerufung auf diese Klausel beanspruchten die Engländer freiesGeleit für C. Macauly. Die Bitte wurde über die vorgesehenendiplomatischen Kanäle weitergeleitet. Als sie in Lhasa ankam,informierten die Amban den Kashag mit einem Schreibendarüber, was sie als reine Routine betrachteten. Die Kalönberiefen jedoch sogleich die Versammlung ein, die dem

Missionar den Weg durch Tibet kategorisch verweigerte.

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Das Ausländerverbot wurde auch auf die Russen angewandt,nicht aber auf Angehörige anderer Völkerschaften wie derBurjäten oder Kalmüken, die sich schon seit langem zum

Buddhismus bekannten.Ich habe schon von den Schwierigkeiten der Kalmüken

berichtet. Die Burjäten hatten im 17. Jahrhundert die Lehre derersten buddhistischen Missionare angenommen. InTransbaikalien wurden Klöster errichtet, die zusätzlicheGläubige anzogen. 1853 haben schätzungsweise um diedreihundert Burjäten-Priester ihren Dienst versehen. In einemdieser Tempel war der junge Dorjiev erzogen worden, der 1849als Sohn buddhistischer Burjäten das Licht der Welt erblickthatte. Seine Intelligenz in profanen wie religiösenAngelegenheiten erregte Aufsehen, und deshalb wurde er in einehöhere Schule nach Urga in der Mongolei geschickt. Im Altervon fünfunddreißig Jahren unternahm er eine Pilgerreise nachLhasa; und hier blieb er. Er vertiefte seine Kenntnisse durchStudien in den Klöstern Drepung und Sera. Gleichzeitig nahm er

nützliche Kontakte zur kirchlichen und zur weltlichenHierarchie auf. Es gelang ihm schließlich, eine offizielleStellung zu erhalten, und zwar in dem Jahr, als der dreizehnteDalai Lama die Macht übernahm. Er wurde ein einflußreicherVertrauter des höchsten Priesters und insbesondere seinRatgeber in außenpolitischen Fragen. - Ein eigentliches Amt füraußenpolitische Angelegenheiten richtete der Dalai Lama erst1910 ein, als er aus seinem Exil in Peking zurückkehrte.

Unsicher bleibt, ob Dorjiev gleichzeitig auch ein russischerAgent war. Die Briten äußerten den Verdacht, er sei zusammenmit der Forschergruppe von Nikolaj Prschewalskij in Tibeteingeschleust worden. 1898 kehrte er tatsächlich unter demVorwand, seinen Landsleuten einen seelsorgerlichen Besuchabstatten und Gelder für die Klöster in Lhasa sammeln zuwollen, nach Rußland zurück. Er verlängerte seine Reise und

besuchte die europäischen Hauptstädte: Berlin, Rom, Wien,

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nannten, das erste Gespräch zwischen den russischenBevollmächtigten und den Patres auf lateinisch geführt wurde;in Latein verfaßten die Jesuiten auch die ersten

Vertragsentwürfe, die zwischen den Delegationen ausgetauschtwurden. Eine weitere Eigentümlichkeit dieses Ereignisses: Derim September 1689 in russischer, chinesischer undmandschurischer Sprache abgefaßte und unterzeichnete Vertragvon Nerchinsk war das erste diplomatische Abkommenzwischen China und einer dem Westen zugerechneten Macht.Rußland sah in der durch diesen Text festgelegtenRegierungsform eine Art chinesische »Kapitulation«, eine

Interpretation, die neue Konflikte heraufbeschwor.Doch die englischen Vorstöße von Indien aus beunruhigten

die Russen immer stärker. Nach dem ersten britischafghanischenKrieg (1838-1842) eroberten die Russen nacheinanderTaschkent (1865), Samarkand (1868), Buchara (1869), Chiwa(1873), Kokand (1876), später, nach dem zweitenbritischafghanischen Krieg (1878-1880), auch Turkmenistan

(1881), Merw (1884) und Pamir (1895). Diese bemerkenswerteKontinuität in der russischen Asienpolitik überlebte im übrigenauch die Revolution von 1917; die Kommunisten beharrten auf derselben Haltung wie früher die Zaren, als sie 1979 denAmudarja überquerten, um, wenn freilich auch nur zehn Jahrelang, dieses Afghanistan zu besetzen, das in der Zwischenzeit1919 ein drittes Mal die britischen Ambitionen durchkreuzthatte. Die in den Archiven sich anhäufenden Dossiers enthalten

viele substantielle Berichte, die von den russischen und spätersowjetischen Diplomaten mit größter Aufmerksamkeit studiertworden sind. Und der Erwähnung des Dalai Lama in diesenRapporten der Forschungsreisenden wird immer größteBeachtung geschenkt. Philip Efremon, der 1786 in SanktPetersburg seine   Zehnjährige Reise publiziert hatte, scheintallerdings Tibet mit den Königreichen Ladakh und Zanskarverwechselt zu haben, die er tatsächlich besucht hatte. Jan

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Potocki stellte Beobachtungen von großer soziologischer undethnographischer Genauigkeit an; bei den Mongolen undKalmüken, die er in den Jahren 1797 und 1798 besuchte, hatte

ihn das Ansehen des Dalai Lama beeindruckt, das so groß war,daß, wie er schreibt, die Fürsten oder Khans, wenn sie denThron bestiegen, ihm Botschaften und reiche Geschenkesandten. Die kalmükischen Khans unter russischerSchutzherrschaft ließen ihre Botschafter heimlich aufbrechen.Man glaubt, deren Berichte hätten den von den Türgüt-Kalmüken getroffenen Entscheid beeinflußt, Rußland zuverlassen und auf chinesisches Gebiet zu fliehen. Die Mongolen

in Sibirien sammeln ebenfalls reiche Gaben für den Dalai Lamaund schicken zu ihm, trotz strenger Verbote, Priester mitKamelen, die mit Silber und kostbaren Gegenständen beladensind.

Schon zur Zeit des siebenten Dalai Lama sind wir auf Spurensolcher Kontakte gestoßen. Aus seinen Feststellungen schließtPotocki übrigens auf ein »asiatisches System«, auf das er sehr

stolz ist: »Es ist für mich«, sagt er, »was das politischeTestament Richelieus, Mazarins und anderer berühmter Politikerwar«; es bereitet die russische Expansion im 19. und 20.Jahrhundert nach Zentralasien vor. Einige Jahre später,1820/1821, erwähnt auch der Forscher G. Timkowski dieVerehrung der Mongolen für den Dalai Lama.

Wahrscheinlich sind deshalb auch die von Dorjievüberbrachten Informationen nicht unbeachtet geblieben; dierussische Regierung dürfte die Stellung dieses ehrenwertenInformanten dafür zu nutzen versucht haben, um ihr Ansehen inLhasa zu verbessern. Es wird berichtet, Dorjiev sei so weitgegangen, daß er nach der Rückkehr von seiner ersten Reisenach Moskau durchblicken ließ, der Zar, der 1894 den Thronbestieg, sei gewillt, sich zum Buddhismus zu bekehren; dieNeigung Nikolaus II. zum Mystizismus, die am Ende zu seinem

Untergang geführt hat, ist bekannt. Thubten Gyatso hatte bereits

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genügend politische Erfahrung, um eine solche Möglichkeitnicht ernsthaft ins Auge zu fassen. Umgekehrt ist es nichtausgeschlossen, daß die Aussagen seines Beraters bei seinen

globalen politischen Analysen eine Rolle spielten und daß erdavon geträumt hat, Beziehungen zum zaristischen Rußlandaufzunehmen.

Nun begann England sich zu beunruhigen. Lord Curzon, seit1899 Vizekönig in Indien, war über alles im Bild, was in Lhasavor sich ging. Indische Händler und Pilger hinterbrachten ihmbereitwillig alle Neuigkeiten.

Der dreizehnte Dalai Lama hatte um diese Zeit mit den vonihm eingeführten Reformen noch nicht alle Herzen für sichgewonnen. 1899 hielten sich hartnäckig vom Kloster Drepungausgehende Gerüchte von einem Komplott gegen das geistlicheOberhaupt. Der Verdacht richtete sich abermals gegen denRegenten. Einer seiner Bediensteten, den er vermutlich nichtgerade mit Handschuhen angepackt hatte, enthüllte, sein Meisterschrecke bei seinen Versuchen, wieder an die Macht zu

kommen, auch vor magischen Praktiken nicht zurück. Daraufhinwurden der Regent und seine beiden Brüder, ebenso auch einder Komplizenschaft angeklagter Lama, ins Gefängnisgeworfen. Der chinesische Amban verlangte, daß er in dieUntersuchung einbezogen werde, möglicherweise weil er denwährend des Prozesses zitierten Lama für einen Landsmannhielt. Diese Intervention ließ sich auch als Hinweis auf eineKomplizenschaft bei dieser Verschwörung zwischen China unddem Regenten oder als ein Versuch deuten, Peking alsSchutzmacht einzuschalten. Jedenfalls hat die Regierung desDalai Lama die Bitte abgelehnt und damit einmal mehr ihrenWillen nach Unabhängigkeit bekundet.

Es muß freilich auch gesagt sein, daß die Vertreter Chinas inLhasa keine besonders tüchtigen Leute waren; eigentlich hättensie nur alle drei Jahre, und zwar gleichzeitig mit dem Austausch

der tibetischen und chinesischen Delegationen, abgelöst werden

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müssen, aber infolge von falschem Verhalten oderUngeschicklichkeit kam es zu häufigeren Wechseln. Einerdieser Amban, der in das mißglückte Komplott des Regenten

verwickelt gewesen war, wurde nach Peking zurückgerufen, zoges aber vor, Selbstmord zu begehen. Sein Nachfolger starbunterwegs. In Osttibet benutzten die Bevölkerung und dieMönche diese chinesische Schwäche für Übergriffe gegen diechinesischen Garnisonen und Geschäftsträger, vor allem inBathang und Lithang; eine Anordnung des Gouverneurs vonSzetschuan, es seien Maßnahmen zu ergreifen, um denWaffenhandel zu unterbinden, blieb toter Buchstabe. Erst mit

dem Amban Yu-Tai kam Peking wieder zu einer ehrenhaftenStellung in der politischen Landschaft Tibets; der neuechinesische Vertreter traf jedoch erst am 12. Februar 1904 inLhasa ein. Und um diese Zeit hatten sich die Ereignisse bereitsderart zugespitzt, daß der Dalai Lama gezwungen war, selbst dieInitiative zu ergreifen.

Der Vizekönig von Indien mußte vor einer Intervention in

Tibet bei seiner Regierung zuerst eine Ermächtigung einholenund eine diplomatische und militärische Strategie vorlegen. AlsBasis für einen Einmarsch wurde Sikkim gewählt, weil damitgleichzeitig ein Vorwand und ein günstiger Ausgangspunkt zurVerfügung standen. Seit dieses Land ein Protektorat gewordenwar, hatte es immer wieder Reibereien mit Tibet gegeben. Als1875 britische Besucher in der Nähe der Grenze gesehen wordenwaren, hatte die tibetische Regierung vom Radscha in Sikkim,

das noch immer als unabhängiger Staat betrachtet wurde,Erklärungen verlangt. Anschließend hatte sie einen Grenzpostenbei Lungthur mit zwanzig Soldaten und einem Offizier verstärkt.Obwohl sich diese Garnison auf tibetischem Gebiet befand,forderten die Briten den Dalai Lama ultimativ auf, seineSoldaten vor dem 15. März 1888 wieder zurückzuziehen;gleichzeitig reichte die britische Regierung beim chinesischenKaiser eine Klage ein. Lhasa beorderte zwei Generäle,  Dapön, 

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und den Kalön Lhalu an Ort und Stelle, aber die Zerstörung desForts durch die Engländer ließ sich nicht verhindern; als dieAbgesandten nach ihrer wenig glorreichen Expedition nach

Lhasa zurückkehrten, wurden sie von der Volksmenge mitSchimpf und Schande überschüttet, ein Beweis dafür, daß dieöffentliche Meinung mit kritischem Blick über die Integrität desLandes wachte.

Während aller dieser Jahre und ungeachtet der widrigenEreignisse hatte Thubten Gyatso seine religiösen Studienfortgesetzt. 1900 unternahm er die Wallfahrt zum KlosterChökhorgyal, eine Pflicht für jeden Dalai Lama. Anschließendbegab er sich auch noch nach Samye, wo er mit demgefürchteten Pockenvirus infiziert wurde; glücklicherweise warer schon nach zwei Wochen wieder gesund, worauf er nachLhasa zurückkehren konnte.

Die alarmierenden Berichte von Lord Curzon nach Londonwurden noch verschärft durch Depeschen der britischenBotschaft in Sankt Petersburg, in denen der einzigartige

Empfang geschildert wurde, den die Russen demBurjätenmönch Dorjiev bereitet hatten. Die russische Regierungwurde offiziell angefragt, welche Absichten sie in Tibet habe; inder Antwort wurde das russische Interesse heruntergespielt.Nicht gerade freundliche diplomatische Noten wurdenausgetauscht; dem russischen Außenminister, Graf Lamsdorf,wurde mitgeteilt, die britische Regierung werde eineVeränderung des Status von Tibet nicht tatenlos hinnehmen.

Die britische Diplomatie hatte freilich zu oberflächlicheVorstellungen von der wirklichen Lage der Dinge: IhrerMeinung nach war Tibet ein chinesisches Protektorat; dieselbeAnsicht vertrat sie später auch bei ihren Verhandlungen mit derRepublik Tschiang Kaischeks während und nach dem ZweitenWeltkrieg. London hatte mit Peking eine ganze Reihe vonVerträgen über Handels- und Verkehrsfragen in Birma, Sikkim

und Tibet abgeschlossen. Ein am 17. März 1890 unterzeichneter

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Text legte die Grenze zwischen Tibet und Sikkim fest; allfälligeGespräche waren direkt zwischen den britischen Behörden inIndien und der Regierung »in« (und nicht etwa »von«) Tibet zu

führen, ein Verfahren, das Lord Curzon dann tatsächlich auchanwandte. Eine Übereinkunft über den Handel, den Verkehr unddie Weiderechte in Sikkim und Tibet, die am 5. Dezember 1893in Darjeeling unterzeichnet wurde, drückte sich noch klarer aus,indem eine ständige Handelsagentur in Yatung, am Ausgang desChumbi-Tals, erwähnt wurde, wo ein schmaler Landstreifen inRichtung Süden, zwischen den Grenzen Sikkims und Bhutans,zum tibetischen Territorium gehörte. Alle diese Vereinbarungen

hatten die Mißverständnisse nur noch vermehrt; ihreAnwendung stieß fortwährend auf den Widerstand der hieransässigen Tibeter und führte zu zahlreichen Zwischenfällen.

Im Einverständnis mit London wandten sich die britischenBehörden in Indien direkt an den Dalai Lama. Ein erster Brief gelangte durch Vermittlung des Kommandanten dermilitärischen Garnison in Gyantse nach Lhasa. Der Dalai Lama

verschanzte sich in seiner Antwort hinter den Vereinbarungenmit China, die es ihm verwehren würden, direkt mit einerfremden Regierung zu verhandeln oder ohne vorhergehendeAbsprache einen Vertreter zu entsenden. Er schlug aber auchnicht vor, eine solche Absprache abzuwarten. Einem letztenVersuch wurde ein etwas offiziellerer Anstrich gegeben: DerRadscha von Bhutan entsandte im Sommer 1901 eineaußerordentliche Delegation mit einem bevollmächtigten

Minister, Ugyen Kazi, an der Spitze, die bedeutende Geschenkefür den Dalai Lama mit sich führte, insbesondere zwei Elefantenund einen Schneeleoparden. Als dieser Minister in Audienzempfangen wurde, überreichte er dem religiösen Oberhaupteinen Brief von Lord Curzon, der an den »Erlauchten DalaiLama Ngawang Lobsang Thubten Gyatso, ObersterWürdenträger der Großen Buddhistischen Kirche« adressiertwar. Der Dalai Lama gab das Schreiben ungeöffnet seinem

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Besucher zurück und erklärte ihm, er könne es nicht zurKenntnis nehmen, ohne sich zuvor mit den Amban und denMinistern abzusprechen; noch immer machte er aber keinerlei

Vorschläge, wie man aus dieser Sackgasse herauskommenkönnte.

Noch immer von der Vorstellung besessen, die Russenkönnten im diplomatischen Spiel um Tibet einen Vorteilerringen, schenkten die Briten Gerüchten Glauben, die vonWaffenlieferungen der Russen an die Regierung in Lhasa wissenwollten. Der japanische Mönch Ekai Kawaguchi, der 1901 nachTibet reiste, um nach buddhistischen Büchern zu suchen, undsich für zwei Jahre im Kloster Sera niederließ, soll durch seineAussagen dazu beigetragen haben, die britischen Befürchtungenin dieser Sache noch zu bestärken.

1903 erhielt schließlich Lord Curzon, nachdem zahlreicheDepeschen hin und her geschickt worden waren, von seinerRegierung die Vollmacht, eine »Handelsmission« nach KhampaDzong zu entsenden; im Falle von Schwierigkeiten hatte sie die

Möglichkeit, bis nach Gyantse vorzustoßen und dort eineHandelsagentur zu errichten. Die Instruktionen waren soungenau verfaßt, daß dem Vizekönig, der bereits davonüberzeugt war, daß die bis dahin mit den Chinesen und Tibeterngeführten, aber gescheiterten Verhandlungen keineMachtdemonstration wert waren, genügend Spielraum verblieb.Mit der Mission wurde Francis Younghusband (1863-1942)betraut, der dank langer Erfahrung in Asien zweifellos dafürqualifiziert war. Er war in Indien zur Welt gekommen und inSandhurst erzogen worden. Seither hatte er alle HochebenenPersiens und der Mandschurei durchreist. Die GeographischeGesellschaft in London hatte ihm die Goldene Medailleverliehen. Für die Expedition nach Tibet wurde er zum Oberstenbefördert. Eine Militäreskorte unter dem Kommando vonBrigadegeneral J. Macdonald begleitete ihn; sie bestand beim

Aufbruch aus zweihundert Mann, wuchs aber unterwegs durch

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weitere Kontingente auf dreitausend Soldaten und einigetausend Hilfskräfte an. Auch Presseberichterstatter waren mitvon der Partie; Candler vom Daily Mail wurde bei den Kämpfen

schwer verletzt, Perceval Landon von der Times verfaßte einendetaillierten Bericht über seine Beobachtungen.

Younghusband traf im Juli 1903 in Khampa Dzong ein. Vondort aus versuchte er Kontakte zur tibetischen Regierungaufzunehmen. Lhasa hatte einen  Däpon an Ort und Stelleentsandt, also einen höheren Offizier, der sich ausschließlich umdie Verteidigung des Landes zu kümmern hatte; er befehligteeine Armee von etwa tausendfünfhundert Mann, deren einzigerAuftrag darin bestand, die Briten zum Rückzug aufzufordern.Daraus läßt sich ermessen, wie tief das Ansehen Chinasgesunken war: Die tibetische Regierung verweigerte demAmban die Transportmittel, die er verlangt hatte, um seinenPflichten nachzukommen, nämlich mit den ausländischenVertretern zu verhandeln. Der britischtibetische Scheindialogzog sich über den ganzen Winter hin. Eine leise Hoffnung wurde

wach, als vom Panchen Lama in Shigatse ein Mönch entsandtwurde; doch auch er konnte bloß die tibetische Forderungwiederholen: Die Engländer sollten sich nach Yatungzurückziehen. Younghusband hatte aber von London dieErlaubnis erhalten, bis nach Gyantse vorzurücken, und im März1904 machte er sich auf den Weg. Beim Dorf Dune stieß dasDetachement bei verhangenem Himmel, von dem mit Wasservermischter Schnee fiel, auf eine von den Tibetern in aller Eile

errichtete Befestigung.Nach einem Ultimatum und weiterhin fruchtlosen Gesprächen

rückte die hauptsächlich aus indischen Soldaten undnepalesischen Gurkha-Söldnern bestehende britische Truppewohlgeordnet vor. Beim Zusammenstoß mit den Tibeternentstand eine gewisse Ratlosigkeit; einige der tibetischenSoldaten begannen, weil anscheinend keine genauen Befehle

erteilt worden waren, ihre Waffen niederzulegen. Dann kam es

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zu einem Zwischenfall: »Eine Waffe, um die sich ein Tibeterund ein Sikh stritten, entlud sich von selbst. Sogleich entstandein gewaltiges Geschrei, für die Tibeter das Zeichen zum

Kampf.« Und P. Landon, der die ganze Szene miterlebt hatte,fügt hinzu: »Es war nicht so sehr ein Kampf, sondern eineSchlächterei.« Während die Briten nur minime Verluste erlitten,blieben mehr als dreihundert tibetische Soldaten tot auf demKampffeld liegen, viele andere waren verwundet worden. Dasbritische Detachement setzte seinen Weg fort; Gyantse wurdenach einem Scharmützel, das noch einmal hundertachtzigtibetische Opfer gefordert hatte, am 12. April erreicht.

In Lhasa herrschten Bestürzung und Wut. Der junge DalaiLama sah sich mit einer noch nie dagewesenen Situationkonfrontiert. Er wußte, daß er vom Amban Yu-Tai, der erstgerade am 12. Februar angekommen war, nichts erwarten durfte.Nach Konsultierung der Volksversammlung warf er währendeiner stürmischen Sitzung den Kalön ihre Passivität und ihreschlechten Ratschläge vor; sie wurden ihrer Ämter enthoben;

drei von ihnen kamen ins Gefängnis, der vierte begingSelbstmord.

Thubten Gyatso wandte sich an Nepal, das noch immer miteiner diplomatischen Mission in Lhasa vertreten war. Der starkeMann in Katmandu, Chandra Shamsher Jang Bahadur Rana, der1902 die Nachfolge seiner Brüder angetreten und die TitelMaharadscha und Premierminister angenommen hatte, gab inseiner Antwort den Rat zu Verhandlungen mit den Engländern.Eine Analyse aller vorliegenden Fakten bewog den Dalai Lama,Emissäre nach Gyantse zu entsenden. Younghusband undMacdonald wurden vom Mönch-Kanzler des Potala, von einemchinesischen General, der im Prinzip die Garnison in Gyantsekommandierte, und sogar von einem Vertreter des Radscha vonBhutan aufgesucht, der noch immer einen Auftrag in Tibetausführte. Doch die britischen Militärs waren schon zu weit

gegangen, um noch umkehren zu können, und die Befürworter

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von Verhandlungen hatten aus ihren Mißerfolgen den Schlußgezogen, eine Delegierung der notwendigen Kompetenzen aneine Kommission sei beim gegenwärtigen Stand der

Verwaltungsorganisation in Tibet undenkbar, außerhalb derHauptstadt seien somit keinerlei Abmachungen möglich.London stimmte diesen Überlegungen zu. Die Truppen rücktenweiter vor und stießen nur noch sporadisch auf Widerstand. Alssie am 3. August 1904 Lhasa erreichten, hatte der Dalai Lamaseinen Amtssitz verlassen und den Abt von Ganden, TripaLobsang Gyaltsen, zum Regenten ernannt.

Die britische Mission wurde, nachdem sie mit der Besetzungdes Norbulinka-Palastes gedroht hatte, in einem Haus in derNähe des Potala untergebracht. Younghusband bemühte sich,einen geeigneten Gesprächspartner zu finden; vorerst kam eraber nur mit dem Amban Yu-Tai zusammen, der ihn mit sehrvagen Anspielungen auf die Nationalversammlung verwies: »InTibet ist es Brauch«, erklärte er, »daß in Angelegenheiten, diemit China zu tun haben, eine Versammlung von Laien und

Mönchen der drei großen Klöster einberufen wird, die darüberentscheidet und eine Antwort vorbereitet.« Auf die Frage desVerantwortlichen der britischen Mission, wer dieseVersammlung leite, aus wie vielen Mitgliedern sie bestehe undwie die Entscheidungen, ob durch Abstimmung oder auf andereWeise, gefällt würden, antwortete der Amban, er kenne denVorsitzenden nicht, es seien ungefähr fünfhundert Abgeordnete,und eine Entscheidung werde erst gefällt, wenn eine allgemeine

Übereinstimmung erreicht worden sei; er fügte hinzu, diechinesische Regierung habe diese Volksversammlung nieanerkannt.

Die Anführer der britischen Expedition hatten es eilig, zueinem konkreten Ergebnis zu gelangen, bevor sie von Londonzurückbeordert wurden, und suchten deshalb rasch nachweiteren Gesprächspartnern. Mit der Ratlosigkeit des früheren

Gegners und der verwickelten Situation wurde man dank der

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Feinfühligkeit und der Erfahrung in asiatischen undbuddhistischen Belangen von Francis Younghusband und seinesDolmetscher-Assistenten Frederik O'Connor rasch fertig; beide

zeigten sich den Tibetern gegenüber verständnisvoll, wasEindruck machte. Die Verhandlungen konnten deshalb in einerAtmosphäre der Offenheit abgewickelt werden. Mehr oderweniger offiziell beteiligt waren nicht nur die Äbte der dreigroßen Klöster, sondern auch der Vertreter Nepals in Lhasa, derAbgesandte Bhutans, der in allen Phasen aktiv mitwirkte, undschließlich der neue chinesische Amban. Am 7. September 1904wurde ein Vertragstext unterzeichnet. Die Engländer, die den

Machtverhältnissen in Tibet nicht ganz trauten, beharrten darauf,daß die Siegel des Regenten, des Ministerrates, derNationalversammlung und der drei Klöster Drepung, Sera undGanden darunter gesetzt würden. Der Amban, der keinerleiInstruktionen aus Peking erhalten hatte - vielleicht war ihm auchder Befehl erteilt worden, sich zu keinen festen Abmachungenbewegen zu lassen -, verzichtete vorsichtigerweise darauf,

obwohl er an den Gesprächen teilgenommen hatte.Das Abkommen trägt alle Zeichen von Einseitigkeit. Zunächsteinmal ist der englische Text verbindlich. Weiter beruft es sichauf die chinesischtibetischen Verträge, die Tibet nicht anerkannthatte, obwohl es von ihnen betroffen gewesen war. Dasenglische Ziel beschränkt sich offiziell ausschließlich auf dieSicherheit des grenzüberschreitenden Handels. Dennoch hat dasPapier sehr viel Ähnlichkeit mit einem Kapitulations- oder

Protektoratsvertrag; es sieht einen Schadenersatz vonsiebeneinhalb Millionen Rupien, alsofünfhundertzweiundsechzigtausend Pfund, vor, der von Tibet infünfundsiebzig jährlichen Raten vom 1. Januar 1906 an zuentrichten sei; als Garantie für die Einhaltung besetzt diebritische Regierung das Chumbi-Tal. Tibet verpflichtet sich, alleFestungsanlagen zu schleifen, alle Waffen von der Grenze nachGyantse und Lhasa zurückzuschaffen und die Zolltarife nicht

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ohne vorherige gegenseitige Konsultation zu verändern.Fremden Mächten dürfen keine Konzessionen erteilt, keinediplomatischen Vertretungen zugestanden und keine

Pachtverträge mit entsprechenden Einnahmen bewilligt werden.In Großbritannien hat man sich später gefragt, welche

Interessen hinter dem Feldzug nach Tibet gestanden habenkönnten. In Delhi oder London hatte niemand ernstlichangenommen, Rußland verfolge territoriale Ziele im Hochland,auch wenn eine Erklärung des Fürsten Ouchtomski, Präsidentder russischchinesischen Bank und eifriger Sammlerbuddhistischer Kunstwerke (»Es gibt für uns keine Grenzen inAsien und kann auch keine geben«), einen imperialistischenBeigeschmack hatte. Im übrigen waren die Russen in einenverhängnisvollen Krieg mit Japan verwickelt. Sankt Petersburgund Peking begnügten sich, einem diplomatischen Grundsatzder Anerkennung vollendeter Tatsachen folgend, mitProtestnoten an die britische Adresse. Es wäre möglich, daß diemit der Durchführung der zuvor gegen China angewandten

Kanonenboot-Diplomatie betrauten Kommandanten ihreBefugnisse überschritten hatten. Das Abkommen von Lhasawurde in London nicht mit Begeisterung aufgenommen. Diebritische Regierung war beunruhigt, weil das chinesische Siegelfehlte; sie verhandelte weiter mit Peking, bis 1906 einRatifikationsvertrag erzielt wurde, ohne Tibet zur Teilnahme anden Gesprächen einzuladen oder seiner Regierung auch nur denWortlaut mitzuteilen. Sie hielt sich weiterhin an ihre zu einfache

Interpretation der Geschichte und betrachtete auch in der FolgeTibet als dem chinesischen Einflußbereich zugehörig; in diesengedachte sie sich nicht einzumischen, falls auch sonst niemanddas Spiel stören würde.

Die öffentliche Meinung in Großbritannien fühlte sichbetroffen von der Zahl der tibetischen Opfer; das Militär hattediese Hekatombe nur mit der veralteten und unzureichenden

tibetischen Ausrüstung begründet. Später haben die chinesischen

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Kommunisten die »britischen Greueltaten« in Tibetangeprangert, um über die eigenen Schandtatenhinwegzutäuschen. Für viele Briten war der Feldzug unnötig

und vergeblich gewesen. Das Parlament verlangte Erklärungenzu den in London herumgebotenen Gerüchten über diePlünderung von Klöstern. Die Soldaten und Offiziere desExpeditionskorps waren freilich trotz allem nicht so weitgegangen.

Die schlimmste Auswirkung war weniger augenfällig, traf aber die tibetischen Gefühle viel tiefer: Die Institution der DalaiLamas, die, was die geistliche Macht anbetraf,dreihundertsechsundzwanzig und, was die weltliche Machtangeht, zweihundertzweiundsechzig Jahre zurückreichte, warerstmals suspendiert worden. Allerdings nicht zum letztenmal,aber man muß sich vorstellen, in welcher geistigen Verfassungsich der achtundzwanzig Jahre alter Priester-Herrscher auf seinem Weg ins Exil befand. Diese schmerzliche Erfahrungverfolgte ihn bis in seine allerletzten Gedanken hinein, und in

seinem Testament widerspiegelte sie sich im Pessimismus, derin seiner Schau der künftigen Welt zum Ausdruck kam.

Für ihn ging es bei dieser Flucht zuallererst darum, denEindringlingen, denen das Land und vor allem auch dessenReligion fremd waren, sich nicht als Faustpfand auszuliefern.Mit den mongolischen und chinesischen Interventionen, dieseine Vorgänger miterlebt hatten, ließ sich dieses Ereignisüberhaupt nicht vergleichen. Die Khans und Kaiser hattenderselben philosophischen und religiösen Sphäre angehört. Derbrutale britische Überfall hatte Thubten Gyatso bei einerMeditation überrascht, die er begonnen hatte, um nach demVorbild derer, die ihm auf dem Thron im Potala vorausgegangenwaren, zu einem höheren Grad der Erkenntnis und der Heiligkeitzu gelangen. Hatte er überhaupt eine andere Wahl, als ein Asylbei einer Gemeinschaft zu suchen, wo er in Frieden weiterhin

nach Wissen und Inspiration streben konnte? Auf der Nordroute

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wanderte er von Kloster zu Kloster, an den blauen Wassern desKukunorsees vorbei, in Richtung Mongolei. Dort wurde demDalai Lama beim Klerus wie auch beim Volk noch immer der

erste Platz in der religiösen Hierarchie zuerkannt. DasOberhaupt der religiösen Institutionen in der Mongolei, derHutuketu, versäumte es unter keinen Umständen, dem DalaiLama wie gleichzeitig auch dem chinesischen Kaiser, der sich inder Mongolei ebenfalls durch einen Amban vertreten ließ, jedesJahr Geschenke zu schicken.

Als der Dalai Lama am 27. November 1904 nachviermonatiger Reise in Urga ankam, wurde er mit allen einemHerrscher zustehenden Ehren empfangen:

Mehr als zwanzigtausend Einwohner zogen dem Dalai Lamaaus der Stadt entgegen, um ihn zu begrüßen und sich vor derhöchsten Inkarnation der buddhistischen Welt niederzuwerfen.Als die Ankunft des Gott-Königs von Tibet mitKanonenschüssen angekündigt wurde, machte sich eineHeerschar von Pilgern aus Russisch-Sibirien, China und

Turkestan auf den Weg. Pokotiloff, der Botschafter Rußlandsam Kaiserhof, eilte nach Urga, kaum hatte er erfahren, daß SeineHeiligkeit dort angekommen sei. Er überreichte ihm im Namendes Zaren Geschenke und versicherte ihm, er könne auf dieHilfe und die Freundschaft Rußlands zählen.68 

Die überraschende Flucht des Dalai Lama brachte dieChinesen wie auch die Briten in Verlegenheit. Am 21. August

schickte der Amban eine Depesche nach Peking, in der erverlangte, daß das religiöse Oberhaupt durch ein kaiserlichesDekret abgesetzt und durch den Panchen Lama ersetzt werde.Der britische Kommissar seinerseits erinnerte in seinem Berichtvom 5. September daran, dieses Vorgehen sei schon ein erstesMal beim sechsten Dalai Lama angewandt worden, was freilicheine Fehlinterpretation der tatsächlichen Ereignisse war, dennJamyang Gyatso hatte auf seinem Weg ins Exil den Tod

gefunden. Weder von China noch von den Tibetern waren

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irgendwelche Maßnahmen zur Absetzung des Dalai beschlossenworden. Dennoch ließ der Amban den folgenden Text öffentlichaushängen:

1. Erinnert er daran, daß China als Lehensmacht das Rechtzustehe, Ordnung und Frieden im Lande aufrechtzuerhalten;

2. Wirft er dem Dalai Lama vor, er sei für den Kriegverantwortlich gewesen;

3. Entscheidet er, daß der Panchen Lama die Nachfolge desDalai Lama antritt.

Das religiöse Oberhaupt von Tashilhunpo ließ diese

Entscheidung unbeachtet. Das Volk brachte seine Meinungdadurch zum Ausdruck, daß es die von den Chinesen an denWänden angeschlagenen Plakate zerriß und verschmierte.

Trotz des herzlichen Empfangs durch seine Gastgeber undGläubigen vermochte der Dalai Lama in Urga nur mit Mühe dendepressiven Gemütszustand zu überwinden, in dem er sich seitseinem Aufbruch ins Exil befand. Er informierte sich

fortwährend über die weiteren Entwicklungen auf demdiplomatischen Parkett und über die innere Lage in Tibet.Beides wurde Anlaß zu zusätzlicher Beunruhigung; er fühlte,daß er nur mehr ein Spielball in einem internationalenpolitischen Spiel war, was sich mit seinem geistlichen Statuskaum mehr zureichend vereinbaren ließ.

Die britische Expedition hatte der Welt gezeigt, daß es eintibetisches Problem gab, und die Regierungskanzleien wurden

dadurch zum Handeln gezwungen. Zunächst einmal hatte Chinasehr gründlich sein Gesicht verloren; seine Regierung reagierteals erste sowohl auf internationaler Ebene wie auch in dertibetischen Innenpolitik. Sie konzentrierte sich zunächst auf dierussischen Ambitionen in Asien und insbesondere in Tibet; manhatte den Verdacht, das Zarenregime wolle den chinesischenEinfluß durch den eigenen ablösen. Großbritannien hatte diepolitische Handlungsfähigkeit des chinesischen Kaiserhofes

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unterschätzt; zu dessen Sturz kam es erst erheblich später, alsman vermutet hatte. Die tibetischen Völker und die großenKlöster in der Region Kham hatten dieselben Überlegungen

angestellt; die ausbleibende chinesische Reaktion auf denbritischen Einmarsch hatte ihnen Mut gemacht; 1905 brach einAufstand aus, der sich äußerst heftig gegen die chinesischePräsenz wandte, also gegen Funktionäre, Militärs und Händler.Peking entsandte den Mandschu-General Chao Erfeng an Ortund Stelle. Dieser Mann war nicht nur ein brutaler Soldat,sondern auch ein entschiedener Religionsgegner. Die Methoden,die er bei der Niederschlagung der Revolte anwandte, waren für

die Bevölkerung und vor allem für die Mönche und die Klösterverheerend; er ließ die Tempel niederreißen, die Bücher undheiligen Bilder verbrennen; bei den Lamas war die Enthauptungnoch die am wenigsten unmenschliche Ausmerzungsmaßnahme.

Große Lama-Klöster wurden monatelang belagert und vonden Hunderten oder Tausenden von Mönchen mit letztemEinsatz verteidigt; erst Nahrungs- und Wassermangel setzte

ihrem Kampf ein Ende. Die abgeschlagenen Köpfe der Mönchewurden glattrasiert, man hängte sie an den Ohren an Bäumenauf.69 

In diesem Verhalten kam ein Wandel in der traditionellenPolitik des kaiserlichen China zum Ausdruck; die tibetischenInstitutionen waren früher nicht nur respektiert worden, sondernman hielt sie auch für ein stabilisierendes Element in diesenRandregionen. Als Thubten Gyatso von diesen Ereignissenhörte, war er tief betroffen und verwirrt; er mußte jetzt eineandere Strategie für sein Land entwickeln.

Es dauerte achtzehn lange Monate, bis Peking undGroßbritannien bei ihren schwierigen Verhandlungen zu einerEinigung gelangten. In London hatte Lord Balfour einerliberalen Regierung weichen müssen, der viel daran lag, dieseLast einer territorialen Ambition in Tibet auf Kosten Chinas

möglichst rasch abzuschütteln. Die von Younghusband 1904 in

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Lhasa abgeschlossene Vereinbarung war eher eine Belastung alsein Vorteil: Man fand eine Formulierung, die es Chinaermöglichte, sie zu unterzeichnen. Voller Zufriedenheit über

dieses Ergebnis bezahlte die chinesische Regierung sogar, alseine im Vertrag vom 27. April 1906 nicht vorgesehene Zugabe,die von der tibetischen Regierung übernommene Entschädigungfür die Kosten der britischen Militärexpedition. So stellte dasMandschu-Reich seine Lehensherrschaft wieder her, ohne sichder Mühe zu unterziehen, die Betroffenen zu konsultieren. Undlaut dem neuen Repräsentanten, Chan Yin Tang, der nach Lhasaentsandt wurde und dort eine Rolle bei den späteren

Verhandlungen mit den Briten spielte, konnte der Text von 1906nicht anders als eine internationale Anerkennung derchinesischen Schutzherrschaft interpretiert werden; derDiplomat kümmerte sich ebensowenig wie sein militärischerKollege Chao Erfeng um den subtilen Unterschied zwischenSchutzherrschaft und Souveränität: Um die Rechte seinesLandes vor aller Welt zu demonstrieren, wählte er den Weg

durch Indien, als er sein Amt in Tibet antrat.Hat Thubten Gyatso daran gedacht, sich Rußlandzuzuwenden? Man darf vermuten, daß ihn der Burjäten-MönchDorjiev, der ihn auf seinem Leidensweg begleitet hatte, indiesem Sinne beriet. Haben ihm vielleicht auch der russischeKonsul in Urga, den er nach seiner Ankunft zu einer langenAudienz empfing, und der Botschafter Pokotiloff, der ihm ausPeking kommend am 14. Juni 1905 einen Besuch abstattete, eine

solche Botschaft übergeben? Im gleichen Jahr verlor der Zar denKrieg gegen Japan, und mit dem Vertrag von Portsmouthverzichtete er auf die Eisenbahnlinie durch die Mandschurei,womit er etliche Trümpfe seiner Asien-Politik aus der Hand gab.Nikolaus II. begnügte sich am 7. April 1906, als er davon hörte,daß der Dalai Lama die Absicht habe, nach Lhasazurückzukehren, mit einer Botschaft, die freilich sehrwarmherzig abgefaßt war:

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Viele meiner Untertanen, die sich zum Buddhismus bekennen,haben das Glück gehabt, daß sie ihrem Großpriester währendseines Aufenthalts in der Nordmongolei, an der Grenze

Rußlands, ihre Verehrung bezeugen durften. Ich freue michdarüber, daß meine Untertanen in den Genuß des heilsamengeistlichen Einflusses Ihrer Heiligkeit gekommen sind, und ichbitte Sie, den Ausdruck meiner aufrichtigen Dankbarkeit undmeiner Hochachtung für Sie entgegenzunehmen.

Illusionslos, aber nicht entmutigt, kam der Dalai Lama zumSchluß, daß es keine andere Lösung geben könne, als dasGespräch mit China wiederaufzunehmen. Die Entscheidung fielihm um so leichter, als er eingesehen hatte, daß der HutuketuBodgo Gegen, der höchste Würdenträger der mongolischenbuddhistischen Schule, unter seinem Ansehen zu leiden hatte.Während einiger Monate besuchte er Klöster, dann begab er sichauf den Weg nach Süden. Im großen Kloster Kumbum schalteteer während des Winters 1906/1907 einen Zwischenhalt ein. Erblieb mehr als ein Jahr lang dort, meditierend, nachdenkend und

seine weiteren Entscheidungen vorbereitend. Er sandte nachLhasa den Befehl, die drei Minister, die er während der dunklenTage vor dem Einmarsch der britischen Truppen in dieHauptstadt abgesetzt hatte, aus dem Gefängnis zu entlassen undsie wieder, mit der Bitte, den Regenten zu unterstützen, in ihreÄmter einzusetzen. Er verlor zwei seiner Berater, den MönchDorjiev und einen japanischen Gelehrten, Teramoto, der ihn insExil begleitet hatte und dort sein enger Vertrauter geworden

war. Beide waren erkrankt und mußten in ihre Heimatländerzurückkehren. Weiter erhielt er Botschaften, einerseits ausLhasa, von wo aus man ihn dringend ersuchte, möglichst raschzurückzukehren, und andererseits aus Peking, wo die kaiserlicheRegierung auf einem Besuch bestand. Sollte er dieser Vorladungder autoritären Cixi (Tz'uhsi) Folge leisten? Immerhin bestanddie Gefahr, daß er als Unterpfand für die AnnexionsgelüsteChinas in Tibet mißbraucht wurde. Der Dalai Lama entschied

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und für den jetzigen Anlaß unter großen Kosten (G. Schulemannspricht von zwei Millionen Tael) restauriert und modernisiertworden war. Hier hatten sich Geschenke des Kaisers und der

Kaiserinwitwe angehäuft: golddurchwirkte Seide, reichverzierteSättel, Gegenstände aus Jade. Doch vorerst hatte man sich mitProtokollfragen beim Empfang im kaiserlichen Palast zubefassen.

Dem Dalai Lama wurde zunächst mitgeteilt, die Audienz seiauf den 6. Oktober festgelegt worden. Als man ihn darauf hinwies, daß er sich vor den Majestäten niederzuwerfen habe,weigerte er sich, der Einladung Folge zu leisten. Nach vielenBeratungen eilig gebildeter Kommissionen wurde einKompromiß ausgearbeitet: Die Audienz würde am 14. Oktoberstattfinden, aber getrennt: zuerst mit der Kaiserin, anschließendmit dem Kaiser; der Dalai Lama würde bloß die Knie beugen,bevor er sich nach der Gesundheit Ihrer Majestäten erkundigenund ihnen die weiße Schärpe, Kata, überreichen würde, die vomLeibgardisten in Empfang genommen werde. Das war nicht

mehr dieselbe Atmosphäre wie 1280, als Phagpa mit KublaiKhan zusammentraf, oder 1635, als der Große Fünfte vomKaiser Kangxi (K'ang Hsi) empfangen wurde. Thubten Gyatsoakzeptierte diese Bedingungen und schickte am Tag derZeremonie die Geschenke, die ebenfalls auf einer minutiösausgearbeiteten Liste festgehalten waren: ein Exemplar desKandschur, also des buddhistischen Kanons, zwei vergoldeteStatuetten, die eine des Buddha Shakyamuni, die andere des

Bodhisattva Vajrapani, für die Kaiserin; zwei Shakyamuni-Statuetten, wovon eine aus alter Bronze, für den Kaiser; fürbeide je ein Halsband aus hundertundacht Korallenperlen,Gefäße aus kostbarem Holz, Goldstaub, Pelze, tibetischeWollgewebe und Stickereien, dazu für beide je einbraunfarbenes Pferd.

Der Kaiser beschloß, zur Ehre seines Gastes am 30. Oktober

ein großes Bankett zu veranstalten. Die Kaiserinwitwe, die am

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3. November ihren Geburtstag feierte, bat den Dalai Lama umein feierliches Bittgebet für »langes Leben«; der Dalai Lamasuchte sie am folgenden Tag auf, um ihr nach den Prinzen und

den Ministern seine Glückwünsche zu überbringen. Amgleichen Tag wurde ein kaiserlicher Erlaß publiziert, in dem diewirkliche Politik des Mandschu-Hofes unverhüllt dargelegtwurde. War er ein Ausdruck der bornierten Selbstgefälligkeitder alternden Cixi, deren letzte Willensäußerung er war? Oderhatte sie, schon vierundsiebzig Jahre alt und gesundheitlichangeschlagen, einen Text durchgehen lassen, der die Meinungder am Hofe immer zahlreicheren Anhänger einer autoritären

und hegemonistischen Politik gegenüber den wehrlosen Völkernauf den westlichen Hochländern widerspiegelte, die Meinungderer also, die den Dalai Lama nicht gehen lassen wollten, bevorer der vollen Souveränität Chinas über sein Land zugestimmthätte?

In der Vergangenheit hatte der Dalai Lama den Titel»Vollkommener heutiger Buddha des Westens« erhalten. Jetzt

lautet dieser Titel »Der sehr gehorsame und sehr vollkommenereinkarnierte heutige Buddha des Westens«. Eine Börse vonzehntausend Tael wird ihm zugesprochen.

Mit diesem Titel ausgestattet wird der Dalai Lamaunverzüglich nach Tibet zurückkehren. Alle Vertreter derStaatsmacht auf seinem Wege stellen ihm eine Eskorte zurVerfügung und sorgen für seinen Schutz.

Nach seiner Rückkehr in Lhasa hat er die Gesetze dessouveränen Staates zu beachten und überall die aufrichtigenAbsichten der chinesischen Regierung bekanntzumachen.

Er muß seine Gläubigen ermahnen, den Gesetzen zugehorchen und Tugend zu üben. Alles, was er Uns mitzuteilenhaben könnte, soll zuerst, wie es sich gebührt, dem in Tibetresidierenden Minister berichtet werden, der es Uns an seinerStelle unterbreiten wird, und er hat Unsere Entscheidung

abzuwarten.

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Wir hoffen, die umliegenden Länder werden sich einesewigen Friedens erfreuen dürfen, die Zwistigkeiten zwischenPriestern und Laien könnten beigelegt werden und dem festen

Wunsch des Hofes, die Gelbe Schule zu unterstützen und denFrieden an der Grenze aufrechtzuerhalten, werde gebührendeBeachtung geschenkt.

Schließlich (in cauda venenum) wird dem Amt für dieabhängigen Gebiete der Auftrag erteilt, diesen Erlaß dem DalaiLama zuzustellen, den dieser ehrerbietig in Empfang zu nehmenund genauestens zu beachten hat.

Auch dies läßt sich kaum mehr als eine Beziehung zwischeneinem geistlichen Oberhaupt und seiner Schutzmacht auffassen,sondern entspricht einem Verhältnis zwischen einem Vasallenund seiner Lehensmacht, von der er entlöhnt wird.

Thubten Gyatso schenkte dem üppigen Wortschwall deralternden Kaiserin keine Beachtung, ebensowenig der Art, wiesie eine Geldgabe legalisierte, die einfach in der Liste derausgetauschten Geschenke hätte figurieren müssen. Er wußte

aus eigener Erfahrung und der seiner Vorgänger, daß er sehr vielmehr unter der ihm mit diesem Erlaß aufgezwungenen, abernicht klar umschriebenen Vormundschaft des chinesischenResidenten in Lhasa zu leiden haben werde. Er bat seineGesprächspartner, diesen Punkt noch einmal zu überdenken undihm das Recht zuzuerkennen, mit dem Thron in seinem eigenenNamen direkt oder gemeinsam mit dem Amban verkehren zu

dürfen, je nach Art des Geschäfts und »im Einklang mit denalten Vorschriften«.

Während sich die Machthaber ausgiebig Zeit nahmen, umüber dieses Problem nachzudenken, setzte der Dalai Lama seinProgramm von Audienzen und Besuchen fort, mit dem erunmittelbar nach seiner Ankunft in Peking begonnen hatte.Schon in Wu-Tai-Shan hatte er mehrere Vertreter ausländischerMissionen empfangen.

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Der Franzose Henri d'Ollone, der sich auf einerForschungsreise längs der chinesischmongolischen undchinesischtibetischen Grenze befand, war von der Intelligenz

Thubten Gyatsos beeindruckt: »Er hatte eingesehen, daß ihm dieUnterstützung der europäischen Nationen bei seinemWiderstand gegen China und England nützlich sein würde.« DasInteresse der Militärs an Tibet war nämlich dem Dalai Lamanicht entgangen: Er empfing in Peking den russischen OberstenBaron von Mannerheim, den japanischen MilitärattacheGeneralleutnant Fukushima und einen Offizier der deutschenBotschaft in China. Der Amerikaner W. W. Rockhill hat seine

Beobachtungen am detailliertesten aufgeschrieben:Während seines Aufenthalts in Wu-Tai-Shan habe ich eine

Woche mit ihm verbracht, und auch in Peking bin ich ihmmehrmals begegnet. Er ist ein Mann von unbestreitbarerIntelligenz und großem Geschick, mit rascher Auffassungsgabeund großer Charakterstärke. Er verfügt, vermutlich dank seinenvielfältigen Erfahrungen während der vergangenen Jahre, über

einen weiten Horizont. Hinzu kommt eine starke natürlicheWürde. Er scheint sich seiner schweren Verantwortung alsOberhaupt seiner religiösen Gemeinschaft und vielleicht nochmehr seiner Pflichten im weltlichen Bereich zutiefst bewußt zusein. Er reagiert rasch und impulsiv, aber immer wohlgelauntund liebenswürdig. Ich habe ihn jederzeit als einenaufmerksamen, im Gespräch angenehmen und äußerst höflichenGastgeber erlebt. Er spricht rasch und ohne zu stocken, aber mit

sehr tiefer Stimme.W. W. Rockhills Beschreibung von Thubten Gyatsos

Äußerem ist besonders genau und eindringlich:

Er ist eher kleinwüchsig und von zartem Körperbau. SeineGesichtsfarbe ist ein wenig dunkler als die der Chinesen undvon rötlich getöntem Braun. Sein nicht eigentlich breites Gesichtist, wenn auch nicht sehr auffällig, mit Pockennarben bedeckt;

es leuchtet auf angenehmste Weise auf, wenn er lächelt und

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seine gesunden und weißen Zähne zeigt. Wenn er sich ausruht,ist sein Gesicht undurchdringlich, es wirkt eher hochmütig undabweisend. Seine schmale Nase ist leicht gebogen, seine Ohren

sind groß; seine Augen sind dunkelbraun, eher schmal unddeutlich schräg gestellt; seine schweren Augenbrauen sindgegen die Schläfen hin verlängert, was ihm ein eher spöttischesund mondänes Aussehen verleiht, das durch seinenOberlippenbart und einen kleinen dunklen Fleck unterhalb derUnterlippe noch betont wird. Seine Hände sind schmal undwohlgeformt; am rechten Handgelenk trägt er üblicherweiseeinen Rosenkranz mit silberbeschlagenen Perlen aus rotem

Sandelbaumholz. Beim Gehen bewegt er sich langsam undleicht gebeugt, was zweifellos auf das lange Sitzen mitgekreuzten Beinen auf Kissen zurückzuführen ist. Seine üblicheKleidung besteht aus einer dunkelroten Robe, wie sie vonLamas getragen wird, mit einer Weste aus Goldbrokat undeinem quadratischen Schal aus gleichem Gewebe, der seineSchultern bedeckt und vorne bis zum Gürtel herunter reicht.

In Peking empfing der Dalai Lama auch den Sohn desMaharadschas von Sikkim; er erklärte sich bereit, das Patronatüber die »Buddhist Shrine Restoration of India« zu übernehmen,und entsandte 1909 auch einen Vertreter zur Jahresversammlungdieser Institution.

Am 14. November um fünfzehn Uhr starb Kaiser Guangxu(Kuanghsü) kurz vor der Kaiserinwitwe Cixi (Ts'uhsi), die ihrLeben am 15. November um zwei Uhr aushauchte. Der letzteKaiser der Mandschu-Dynastie, Xuantong, kam als zweijährigesKind an die Macht; da er nie, zumindest nicht über China,Herrscher wurde, kennt ihn die Geschichte unter dem Namen PuYi.

Prinz Ch'un, der als Regent die Staatsgeschäfte führte, bat denDalai Lama, die Bestattung dem Brauch der offiziellen Religionder Kaiserfamilie entsprechend zu leiten. Der Staatsmann trat

hinter dem Priester zurück, und die Zeremonie, der Thubten

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Gyatso umgeben von chinesischen und tibetischen Lamasvorstand, versetzte die chinesische Hauptstadt für einen kurzenAugenblick in eine Atmosphäre innerer Bewegung und

Sammlung.Der Dalai Lama hätte gerne mit dem Prinz-Regenten die ihn

beschäftigenden Probleme besprochen, doch die Trauerzeit wardafür ungünstig. Immerhin erreichte er in zwei wenigerwichtigen Punkten, die aber in seinen langfristigen Plänen füreine Erneuerung der tibetischen Angelegenheiten eine Rollespielten, ein Entgegenkommen: Einige junge Tibeter durftenihre Studien in Peking fortsetzen, und an die neu gegründeteSchule für die Ausbildung von chinesischen Beamten, die in denGrenzregionen eingesetzt werden sollten, wurden zweiTibetischlehrer berufen.

Am 19. Dezember feierte der Dalai Lama einen letztenöffentlichen Gottesdienst, und am 21. verließ er Peking. ÜberLanzhou (Lantschou) und Xining (Sining) gelangte er am 26.Februar 1909 nach Kumbum. Im März setzte er den Weg in

Richtung Hauptstadt fort. Er nahm sich unterwegs Zeit, inTempeln und Klöstern einen Aufenthalt einzuschalten und, woes notwendig war, die Mönchsdisziplin wiederherzustellen.Seine beiden Ämter als religiöses und weltliches Oberhauptwaren mehr denn je miteinander verwoben: Dem Dalai Lamawar es um den Preis härtester Prüfungen gelungen, innerlich dieWelt der Traditionen mit den Erfordernissen der Zukunft inEinklang zu bringen. Jetzt mußte diese Politik noch in die Tatumgesetzt werden, und zwar ungeachtet aller Zwänge, mitdenen er sich bereits hatte auseinandersetzen müssen oder dieerst vorauszusehen waren.

Am 15. August 1909 traf er in Lhasa ein.

Er wurde vor der Stadt von einer zahlreichen Schar vonWürdenträgern und Mönchen begrüßt, die sich alle in einerReihe auf der einen Straßenseite aufgestellt hatten; auf der

anderen Seite standen chinesische Beamte und Soldaten. Der

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Dalai Lama hatte für die Tibeter freundschaftliche Grußwortebereit, ging aber an den Chinesen vorüber, als würde er sie nichtsehen, mit in eine vage Ferne gerichteten Augen und erhobenem

Haupt. Die Chinesen sagten kein Wort, aber ihr Herz warschwarz vor Wut.70 

Nach mehr als fünfjähriger Trennung war der Priester-Herrscher in seine Heimat zurückgekehrt; das Land und seinOberhaupt waren harten Prüfungen ausgesetzt gewesen, was sie

  jedoch nicht daran hindern konnte, weiter zu hoffen und sicheinzusetzen.

Die Stellung, die sich China geographisch und politisch inTibet angeeignet hatte, bildete das am schwierigsten zu lösendeProblem. Um die territorialen Ansprüche Chinas auf die RegionAmdo zu unterstreichen, hatten die beiden Amban, der ChineseLien-Yu und der Mandschu Chang-Ying Tang, darauf beharrt,dem Dalai Lama bis nach Nagtschu Dsong entgegenzukommen,weil sie diesen Ort als den ersten Posten an derchinesischtibetischen Grenze betrachteten. In der Region Kham

war die Situation besonders bedrohlich. Der Gouverneur vonSzetschuan, Chao Ersung, und sein Bruder, der grausameGeneral Chao Erfeng, hatten damit begonnen, dieses Gebiet zuannektieren, ohne auch nur die Genehmigung Pekingseinzuholen, woraus ersichtlich ist, wie weit der innere Zerfalldes Reiches damals bereits fortgeschritten war. Sie hatten dieBestände der Besatzungsarmee erhöht (es wird vonfünfundzwanzigtausend Mann gesprochen) und sie für diedamalige Zeit hervorragend ausgerüstet: Artillerie,Maschinengewehre und Fernmeldeeinrichtungen. DiesesExpeditionskorps stieß auf den Widerstand der Bevölkerung undder Lamas. Jedes Kloster war zu einer Festung umgebautworden. Die Bauern hatten ihre Häuser und Äcker verlassen, sodaß die Soldaten keine Nahrungsmittel mehr vorfanden, um dieMängel bei der Versorgung, die nicht die wichtigste Sorge ihres

Generals war, auszugleichen. Eine Eskalation der Gewalt war

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die unvermeidliche Folge. In den chinesischen Reihen wütetenKälte und Hunger; es wird geschätzt, daß etwa die Hälfte derSoldaten den Tod fand. Völlig überfordert von den mißlichen

Umständen, verschaffte sich Chao Erfeng den Ruf einesgnadenlosen Schreckensherrschers. Mit seiner Politikvernichtete er alles, was die Kraft der tibetischen Gesellschaftund zuallererst ihrer Religion ausgemacht hatte. Laut einemamerikanischen Missionar, der zu dieser Zeit an derchinesischtibetischen Grenze lebte, »gibt es keine bekannteFoltermethode, die bei den Tibetern nicht angewandt wird;Gliedmaßen werden abgehackt, die Haut wird abgezogen, die

Menschen werden in heißes Wasser geworfen, anderegevierteilt.«

In Lhasa hatten die Amban die Macht an sich gerissen, womitsie ebenfalls die ihnen von der Regierung verliehenenKompetenzen überschritten. Die vom Dalai Lama bestimmtenMinister waren abgesetzt worden. In den Distrikten hattenchinesische Vertreter die tibetischen Beamten verdrängt, und

diese Funktionäre trieben nicht nur die Steuern ein, sondernmischten sich sogar in innere Angelegenheiten wiebeispielsweise Vermessungsfragen ein. Die von den Residentenangeordnete Volkszählung machte keinen Unterschied zwischenden tibetischen Provinzen und den Regionen Kham und Amdo;insgesamt wurde eine tibetische Bevölkerung von sechsMillionen und vierhunderttausend Menschen registriert. ZumBeweis ihrer Machtvollkommenheit behinderten die zivilen und

militärischen chinesischen Funktionäre den Handelsaustausch ander Südgrenze mit allen nur denkbaren Schikanen. Darüberhinaus hatten sie, ob auf Anordnung Pekings, muß dahingestelltbleiben, den Agenten aus Bhutan und Nepal empfohlen, auchderen Regierungen sollten die Engländer von solchenHandelsgeschäften ausschließen. Charles Bell, ein im Chumbi-Tal ansässiger britischer Agent, meldete diese Vorkommnisseder Regierung in Delhi, wobei er hinzufügte, die Tibeter seien

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von der Haltung der chinesischen Beamten tief erschüttert.London war alarmiert, begnügte sich aber mit einem Protest inPeking; man forderte bloß, daß sich die chinesischen Agenten

aus der fraglichen Gegend zurückzögen und daß dieAbmachungen über den freien Handelsverkehr respektiertwürden.

Thubten Gyatso war aus dem Exil mit der Überzeugungzurückgekehrt, daß seinem Land weder die geistlichen Waffennoch eine modernisierte Armee genügen würden, um sichausschließlich aus eigener Kraft gegen die in neuer Formvorgebrachten chinesischen Ansprüche zu wehren. Deshalbmachte er sich daran, ein Amt für außenpolitischeAngelegenheiten aufzubauen, das vorerst diplomatischeBeziehungen mit Nepal, der Mongolei und der britischenRegierung in Indien aufnahm. Mit den indischen Behördenwaren 1905 erste Kontakte aufgenommen worden, als derPanchen Lama eine Wallfahrt nach Bodhgaya unternahm. Erwar damals eingeladen worden, auch anderen Städten einen

Besuch abzustatten; eine Begegnung mit dem Vizekönig, LordMinto Kitchener, war organisiert worden, und in Rawalpindihatte er sogar Gespräche mit dem Prince of Wales führenkönnen, der damals Indien einen Besuch abstattete.

Der Dalai Lama protestierte wiederholt in Peking gegenÜbergriffe chinesischer Bürger in Tibet. 1910, weniger als sechsMonate nach seiner Rückkehr, gelangten alarmierendeNachrichten aus den östlichen Distrikten nach Lhasa: ChaoErfengs Armee hatte sich in Marsch gesetzt und rückte gegenZentraltibet vor. Dem General ging der Ruf eines rücksichts-und erbarmungslosen Eroberers voraus. Die Lage wurde durchsystematische Desinformation verschlimmert. Berichte von derFront sprachen von zwanzigtausend Soldaten, während derAmban die aufgescheuchten Behörden in der Hauptstadt mit derBehauptung zu beruhigen versuchte, die betreffende

Armeegruppe habe bloß den Auftrag, die Sicherheit auf der

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durch Unruhen gefährdeten Straße zu gewährleisten und inEinklang mit den Verträgen von 1904 und 1906 die Märkte zuschützen. Entsprechende Anfragen des britischen Botschafters in

Peking wurden vom Kaiserhof mit denselben Zusicherungenbeantwortet. Als es zu ersten Zusammenstößen mit denschwachen tibetischen Einheiten kam, wandte sich der DalaiLama mit der Bitte um eine Intervention an die Briten; da sichdiese 1904 aus eigenem Antrieb für einen Feldzug entschiedenhatten, hätten sie eigentlich, so dachte er, erst recht auf einenAppell der tibetischen Regierung reagieren müssen. DieEreignisse überstürzten sich. In Lhasa war bereits Kampflärm zu

hören. Die nepalesische Mission versuchte mutig, zwischen dertibetischen Regierung und den chinesischen Residenten zuvermitteln. Doch ohne Erfolg. In den Tempeln und Klösternwurden die Neujahrsgebete und -zeremonien durchKanonenlärm gestört. Die ersten Gruppen der Vorhut derchinesischen Infanterie begannen bereits mit der Eroberung derHauptstadt. Am 12. Februar 1910 wurde Lhasa vom

chinesischen General Chung Ying an der Spitze vonzweitausend Soldaten völlig besetzt.

In der Nacht zuvor war es dem Dalai Lama gelungen, aus demPotala zu entkommen; in Begleitung von hundert Gardisten undBediensteten brach er in Richtung Gyantse auf. Er hatte nochZeit gefunden, einen Regenten, Ganden Tripa Tsemönling, zuernennen; ein alter Mönch wurde zu dessen Berater ingeistlichen Fragen bestimmt. Der chinesische Resident und

General Chung Ying ließen die Fliehenden durch eineTruppenabteilung verfolgen. Heldenhafte tibetische Soldatenlieferten verzweifelte Gefechte, um ihren Vormarschaufzuhalten. Trotz tiefen Schnees und eisiger Winde kam dietraurige Karawane des Dalai Lama am 20. Februar in Yatung an.Sie überschritt die Grenze, ohne daß die dortige kleinechinesische Garnison etwas unternommen hätte; diese befolgte,weil sie von den geschilderten Ereignissen nichts erfahren hatte,

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eine Haltung passiver Neutralität, wie sie ihr ursprünglichbefohlen worden war.

Für Thubten Gyatso begann in Indien ein zweites Exil. Läßt

sich seine Situation mit den Irrfahrten der römischen Päpste imMittelalter vergleichen? Klemens V. hatte sich für Avignon alsneuen Sitz entschieden, weil das Haus Anjou, dem er die Stadtzu Lehen gegeben hatte, ihm seinen Schutz anbot. Doch das warnicht das erstemal gewesen, daß der Papst vor der Anarchie, dieals Folge der gefährlichen Feldzüge der Germanen in Italienimmer wieder ausbrach, geflohen war: Zwischen 1100 und 1304haben die Päpste hundertzweiundzwanzig Jahre lang außerhalbvon Rom residiert. Das tibetische Oberhaupt hatte keine Zeitmehr gehabt, sich einen geheiligteren Ort als Refugiumauszusuchen. Möglicherweise endet das 20. Jahrhundert in dervon Andre Malraux prophezeiten Spiritualität; begonnen hat esallerdings mit einem Zusammenprall von Materialismen, welchedem Geist nur einen sehr bescheidenen Platz einräumten.

Bereitet Thubten Gyatso im neuen Exil in seinem Kopf und in

seinem geschundenen Herzen den Satz vor, den er in seinTestament schreiben wird?

Zweifellos steht uns eine Zeit der Unterdrückung und desTerrors bevor, während der uns die Tage und Nächte in einemMeer von Leiden ewig lang vorkommen werden.

Der Einmarsch von 1910 bedeutete einen kategorischenWandel in den Beziehungen, wie sie bis dahin zwischen China

und Tibet bestanden hatten. Im Gegensatz zu den Feldzügen von1720, 1728, 1750 und 1792 erfolgte er gegen den Willen derTibeter. Nicht mehr die Ausweitung des Schutzes innerhalb einund derselben spirituellen und kulturellen Sphäre war das Ziel.Diese Aggression war vielmehr eine kolonialistische Eroberungim größeren Rahmen einer Aufteilung der Welt auf dieGroßmächte. Nur die Briten glaubten noch an die Fiktion einerAutonomie Tibets unter chinesischer Lehensherrschaft. Lord

Morley, Staatssekretär für Indien, verstieg sich zur Erklärung,

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China übe bloß seine Rechte aus; wesentlich sei im Augenblicknur, daß man sich strikt an die Grenz- und Handelsverträgehalte. »Die Tibeter«, schrieb damals Charles Bell, »sind der

chinesischen Aggression ausgeliefert worden; und dermilitärische Feldzug der Briten nach Lhasa war zusammen mitdem anschließenden Rückzug grundsätzlich für diesenneuerlichen Übergriff verantwortlich.«

Indien bereitete dem Dalai Lama einen großzügigen Empfang.Nach einem Besuch in Benares wurde dem geistlichenOberhaupt und seinem Gefolge eine Residenz in Darjeelingzugewiesen. Eine Regierung durfte gebildet werden, damit dieStaatsgeschäfte unter dem Exil nicht zu leiden hatten. In dieserAngelegenheit wurde ein weiterer Versuch in Richtung Rußlandunternommen. Im Februar 1911 entsandte das Kabinett einenEmissär nach Sankt Petersburg; eine verlegene Antwort gelangteüber diplomatische Kanäle zur britischen Regierung! DieBotschaften Rußlands, Japans und Großbritanniens in Pekingsprachen bei der chinesischen Regierung vor, ohne jedoch etwas

anderes als ausweichende Antworten zu erhalten.In Lhasa war inzwischen im Februar 1910 ein Erlaß

angeschlagen worden, in dem der Dalai Lama mit beleidigendenFormulierungen als abgesetzt erklärt wurde. Dieses Schreibenwurde, wie schon beim erstenmal, von der Bevölkerungzerrissen und mit Dreck beworfen. Die drei Minister Shedra,Shokhang und Chang Kyim hatten den Dalai Lama begleitet.Der Panchen Lama weigerte sich, die Leitung derStaatsgeschäfte zu übernehmen. Die Nationalversammlung traf keinerlei Anstalten, um mit den Eroberern zusammenzuarbeiten.Sah China jetzt ein, daß es einen Fehler begangen hatte?Nachdem der Dalai Lama eine Botschaft nach Peking geschickthatte, in der er sich zu Verhandlungen mit dem chinesischenAußenminister bereit erklärte, wurde ein Emissär zu ihmentsandt: Thubten Gyatso ließ jedoch verlauten, die betreffende

Person nehme nicht einen genügend hohen Rang ein, um als

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Sprecher der Regierung betrachtet werden zu können, und erfügte hinzu, er wünsche unter allen Umständen, daß eineallfällige Regelung von der britischen Regierung garantiert

würde. Das war eine für Peking unannehmbare Forderung;dennoch bereitete man eine Rückkehr des Dalai Lama vor. ChaoErfeng wurde zurückbefohlen; er fand 1911 in Chengdu denTod, als aufständische Chinesen die Soldaten der Mandschu-Garnisonen im Landesinneren massakrierten.

Im gleichen Jahr fegten die nicht mehr unterdrückbarepolitische Agitation und eine allgemeine Unordnung die letzteDynastie des chinesischen Reiches hinweg. Anfang 1912 wurdedie Republik ausgerufen; General Yüan Shih-K'ai ließ sich zumPräsidenten proklamieren und in dieser Stellung von denausländischen Mächten anerkennen.

Als die Kunde von dieser Revolution Tibet erreichte,reagierten zuallererst die chinesischen Soldaten; sie meuterten,viele desertierten, um nach Hause zurückzukehren, einigebenutzten ihre Waffen, um möglichst viel zusammenzustehlen

und zu plündern. Die tibetische Bevölkerung erhob sichihrerseits, einige chinesische Garnisonen wurden von ihrzerstört. Der Amban, General Chung Ying, versuchte seineTruppe umzustimmen, was ihm in Lhasa und Shigatse gelang,und erstrebte eine Verhandlungslösung.

In Darjeeling ordnete der Dalai Lama die Bildung einesKriegsministeriums an; für die Koordination aller Operationen

und die Reorganisation der tibetischen Armee entsandte erseinen Berater und Freund Dasang Dradul Tsarong nach Lhasa.Dieser intelligente und mutige Mann aus bescheidener Familiewar sehr jung in den Dienst des Dalai Lama getreten und hattediesen während seiner Exiljahre in der Mongolei und in Chinabegleitet; bei der zweiten Flucht hatte er als Verantwortlicher fürdie Nachhut Thubten Gyatsos Fluchtweg gesichert. Die Britengaben dem Dalai Lama den Rat, die Überreste der chinesischen

Armee in Tibet zu schonen. Einmal mehr spielte der

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nepalesische Botschafter in Lhasa als Vermittler mit Geschickund großem Mut eine wichtige Rolle. Die chinesischen Truppenwurden nach Indien evakuiert und mit Schiffen nach China

heimgeschickt.In Peking ließ Yüan Shih-K'ai schon bald durchblicken, daß

er nicht die Absicht hatte, Tibet gegenüber eine andere Politikzu betreiben. Im April 1912 wurde in einer ersten Erklärungfestgehalten, Tibet, die Mongolei und Sinkiang seienBestandteile der Republik mit gleichen Rechten und Pflichtenwie die Provinzen. Am 28. Oktober wurde der Dalai Lama als»treuer Untertan, guter und aus-sich-selbst-existierender großerBuddha« bezeichnet, wobei zusätzlich hervorgehoben wurde, ersei »von einem tiefen Zugehörigkeitsgefühl zum Vaterlandbeseelt«. Gleichzeitig beorderte das neue Regime eine starkeArmee an die chinesischtibetische Grenze, um die frühere  paxsinica wiederherzustellen.

Die Republik beabsichtigte offensichtlich, an die Traditionder Mongolen- und Mandschu-Kaiser anzuknüpfen. Doch die

Voraussetzungen waren nicht mehr dieselben. Trotz »einergrenzenlosen chinesischen Fähigkeit zu fehlerhaftenInterpretationen«, um den britischen Botschafter in Peking, SirC. Macdonald, zu zitieren, hatte der in China eingetretenepolitische Umschwung die Beziehungen zu Tibet vollständigumgekrempelt: Die laizistische republikanische RegierungChinas konnte für sich nicht mehr eine geistliche Beziehungzum Dalai Lama in Anspruch nehmen, die 1910 durch denmilitärischen Einmarsch in Tibet ohnehin schon stark in Fragegestellt worden war.

Thubten Gyatso antwortete Yüan Shih-K'ai, er strebe keineStellung innerhalb der chinesischen Hierarchie an undübernehme wieder die geistliche und weltliche Regierung inseinem Land. Diese Botschaft stellte eineUnabhängigkeitserklärung Tibets dar. Er machte sich sogleich

auf den Weg; er verbrachte einige Tage im Chumbi-Tal, wo ihm

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ein sehr genauer Bericht über die Lage in Lhasa übergebenwurde. Als er endgültig sicher war, daß sich kein chinesischerBeamter oder Soldat mehr im Lande befand - erstmals seit dem

18. Jahrhundert -, zog er im Januar 1913 im Triumph in dieHauptstadt ein. Zweiundzwanzig Tage später veröffentlichte ereine formelle Erklärung, in der er seine Stellung alsStaatsoberhaupt noch einmal betonte und zugleich einRegierungs-, Entwicklungs- und Fortschrittsprogramm vorlegte.

Wir sind eine bescheidene, religiöse und unabhängige Nation.[...] Wir besitzen natürliche Reichtümer und Bodenschätze, aberTibet ist auf wissenschaftlichem Gebiet nicht so weit wie andereLänder gekommen.

Prinzipiell wird festgehalten, Frieden und Wohlstand ließensich nur durch Beibehaltung des Glaubens und derbuddhistischen Institutionen sichern, aber die Erklärung erinnertauch daran, daß die Klöster keine kommerziellen oderfinanziellen Tätigkeiten entfalten dürfen. Der Dalai Lamakündigt fiskalische Maßnahmen und eine Landreform an, um die

Lebensbedingungen der Bauern zu verbessern. Auch die Strafenfür Vergehen sollen grundsätzlich neu geregelt werden.

Die britische Diplomatie, die keine derartige Entwicklungvorausgesehen hatte und deshalb durch die Ereignisse inVerlegenheit gebracht wurde, zog alle Register ihrer Kunst.Befürchtete man, hinter dem Selbstbestimmungswillen Tibetswürde das alte Gespenst des russischen Expansionismus wieder

aus seinem Grab heraufsteigen? Die zaristische Regierung hatteschon die Mongolei in ihren Bestrebungen unterstützt, diechinesische Schirmherrschaft abzuschütteln. Laut einem imJanuar 1913 unterzeichneten Abkommen hatten die Mongoleiund Tibet, vermutlich auf Anregung russischer Diplomaten, ihreUnabhängigkeit gegenseitig anerkannt und sich auf einebilaterale wirtschaftliche und militärische Zusammenarbeitgeeinigt. Obwohl die Rechtsgültigkeit dieses Dokuments noch

fraglich war, hielten die Briten den Augenblick für gekommen,

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ihren Einsatz im asiatischen Ränkespiel zu erhöhen. Ihre Geduldund ihre Hartnäckigkeit wurden belohnt, als China und Tibetsich bereit erklärten, sich an einen gemeinsamen

Verhandlungstisch zu setzen. London oder Peking wurden alsStandorte für die Gespräche abgelehnt. Schließlich einigten sichdie drei Gesprächspartner auf Simla, rund dreihundert Kilometernördlich von Delhi.

Welche Bedeutung dem Treffen beigemessen wurde, läßt sichaus den mit den notwendigen Vollmachten ausgestattetenUnterhändlern der drei Mächte ersehen. Der Dalai Lama gabseinem Vertreter, Paljor Dorje Shatra, den er 1907 als Ministereingesetzt und mit der Aufgabe, die Regierungstätigkeit zukoordinieren (Lönchen), betraut hatte, genaue Instruktionen mitauf den Weg.

Die Republik China entsandte ihren Kommissar für tibetischeAngelegenheiten, Yifan Chen, und dessen Adjunkten WangHaiping nach Simla.

Repräsentant Großbritanniens war Sir Arthur Henry

Macdonald, Sekretär der indischen Regierung; ihm standen derMitarbeiter für chinesische Angelegenheiten, Archibald Rose,und der Mitarbeiter für tibetische Angelegenheiten, CharlesBell, zur Seite.

Am 13. Oktober 1913, als die Verhandlungspartner erstmalszusammentrafen, schienen die Standpunkte, sowohl was dieGrenzen Tibets als auch die der Regierung in Lhasa zustehenden

Kompetenzen betraf, völlig unvereinbar zu sein. Die tibetischeDelegation hatte eine umfangreiche Dokumentationmitgebracht, um ihre Argumente, vor allem hinsichtlich derOstgrenzen Tibets, zu begründen. Je weiter die Gesprächegediehen, um so deutlicher zeigte es sich, daß Großbritanniennicht bereit war, Tibet mehr als den Status eines  Dominion miteiner autonomen Regierung unter nomineller chinesischerOberhoheit zuzugestehen. Offen blieb noch die Frage der

Grenzziehung; den Chinesen lag viel an einer Bestätigung ihrer

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vollen territorialen Souveränität, während es der Regierung desDalai Lama vor allem um die Interessen der Bevölkerung in denRegionen Kham und Amdo ging, welche sich zum gleichen

Glauben und geistlichen Oberhaupt bekannte.Ein erster Schritt in Richtung einer Regelung war am 24.

März 1914 zu verzeichnen: Die tibetische und die britischeDelegation schlossen durch einen Notenaustausch einen Vertragüber den Grenzverlauf zwischen Indien und Tibet ab; die demDokument beigelegte Karte mit der »MacMahon-Linie« ist am15. Januar 1960 vom indischen Außenminister erstmalsveröffentlicht worden.

Die chinesische Delegation hatte an den tibetischbritischenVerhandlungen über diese Frage nicht teilgenommen, aber siewar über den Gesprächsverlauf informiert worden. DieDiskussionen zogen sich über zwei weitere Monate hin. Am 3.Juni 1914 paraphierten schließlich die drei Delegationsleiter denText einer Übereinkunft, der durch einen Notenaustauschergänzt wurde. Daraus ging hervor:

• Tibet stellt einen Teil Chinas dar; doch China wie auchGroßbritannien verpflichten sich dazu, weder das gesamtetibetische Territorium noch Teile davon je formell zuannektieren.

• Ein Unterschied wird gemacht zwischen Außer-Tibet, dassich selbst regiert und das im chinesischen Parlament nichtvertreten ist, und Inner-Tibet, über dessen

Verwaltungsangelegenheiten vorsichtshalber nichts ausgesagtwird.

• Die Kompetenz für die Wahl und die Inthronisierung desDalai Lama steht ausschließlich den tibetischen Institutionen zu;die chinesische Regierung wird über deren Entscheidungeninformiert, ihr Vertreter in Lhasa überreicht dem jeweiligenOberhaupt den Titel, der ihm aufgrund seiner Würde zusteht.

Diese zuletzt genannte Konzession an die Geschichte wurde

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von Peking nicht akzeptiert; die chinesische Regierung weigertesich auch, die vorgeschlagenen Grenzen zu anerkennen: IhrUnterhändler Yifan Chen wurde desavouiert, indem China den

Vertrag von Simla nicht unterzeichnete.Thubten Gyatso begann, obwohl seine Hoffnungen durch das

Ergebnis der langen Verhandlungen nicht erfüllt worden waren,mit der Verwirklichung des Reformprogramms, das er sich fürdie Modernisierung des Landes vorgenommen hatte. Die Größeder Aufgabe und der vielfältige Widerstand, gegen den eranzukämpfen hatte, konnten seinen Mut und seineEntschlossenheit nicht beeinträchtigen.

Schon bei der Schaffung eines wirksamen und diszipliniertenMilitärapparats erhielt er eine Vorahnung von denSchwierigkeiten, die zu überwinden waren. »In diesem vomBuddhismus grundlegend geprägten Land hatte derSoldatenberuf in der gesamten gesellschaftlichen Hierarchie,beim Adel wie beim Volk, das sehr energisch gegen eineMilitarisierung eingestellt war, einen sehr tiefen Stellenwert.« 71 

Auch der jetzige Dalai Lama hält fest, »daß die Tibeter trotzihrer Geschichte grundsätzlich friedfertige Menschen gebliebensind, für die es nichts Schlimmeres als das Militär gibt«. Bisheute muß man sich bloß die Ruinen der Festungen längs derPilger- und Besucherwege ansehen, um sich davon zuüberzeugen, daß sich die religiösen und die politischenBehörden auf äußere Schutzmächte verlassen haben, wenn esum die Erhaltung der Integrität des Landes ging. Die Klöstersahen überdies in der Armee eine Konkurrentin bei derRekrutierung von Nachwuchs und einen Eingriff in die bisherigeNutzung der öffentlichen Ressourcen in Naturalien oder in Geld.

1913 bestand die Armee aus kaum dreitausend Mann.Unmittelbar nach seiner Rückkehr setzte der Dalai Lama seineim Exil getroffene Entscheidung in die Tat um. Er ernannte inder Person von Dasang Dradul Tsarong einen

Oberkommandierenden der Armee. Der

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Achtundzwanzigjährige, der durch die Heirat mit einer Erbin desTsarong-Titels, den er seinem eigenen Namen hinzugefügt hatte,in den Adelsstand aufgestiegen war, hob tausend zusätzliche

Soldaten aus. Vier ausgewählte junge Leute schickte er an diebritische Militärakademie in Rugby. Der Dalai Lama ließ sievon einem anderen seiner geschätztesten Berater, Dorje TsegyalLungshar, begleiten. Dieser Mitarbeiter wurde von König GeorgV. und Königin Mary in Audienz empfangen und nutzte seinenEuropa-Aufenthalt, um auch Frankreich, Deutschland, dieNiederlande und Belgien zu besuchen. Als Dasang DradulTsarong durch Vergleiche feststellte, daß die britischen

Ausbildungsmethoden denen anderer Länder überlegen waren,sandte er später weitere junge Leute aus dem Adelsstand nachSikkim und Indien, wo sie Artillerie- und Fernmeldekursebesuchten.

Auch die innere Ordnung mußte aufrechterhalten bleiben.Eine vom Dalai Lama ernannte Kommission erhielt deshalb denAuftrag, Reglemente für die Ausbildung und die Aufgaben einer

Polizei auszuarbeiten.Später, 1925, wurde ein Postbüro eröffnet, das Briefmarken

herausgab und einen Postdienst zwischen den großen Städten imLandesinneren organisierte. Ins Ausland konnten vorläufig keineBriefe spediert werden. Noch im gleichen Jahr richtete man

 jedoch eine telegrafische Verbindung nach Gyantse ein, die andas britischindische Netz angeschlossen wurde. Ermöglichtwurde diese Entwicklung dank den technischen Kenntnisseneines der vier in England ausgebildeten Offiziere, ShodrungKyibuk.

Der Dalai Lama machte sich Sorgen um die Wahrung des»ökologischen Gleichgewichts im tibetischen Biotop«. Ihm wares auch wichtig, seine Landsleute vor Krankheiten zu schützen,die aus dem Ausland eingeschleppt werden konnten; einmahnendes Beispiel dafür waren die Pocken, die sich schon seit

Jahrhunderten immer wieder bemerkbar gemacht hatten. Er

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bemühte sich um den Aufbau einer Wirtschaft, die eineausreichende Versorgung des Landes gewährleisten würde: Auf seinen Befehl hin wurde sogar versuchsweise eine Teeplantage

angelegt, denn Tee war gewissermaßen das Nationalgetränk.Der Erfolg blieb leider bescheiden.

Eine Bank wurde gegründet, die unter anderem den Auftraghatte, eigenes Geld zu prägen und den Geldumlauf zukontrollieren. Die chinesischen Geldstücke sollten durchtibetische Kupfermünzen ersetzt werden.

Alle diese Maßnahmen hatten neue Ausgaben zur Folge, so

daß man auch die Einnahmen der Staatskasse verbessern mußte.Die Zölle auf Salz und Fellen wurden erhöht. Bei derEinführung einer Wertsteuer auf Waren, die an dertibetischindischen Grenze ausgetauscht wurden, stieß dieRegierung zunächst auf den Widerstand der britischenBehörden, die sich auf frühere Abmachungen beriefen; nachlangwierigen Verhandlungen wurde schließlich ein festerZollansatz von fünf Prozent akzeptiert. Zusätzliche Steuerlasten

wurden schließlich dem Adel und den Klöstern zugemutet. AlsKontrollorgan für alle diese Maßnahmen wurde 1920 ein Amtfür die Ermittlung der Einkommensverhältnisse geschaffen;einerseits sollte diese Behörde die Steuerhinterziehungverunmöglichen, und andererseits hatte sie die Aufgabe, neueFinanzquellen zu erschließen.

In europäischen Staaten hatten Fiskalreformen immer wieder

Aufstände heraufbeschworen, beispielsweise bei derUmwandlung des Kirchenzehnten. Auch die Regierung desDalai Lama entging diesem Schicksal nicht.

Zur komplizierten inneren Situation kamen nicht endenwollende Unruhen in der Ostregion. Unmittelbar nachUnterzeichnung des Abkommens von Simla hatte der DalaiLama die Truppen und das Kommando im Gebiet zwischenGyamda und Chamdo verstärkt. Er hatte nie Zweifel daran,

China würde die internationale Lage, wie sie sich nach Beginn

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des Ersten Weltkriegs entwickelte, dazu benutzen, um diemilitärischen Operationen jenseits der Grenzlinienwiederaufzunehmen, Grenzlinien, die zudem in Simla nicht

anerkannt worden waren. Solche Befürchtungen bewahrheitetensich im September 1917, als unversehens ein Angriff gegen dietibetischen Stellungen bei Riwoche ausgelöst wurde. Dietibetische Armee bekam auf diese Weise Gelegenheit, ihre neueOrganisation und ihre Bewaffnung britischer Herkunft auf dieProbe zu stellen. Sie erzielte rasche Erfolge; die chinesischenTruppen wurden über den Oberlauf des Yangtse Kiangzurückgeworfen. Die über das verbrecherische Vorgehen des

Gouverneurs von Szetschuan, Peng Risheng, derKriegsgefangene hatte enthaupten lassen, erbosten Tibeterwollten ihren Vormarsch in Richtung Ta-Chien-Lu fortsetzen.Doch die chinesischen Kommandanten, die sich bewußt waren,daß sie keinerlei Verstärkung zu erwarten hatten und für einegrößere Niederlage zur Verantwortung gezogen würden,entsandten Emissäre nach Lhasa. Der Dalai Lama nahm deren

Vorschläge wohlwollend entgegen. Ein britischer Vermittler,Eric Teichman, Mitarbeiter des konsularischen Dienstes inChina, war beiden Seiten genehm. Ein in Rongbatsa in der Näheder Ortschaft Ganzi im August 1918 abgeschlossenerWaffenstillstand stellte die frühere Grenzlinie am Oberlauf desYangtse Kiang wieder her. Für zwölf Jahre kehrte in dieseminstabilen und von Aufständen heimgesuchten Gebiet Ruhe ein.Peking erteilte dem Gouverneur der Provinz Kansu den Befehl,

eine Delegation nach Lhasa zu entsenden, um eine endgültigeRegelung für die Meinungsverschiedenheiten zwischen denbeiden Ländern einzuleiten. Der Dalai Lama bereitete denchinesischen Mittelsmännern einen würdigen, aber reserviertenEmpfang; er gab ihnen zu verstehen, daß er sich an den Wortlautder Vereinbarung von Simla halte und von der chinesischenRegierung deren Unterzeichnung erwarte.

Nachdem der notdürftige und wacklige Friede mit China

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wiederhergestellt war, hatte sich Thubten Gyatso abermals mitinneren Problemen zu befassen. Wie üblich waren weltliche undreligiöse Fragen miteinander vermengt. Im religiösen Bereich

ging es für einmal nicht so sehr um die Lehre, sondern um diehierarchische Organisation der buddhistischen Institutionen. Diefür die Deckung der Staatsausgaben vorgenommenenfiskalischen Reformen hatten einen heiklen Kompetenzenstreitmit dem Panchen Lama heraufbeschworen. Von der historischenEntwicklung her gesehen stand diesem in der Tsang-Region, fürdie chinesischen Kaiser Hinter-Tibet, das Recht zu, Abgaben auf Handelsgeschäfte zu erheben, und die örtliche Bevölkerung

ihrerseits pochte auf diese Privilegien. Nach seiner Rückkehraus dem Exil hatte der Dalai Lama den Panchen Lamaaufgefordert, einen Teil der Kosten für den Krieg mit China inden Jahren 1912/1913 zu übernehmen. Er erinnerte dabei an denPräzedenzfall des Krieges von 1791 mit Nepal, als der damaligePanchen Lama eingewilligt hatte, den vierten Teil der gesamtenKosten zu tragen. 1917 verlangte die Verwaltung in Lhasa einen

Anteil an den Einkünften in Naturalien, die von denBediensteten des Klosters Tashilhunpo erhoben wurden; siewollte zudem das System der Transport-Frondienste auf dieBauern in der Region von Shigatse ausweiten, die davon vorlanger Zeit befreit worden waren. Eine erste Intervention desPanchen Lama blieb unbeantwortet. Daraufhin versuchte er esmit einer anderen Taktik, indem er den britischenHandelsagenten in Gyantse, Macdonald, mit einer Vermittlung

betraute. Nicht zum erstenmal mischte sich der Titular vonTashilhunpo damit in den Bereich der Auslandbeziehungen ein.Während des Krieges mit Nepal hatte Palden Yeshe direktenbrieflichen Kontakt mit König Prithivi Narayan aufgenommen;und auch Chökyi Nyima hatte 1904 auf eigene Faust Kontaktemit der britischen Expedition von Younghusband gesucht.Damit wollte er verhindern, daß sich der Konflikt in seinEinflußgebiet, die Provinz Tsang, ausbreitete, die zuallererst und

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am schwersten unter den kriegerischen Ereignissen zu leidengehabt hätte. Doch im neuartigen internationalen Kontext, wieer hier vorlag, mußte, insbesondere wenn man die vom Dalai

Lama zwischen China und Großbritannien eingeleitete heiklediplomatische Partie berücksichtigte, ein neues Element dasSpiel noch komplizieren. Macdonald gab jedenfalls denBescheid, sein Land könne sich unmöglich in eine reininnenpolitische Angelegenheit einmischen. Der Panchen Lamawar dieser Situation nicht gewachsen; seine kirchlicheUmgebung, welche die Autorität der Zentralregierung in Lhasaentschieden ablehnte, setzte ihn zudem unter Druck, und so

verließ er, von nur fünfzehn Mönchen begleitet, in der Nachtzum 15. November sein Kloster. Die militärischen Befehlshaberin der Region versuchten Kontakt zu ihm aufzunehmen; siewußten jedoch nicht, in welcher Richtung er aufgebrochen war,und der Schnee behinderte mögliche Vorstöße ihrer Truppen.Die kleine Karawane irrte vorerst unter mühseligen äußerenBedingungen in der Gegend umher, weil sie die üblichen

Verbindungswege zu meiden versuchte, und schlug schließlichdie Route in Richtung Mongolei ein.

Vor seiner Abreise hatte der Panchen Lama dem Dalai Lamanoch einen Brief geschickt, worin er erklärte, er habekeineswegs die Absicht, Ursache eines Bürgerkrieges zuwerden, und er begebe sich ins Ausland, um mehreren Klösterneinen Besuch abzustatten. Er hielt die Verbindung zumreligiösen Oberhaupt in Lhasa aufrecht, aber er kehrte nie mehr

aus seinem freiwilligen Exil zurück; er starb 1937, ohneTashilhunpo wiedergesehen zu haben.

Man fragt sich nach den Gründen für diese veränderteHaltung des Panchen Lama, die das Gleichgewicht in dengeistlichen Beziehungen erschütterte, das sich historischzwischen den beiden Oberhäuptern der buddhistischen SchuleTibets eingespielt hatte. Während des ganzen 19. Jahrhunderts

war, das ist einzuräumen, die Institution des Panchen Lama der

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eigentliche Angelpunkt der tibetischen Gesellschaft und Politikgewesen, denn die rasch aufeinander folgenden Dalai Lamaswaren nicht alt genug geworden und hatten sich praktisch nicht

an den weltlichen und religiösen Regierungsgeschäften beteiligt.Chökyi Nyima war nur sieben Jahre jünger als Thubten Gyatso;dieser Altersunterschied war zu gering für ein geistliches Vater-Sohn-Verhältnis. Gewiß, der junge Panchen Lama hatte daschinesische Angebot abgelehnt, während der beiden Exile desDalai Lama in den Jahren 1904 und 1910 die Führung desLandes zu übernehmen. Hatte er seine Meinung geändert, war erzum Schluß gekommen, mit seinem eigenen Exil verschaffe er

sich einen Anspruch, gleichberechtigt in das politische Lebeneinzugreifen? Jedenfalls hat China ihm gegenüber seine schonimmer geübte Taktik angewandt, nämlich die beiden religiösenOberhäupter gegeneinander auszuspielen: Shigatse gegen Lhasa,das Kloster Tashilhunpo gegen den Potala-Palast, um Tibet zuschwächen und die eigene Herrschaft zu verewigen. ChökyiNyima versuchte immer wieder, mit dem Dalai Lama ins

Gespräch zu kommen und nach Tibet zurückzukehren; er wurde jedesmal daran gehindert, und als seine Rückkehr nicht mehr zuvermeiden war, wurde sie hinausgezögert, bis ihn unterwegs derTod ereilte.

Dieses Ereignis und auch die weitere Entwicklung der Dingein Lhasa erleichterten dem Dalai Lama die Aufgabe nicht.Trugen nicht sogar die löblichen Absichten Thubten Gyatsosdazu bei, daß sich neue Hindernisse in den Weg stellten? Man

bringt nicht ungestraft Modernisierungsfermente in eineGesellschaft ein, die »noch im Zeitalter des Feudalismus lebtund in welcher der Adel und eine religiöse Hierarchie sich in dieMacht teilen«, hält Charles Bell schon 1921 fest. Von jetzt anmußte der Dalai Lama mit den Kräften rechnen, die er selbstgeweckt hatte. Läßt sich sagen, es seien wirkliche politischeParteien entstanden? Sicher nicht im westlichen Sinne desWortes. Hugh E. Richardson bestreitet, daß es eine »Junge

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Partei Tibets« gegeben habe, eine Erfindung chinesischerBeobachter, die damit das Mißtrauen gegenüber den in Lhasasich ausbreitenden westlichen und insbesondere britischen

Einflüssen schüren wollten. Die republikanische Regierung inPeking hat zwar, stellt man Vergleiche mit dem China der Hanan, ebenfalls eine Modernisierungspolitik betrieben, die mit demverschlafenen Traditionalismus der kaiserlichen Dynastienbrach, doch in der Frage der Grenzregionen gab sie entschiedeneinem Status quo den Vorzug.

Die Vorstellungen des Dalai Lama und die von ihmbetriebenen Reformen hatten zumindest in einer Angelegenheitdie Meinungen seiner Landsleute auf einen gemeinsamenNenner gebracht: Alle waren vom Willen getragen, dieerworbene politische Unabhängigkeit zu wahren. Daß diechinesischen Vertreter, die sich entweder auf Befehl oder auspersönlicher Laune heraus in die inneren AngelegenheitenTibets eingemischt hatten, verschwunden waren, wurdeallgemein als eine Erleichterung empfunden. Doch davon

abgesehen gab es Meinungsverschiedenheiten über dieVerwirklichung des vom Dalai Lama vorgeschlagenenModernisierungsprogramms. Die öffentliche Meinung war indrei Strömungen gespalten.

• Eine neue Generation, vor allem junge Leute aus dem Adel,hatte bereits mit einer anderen Lebensweise Bekanntschaftgeschlossen, die einen in Indien oder Großbritannien, dieanderen im neuen republikanischen China; für sie warErneuerung gleichbedeutend mit Befreiung von kirchlicherVormundschaft; sie dachte an nichts anderes, als das Joch derTradition abzuschütteln. Mit ihrer Kleidung und ihrenGewohnheiten - sie spielte Tennis und Polo, trank den Tee auf englische Art, grüßte mit einem Händedruck - forderte sie dasvon den Ahnen übernommene Gesellschaftssystem heraus.Dennoch suchte sie nicht etwa beim Volk politische

Unterstützung; langfristig zielten ihre Absichten vielmehr darauf 

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ab, die, ihrer Meinung nach, Diktatur der Mönche durch eineandere, auf der Macht des Militärs, des wichtigsten Garanten derUnabhängigkeit des Landes, beruhende Form von Autokratie zu

ersetzen. Als ihren führenden Kopf betrachtete sie DasangDradul Tsarong, der seine wichtigen Funktionen alsOberkommandierender der Armee und Verantwortlicher für dieentstehende nationale Industrie, eine Münzstätte und eineWaffenfabrik, der Gunst des Dalai Lama verdankte.

• Die Opposition gegen diese erste Gruppe bildeten die Äbteund Lamas der drei großen Klöster Drepung, Sera und Ganden,der »Pfeiler Tibets«. Für sie und die in ihrem Einflußbereichlebenden Mönche war Tibet zuallererst eine religiöse Entität underst in zweiter Linie eine Nation. Zu Loyalität fühlten sie sichvor allem dem Ideal des Buddhismus und dem Gelugpa-Ordengegenüber verpflichtet. Ihre Beteiligung an der Regierung undinsbesondere an der Arbeit der Nationalversammlung bestandvor allem darin, daß sie deren Entscheidungen daraufhinprüften, ob sie mit den Grundprinzipien der Religion, dem

eigentlichen Wesen des Landes, in Einklang stünden; jederSchritt in Richtung einer Säkularisierung bedeutete für sie eineHäresie. Für die große Masse der Mönche mit einem imallgemeinen eher bescheidenen Bildungsstand galten dieAusländer, und insbesondere die Nichtasiaten, als Heiden, wozunoch ein großes Mißtrauen gegenüber der Armee kam.

• Die dritte Strömung stand eher über als zwischen diesenbeiden Lagern. Zu ihr gehörten konservative Kräfte in derRegierung, Mitglieder des Ministerrats, Verwalter der Klösterund Verantwortliche für bestimmte staatliche Bereiche wieRechtssprechung oder Steuerwesen.

Diese Männer hatten nicht viel für die Allmacht der Möncheübrig, sie beobachteten aber auch mit Argwohn, wie sich einemilitärische Gegenmacht entwickelte, die erst noch eineBelastung für die Staatskasse darstellte; die öffentlichen

Verpflichtungen konnten nur auf Kosten der herkömmlichen

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Einkommensquellen der leitenden Gremien, des Landadels undder Geschäftsleute gedeckt werden. Als einflußreichsteMitglieder dieser Gruppe galten Ara Karpo (»weißer Bart«),

einer der angesehensten Abgeordneten derNationalversammlung, und Kusangtse Shabpe, der dasVertrauen des Dalai Lama genoß und mit seinem militärischenSachverstand ein Gegengewicht zu Dasang Dradul Tsarongbildete.

Wie in allen organisierten Gesellschaften hat eine Vielfalt vonpolitischen Meinungen zur Folge, daß die höchste Exekutive dieMacht allein ausübt; Thubten Gyatso setzte seine Gebete undseine Meditationsübungen fort, aber er verfolgte auchaufmerksam die von ihm ausgelöste Entwicklung im Lande. Derempfindlichste Teil seines Modernisierungsprogramms warenzweifellos die ansteigenden Militärausgaben, und erstepolitische Meinungsverschiedenheiten wurden in den Debattenüber Projekte sichtbar, die im Januar 1921 derNationalversammlung vorgelegt wurden. Die Armee, ein neues

Element im gesamten Staatsgefüge, fühlte sich in derNationalversammlung nur unzureichend vertreten. Von DasangDradul Tsarong dazu gedrängte Offiziere verlangtenErklärungen und Veränderungen, womit sie Druck auf dieseBehörde ausübten. Daß eine Institution in Frage gestellt wurde,war an sich schon eher verwirrend; die Parteien der Klöster undder Konservativen fühlten sich beunruhigt. Das militärischeKader erhoffte sich Vorteile von einem direkten Gespräch mit

dem Dalai Lama, doch dabei verstießen sie gegen diebestehende Ordnung: Sie begaben sich, in Uniform und ohneeine Einladung erhalten zu haben, in den Potala, während dieoffiziellen Lamas ihre tägliche Besprechung mit dem geistlichenOberhaupt abhielten. Trotz seiner Zuneigung für Dasang DradulTsarong, seinen jungen Gefährten im Exil, mußte ThubtenGyatso ihm die Flügel stutzen; er entzog ihm einige seinerBefugnisse und ordnete auch Strafmaßnahmen gegen andere

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Persönlichkeiten an, die in seinem Umfeld zu großes Gewichterhalten hatten, so gegen Kusangtse Shabpe.

Einige Tage später kam es zu einem Zwischenfall zwischen

den Militärs und den Mönchen der wichtigsten Klöster, alsderen der ungetreuen Geschäftsführung angeklagte Verwalterverhaftet wurden. Nun waren es Vertreter des Klerus, dielauthals eine Audienz beim Dalai Lama verlangten, der sich füreine gewisse Zeit zur inneren Besinnung in den Norbulinka-Palast zurückgezogen hatte; ihre Demonstration artete aus, alssie sich weigerten, den Berater Shölkhang anzuhören, der sie zuberuhigen versuchte; man mußte sie aus dem Garten vertreiben,in den sie ohne Rücksicht auf die Ruhe dieses Orteseingedrungen waren. Während der folgenden Tage bezogen dieTruppen Stellungen um die Klöster herum. Abermals nahm derDalai Lama die Angelegenheit selbst an die Hand: Die alsAgitatoren identifizierten Mönche wurden verhaftet und miteinem hölzernen Joch um den Hals durch die Straßen der Stadtgeführt; vor allem aber wurden mehrere Äbte des Klosters

Drepung ihrer Ämter enthoben. Zum erstenmal tat sich eineKluft zwischen der weltlichen Macht und der religiösenHierarchie auf. Der Dalai Lama zeigte Milde. Die Güter derKlöster und der Familien der für die Unruhen verantwortlichenKräfte blieben unangetastet. Im folgenden Jahr lud das KlosterGanden den Dalai Lama zu einer offiziellen Feier nach derFertigstellung eines neuen Gebäudes ein, womit es seine volleErgebenheit dem geistlichen Oberhaupt gegenüber zum

Ausdruck brachte.Einige Jahre lang führte Thubten Gyatso sein

Modernisierungswerk fort, wobei vor allem Großbritannientechnische Hilfe leistete. In der Hauptstadt wurde einWasserkraftwerk gebaut. Ein Engländer erhielt den Auftrag füreine geologische Untersuchung, mit der ausbeutbareBodenschätze geortet werden sollten. In Gyantse wurde 1924

eine englische Schule eröffnet. Die britische Regierung in Indien

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entsprach einem tibetischen Gesuch und stellte der Regierungeinen Beamten tibetischer Herkunft aus Sikkim für den Aufbaueiner Polizeitruppe in der Hauptstadt zur Verfügung.

Auch dieses Vorhaben stieß auf Widerstand. Das Militärbefürchtete den Verlust seiner Bewegungsfreiheit. Im Mai 1924kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen Polizisten undSoldaten; ein Polizist wurde getötet. Dasang Dradul Tsarong,der noch immer den Posten eines Oberkommandierenden derArmee bekleidete, hielt es für richtig, grausam zu wüten, umweitere Kampagnen gegen die Armee von vornherein zuunterbinden. Er begab sich an den Ort des Geschehens undverhängte, ohne auch nur ein Urteil abzuwarten, eine brutaleStrafe: Einem der Beteiligten wurde ein Bein abgeschlagen,einem zweiten ein Ohr abgeschnitten. Der erstere starb amfolgenden Tag. Eine Volksmenge trug seinen Leichnam durchdie Stadt.

Der Dalai Lama hatte sich ausdrücklich gegen Körperstrafenausgesprochen. Dasang Dradul Tsarong wurde jetzt aller seiner

Funktionen enthoben und verließ das Land. Während derkommenden Jahre lebte er in Nepal und Indien. An derArmeespitze wurde er durch Dorje Tsegyal Lungshar ersetzt, derseit seiner Rückkehr aus Europa, wohin er die vier ersten inEngland ausgebildeten tibetischen Offiziere begleitet hatte, dasFinanzministerium leitete.

Eine weitere Persönlichkeit stieß um diese Zeit zum Kreis der

 jungen Leute, die sich für die Einführung moderner Methoden indie tibetische Gesellschaft einsetzten: Thubten Kunpel-La. Erstammte aus einer bescheidenen Bauernfamilie, war Mönchgeworden und hatte einen mühseligen Beruf erlernt, denn erfertigte Holzstöcke für den Druck religiöser Texte an. Der DalaiLama spürte, daß dieser junge Mann ohne Beziehungen zurAristokratie oder zu politischen und finanziellen Kreisen bereitwar, sich voll für die Allgemeinheit einzusetzen. 1925 vertraute

er ihm das Ministerium an, das er für Dasang Dradul Tsarong

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geschaffen hatte und zu dem die Münzstätte, die Waffenfabrikund die Elektrizitätsversorgung gehörten. Die moderne Technikhatte es Thubten Kunpel-La angetan; er führte die ersten

Automobile ein, einen Dodge und zwei kleine Austin, die dervierzehnte Dalai Lama als Kind noch in einem Abstellraum desNorbulinka-Palastes vorfand. Muslimische Geschäftsleute ausLadakh kamen auf die Idee, ihn um eine Importbewilligung füreinen Filmprojektor zu ersuchen: Thubten Kunpel-Laorganisierte die erste Filmvorführung und lud die Angehörigendes Hochadels dazu ein. Da er die Bedeutung einer bewaffnetenMacht erkannt hatte, sorgte er für die Bildung eines

Eliteregiments, das die Ausrüstung und die Ernährung derSoldaten überwachte.

Verschiedene auseinanderstrebende Elemente eines breitenpolitischen Spektrums, das von progressiven Kräften bis zuIntegralisten und Konservativen reichte, vom Sumpf persönlicher und familiärer Interessen gar nicht zu sprechen,mußten in ein und demselben Regierungs- und

Verwaltungsapparat zusammengehalten werden. Das war fürden Dalai Lama eine tägliche Sorge. Er selbst wurde nicht überalle Schwierigkeiten und begangenen Fehler informiert. Einsolcher politischer Fehlentscheid brachte Tibet an den Randeines neuen Krieges gegen Nepal.

Nach einem Streit zwischen Geschäftsleuten wurde ein inLhasa ansässiger Nepalese verhaftet und eingekerkert. Es gelangihm, aus dem Gefängnis zu entkommen und sich in dieBotschaft Nepals zu flüchten. Auf Anordnung des mit denRegeln des internationalen Rechts wenig vertrauten MinistersDorje Tsegyal Lungshar drang die Polizei gewaltsam in dasGelände des Gebäudes ein, um den Flüchtigen wiederfestzunehmen. Die nepalesische Regierung hinterlegte im Potalaeine energische Protestnote und verlangte eine offizielleEntschuldigung. Nach einem unvollständigen Bericht seines

Ministers beantwortete der Dalai Lama das Schreiben, ohne

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  jedoch auf die Grundsatzfrage der Verletzung derdiplomatischen Immunität einzugehen. Weitere Noten wurdenausgetauscht, verschärften aber nur noch das Mißverständnis.

Beidseits der Grenze marschierten Truppen auf. Schließlichwurde ein nepalesischer Sondergesandter nach Lhasa beordert.Er legte dem Dalai Lama die Situation in klaren undunmißverständlichen Worten dar, worauf dieser denBeschwerden der nepalesischen Regierung volle Satisfaktionerteilte. Ein weiterer Umstand ist erwähnenswert. China hatteKontakte zum Königspalast in Katmandu aufgenommen undseine Vermittlung angeboten, was jedoch höflich, aber

entschieden abgelehnt wurde. Der im chinesischen Exil lebendePanchen Lama hatte die Guomindang-Regierung gebeten, ihmWaffen und Munition zu überlassen, damit er sich an derVerteidigung seines Landes gegen die nepalesische Armeebeteiligen könne. Er erhielt nicht nur eine ablehnende Antwort,man verweigerte ihm auch die Transportmittel, um nach Tibetzurückkehren zu können.

Doch die republikanische Regierung in Peking wurde von derWirklichkeit eingeholt. Im Vergleich zu den inneren Dramen,mit denen sie konfrontiert war, verblaßten die tibetischenProbleme. Überall im Lande mußte befürchtet werden, daßunbotmäßige Kriegsherren die Einheit des Landes zerstörten.Die Aufständischen in der Mandschurei hatten sogar die Japanerin ihre Intrigen eingespannt. 1925 verschaffte sich eine neuepolitische Kraft Respekt: die Kommunistische Partei von Mao

Zedong. In Szetschuan erhielt der militärische OberbefehlshaberLiu Wen Hui Geschmack am Vorhaben seines Vorgängers ChaoErfeng, das Territorium seiner Provinz auf Kosten Tibets zuvergrößern. Seine Truppen überschritten die durch denWaffenstillstand von 1918 nach langwierigen Verhandlungenals Grenze anerkannte Linie. Die Tibeter reagierten kraftvollund stießen wiederum bis in die Vororte von Ta-Chien-Lu vor.Die Reaktionen der nationalistischen Presse, die sogleich die

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Vermutung aussprach, Großbritannien stehe hinter denManövern der tibetischen Armee, bewogen Chiang Kaishek,Kontakte zum Dalai Lama aufzunehmen, zuerst über den Abt

des buddhistischen Klosters in Peking, Könchok Jungne, späterdurch eine Sonderbotschafterin, Liu Man-Ching, Dolmetscherinin der Abteilung für tibetische Angelegenheiten. Sie traf am 7.Februar 1930 in Lhasa ein und wurde mit ausgesuchterHöflichkeit in Audienz empfangen. Aus ihrem Bericht geht klarhervor, daß der Dalai Lama über internationale Beziehungensehr gut Bescheid wußte. Aus den Worten, mit denen er über dieBriten sprach, »deren Eigenarten und Bräuche von den unsrigen

derart verschieden sind«, erhielt sie den Eindruck, das tibetischeOberhaupt habe sich in dieser Hinsicht seine volleBewegungsfreiheit gewahrt.

Im Brief Chiang Kaisheks, der vom Pekinger Lamaüberbracht worden war, wurde vorgeschlagen, diechinesischtibetischen Meinungsverschiedenheiten in achtPunkten zu regeln; Thubten Gyatso beharrte in seiner Antwort

auf der 1914 bei der Konferenz in Simla eingenommenenpolitischen Linie; er pochte insbesondere auf die tibetischeAutonomie und auf die Kontrolle der östlichen Grenzgebiete miteiner Bevölkerung tibetischer Herkunft.

Diese erste offizielle Kontaktnahme mit dernationalchinesischen Regierung zeitigte zwei positiveErgebnisse: Zunächst einmal war von einer britischenVermittlung oder einer britischen Beteiligung an bilateralenVerhandlungen nicht mehr die Rede; weiter ließ der Dalai LamaBüros für tibetische Angelegenheiten in Ta-Chien-Lu, Nankingund Peking eröffnen, das letztere mit dem Lama KönchokJungne als Leiter, der mit zwei Mitarbeitern in die chinesischeHauptstadt zurückkehrte. Der Dalai Lama ermächtigte auchseine Vertreter, als Beobachter an der Verfassungskonferenzteilzunehmen, die der Guomindang für 1951 nach Nanking

einberufen hatte.

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Doch über die Situation und den Status des Panchen Lamakonnte keine Einigung erzielt werden. Die Chinesen wollten ihnwieder in seine Funktionen als sowohl geistliches wie auch

weltliches Oberhaupt über die Provinz Tsang, für die Mandschu-Kaiser Hinter-Tibet, einsetzen, aber eine solche Lösung vertrugsich nicht mehr mit den Vorstellungen, die sich der Dalai Lamaüber die Einheit des Landes gebildet hatte. Am 1. Juli 1931verlieh der Guomindang dem Panchen Lama den Titel»Großmeister von unendlicher Weisheit, Verteidiger der Nationund Ausbreiter des Glaubens«; hinzu kamen ein offiziellesSiegel und eine jährliche Geldzuwendung von

hundertzwanzigtausend Yuan. Der Dalai Lama beauftragte seinBüro in Nanking, scharf gegen diese Formulierung zuprotestieren, weil dem Oberhaupt des Klosters Tashilhunpo inder tibetischen Geschichte nie Vollmachten in weltlichenAngelegenheiten erteilt worden seien.

Inzwischen war im Gebiet von Nyarong in der Kham-Regionein neuer Konflikt ausgebrochen. Meinungsverschiedenheiten

zwischen zwei Klöstern, bei denen anscheinend Anhänger desPanchen Lama und des Dalai Lama aneinandergeraten waren,wurden von Truppen des Generals Liu Wen Hui dafürausgenützt, um tibetische Gebiete zu besetzen. Deren rascherVormarsch beunruhigte den Kashag und die Bevölkerung derHauptstadt, die eine Wiederholung der schrecklichen Ereignissevon 1910 befürchtete. Der Dalai Lama informierte dieangloindische Regierung, und diese beorderte J. L. K. Weir,

einen politischen Sekretär im Büro für Sikkim, nach Lhasa;London ließ dem Guomindang, der offensichtlich nicht imstandewar, Übergriffe solcher untereinander in rivalisierende Gruppengespaltener Generäle zu verhindern, eine Protestnoteüberreichen.

Die Lage komplizierte sich noch, als eine zweitechinesischtibetische Kampffront entstand: Ma-Bufang, ein

muslimischer chinesischer General, Gouverneur der Provinz

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Qinghai (Tsinghai) und ebenfalls einer der halbunabhängigenKriegsherren der Zentralregierung, mischte sich in dieMeinungsverschiedenheiten zwischen den buddhistischen

Klöstern ein, um einen Vorwand für einen Einmarsch intibetisches Gebiet in den Regionen Nangchen, Jyekundo undChamdo zu erhalten. Die in die Zange genommenen tibetischenTruppen zogen sich zurück.

Am 10. Oktober 1932 wurde schließlich in der Region Khamein Waffenstillstand zwischen den Generälen der beiden Lagerabgeschlossen; die Chinesen erklärten sich bereit, ihre Truppenaus den beiden Gebieten am Oberlauf des Yangtse Kiangzurückzuziehen; der Fluß blieb so lange die faktische Grenzezwischen den beiden Staaten, bis er im Oktober 1950 von denkommunistischen Truppen überschritten wurde.

Einige Monate später, im Juni 1933, brachte ein weitererWaffenstillstand das Ende der Feindseligkeiten mit den HordenMa-Bufangs im Nordosten.

Während dieser ganzen Zeit war der Dalai Lama zusätzlich

mit der noch unstabilen innenpolitischen Situation beschäftigt.Seine wichtigste Stütze war Thubten Kunpel-La. Dieser treueund geschickte Mitarbeiter verstand es, die lebendigen Kräfte imLande zu mobilisieren; er brachte die begüterten undeinflußreichen Familien dazu, daß sie sich mit der Idee zubefreunden begannen, ihre Söhne im Interesse der nationalenSelbständigkeit in die Armee einzugliedern. Er holte Dasang

Dradul Tsarong in die Leitung der industriellen undmilitärischen Betriebe zurück und verschaffte den Kindernseines Rivalen Dorje Tsegyal Lungshar Posten in der höherenVerwaltung und in der Leibgarde des Dalai Lama.

Trotz solcher nützlicher Mitarbeiter begann Thubten Gyatsodie Last seiner Verantwortung und die Mühsal seines Amtes zuspüren. Sein Wunsch wäre es gewesen, wie seine Vorgängermehr Zeit der Lehre, dem Unterricht und der Meditation zu

widmen. Auch in diesem Bereich wurde ihm keine geistliche

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Genugtuung zuteil, die ihn in seinen Absichten undEntscheidungen hätte bestärken können. Ein gewisser Laxismushatte in der kirchlichen Hierarchie und in der Leitung der

Klöster eingerissen. Zum Verwalter von Tashilhunpo und allervom Kloster abhängigen Einrichtungen war beim Weggang desPanchen Lama ein kompetenter Fachmann, Dzasa Lama,ernannt worden. 1928 setzte der Dalai Lama eine Kommissionaus drei Mönchen ein, um eine Untersuchung überdisziplinarische Mängel, auf die man ihn aufmerksam gemachthatte, in den drei wichtigsten Klöstern durchzuführen. 1931 gaber strenge Instruktionen heraus, in denen er an die Regeln des

Mönchslebens erinnerte und die Bestrafung derer ankündigte,die sich nicht daran halten würden.

Solche Sorgen und die Arbeitsüberlastung hatten zur Folge,daß Thubten Gyatso einerseits autoritär zu regieren begann undandererseits einem gewissen Pessimismus verfiel. NorbuDöndrup, ein in Sikkim geborener Tibeter, der als Angestellterder britischen Verwaltung oft mit Aufträgen in Lhasa betraut

wurde, sagte später: »Der Dalai Lama hatte kein Vertrauen mehrzu seinen Ministern, den Mitgliedern des Kashag, ebensowenigzu seinen nächsten Mitarbeitern; er erledigte alles, ohne auchnur die leitenden Beamten der Regierungsdepartemente zukonsultieren, alle hatten Angst vor dem Dalai Lama!«

Als voll ausgereifter geistlicher Meister und fähiges undklarsichtiges Staatsoberhaupt, wie sein Nachfolger schreibt, warder dreizehnte Dalai Lama ein Visionär mit einer durch dieschmerzhaften Erfahrungen zweier Exile und zahlreicherbewaffneter Konflikte geschärften politischen Intuition. DieUnstimmigkeiten mit dem Panchen Lama machten ihm zuschaffen. Bis zuletzt suchte er nach einer Lösung. Noch 1933, inseinem Todesjahr, schrieb er ihm einen Brief, um ihn davon zuüberzeugen, daß er zurückkehren sollte, damit die Glaubens-und Religionseinheit wiederhergestellt würde.

In dem von ihm hinterlassenen Testament widerspiegelt sich

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ein Leben voller enttäuschter Illusionen und Kummer:

Sollte es um die Erhaltung unseres Landes gehen, so könntees dazu kommen, daß der Dalai Lama und der Panchen Lama,

Vater und Sohn, die Treuhänder des Glaubens und ruhmvollenReinkarnationen, zu Boden geworfen werden und daß ihreNamen der Vergessenheit anheimfallen. DieMönchsgemeinschaften und der Klerus werden zusehen müssen,wie ihr Eigentum zerstört wird. [...] Sie werden vom Feind zuKnechten erniedrigt oder gezwungen, wie Vagabundenumherzuirren. Alle Lebewesen versinken in Elend und Angst,und Nacht senkt sich langsam über das Leiden der Welt. DieseDunkelheit wird lange währen.

Seid keine Verräter am Glauben oder am Land, indem ihr füreinen anderen Staat als den euren arbeitet. [...] Befleißigt euchfriedlicher Methoden, wenn Frieden gefragt ist, und greift zurGewalt, wenn Gewalt notwendig ist. Arbeitet und haltet zugegebener Zeit durch, damit ihr später nichts zu bereuen habt. Ineure Hände, ihr Regierungsbeamten, ihr Meister der Lehre und

du mein Volk, ist die Zukunft des Landes gegeben. Greift nichtauf schlechte oder niedrige Dinge zurück, schreitet gemeinsamvoran und arbeitet am Wohle aller. Wenn ihr das tut, so bestehtGewähr und stehen wir unter dem Schutz, den das Staatsorakeldem Guru Rimpoche und der langen Reihe der früheren DalaiLamas verheißen hat. Ich selbst biete all denen, die an dieserAufgabe mitarbeiten und dabei ausharren, meine Gebete undmeinen Segen an. Denen, die nur an sich selbst denken, werdendas Schicksal und das Karma zum Verhängnis werden. Auchwenn sie vorübergehend im Wohlstand leben, weil sie ihreRegierungsverantwortung vernachlässigen und bloß zusehen,wie die Zeit verstreicht, sehe ich dennoch für sie in der Zukunftnur Unheil. Und dann wird es zu spät sein, den Versäumnissennachzutrauern.

Beim Mönlam-Fest Anfang 1933 hatte der Dalai Lama die

Mönche, die Beamten und die um ihn versammelten Gläubigen

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in einer langen Rede ermahnt. Er hatte an seine Bemühungenerinnert, um das Leben der Tibeter zu verbessern, und kam zumSchluß, von jetzt an habe das Volk über das Schicksal der

Nation zu entscheiden. Man hält diese Aussagen für die letzteBotschaft eines müde gewordenen Visionärs. Im November desgleichen Jahres erkältete sich Thubten Gyatso bei einerreligiösen Zeremonie. Man spürte, daß es sich um eine schwereErkrankung handeln mußte, als er nicht zu den Gottesdienstenzur Feier des Geburtstages von Tsongkhapa erschien. DieMönche im Jokhang-Kloster beteten noch eifriger für seineGesundung. Doch die Bewegungen und die Atmung des

Kranken wurden immer langsamer: Thubten Gyatso verstarb inder Nacht des 17. Dezember.

Es war ein gewittriger Sonntag; unheilvolle Vorzeichen hatteneinen Unglückstag angekündigt. Zwischen dem Potala und demNechung-Tempel, dem Ort des Staatsorakels, herrschte einständiges Kommen und Gehen; das Medium hatte sich auf Bitten des Dalai Lama persönlich in aller Eile zum Palast

begeben. Die Minister des Kashag und andere hoheWürdenträger eilten ebenfalls herbei. Dort fanden sie ThubtenGyatsos Mitarbeiter Thubten Kunpel-La vor, der ihnen denZutritt zum Zimmer des Dalai Lama verwehrte. Als sie auf ihrinständiges Bitten hin doch noch zugelassen wurden, konnte dasreligiöse Oberhaupt bereits nicht mehr sprechen.

Als vier Tage später der Kashag und dieNationalversammlung zusammentraten, hatten die Teilnehmerbereits von den beim Volk in Lhasa herumgebotenen Gerüchtengehört, wonach der Dalai Lama vergiftet worden sei. Mehrnoch, der plötzliche Tod des verehrten Oberhaupts löste bei derRegierung, den Parteien, in den Klöstern und in derbuddhistischen Hierarchie Verwirrung, Gefühle der Verlorenheitund Angst aus. Dorje Tsegyal Lungshar, der frühere Berater desDalai Lama, hielt die Zeit für gekommen, sich einen festen Platz

auf diesem in völligem Umbruch befindlichen politischen

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Schachbrett zu sichern. - Jeglicher Versuch, diese Persönlichkeitnach den üblichen westlichen Kriterien in eine politischeKategorie einzuordnen, wäre zum Scheitern verurteilt. War er,

der Europa besucht hatte und kannte, ein Modernist oder einkonservativer Laie, der dennoch zuallererst nach Unterstützungdurch die Äbte und Lamas in den Klöstern strebte? Suchte ereine Annäherung an China oder wollte er die politischeEntwicklung in diesem Lande nachahmen und einerepublikanische Regierungsform nach Tibet verpflanzen? Sah ersich selbst als einen von einer Armee, zu deren Modernisierunger beigetragen hatte und die er mehrere Jahre lang kommandiert

hatte, unterstützten Diktator? Er war alles gleichzeitig: Wirrkopf und Machiavellist, ehrgeizig und skrupellos. Seine politischenManöver zielten vorerst darauf ab, den Mann des Augenblicks,Thubten Kunpel-La, auszuschalten, auf den sich die mit demTod des Dalai Lama verbundenen Verdächtigungenkonzentrierten. Der Vertraute des verstorbenen Staatsoberhauptswurde zusammen mit seiner Familie, seinen Freunden und

seinen Bediensteten verhaftet, die Güter aller dieser Menschenwurden konfisziert. Die vom Klerus beherrschteNationalversammlung vertraute die Regentschaft einem Lamaaus dem Kloster Reting an, einem intelligenten, aber noch nichteinmal zwanzigjährigen Mann, der über keinerlei Erfahrungenverfügte. Auch in diesem Punkt wird die historische Wahrheitvielleicht erst später bekannt werden: Fest steht aber, daß dieIntrigen und Rivalitäten zwischen dem Kashag und den

Regierungsdepartementen einerseits und der von Dorje TsegyalLungshar beherrschten Nationalversammlung andererseits zumVerhängnis für den Mann wurden, der alle Fäden fest in derHand zu halten glaubte. Die Minister neutralisierten als erstesdie Mönche aus den Klöstern durch geschickte Reden, mitdenen sie ihnen bewiesen, daß ihre Traditionen bedroht waren.Anschließend luden sie Dorje Tsegyal Lungshar in den Potalaein. Selbstsicher und ohne Mißtrauen, nur von einigen Freunden

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Tibetern wurde aber Mißtrauen wach, und so verlangte manzunächst eine genaue Übersetzung aller Inschriften. Völligneutrale Ausdrücke vermochten die Leute zu beruhigen: »Dem

dreizehnten Dalai Lama gewidmet, einem Mann von hohemAnsehen, Beschützer der Lebewesen im Land des Schnees, denwir - Chinesen - als wahren Buddha anerkennen. Das ist einGeschenk der republikanischen Regierung Chinas.« Und dergeschickte General wurde unter großem Pomp in dieLeichenhalle geführt, wo er die kostbaren Geschenkeniederlegte.

Substantielle politische Gespräche begannen am 17.September. Der Guomindang bestand auf der Feststellung, daßTibet integrierender Bestandteil der Republik China sei. AlsGegenleistung bot der General eine gütliche Einigung über denGrenzverlauf zwischen den beiden Staatsgebieten an. DieTibeter blieben dem Erbe des dreizehnten Dalai Lama treu undmachten keinerlei Konzessionen. Sie hielten sich an dieVerträge von Simla und an den Geist, der den früheren

Beziehungen zwischen dem geistlichen Oberhaupt und seinemweltlichen Beschützer zugrunde gelegt worden war. Als GeneralHuang Musung Ende November 1934 nach Nankingzurückkehrte, ließ er die Radiostation und einige Mitarbeiterzurück, »um den Dialog fortzusetzen«, ein äußerliches Zeichender seit zweiundzwanzig Jahren nicht mehr bestehendenchinesischen Präsenz. Die Tibeter dankten ihm für seine gutenDienste, indem sie ihm einen offiziellen Rang verliehen und ihm

ein prunkvolles Gewand, das äußere Symbol für diese Stellung,überreichten. Auch seine Regierung zeigte sich erkenntlich,indem sie ihm das wichtige Departement für mongolische undtibetische Angelegenheiten anvertraute.

Einige Zeit später erhielten die Engländer, nachdem BasilGould seinen Auftrag in Tibet erfüllt hatte, denselben Status:Ihre Radiostation, zu der auch ein Militärarzt gehörte, wurde

nach der Freiheitsnacht am 15. August 1947 zum

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Generalkonsulat Indiens, das aber später während deschinesischindischen Krieges von 1962 wieder geschlossenwurde.

Die tibetische Regierung, die nichts vom Erbe des dreizehntenDalai Lama aufgegeben hatte, setzte ihre Bemühungen um eineinnenpolitische Reorganisation fort. Die Kontinuität derInstitutionen blieb, mit durch die Umstände notwendiggewordenen personellen Umbesetzungen,bemerkenswerterweise siebzehn Jahre lang gewahrt.

Hatte Thubten Gyatso postum das Ziel seiner Herrschaft -

eine internationale Anerkennung, leicht modifiziert durch diegeschichtlich gewachsenen privilegierten Beziehungen zuChina, und eine auf die Regeln der Mönchsdisziplin abgestützteVerbesserung der Regierungsarbeit - erreicht? Zusätzlich zuseinen politischen Bemühungen hatte der Dalai Lama auch Zeitgefunden, um Schriften zu verfassen, deren hölzerneDruckstöcke im Potala sorgfältig aufbewahrt werden. Das giltinsbesondere für die Texte seiner Predigten, die er während

seines ersten Exils in den Klöstern der Mongolei und derchinesischen Provinzen Qinghai und Sinkiang gehalten hatte.

Noch mußte aber der Mann, der nie vergessen hatte, daß erder Bodhisattva des Mitleidens war, wiedergeboren werden, umsein Werk als Führer seiner Gläubigen und seiner Landsleuteweiterzuführen.

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XIV Tenzin Gyatso seit 1935 

Bläuliches Licht schien vom See der Visionen auszugehen.Das Gebet der Mönche, die aufrecht im Kreise auf einem überdie Seeoberfläche herausragenden Erdhügel standen, drang ganzleise wie ein himmlisches Gemurmel zu den Ohren desRegenten, Reting Rimpoche, der am Ufer saß und sich ganz auf eine intensive Meditation konzentrierte. Plötzlich bemerkte er,wie im Spiegel des türkisfarbenen Wassers drei tibetischeBuchstaben sichtbar wurden:  Ah, Ka und  Ma. Dann erblicktenseine Augen ein dreistöckiges Kloster mit Dächern aus Gold undJade. Und nun lenkte der Widerschein seinen Blick auf einenWeg bis zum Fuße eines Hügels, auf dem ein Häuschen miteinem einzigartigen Dach aus blauen Ziegeln stand.

Das war im Sommer 1935. Ein Jahr später berichtete der

Regent vor der Nationalversammlung von dieser Offenbarung.Er hatte dieses Gremium zusammengerufen, weil es einenBeschluß über die Suche nach dem neuen Dalai Lama zu fassenhatte. Er legte dar, daß die Lamas und die Orakel, die er befragthatte, die Buchstaben als einen Hinweis auf die Region Amdound das Kloster Kumbum interpretiert hätten. Weitere Zeichenhätten in Richtung Osten gewiesen. Der tote Leib desdreizehnten Dalai Lama war mit nach Süden gewandtem

Gesicht hingelegt worden. Als am Morgen die Diener in denRaum zurückkehrten, um den Leichnam für dieEinbalsamierung vorzubereiten, hatte sich der Kopf nach Ostengedreht, und das tat er noch einmal. Und auf einer der Säulen ander Nordostseite dieses Zimmers erschien ein großersternförmiger Pilz. Die Nationalversammlung beschloß, drei ausMönchen und Laien zusammengesetzte Delegationen auf die

Suche zu schicken. Im Herbst 1936 brachen die Gruppen auf,

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die eine in Richtung Nordosten in die Region Amdo, die zweitein Richtung Osten in das Gebiet von Kham und die dritte inRichtung Südosten nach Dakpo und Kongpo.

Die von einem Lama aus dem Kloster Sera, KeutsangRimpoche, geleitete Delegation kam im Februar 1937 inJyekundo am Oberlauf des Yangtse Kiang an. Dort begegnetesie dem aus seinem Exil zurückkehrenden Panchen Lama.Chökyi Nyima seinerseits hatte aufmerksam auf Erzählungengelauscht, die über einige Geburten herumgeboten wurden, mitdenen deutlich Zeichen mit Hinweischarakter verbunden waren.Daran ließ sich die Reinkarnation des Dalai Lama erkennen. Erhatte sich die Namen von drei Kindern gemerkt und teilte dieseder Gruppe mit. Das eine Kind war in der Zwischenzeitgestorben; das zweite reagierte auf ihm vorgezeigteGegenstände des verstorbenen Dalai Lama nur mit einigenTränen.

Vor dem Haus des dritten Kindes stellte Keutsang fest, daßder Ort genau dem Bild entsprach, das dem Regenten am See

der Visionen offenbart worden war. Er bat um Gastfreundschaftfür eine Nacht, ohne sich aber als Anführer der Delegation zuerkennen zu geben. Er erklärte, er sei ein einfacher Diener, undhielt sich als solcher in der Küche auf. Ein kleiner, ungefährzwei Jahre alter Knabe kam nach kurzer Zeit ebenfalls in dieKüche, heftete seinen Blick auf den Rosenkranz, den Keutsangum den Hals trug, und sagte ganz schlicht:

»Ich will das.«»Wenn du weißt, wer ich bin, gebe ich dir diesenRosenkranz.«

»Du bist der Aga von Sera.«

Einer der Mönche aus der Gruppe erklärte dazu, in derörtlichen Sprache sei Aga das Wort für Lama.

Das Kind nahm den Gegenstand in seine kleinen Hände und

folgte von da an Keutsang auf Schritt und Tritt. Als es am

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folgenden Morgen sah, daß er aufbrechen wollte, bat es ihninständig, ihn begleiten zu dürfen, und als ihm diese Bitteabgeschlagen wurde, begann es zu weinen. Einige Tage später,

als die Delegation aus dem Kloster Kumbum aufbrach, um sichabermals in das Nachbardorf Taktser zu begeben, wo das Kindwohnte, waren die Mönche bei ihren Gebeten gerade so weitgekommen, daß einer von ihnen in die Muschel blies; der Tonbegleitete sie einen Augenblick lang; dann hörten sie zumerstenmal in diesem Jahr einen Kuckuck singen. Sie dachtennoch über diese glücklichen Vorzeichen nach, als sie den Wegeines Chinesen kreuzten, der drei mit Holz beladene Esel mit

sich führte; der Mann sagte ihnen, es wäre für sie besser, einenanderen Weg zu nehmen, den er ihnen auch zeigte. Und auf diesem Weg gelangten sie zum Karmapa-Kloster Rolpai Dorjeauf einem Hügel über dem Dorf. Während seiner Rückkehr ausChina hatte sich der dreizehnte Dalai Lama hier ausgeruht; lautnoch lebenden Zeugen soll er dabei gesagt haben, das Dorf seiein großartiger Ort, und sein Blick war kurz auf dem Haus

verweilt, auf das sich die Delegation jetzt hinbewegte.Die drei Mönche und der weltliche Beamte legten die Gründefür ihren abermaligen Besuch dar, aber ohne ausdrücklich zuerwähnen, daß sie nach der Reinkarnation des Dalai Lamasuchten. Sie legten verschiedene Gegenstände auf einen langenTisch und ließen das Kind rufen. Keutsang zeigte ihm zuerstzwei schwarze Rosenkränze; das Kind ergriff, ohne zu zögern,den einen von ihnen und legte ihn sich um den Hals. Die

Prüfung wurde mit zwei gelben Rosenkränzen wiederholt. AlsKeutsang zwei Stöcke zeigte, zögerte das Kind, es berührtezuerst den einen, bevor es den anderen in die Hand nahm. Nunmußten sich die Lamas untereinander beraten; dabei stellte sichheraus, daß auch der erste Stock Thubten Gyatso gehört, daß erihn aber später Keutsang geschenkt hatte; das Kind hatte somitkeinen Fehler begangen. Schließlich stellte man zwei Trommelnvor das Kind, die eine reich mit Elfenbeinstücken, Gold und

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Türkisen auf Brokat geschmückt, die andere kleiner und ganzschlicht; als das Kind nach der letzteren griff, wußten die vierMänner mit Gewißheit, daß sie den vierzehnten Dalai Lama

gefunden hatten; ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sieerfuhren nun auch, daß sich kurz nach der Geburt des Kindeszwei Raben auf das Hausdach gesetzt hatten, daß diese eineZeitlang täglich wiedergekommen waren, jeweils einenAugenblick lang verweilten und dann fortflogen. Die Mönchewußten, daß Raben den ersten Dalai Lama als Kind geschützthatten, als seine Eltern ihn auf der Flucht vor Räubernverstecken mußten.

Über alle diese Ereignisse wurde ein Bericht nach Lhasageschickt, wo man der Entscheidung der Delegation zustimmte.Gouverneur in der Region Amdo war damals der chinesischeMuslim Ma-Bufang, ein kriegerischer Mensch, der seinepersönlichen Interessen über die der Guomindang-Regierung inPeking stellte. Keutsang berichtete ihm mit der notwendigenVorsicht vom Ergebnis seiner Suche und bat um Schutz für das

Kind, das von Taktser nach Lhasa gebracht werden sollte. Deralte Haudegen verlangte ein Entgelt von hunderttausendSilberstücken, was damals ungefähr sieben- bis achttausendPfund Sterling entsprach. Die tibetische Regierung überwiesihm die Summe. Bevor Ma-Bufang das Kind ziehen ließ, fand eraber noch einen weiteren Vorwand; die Mönche im KlosterKumbum hätten gerne bekanntgegeben, daß die Reinkarnationdes Dalai Lama gefunden worden sei, was zusätzliche

Schwierigkeiten für den Schutz des Kindes ergeben würde. Erverlangte deshalb eine Nachzahlung in der dreifachen Höhe.Lhasa informierte durch seine Vertreter in Nanking dieGuomindang-Regierung und bat sie um eine Intervention beimGouverneur. Die Verhandlungen zogen sich über das ganze Jahr1938 hin.

Das Kind wurde zusammen mit seinen beiden älteren

Brüdern, die mit ihrer religiösen Ausbildung begannen, dem

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Kloster Kumbum in Obhut gegeben.

Beide Parteien hatten somit ihre Geisel; die Mönche, die mitihrem ganzen Prestige darauf beharrten, das Kind nicht ziehen

zu lassen, bevor es offiziell anerkannt sei; der Guomindang, derseine Unterstützung nur gewähren wollte, wenn die weltlichenund geistlichen Behörden in Lhasa sich damit einverstandenerklärten, daß sich der Vorsitzende der Kommission fürmongolische und tibetische Angelegenheiten nach Lhasabegebe, um die Inthronisationszeremonie zu beaufsichtigen unddem Regenten seinen offiziellen Titel zu verleihen. Einmal mehrzeigte sich in der Haltung Pekings, daß die frühere Politikkontinuierlich weiterverfolgt wurde, denn die Regierungbeharrte auf den von den Kaiserdynastien eingeführtenBräuchen. Die Frage wurde mit den britischen Behörden inDelhi und London erörtert; diese erklärten sich damiteinverstanden, daß der chinesische Repräsentant durch Indienreiste. Am 23. April 1939 erteilte daraufhin die tibetischeRegierung ihre Zustimmung.

Inzwischen hatte die von Keutsang geleitete Delegation eineLösung gefunden, um die hartnäckige Begehrlichkeit Ma-Bufangs zu befriedigen. Eine Gruppe von muslimischenHandelsleuten aus Sinning, die durch Indien nach Mekkawallfahren wollte, war in der Region Amdo unterwegs. Diesereichen Reisenden waren damit einverstanden, die von ihremGlaubensgenossen geforderten dreihunderttausend Silberstückezu bezahlen, und sie verbürgten sich dafür bei ihm; dietibetische Regierung verpflichtete sich, diese Summe inindischen Rupien zurückzubezahlen; die muslimische Karawanesollte der tibetischen Delegation als Eskorte dienen. Ma-Bufangstellte großzügig eine Abteilung von zwanzig Soldaten zurVerfügung. Den Mönchen im Kloster Kumbum blieb nichtsanderes übrig, als sich zu fügen; sie gaben sich damit zufrieden,daß sie durch die Beherbergung des vierzehnten Dalai Lama

noch einmal eine historische Rolle hatten spielen können.

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Schließlich erhielt der Kashag am 17. Juli 1939 einTelegramm seiner Vertretung in Nanking, daß die Delegationaufbruchbereit sei. Am 21. Juli machte sie sich tatsächlich auf 

die Reise. Am 23. August, als man sicher war, daß Ma-Bufangdem Kind nichts mehr antun konnte, wurde es von derNationalversammlung zum vierzehnten Dalai Lama proklamiert.

Die Reisegruppe erreichte das tibetischer Jurisdiktionunterstehende Grenzgebiet, Nagchukha, Ende September, undam 8. Oktober traf sie in Lhasa ein.

Zu diesem Zeitpunkt war unsere Gruppe zu einer

Massenbewegung angewachsen, wir marschierten in einerlangen Prozession auf die Heilige Stadt zu. Die Straße warmehrere Reihen tief von Mönchen gesäumt, die bunte Fahnentrugen. Zahlreiche Gruppen sangen Willkommenslieder oderspielten auf Musikinstrumenten. Die Männer aller Regimenterder tibetischen Armee standen am Straßenrand und präsentiertendie Waffen. Die gesamte Bevölkerung Lhasas, Männer wieFrauen, Jugendliche und Greise, war in ihren schönsten

Gewändern zu meinem Empfang herbeigeeilt und bezeugte mirihre Verehrung. Ich hörte die Leute rufen: »Der Tag unseresGlücks ist angebrochen.« Ein unvergeßlicher Geruch nachwilden Blumen lag in der Luft, und Freiheitsgesänge füllten denRaum.72 

Das Kind wurde in den Norbulinka-Palast gebracht, also indie Sommerresidenz der Dalai Lamas. Nach astrologischen

Berechnungen wurde der Beginn der Inthronisationszeremonieauf den 22. Februar 1940 festgelegt.

Im Januar trafen Wu Chung-Tsin, der Vorsitzende des Amtesfür mongolische und tibetische Angelegenheiten desGuomindang, und Sir Basil Gould, Vertreter der britischenKrone in Sikkim, in Lhasa ein. Der chinesische Delegierteversuchte, zumindest später, erfolglos, beim Verfahren für dieAuffindung der Reinkarnation des Dalai Lama mitwirken zu

dürfen; es ist kaum anzunehmen, daß er bei dieser Gelegenheit

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hätten aufgenommen werden sollen, war eine Vereinbarung mitder tibetischen Regierung über die Rückführung der sterblichenÜberreste des 1937 in Jyekundo verstorbenen Panchen Lama.

Traditionsgemäß begann nun für den jungen Dalai Lama dielange Zeit, während der er sich seine Kenntnisse in religiösenBelangen und in den weltlichen Bereichen anzueignen hatte,nämlich dramatische Kunst, Musik, Medizin und Poesie. ImBericht über seine Kindheit bekennt er, wie schwer es ihm fiel,die Härte dieses Unterrichts und der ihm aufgezwungenenLebensweise zu ertragen. Zur Strenge seiner Lehrer kam diestrikte Beachtung aller Regeln des täglichen Zeremoniells, überdas unter anderen Khenrab Tenzin wachte, der Roben-Meister,eines der Mitglieder der Kommission, welche die Reinkarnationdes dreizehnten Dalai Lama gesucht hatte; sein Blick hatte denkleinen Knaben schon beim erstenmal, als ihre Wege sichkreuzten, beeindruckt; das war damals gewesen, als er, nichtweit vom Kukunorsee und vom Kloster Kumbum entfernt, inseinem Vaterhaus im kleinen Dorf Taktser die Gegenstände

identifizieren mußte, die dem dreizehnten Dalai Lama gehörthatten.

Zu seinem Glück hatte sich seine Familie nicht weit vomPotala entfernt niedergelassen, und sein älterer Bruder, LobsangSamten, der während der ganzen Reise aus der Region Amdonach Lhasa nie von seiner Seite gewichen war, nahm an seinenStudien teil. »In Bauernfamilien wie der unsrigen wurden vielefleißige Hände benötigt, weshalb meine Mutter sechzehn Kindergeboren hatte, von denen freilich nur sieben überlebt hatten«,fünf Knaben und zwei Mädchen.

Die strenge Disziplin wurde gemildert durch die Besucheseiner Mutter und seiner älteren Schwester. Doch der eigentlicheMeister über sein Alltagsleben war der Regent, RetingRimpoche. Beobachtern und Historikern ist es bisher noch nichtgelungen, diese Persönlichkeit in ihrer ganzen Komplexität zu

analysieren: ein tiefreligiöser Mensch, fasziniert von Visionen

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und Orakeln, bisweilen autoritär bis zur Ungerechtigkeit, undzwar nicht so sehr aus äußerem Zwang, sondern aus natürlicherinnerer Veranlagung; er hatte kein Gespür dafür, daß er immer

unbeliebter wurde, oder kümmerte sich zumindest nicht darum.Im Winter 1940 stattete er dem Kloster Samye einen Besuch ab;nach seiner Rückkehr im Januar 1941 gab er seinen Entschlußbekannt, auf seine Funktionen als Regent zu verzichten. SowohlRegierungskreise als auch die Bewohner von Lhasa wußten, daßer seine Zölibatsgelübde gebrochen und sich zuLiebesabenteuern hatte verleiten lassen. War er zurÜberzeugung gelangt, er sei nicht mehr die geeignete

Persönlichkeit, um die Ausbildung des jungen Dalai Lama zuüberwachen und um ihn in die religiöse Rechtsordnungeinzuweihen? Für das Kind näherte sich der Zeitpunkt desNoviziats und seiner ersten geistlichen Verpflichtungen.Traditionsgemäß wurde von allen Beteiligten eine strikteEinhaltung der Mönchsdisziplin verlangt.

Ein neuer Regent mußte also ernannt werden. Obwohl das

Kind im Potala erst sechs Jahre alt war, wurde es nach seinerMeinung befragt. Es stimmte der Wahl einer Persönlichkeit zu,die von Reting persönlich vorgeschlagen worden war und mitder auch der Kashag und die Nationalversammlungeinverstanden gewesen waren: Sein zweiter Lehrer, TagdraRimpoche, ein sechzig Jahre alter, sanfter und hochgeachteterLama, wurde für dieses Amt bestimmt. Der frühere Regent zogsich mehrere Jahre lang in sein früheres Kloster zurück.

Im Jokhang-Tempel wurde der Kopf des Knaben aus derRegion Amdo kahlrasiert; man kleidete ihn in dasMönchsgewand ein, das er nur einmal ablegte, nämlich 1959, alser sich für eine Kleidung entschied, die ihn auf seiner Flucht insExil schützen sollte. Man gab ihm seinen endgültigen Namen:Jampel Ngawang Lobsang Yeshe Tenzin Gyatso; Tenzinbedeutet »Verteidiger der Lehre«.

Während Tibet noch völlig in der strikten Beachtung seines

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 jahrhundertealten Rituals für die Inthronisation seines Souveränsaufging, des Meisters in religiösen Fragen und weltlichenFührers der Nation, versank die Welt im Chaos eines

Weltkriegs. Weder seine Eigenart noch seine Abgeschiedenheitbewahrten das Hochland vor den Auswirkungen und den Folgendes globalen Konflikts.

Schon bevor Japan seinen Krieg gegen China begonnen hatte,war vom Guomindang und von Großbritannien die Möglichkeiteiner Straßenverbindung zwischen Indien und China geprüftworden, auf der die Armeen der Nationalisten mit Nachschubhätten versorgt werden können. Die tibetische Regierung wehrtesich vorerst dagegen. Sie mußte jedoch nachgeben; dieinternationale Staatengemeinschaft übte Druck auf dieRegierung aus, und die tibetischen, wie übrigens auch dieindischen und nepalesischen, Handelsleute hatten rasch erkannt,daß für sie Vorteile aus einer Verstärkung desHandelsaustausches zu erwarten waren; ein Teil der nach Chinatransportierten Waren, Erdölprodukte, Baumwolle, Zucker und

Metalle, war für den tibetischen Markt bestimmt und trug denVerkäufern beträchtliche Gewinne ein.

Diese Reaktivierung der Kontakte zur Außenwelt veranlaßte1941 die tibetische Regierung, das Budget und denPersonalbestand des vom dreizehnten Dalai Lama geschaffenenBüros für außenpolitische Angelegenheiten zu vergrößern. Diebritischen und die nepalesischen Vertreter in Lhasa wareneinverstanden, daß alle ihre Anliegen von diesem Departementbehandelt wurden; doch die Chinesen sträubten sich dagegen.Weil sie gleichzeitig Truppen im Grenzgebiet zusammenzogen,einerseits um die Tibeter zu einer nachgiebigeren Haltung zunötigen und andererseits um die Sicherheit in dieser Regionbesser zu gewährleisten, entstand eine gewisse feindseligeStimmung zwischen den beiden Ländern, die beim kleinstenAnlaß zu einer kriegerischen Auseinandersetzung ausarten

konnte. Die Regierung und das Volk in Lhasa befürchteten

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insbesondere, die von den Alliierten dem Guomindang für dieKämpfe gegen die Japaner gelieferten Waffen könnten gegenTibet eingesetzt werden.

Ein neuer internationaler Gesprächspartner belebte jedoch diepolitische Landschaft Tibets, nämlich die Vereinigten Staatenvon Amerika. Nach einem fruchtlosen Versuch, durchVermittlung der Chinesen Kontakte zu Lhasa aufzunehmen,wandte sich das Staatssekretariat über die britischen Behördenin Indien an die tibetische Regierung. Am 12. Dezember 1942trafen Oberst Ilia Tolstoi und Hauptmann Brooke Dolan inLhasa ein. Sie überbrachten dem jungen Mönch im Potala einPärchen Singvögel und eine goldene Uhr als Geschenke, vorallem aber auch einen vom 3. Juli 1942 datierten persönlichenBrief des Präsidenten Franklin Delano Roosevelt an SeineHeiligkeit, den Dalai Lama:

Wie Sie wissen, ist das Volk der Vereinigten Staatenzusammen mit siebenundzwanzig anderen Nationen in einenKrieg verwickelt, welcher der Welt durch Länder aufgezwungen

wurde, die nach Eroberung trachten und überall die Denk-,Religions- und Handlungsfreiheit vernichten möchten. DieseLänder kämpfen derzeit gemeinsam für ihre Verteidigung unddie Erhaltung der Freiheit; sie vertrauen darauf, daß sie den Siegdavontragen werden, weil ihre Beweggründe gerecht und ihreEntschlossenheit unerschütterlich sind.

Im Wortlaut dieses Briefes und in den Aussagen von Oberst

Tolstoi über eine direkte beidseitige Zusammenarbeit und einegeplante Friedenskonferenz nach Kriegsende, an der auch Tibetsich vertreten lassen könnte, sah die Regierung in Lhasa einenweiteren Fortschritt in Richtung eines Unabhängigkeitsstatus.Daß man ein freundschaftliches Verhältnis zu den VereinigtenStaaten anstrebte, war mehrfach deutlich gezeigt worden,beispielsweise wenn amerikanische Flugzeuge, die Waffen nachChina transportierten oder japanische Stellungen bombardierten,

beim Überfliegen Tibets an den Bergen zerschellten oder sich

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über dem Hochland verirrten.74 Nach solchen Ereignissen hatteWashington jeweils Dankesschreiben an die tibetischenBehörden gesandt.

Die konservative Staatsführung des Regenten Tagdra schienim Widerspruch zur erwünschten Öffnung nach außen zu stehen.Neue Interessengruppen waren entstanden, die ihre Kontakteauszuweiten und gewisse Aspekte der tibetischen Gesellschaftzu modernisieren wünschten. Die 1944 in Lhasa eröffneteenglische Schule war ein konkreter Beweis für diesenÖffnungswillen; sie erlitt dasselbe Schicksal wie einigeJahrzehnte früher ihre Vorgängerin in Gyantse; die vonMönchen aufgestachelte öffentliche Meinung erzwang schonbald die Schließung.

Außerhalb Tibets nutzte die Regierung von Nationalchina, dasein wichtiger Alliierter der Westmächte im Krieg gegen Japanwar, die politische Lage, um die tibetische Frage nicht inVergessenheit geraten zu lassen. Sie erreichte, daß der britischeAußenminister Sir Anthony Eden ein vom 5. August 1945

datiertes Memorandum verfaßte, in dem zunächst daran erinnertwurde, Tibet sei nach der chinesischen Revolution von 1911faktisch unabhängig geworden; dennoch sei die britischeRegierung immer bestrebt gewesen, die chinesischeLehensherrschaft über Tibet, freilich unter Respektierung vondessen Autonomie, anzuerkennen; im Text wird weitervorgeschlagen, daß die Verhandlungen über die noch immernicht geregelte Frage der Grenzziehung zwischen Indien undTibet fortgeführt würden.

Im Sommer 1944 entsandte Chiang Kaishek seinen BeraterShen Tsung-Lien nach Lhasa, um den Dialogwiederaufzunehmen. Der Brite Gould wurde abermals vonseiner Regierung delegiert, um den britischen Standpunkt zuvertreten. Diese Kontakte verliefen ergebnislos. Die tibetischeRegierung stimmte nur gerade im Prinzip einer Entsendung von

Beobachtern zu einer im Mai 1946 in Nanking vorgesehenen

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Versammlung zu, an der über die verfassungsmäßigeOrganisation Chinas entschieden werden sollte. Als dieseAbordnung in Nanking eintraf, wurde sie von den Chinesen als

tibetische Delegation in der Nationalversammlung vorgestellt,obwohl sich ihre Mitglieder dagegen wehrten. Doch der Druckder Kommunisten auf Nanking führte dazu, daß die tibetischenAngelegenheiten in den Schatten abgedrängt wurden, in demauch der Guomindang verschwand. Tibet verzeichnete immerhineinen diplomatischen Erfolg, als seine Delegation unter eigenemNamen an der von der indischen Kongreßpartei veranstaltetenKonferenz über die innerasiatischen Beziehungen teilnehmen

konnte, wo sie mit Mahatma Gandhi und Pandit NehruGespräche führte. Jetzt war es an China, gegen dieses Vorgehenzu protestieren.

In Lhasa wurde die Minderjährigkeit des Dalai Lama, wieschon in der Vergangenheit, Anlaß für ein Machtgerangel, dasbeinahe mit einem Bürgerkrieg geendet hätte.

Ein Paket ohne Absender wurde 1947 an einem Apriltag im

Sekretariat des Regenten deponiert. Als ein Angestellter eseinige Tage später öffnen wollte, hörte er ein verdächtigesGeräusch. Er hatte gerade noch Zeit, das Paket fallen zu lassenund das Zimmer fluchtartig zu verlassen; eine Explosion brachtedie Fensterscheiben zum Bersten und beschädigte die Mauern.Die Untersuchungsbehörde stellte eine Verbindung zuHinweisen über immer noch bestehende Kontakte desehemaligen Regenten Reting zum Guomindang her; dieser war1946 persönlich zur Teilnahme am Kongreß in Nankingeingeladen worden; er hatte sich zwar nicht hinbegeben, aberzwei Delegierte aus der von China verwalteten Region Kanzewurden als seine Sprecher betrachtet. Reting wurde verhaftet.Zwischen den Mönchen von Sera, die den Ex-Regentenunterstützten, und dem Kashag und der Nationalversammlungkam es zu heftigen Auseinandersetzungen; zweihundert Mönche

wurden getötet, die Ordnungskräfte verloren fünfzehn Soldaten.

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Der im Potala eingekerkerte Reting verlangte den Dalai Lama zusehen. Der erst elfjährige Knabe wurde nicht einmal nach seinerMeinung gefragt. Die Bitte wurde rundweg abgeschlagen. Ein

Komitee war dabei, eine Anklageschrift zu verfassen, in welcherder ehemalige Regent beschuldigt wurde, er habe mitchinesischer Hilfe die Regierung zu stürzen versucht. Am 8. Maistarb Reting im Gefängnis. Bei einer nachträglichenUntersuchung wurde eine Vergiftung festgestellt. Wie dem auchsei, die tibetische Regierung durchlebte, durch innereStreitigkeiten geschwächt, die schmerzlichste Periode ihrerGeschichte.

Durch Prophezeiungen wurde einmal mehr einegeheimnisumwitterte Atmosphäre geschaffen, wie sie in derGeschichte des Schneelandes schon oft geherrscht hatte; imLaufe des Jahres 1948 kamen viele weitere Vorzeichen dazu.Aus einem der Wasserspeier in Form eines Drachens auf demDach des Jokhang-Klosters floß bei völlig trockenem WetterTag für Tag ein Wasserstrahl; mehrere Wochen lang wurde der

Nachthimmel von einem Kometen erhellt. Am Fuße des Potalabrach, ohne ersichtliche Ursache, eines Nachts einSäulenkapitell ab. Gerüchte wollten wissen, man habe riesigeVögel beobachtet.

Der vierzehnte Dalai Lama setzte seine Ausbildung zumMönch und politischen Staatsoberhaupt fort. Sein Studium derheiligen Texte und die Meditationsübungen wurden von seinenLehrern durch Berichte über die politischen Entwicklungen inder Welt ergänzt. Über diese Epoche seiner Vorbereitung auf einLeben in der Öffentlichkeit soll er selbst sich äußern:

Alles in allem war es keine unglückliche Kindheit. Die Gütemeiner Lehrer hat in mir unvergängliche Erinnerungenhinterlassen. Sie haben mir die religiösen Kenntnisse vermittelt,die für mich immer die wichtigste Quelle von Wohlbefinden undInspiration gewesen sind und bleiben werden. Sie haben sich

bemüht, auch das zu befriedigen, was sie als eine gesunde

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Neugierde für andere Themen betrachteten, doch ich bin mirbewußt, daß ich sozusagen ohne Kenntnisse in internationalenAngelegenheiten aufgewachsen bin.

Ich verfügte somit erst über ein höchst lückenhaftes Wissen,als mir im Alter von sechzehn Jahren der Auftrag zufiel, meinLand in seinem Kampf gegen den Überfall deskommunistischen China zu führen.

Zum erstenmal wurden die Tibeter mit den neuenGegebenheiten der Nachkriegszeit konfrontiert, als Indien dieUnabhängigkeit gewährt wurde. Als die britischen Missionen

und Handelsagenturen in Lhasa, Gyantse, Gartok und Yatungam 15. August 1947 den Union Jack durch die indischeNationalfahne ersetzten, war die tibetische Regierung perplex.Die britische Note, mit der über die neue Situation informiertwurde, beantwortete das tibetische Amt für außenpolitischeAngelegenheiten mit dem Wunsch, die Regierung Ihrer Majestätwerde hoffentlich weiterhin die »Unabhängigkeit« Tibetsunterstützen; es kündigte an, die Fragen bezüglich der früher in

die Indische Union einverleibten Gebiete und derHandelsbeziehungen würden später durch Gespräche geregelt.

In Lhasa wurde beschlossen, eine kompetente Handelsmissionmit der Aufnahme dieser Verhandlungen zu betrauen. Geleitetwurde sie von drei Personen, unter ihnen der brillante Shakabpa;sie brach im November 1947 aus der Hauptstadt auf. Beimersten Halt in Delhi erkannte sie, welche Bedeutung dem neuen

Gesprächspartner zukam, den die Briten auf der asiatischenSzene zurückgelassen hatten. Doch die offizielle Erklärung dertibetischen Regierung, daß Indien die NachfolgeGroßbritanniens im mit diesem Land abgeschlossenenVertragswerk antrete, wurde erst am 11. Juni 1948veröffentlicht. Inzwischen waren auch tibetische Unterhändlernach China entsandt worden; sie besuchten Schanghai, Pekingund Hangtschou, bevor sie im Mai 1948 in Nanking eintrafen.

Sie stolperten nicht in eine Falle des Guomindang, der sie zu

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offiziellen Vertretern Tibets in der Nationalversammlungabstempeln wollte, welche die Wahl des Präsidenten und desVizepräsidenten vorzunehmen hatte; ihre Weigerung wurde

durch eine Glückwunschbotschaft an den wiedergewähltenPräsidenten Chiang Kaishek gemildert. Eine weiterediplomatische Hürde war zu überwinden: Die Chinesenbestritten die Gültigkeit der tibetischen Pässe und verlangten,daß chinesische Visa eingetragen würden. Erstmals begabensich nämlich Tibeter in offizieller Mission in westliche Länder,so in die Vereinigten Staaten und nach Großbritannien.

Nach subtilen diplomatischen Vereinbarungen konnte dieDelegation ihre Reise über Honolulu, San Francisco undWashington nach London fortsetzen. Die Gespräche mit denAmerikanern und den Briten drehten sich hauptsächlich umwirtschaftliche und finanzielle Fragen. Immerhin war es eineGelegenheit, in den Staatskanzleien und vor Exponenten deröffentlichen Meinung über tibetische Probleme zu sprechen. DerBrief des Dalai Lama an den Präsidenten Truman warf keinerlei

politische Probleme auf. Doch die Regierung der VereinigtenStaaten, die den baldigen Sturz des Guomindang voraussah,fragte sich, ob es nicht vorteilhafter wäre, Tibet als einenunabhängigen Staat anstatt nur als einen Teil deskommunistischen China anzuerkennen.

Die chinesischen Städte fielen eine nach der anderen in dieHände der Volksbefreiungsfront. Als sich die nationalistischeRegierung vom Kontinent nach Formosa zurückzog, vertrat dietibetische Regierung wiederum die Ansicht, die aus derKaiserzeit übernommenen engen Beziehungen zu China hättenkeine Daseinsberechtigung mehr. Am 8. Juli 1949 lud derKashag den chinesischen Repräsentanten in Lhasa vor; ihmwurde bedeutet, er habe das tibetische Territorium innerhalb vonvierzehn Tagen über Indien zu verlassen. DerAusschaffungsbefehl richtete sich auch an drei- bis vierhundert

in Lhasa ansässige Chinesen, die sich als Händler und Lehrer

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betätigten; die tibetischen Behörden vermuteten, unter ihnenbefänden sich kommunistische Agenten.

Doch »die neue Dynastie war bloß zufällig kommunistisch, in

Wirklichkeit war sie vor allem chinesisch«75. Die chinesischeRegierung kündigte unverzüglich an, sie habe beschlossen, Tibetzu »befreien«. Die vom dreizehnten Dalai Lama vorausgesagte»rote Drohung« gewann reale Konturen.

Alle von der Regierung verfügten Maßnahmen, um die Armeeim Hinblick auf die zu erwartenden Kämpfe zu modernisieren,und ebenso die Versuche von Persönlichkeiten in den Regionen

Kham und Amdo, diese Provinzen durch Aufstände aus demchinesischen Herrschaftsbereich herauszulösen, mußtenangesichts des einseitigen Kräfteverhältnisses erfolglos bleiben.»Die Armee«, schreibt der vierzehnte Dalai Lama, »bestand ausachttausendfünfhundert Offizieren und Soldaten; die Artillerieverfügte über etwa fünfzig Geschütze verschiedenen Kalibers,zweihundertfünfzig Mörser und nur zweihundertMaschinengewehre. Eigentlich hatte sie nur die Aufgabe,

Reisende an der heimlichen Überschreitung der Grenze zuhindern. Sie war aber für einen richtigen Krieg völligungeeignet.«

Tibet wandte sich seiner höchsten Zuflucht zu, seinemGlauben und seinem Vertrauen in den Dalai Lama. DieVolksmeinung und Anschläge an den Mauern der Hauptstadtforderten die unverzügliche Inthronisation des Dalai Lama. Vox

 populi, vox dei. Das Orakel von Nechung wurde in den Potalageladen. Das Medium, Reinkarnation eines heiligen Lama,konzentrierte sich, näherte sich dem jungen Mann und legte auf seine Knie eine weiße Schärpe, wozu es ganz schlicht sagte:»Seine Zeit ist gekommen.« Der weise und fromme RegentTagdra beugte sich diesem Ausspruch und gab öffentlichbekannt, er übergebe dem Dalai Lama die zeitliche undgeistliche Verantwortung.

Die Inthronisationszeremonie wurde am 17. November 1950

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mit dem traditionellen Ritual gefeiert. Vor dem diplomatischenKorps mit einigen wenigen noch in Lhasa verbliebenen fremdenWürdenträgern wurde noch einmal der ganze Pomp entfaltet.

Tenzin Gyatso, der vierzehnte Dalai Lama, begann seineHerrschaft mit der Berufung zweier Persönlichkeiten in diehöchsten Regierungsämter: des Mönchs Lobsang Tashi und desLaien Lukhangwa. Sein älterer Bruder, Abt des KlostersKumbum, übermittelte ihm Berichte über das Verhalten derchinesischen Truppen den Mönchsgemeinschaften wie auch derBevölkerung in der Region Amdo gegenüber; tiefbeunruhigtentschloß sich der Dalai Lama, Delegationen nach China, in dieVereinigten Staaten, nach Großbritannien und nach Nepal zuentsenden. Nur die erstere erreichte ihr Ziel. Am 11. Dezember1950 ersuchte Tibet die Vereinten Nationen telegrafisch um dieEntsendung einer Untersuchungskommission; die Regierungerhielt keine Antwort. Die Tibet-Frage sollte auf Verlangen derRegierung von El Salvador auf die Traktandenliste der UNOgesetzt werden; nach einer langen Rede des Vertreters Taiwans

wurde dieser Vorschlag abgelehnt, weil »die Frage unter dienationale Kompetenz Chinas« falle. Für einmal und vielleichtauch zum einzigen Mal unterstützte die Sowjetunion eineStellungnahme der taiwanesischen Nationalisten.

Die tibetische Regierung war sich ihrer völligen Isolierungbereits bewußt geworden; damit das Symbol der nationalenIntegrität und Würde nicht in die Hände der Kommunisten fallenkonnte, wurde beschlossen, es aus der Hauptstadt zu entfernen.»Wir verließen Lhasa mitten in der Nacht, bei eisiger Kälte, aberklarem Himmel. Unser Ziel war Dromo in dreihundertKilometern Entfernung, fast an der Grenze zu Sikkim.« Nacheinem zweiwöchigen, anstrengenden Marsch kamen der DalaiLama und seine Begleiter an ihrem Ziel an. Tibet wurde jetztvom bescheidenen Kloster Dungkhar aus regiert, das auf einemkleinen Hügel über dem Chumbi-Tal errichtet worden war. Die

Grenze befand sich in unmittelbarer Nähe; dem Dalai Lama

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ergebene Beamte vergruben auf der anderen Seite in einemVersteck Goldstaub und Silberbarren, die neun Jahre später derExilregierung für die ersten Ausgaben zur Verfügung standen.

Der Frieden und die geistlich gesammelte Atmosphäre andiesem Ort bildeten einen scharfen Kontrast zu den Ängsten, diedurch Schreckensmeldungen aus dem Hinterland ausgelöstwurden. Daß die internationale Gemeinschaft das Land im Stichgelassen hatte, war von der Umgebung des Dalai Lama alsschwerer Schlag empfunden worden; man war sich uneins,welche neuen politischen Schritte unternommen werden sollten.Der Bericht des Gouverneurs von Chamdo, Ngabo NgawangJigme, beschleunigte aber die Entscheidung. Ngabo warpraktisch ein Gefangener der Chinesen und stellte die Situationmit schonungsloser Offenheit dar: Um einen bewaffnetenEinmarsch mit allen unberechenbaren Folgen für das Land zuvermeiden, empfahl er Verhandlungen. Der Dalai Lama ersuchteihn telegrafisch, sich nach Peking zu begeben. Gleichzeitig ließer ihm durch zwei seiner Mitarbeiter, die den Weg über Indien

einschlugen, Instruktionen überbringen. Die Gesprächebegannen am 29. April. Die Chinesen legten einen siebzehnPunkte umfassenden Vertragstext vor; der tibetischenDelegation verblieb keinerlei Verhandlungsspielraum; sie setztedeshalb am 23. Mai ihre Unterschrift darunter. Da sie dasoffizielle Siegel des tibetischen Staates nicht bei sich hatte,wurde an Ort und Stelle ein Duplikat hergestellt und auf demDokument angebracht. Dieses neue Grundgesetz für Tibet

ersetzte den Vertrag von 821 mit China, der auf einer Säule inLhasa eingraviert worden war und mehr als elf Jahrhundertelang die Beziehungen zwischen den beiden Ländern geregelthatte; aber mit erheblichen Unterschieden! In einer langatmigenPräambel wurde die geschichtliche Entwicklung dieserBeziehungen dargestellt, aber in einer Sprache, in der keinerleireligiöser, geistlicher oder auch nur kultureller Bezug mehr zufinden war. Im ersten Artikel wurde die These einer

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Einverleibung Tibets in das neue China festgeschrieben,nämlich: »Das tibetische Volk kehrt in die große Familie desVaterlandes, die Volksrepublik China, heim.«

Die zweite revolutionäre Dynastie Chinas hatte dieBeziehungen zwischen den beiden Ländern stärkerumgekrempelt als alle anderen, die im Verlauf der elf vorausgegangenen Jahrhunderte aufeinander gefolgt waren.Beim Lesen dieses Vertrages läßt sich aus dem Geist und demBuchstaben des Textes ermessen, wie groß die Enttäuschung dertibetischen Staatsführung gewesen sein muß.

ABKOMMEN76 ZWISCHEN DER ZENTRALEN VOLKSREGIERUNG

UND DER LOKALREGIERUNG TIBETS ÜBER DIE MASSNAHMEN FÜR

DIE FRIEDLICHE BEFREIUNG TIBETS 1951

PRÄAMBEL 

Die tibetische Nationalität ist eine der Nationen mit einerlangen Geschichte innerhalb der Grenzen Chinas; sie hat, wieviele andere Nationalitäten auch, ihre glorreiche Pflicht währenddes langen Aufbau- und Entwicklungsprozesses unseres großenVaterlandes erfüllt.

Doch im Verlaufe der vergangenen hundert Jahre und schonfrüher sind imperialistische Kräfte in China eingedrungen; sie

sind folgerichtig bis nach Tibet vorgestoßen, wobei sie sich beiihrem Verhalten vielerlei Betrügereien und Provokationenbedienten. Wie schon die früheren reaktionären Regierungen hatder Guomindang eine Politik der Unterdrückung und derZwietracht zwischen den Nationalitäten fortgeführt, wodurcheine Spaltung und Uneinigkeit innerhalb des tibetischen Volkesausgelöst wurden. Die Lokalregierung Tibets hat sich denimperialistischen Betrügereien und Provokationen nicht

widersetzt und unserem großen Vaterland gegenüber eine

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unpatriotische Haltung eingenommen. Unter solchen Umständensind die tibetische Nation und das tibetische Volk in den Strudelder Sklaverei und des Leidens mitgerissen worden.

1949 ist für die gesamte Nation ein grundlegender Siegerrungen worden. Im Befreiungskrieg des chinesischen Volkessind der gemeinsame innere Feind aller Nationalitäten - diereaktionäre Regierung des Guomindang beseitigt und dergemeinsame äußere Feind aller Nationalitäten - die Kräfte derimperialistischen Aggression - zurückgeschlagen worden. Dankdieses Erfolges ist die Gründung der Volksrepublik China undder zentralen Volksregierung proklamiert worden. In Einklangmit dem von der konsultativen politischen VolkskonferenzChinas angenommenen gemeinsamen Programm hat dieZentralregierung des Volkes erklärt, daß alle Nationalitäteninnerhalb der Grenzen der Volksrepublik China gleich sind, daßsie sich für Einheit und gegenseitige Hilfe einsetzen und sichdem Imperialismus und ihren eigenen öffentlichen Feindenwidersetzen wollen, wodurch die Volksrepublik China zu einer

aus allen Nationalitäten zusammengesetzten großen Familie derBrüderlichkeit und der Zusammenarbeit wird. Innerhalb diesergroßen Familie sollen alle Nationalitäten der VolksrepublikChina in den Gebieten, in denen die nationalen Minderheitenkonzentriert sind, in den Genuß einer nationalen regionalenAutonomie kommen. Allen nationalen Minderheiten steht dieFreiheit zu, ihre gesprochenen und geschriebenen Sprachen zufördern und ihre Sitten, Gebräuche und religiösen

Überzeugungen zu bewahren oder zu reformieren. DerZentralregierung des Volkes obliegt es aber, alle nationalenMinderheiten in ihrem Bemühen um politischen,wirtschaftlichen, kulturellen und erzieherischen Aufbau zuunterstützen. Seither haben alle Nationalitäten innerhalb desLandes, ausgenommen diejenigen in Tibet und auf Taiwan, ihreBefreiung erreicht. Unter der die Einheit anstrebenden Führungder Zentralregierung des Volkes und unter der unmittelbaren

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Führung der Volksregierung auf allerhöchster Ebene kommenalle nationalen Minderheiten gleichermaßen in den Genuß ihresnationalen Rechts; sie haben bereits eine nationale regionale

Autonomie errichtet oder sind dabei, sie zu errichten.Um die aggressiven imperialistischen Einflüsse in Tibet

erfolgreich eindämmen, die Einheit des Territoriums und dieSouveränität der Volksrepublik China verwirklichen und dienationale Verteidigung sicherstellen zu können; um dieBefreiung der tibetischen Nationalität und des tibetischenVolkes und dessen Rückkehr in die große Familie derVolksrepublik China gewährleisten zu können, damit sie in ihrin den Genuß derselben Rechte innerhalb der nationalenGleichheit wie alle anderen Nationalitäten kommt und damit sieihr Werk des politischen, wirtschaftlichen, kulturellen underzieherischen Aufbaus vollenden kann, hat die Zentralregierungdes Volkes, als sie der Volksbefreiungsarmee den Befehlerteilte, in Tibet einzumarschieren, die Lokalregierung Tibetsgebeten, Delegierte in die zentralen Behörden zu entsenden, um

Verhandlungen im Hinblick auf den Abschluß einesAbkommens über die Maßnahmen für eine friedliche BefreiungTibets einzuleiten.

In den letzten Apriltagen 1951 sind die mit den Vollmachtender Lokalregierung Tibets ausgestatteten Delegierten in Pekingeingetroffen. Die Zentralregierung des Volkes hat mitVollmachten ausgestattete Repräsentanten bestimmt, um auf freundschaftlicher Grundlage Verhandlungen mit denbevollmächtigten Delegierten der Lokalregierung Tibets zuführen. Nach diesen Verhandlungen sind die beiden Parteienübereingekommen, diesen Vertrag abzuschließen und seineUmsetzung zu gewährleisten.

Punkt 1: Das tibetische Volk vertreibt mit vereinten Kräftendie aggressiven imperialistischen Kräfte aus Tibet; das tibetischeVolk kehrt in die große Familie des Vaterlandes, die

Volksrepublik China, heim.

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Punkt 2: Die Lokalregierung Tibets hilft aktiv beimEinmarsch der Volksbefreiungsarmee und bei der Festigung dernationalen Verteidigung mit.

Punkt 3: In Einklang mit der Politik gegenüber den in dasgemeinsame Programm der konsultativen volkschinesischenpolitischen Konferenz eingeschlossenen Nationalitäten hat dastibetische Volk das Recht auf die Ausübung einer nationalenregionalen Autonomie unter der Führung der Zentralregierungdes Volkes.

Punkt 4: Die zentralen Behörden verändern das derzeitige

politische System Tibets nicht. Ebensowenig verändern diezentralen Behörden den bestehenden Status, die Funktionen unddie Vollmachten des Dalai Lama. Die Beamten derverschiedenen Grade erfüllen ihre Aufgabe wie gewohnt.

Punkt 5: Der bestehende Status, die Funktionen und dieVollmachten des Panchen Lama bleiben unangetastet.

Punkt 6: Unter dem bestehenden Status, den Funktionen undden Vollmachten des Dalai Lama und des Panchen Lama sollender Status, die Funktionen und die Vollmachten des dreizehntenDalai Lama und des neunten Panchen Lama zu der Zeitverstanden werden, als sie gute und freundschaftlicheBeziehungen zueinander unterhielten.

Punkt 7: Die im gemeinsamen Programm der konsultativenvolkschinesischen politischen Konferenz festgeschriebenereligiöse Glaubensfreiheit wird verwirklicht. Die religiösen

Überzeugungen, Gebräuche und Sitten des tibetischen Volkeswerden respektiert, und den Gemeinschaften der Lamas wirdSchutz gewährt. Die zentralen Behörden nehmen keinerleiVeränderung bei den Einkünften der Klöster vor.

Punkt 8: Die tibetischen Truppen werden schrittweiseinnerhalb der Volksbefreiungsarmee reorganisiert und zu einemTeil der nationalen Verteidigungsarmee der VolksrepublikChina.

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Punkt 9: Die gesprochene und geschriebene Sprache und dasErziehungssystem der tibetischen Nationalität werdenschrittweise aufgrund der gegenwärtigen Gegebenheiten in Tibet

entwickelt.Punkt 10: Die tibetische Landwirtschaft, die Viehzucht, die

Industrie und der Handel werden schrittweise entwickelt, undder Lebensstandard des Volkes wird schrittweise aufgrund dergegenwärtigen Gegebenheiten in Tibet verbessert.

Punkt 11: Im Hinblick auf die verschiedenen Reformen inTibet wird seitens der zentralen Behörden kein Zwang ausgeübt.

Die Lokalregierung Tibets muß die Reformen aus eigenemWillen, und wenn das Volk solche Reformen verlangt,verwirklichen; sie müssen im Gespräch mit den leitendenGremien in Tibet geprüft werden.

Punkt 12: Sobald die früheren proimperialistischen und demGuomindang verpflichteten Beamten ihre Beziehungen zumImperialismus und zum Guomindang abbrechen und sich keinerSabotageakte und keines Widerstandes schuldig machen,

können sie ungeachtet ihrer Vergangenheit ihre Aufgabeweiterhin erfüllen.

Punkt 13: Die in Tibet einmarschierendeVolksbefreiungsarmee hat sich an alle hier erwähntenAnordnungen zu halten und verhält sich bei ihren Käufen undAbgaben loyal; sie nimmt dem Volk weder die kleinste Nadelnoch den kürzesten Faden willkürlich weg.

Punkt 14: Die Zentralregierung des Volkes übernimmt diezentralisierte Führung der außenpolitischen Angelegenheiten destibetischen Territoriums; die friedliche Koexistenz mit denNachbarländern und ebenso die Schaffung und die Entwicklungder Handelsbeziehungen und des Warenaustausches mit ihnenwerden auf der Grundlage der Gleichheit, des gegenseitigenNutzens und der wechselseitigen Respektierung desTerritoriums und der Souveränität organisiert.

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hatten Nachforschungen nach seinem Nachfolger zehn möglicheKandidaten ergeben. 1942 gab die tibetische Regierung ihreAbsicht bekannt, alle zehn in Lhasa zu versammeln, um aus

ihnen die wahre Reinkarnation auszuwählen. Die Anhänger desPanchen Lama hatten ein Kind entdeckt, das wie der Dalai Lamain einem Dorf der Provinz Qinghai (Tsinghai) zur Weltgekommen war, und hatten es im Kloster Kumbumuntergebracht. 1944 ließen sie verlauten, sie würden es als denreinkarnierten Panchen Lama betrachten. Die tibetischenBehörden konnten einem solchen Verfahren nicht zustimmen.Doch die Chinesen, genauer gesagt die Guomindang-Regierung,

sahen hier eine Gelegenheit für eine Intervention. Im Juni 1949proklamierten die Nationalisten, wobei sie ihre letzten Tage ander Macht noch ausnützten, das Kind in Kumbum sei dieReinkarnation des neunten Panchen Lama, und sie entsandteneinen Vertreter als Vorsitzenden an dieInthronisationszeremonie. Im September 1949 eroberte dieVolksarmee Qinghai und bemächtigte sich der wertvollen

Geisel. In deren Namen wurde ein Glückwunschtelegramm anMao Zedong geschickt; die Antwort des Großen Steuermannswar ein Vorspiel zum Text vom Mai 1951: Die kommunistischeRegierung hielt es für erwiesen, sie habe dadurch dieZustimmung eines kaum acht Jahre alten Kindes erhalten.

Durch das Radio erfuhr der Dalai Lama, wie auch die ganzeübrige Welt, am 26. Mai, daß die Verhandlungen abgeschlossenseien. Die tibetischen Vertreter kehrten getrennt in ihr Land

zurück, jeder auf dem Weg, den er nach Peking benutzt hatte.Über Indien gelangte im Juli auch General Chiang Ching-Wu,der Kommissar und Administrator für die zivilen undmilitärischen Angelegenheiten in Tibet, in das friedlicheChumbi-Tal, wo sich jetzt im Sommer eine reiche Blütenprachtentfaltet hatte. »Eisige Höflichkeit bestimmte unser Treffen. Erübergab mir einen Brief Mao Zedongs, eine Kopie des 17-Punkte-Abkommens und zwei weitere Dokumente, das eine

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über die tibetische Armee, das andere mit einer Erklärung, wasgeschehen würde, falls ich mich für das Exil entscheiden sollte.«

Die Chinesen mußten auf der Anwesenheit des Dalai Lama in

Lhasa aus politischen Gründen beharren, aber die Rückkehr desgeistlichen Oberhaupts bedeutete auch für das tibetische Volkeine Hoffnung, daß das Wesentliche gerettet werden könne.Tenzin Gyatso machte sich also auf den Rückweg in seineHauptstadt. Er besuchte die Klöster, um mit den Ordensleutenzu sprechen, zu meditieren und nachzudenken. In Gyantsepräsentierte ihm die Kavallerie, die zur indischen Vertretunggehörte, die Waffen. Am 17. August kam er in Lhasa an. DieNationalversammlung wurde am 28. Septemberzusammengerufen und diskutierte ausgiebig über dieRatifizierung des Vertrages vom 23. Mai; schließlich erklärte siesich damit einverstanden, daß der Dalai Lama seineZustimmung nach Peking telegrafierte.

Das noch immer von einer Mönchsmehrheit dominiertetibetische Parlament war zweifellos der Meinung, das

Abkommen gewährleiste das in seinen Augen Wichtigste: dieFreiheit des Kultes, das politische System und die Vollmachtendes Dalai Lama, die im Artikel 7 ausdrücklich genannt werden:

Die religiösen Überzeugungen, Gebräuche und Sitten destibetischen Volkes werden respektiert, und den Gemeinschaftender Lamas wird Schutz gewährt. Die zentralen Behördennehmen keinerlei Veränderung bei den Einkünften der Klöster

vor.Bei allen anderen Vorschriften, etwa über den Kampf gegenden Imperialismus, die Einführung wirtschaftlicher Reformenund deren Verwirklichung unter der militärischen und zivilenOberaufsicht der Zentralregierung des Volkes, fehlte esentweder am Verständnis für die verwendeten Begriffe oderglaubten die Mönche und Beamten, es gehe um von außenaufgezwungene Neuerungen wie die goldene Urne der Kaiser,

bei denen man mit etwas Geschick mogeln könne, um den

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Schein zu wahren.

Daß gegenseitige Beziehungen zu einer eigentlichenKonfrontation zwischen zwei grundsätzlich verschiedenen

Auffassungen, nicht nur über die menschlicheGesellschaftsordnung, sondern auch über die Zweckbestimmungder menschlichen Natur überhaupt, entarten würden, ließ nichtauf sich warten.

Am 26. Oktober 1951 marschierten dreitausend Soldaten der18. chinesischen Armee in Lhasa ein. Später wurden weiterezwanzigtausend Mann an verschiedenen Orten des Territoriums

stationiert. Um die Verbindungen zwischen diesen Garnisonensicherzustellen, begann man mit dem Bau von Straßen undFlugplätzen. Der Lärm von Lastwagen und Flugzeugenerschütterte zum erstenmal die Stille des Hochlandes. Wie schonin der Vergangenheit wirkten sich die vielen neuhinzugekommenen Konsumenten auf den störungsanfälligenLebensmittelmarkt aus: Die Tibeter bekamen die Inflation zuspüren. Das Volk reagierte auf seine gewohnte Weise:

Begegnete jemand Chinesen, so machten Mönche wie Laien dieGesten, mit denen böse Geister vertrieben werden; die Kinderwarfen Steine, alle sangen Spottlieder, welche dieBesatzungstruppen um so gründlicher trafen, als sie nur dieMimik begriffen. Der chinesische General ersuchte sogar denDalai Lama, solche »reaktionären« Praktiken zu verbieten.

Die Nahrungsmittelversorgung der chinesischen Truppen

wurde zur Ursache für den Bruch: Als die Generälezwanzigtausend Tonnen Gerste verlangten, antworteten dieMinister, eine solche Menge sei in den Vorräten ganz einfachnicht vorhanden. Die Beziehungen verschlimmerten sichzusehends, als die tibetischen Truppen in die chinesische Armeeintegriert werden sollten: »Wenn ihr unseren Soldaten diechinesische Fahne aufzwingt, werden sie diese verbrennen«,erklärte der Premierminister.

Dem Dalai Lama wurde ein Bericht zugestellt, worin seine

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Person als »imperialistischer Reaktionär« bezeichnet und seineAbsetzung gefordert wurde. Um die Lage zu entschärfen,suchten die beiden von Tenzin Gyatso ernannten Minister, der

Mönch und der Laie, zu einem Zeitpunkt, als ihre Kompetenzund ihr Vertrauen unerläßlich waren, mit Tränen in den Augenden Dalai Lama auf, um ihm ihren Rücktritt zu unterbreiten.

Obwohl die äußeren Umstände eine nie erlahmendeAufmerksamkeit erforderten, setzte der Dalai Lama, wie seineVorgänger und alle Mönche, seine geistliche Ausbildung undseine Meditationen fort. Die buddhistische Schule fand für kurzeZeit zur Einheit zurück: Im April 1952 kehrte der PanchenLama, Lobsang Tseten, endlich in seine Heimat zurück. »Er wardrei Jahre jünger als ich und hatte sich die ganze Unschuld derJugend bewahrt. Er strahlte eine große Anziehungskraft aus, erhatte ein glückliches Gesicht, und ich fühlte mich ihm sehrnahe.« Im Juni nahm der Panchen Lama seinen Platz im KlosterTashilhunpo ein, den sein Vorgänger seit seinem Weggang imDezember 1923 unbesetzt gelassen hatte.

Der ehemalige Regent und Lehrer des Dalai Lama, TagdraRimpoche, starb; Tenzin Gyatso führte den Vorsitz bei derlangen Weihezeremonie für seinen Begräbnisstupa: »Als ichmich der Länge nach vor dem Grabdenkmal niedergeworfenhatte, wurde ich von Traurigkeit übermannt.«

Immerhin »folgte auf den erzwungenen Rücktritt vonLukhangwa und Lobsang Tashi eine Zeit verhältnismäßigen

Friedens mit den chinesischen Behörden«.Der Dalai Lama begann sein Reformprogramm umzusetzen,an das er seit frühester Jugend gedacht hatte. Um dieLebensbedingungen der Bauern zu verbessern, beschloß er, diewährend Generationen angehäuften Schulden bei denLandbesitzern zu streichen und auf die Rückzahlung derRegierungskredite für selbständige Kleinbauern zu verzichten.

Solche weltlichen Aktivitäten wurden unterbrochen von

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religiösen Pflichten, denn Tenzin Gyatso erteilte seine erstenBelehrungen. Er hatte sich wie alle Novizen, zum Teil vor allerÖffentlichkeit, Prüfungen zu unterziehen, um in die höheren

Grade eines von zahllosen Generationen geistlicher Meistervervollkommneten Wissens aufzusteigen. Nach dem Mönlam-Fest 1954 erhielt er im Jokhang-Tempel vor der Chenresi-Statuedie volle Weihe zum Priester.

Anfang 1954 wurde er zu einem Besuch in China eingeladen.Bevor er zustimmte, mußte er die zögernde Bevölkerung inLhasa überzeugen, die darüber beunruhigt war, daß sich ihrhöchster Schutzherr in ein Land begeben wollte, dessenFeindseligkeit sie immer mehr zu spüren bekam. Zur großenAbschiedszeremonie hatten sich am Ufer des Kyichu-Flusses dieMitglieder der Regierung und Zehntausende von Gläubigenversammelt. Von den Gesängen der Mönche begleitet,überquerten der Dalai Lama, seine Familie und sein Gefolge denWasserlauf in einem Lederboot, gleich wie Pater Huc einJahrhundert zuvor. Nach einigen Tagen Aufenthalt im Kloster

Ganden führte die dreitausend Kilometer lange Reise vorerst auf einem Maultierrücken über die Berge bis nach Ta-Chien-Lu. InChengdu bestieg der Dalai Lama als erster Priester-HerrscherTibets ein Flugzeug. Bei der Landung in Si'an (Xi'an) schloßsich ihm der Panchen Lama an. Gemeinsam setzten sie die Reisein einem Sonderzug fort. Im Pekinger Bahnhof bereiteten ihnenZhou Enlai (Tschu Enlai) und Zhu De (Chu Te) einen herzlichenEmpfang.

Zu den Entdeckungen in einer für ihn neuen Welt gehörte fürTenzin Gyatso die Begegnung mit einem echten tibetischenKommunisten. Phuntsog Wangyal, der aus der Region Khamstammte und mit einer muslimischen Tibeterin verheiratet war,hatte eine christliche Missionsschule in Bathang besucht unddort Englisch gelernt. Nachdem er sich von derkommunistischen Sache hatte überzeugen lassen, arbeitete er im

chinesischen Schuldienst in Lhasa. Als 1949 die Chinesen

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ausgewiesen wurden, hatte er die Hauptstadt mit diesenzusammen verlassen.

Er sprach perfekt chinesisch und entledigte sich meisterhaft

seiner Aufgabe als Dolmetscher zwischen Mao Zedong und mir.Er erwies sich nicht nur als aufrichtig und redlich, sondern auchals ein Mann voller Weisheit; ich wußte seine Gesellschaft sehrzu schätzen. Daß wir verschieden dachten, lag in der Natur derDinge. Letzten Endes waren aber er wie ich Tibeter, die sich umdie Zukunft unseres Landes Sorgen machten.

Mit Mao Zedong trafen wir uns mindestens ein dutzendmal,

meistens mit vielen anderen Leuten zusammen, aber auch zuZwiegesprächen, denen nur gerade Phuntsog Wangyalbeiwohnte. [...] Ich spürte, daß er ebenso aufrichtig war, wie erentschlossen zu sein schien. [...] Bei unserer ersten Unterredungsagte er mir, er sei zum Schluß gekommen, daß es verfrühtwäre, alle Klauseln des 17-Punkte-Abkommens anzuwenden. Erhielt es insbesondere für vernünftig, vorerst den Paragraphen zuvergessen, welcher die Schaffung einer Militärkommission für

Tibet vorsieht. Besser wäre es, ein Komitee für die Vorbereitungder autonomen Region Tibet einzusetzen, sagte er zu mir.

Dieser Organismus hätte darüber zu wachen, daß derRhythmus der Reformen den Wünschen der Tibeter selbstangepaßt werde. Nichts werde getan, bevor nicht wir selbst esfür notwendig hielten, diesen Punkt hob er ganz besondershervor. [...] Die Idee einer echten Assoziation mit China begann

mich zu begeistern.Der Aufenthalt in Peking gab dem Dalai Lama Gelegenheit,mit Staatsmännern zusammenzutreffen, die in derinternationalen Politik eine wichtige Rolle spielten: Nehru, UNu, damals Präsident von Birma, Chruschtschew und Bulganin,ebenso mit Diplomaten aus Ost und West. Kontakte mitchinesischen Funktionären, einer Mischung von resigniertenAgenten und überzeugten Marxisten, und Begegnungen mit

chinesischen Buddhisten hinterließen in ihm den Eindruck einer

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instabilen, in sich selbst widersprüchlichenGesellschaftsordnung. Er ergänzte seine Erfahrungen mit derneuen marxistischen Gesellschaft durch eine mehrmonatige

Reise in China; die Regierung bestand darauf, ihm dieindustriellen und landwirtschaftlichen Fortschritte in derMandschurei und in der Inneren Mongolei zu zeigen.Chinesische Würdenträger nahmen seine Einladung zu einemEmpfang anläßlich des Losar-Festes, des tibetischenNeujahrsfestes, an. Die Worte Maos anläßlich der letztenBegegnung, als er vom »Gift der Religion« sprach, dämpftenfreilich seine Hoffnungen auf ein gegenseitiges Verständnis.

Auf seinem Rückweg nach Lhasa sah er Zhou Enlai nocheinmal, der im Flugzeug in die Region Kham gereist war: »Ermachte mir gegenüber positive Bemerkungen über die Religion.Vielleicht sprach er auf Ersuchen Maos so mit mir, weil auf diese Weise der schlechte Eindruck von unserer letztenUnterredung verwischt werden sollte.«

Das vorbereitende Komitee, über das man sich in Peking

geeinigt hatte, versammelte sich im Oktober. In der ProvinzKham hatten die chinesischen Behörden mit radikalen Reformennicht zugewartet: Konfiszierung des Landbesitzes, unzumutbareAbgaben. Sie legten sich insbesondere mit den Mönchen undNonnen an; diese mußten an harten und unverständlichen, wennnicht sogar nutzlosen Arbeiten teilnehmen; aber auch mit denNomaden, die sie als rückständige Barbaren betrachteten. Alsdie Parteifunktionäre deren Waffen zu beschlagnahmen

versuchten, das althergebrachte Symbol ihrer Freiheit und einSchutz gegen die Gefahren in ihrem harten Leben, kam es zueinem Aufstand. Im Frühjahr 1956 begannen die KhampaStraßen und Brücken zu zerstören und Militärtransporteanzugreifen. Nach einem äußerst brutalen Gegenschlag fülltensich die Straßen mit Tausenden von Flüchtlingen. In Lhasaerzählten sie von aufwühlenden Erlebnissen; die InternationaleJuristen-Kommission bestätigte die Berichte in einem am 8.

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August 1960 publizierten Rapport: Folterungen,Vergewaltigungen, öffentliche Hinrichtungen, verächtlicheBehandlung einzelner Menschen; die Mönche wurden

gezwungen, ihr Keuschheitsgelübde zu brechen, Kinder mußtenihre Eltern schlagen. Die als Widerstandsnester verdächtigtenKlöster in Lithang und Bathang wurden bombardiert.

Der Dalai Lama hatte Ngabo, der das Abkommen von 1951ausgehandelt hatte, in die Regierung aufgenommen; er sandtediesen Mitarbeiter in die betroffene Gegend, um zu versuchen,die Ruhe wiederherzustellen. Vergeblich.

Als Marschall Chen Yi, Vizepremierminister derVolksrepublik, in Lhasa eintraf, veröffentlichte gleichzeitig einechinesische Zeitung, die in Kanze in der Region Kham gedrucktwurde, ein Bild mit abgeschlagenen Köpfen reaktionärerKrimineller. Später erfuhr man, daß vierzigtausend Mann alsVerstärkung unterwegs waren, um den tibetischen Widerstandzu brechen, der sich zusammengeschlossen hatte und zu demauch die Bewohner der Region Amdo gestoßen waren.

Der Dalai Lama führte stürmische Gespräche mit demchinesischen Repräsentanten. Er vertraute auf MaosVersprechungen und schickte diesem einen Brief. Er erhielt aberkeine Antwort. Ein weiteres Schreiben richtete er an denDolmetscher Phuntsog Wangyal, den er als kommunistischenParteisekretär in Tibet akzeptiert hatte. Einige Monate spätermußte er erfahren, daß dieser Mann als gefährlich eingestuft

worden war und nicht mehr nach Tibet zurückkehren würde.Die Religion bestärkte Tenzin Gyatso immer wieder in seinenBemühungen. Der Maharadscha Kumar von Sikkim, Präsidentder Buddhistischen Gesellschaft des indischen Subkontinents,lud ihn zu den Buddha-Jyanti-Feiern zumzweitausendfünfhundertsten Jahrestag von Buddhas Geburt ein.Monatelang mußte verhandelt werden, um das Einverständnisder chinesischen Vertreter zu erlangen. Schließlich brach Tenzin

Gyatso im November 1956 aus Lhasa auf; in Shigatse schloß

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sich ihm der Panchen Lama an. Die heitere Würde desOberhauptes der tibetischen Buddhisten, seine Aussagen überdie Gewaltlosigkeit, mit der auch die Anhänger Gandhis in

ihrem Kampf um Unabhängigkeit den Sieg davongetragenhatten, trugen ihm Sympathien bei der ganzen Bevölkerung ein.In Kalimpong wohnte er im Haus, in dem sein Vorgängerwährend seines Exils gelebt hatte: »Man gab mir das Zimmer, indem er gewohnt hatte, und ich hatte das seltsame Gefühl, dieBedingungen, unter denen ich zu leben hätte, seien den seinigenzur damaligen Zeit sehr ähnlich.«

Enttäuschend verliefen seine Gespräche mit Nehru, der ihmmit aller Klarheit zu verstehen gab, daß Indien für Tibet keineHilfe sein könne. Immerhin hatte die indische Regierung dafürgesorgt, daß es zu einer Begegnung zwischen dem Dalai Lamaund Zhou Enlai kam, der um diese Zeit Delhi einen Besuchabstattete; der chinesische Politiker versicherte ihm, Mao habeentschieden, daß während mindestens fünf Jahren in Tibetkeinerlei Reformen durchgesetzt würden.

Trotz dieses Versprechens erwog die Begleitung des DalaiLama die Möglichkeit, in Indien zu bleiben. Für dieseAuffassung setzte sich insbesondere der frühere MinisterLukhangwa ein, der sich auf einer Wallfahrt in Indien befand,ebenso die beiden Brüder von Tenzin Gyatso; sie hattenKontakte zu amerikanischen Geheimdienstleuten aufgenommen,die ein Vorhaben prüften, die tibetischen Kämpfer in denRegionen Amdo und Kham mit Hilfsgütern zu unterstützen; dieVereinigten Staaten suchten damals weltweit nachMöglichkeiten, um den kommunistischen Vormarschaufzuhalten. »Doch ich gab nicht nach und beschloß, nach Tibetzurückzukehren, um noch einmal eine Zusammenarbeit mit denChinesen zu versuchen, womit ich dem Rat Nehrus folgte undmich auf die Versprechungen Zhou Enlais verließ.«

Tatsächlich waren einige Verbesserungen zu verzeichnen;

etliche mit der Durchsetzung der Reformen beauftragte

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Truppenverbände und politische Kader wurden zurückgezogen,an den beschädigten Klöstern in der Region Kham warenReparaturarbeiten im Gange. Doch hier hatten bereits

chinesische Bauern die Plätze der Kämpfer eingenommen, dieaus ihren Dörfern geflüchtet waren. Einmal mehr erschütterteein Flüchtlingsstrom das labile Gleichgewicht auf demkrisenanfälligen Lebensmittelmarkt in der Hauptstadt. Mehrnoch, im April 1958 löste die chinesische Polizei in Lhasa eineOperation gegen die »Reaktionäre« aus, was zur Folge hatte,daß Tausende von jungen Leuten aus der Stadt vertriebenwurden und sich den Freiheitskämpfern anschlossen. In den

Regionen Kham und Amdo mehrten sich die Überfälle auf Chinesen, sogar in der Nähe der Hauptstadt wurden chinesischeMilitärposten angegriffen.

Die Atmosphäre in Lhasa war derart bedrohlich geworden,daß ein vorgesehener Besuch Nehrus abgesagt wurde.

Der Druck auf den jungen Dalai Lama wurde verstärkt. EineEinladung zu einem Besuch in Peking konnte er mit einem

Hinweis auf eine obligatorische Phase in seinen religiösenStudien aufschieben. Er hatte sich zudem mit einembeklemmenden Thema zu befassen: Der chinesische Generalhatte ihn ersucht, tibetische Truppen gegen die »Rebellen«einzusetzen. Es war völlig ausgeschlossen, daß ein solcherVorschlag hätte angenommen werden können.

Ende Sommer 1958 begab sich der Dalai Lama nach Drepung

zu einer Reihe von Gesprächen mit den gelehrtesten Kennerndes buddhistischen Kanons; für eine Abwechslung sorgten diewunderbar harmonischen Gesänge mehrerer tausend Mönche,die sich im größten Tempel versammelt hatten. Außerhalb desheiligen Bezirks war die Antwort der Wirklichkeit zu hören: dasKrachen von Geschossen auf dem Schießplatz der chinesischenGarnison, die sich hinter ihren Stacheldrahtverhauen auf demgegenüberliegenden Hügel verschanzt hatte.

Im Februar 1959 lockte das alljährliche Mönlam-Fest eine

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riesige Volksmenge von Mönchen und Laien aus allen Regionenin die Hauptstadt, »Frauen in Röcken, die mit ihren buntenSchürzen den Staub aufwirbelten, stolze Khampas mit langen,

von gelben Bändern zusammengehaltenen Haaren, das Gewehrauf der Schulter; Nomaden mit vom Bergwind gegerbtenGesichtern und überall vor Fröhlichkeit strahlende Kinder.«

Am 5. März lud der chinesische Kommandant den DalaiLama zu einer Darbietung einer Tänzergruppe in dasHauptquartier ein. Er wurde gebeten, ohne Begleitung zukommen. Sofort verbreitete sich das Gerücht, die Chinesenwollten sich gewaltsam seiner Person bemächtigen. Amfolgenden Tag wurde der Mönch Tenzin Gyatso nach einemlangen Gebet den letzten Prüfungen über seine religiösenKenntnisse unterzogen; zu seiner großen Befriedigung wurdeihm der Titel eines Doktors der buddhistischen Wissenschaftenverliehen.

Die Volksmenge um den Norbulinka-Palast, wo er wohnte,wuchs fortwährend an; am 12. März hatten sich dreißigtausend

Menschen eingefunden. Ein Tibeter, der verdächtigt wurde, mitden Chinesen unter einer Decke zu stecken, wurde gelyncht.Petitionen zirkulierten, mit denen eine Widerrufung des 17-Punkte-Abkommens verlangt wurde.

Der chinesische General forderte den Dalai Lama mit dreiBriefen auf, sich aus Sicherheitsgründen in sein Lager zubegeben. Am 17. März fielen zwei Geschosse in den Garten des

Sommerpalastes, ganz in der Nähe der Residenz des DalaiLama. Handelte es sich um eine Warnung? Das Orakel wurdebefragt, das bis jetzt ein Verbleiben empfohlen hatte, um dieGespräche nicht abbrechen zu lassen; jetzt gab es plötzlich eineandere Antwort: »Geh weg, geh weg!«

Nur selten in der Geschichte hat ein Mensch mit einer derartheftigen inneren Aufwühlung fertigwerden müssen. Durfte erein Machtvakuum hinter sich zurücklassen, oder war es seine

Pflicht, gleichzeitig mit seiner Macht unterzugehen, wodurch die

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gesamte Struktur des buddhistischen Glaubens und destibetischen Staates in die Nacht mitgerissen würde, in dieseNacht, die laut der Prophezeiung des dreizehnten Dalai Lama

ewig währen sollte?Beim Einbruch der Nacht begab ich mich zum letztenmal in

das Mahakala, das meiner persönlichen Schutzgottheit geweihteHeiligtum. Als ich die schwere, knarrende Türe aufgestoßenhatte, blieb ich einen Augenblick lang auf der Schwelle stehen,um das Schauspiel in mir aufzunehmen, das sich mir bot.Mönche psalmodierten Gebete zu Füßen der Statue desSchutzgottes. Der Raum war nur von Butterlampen erleuchtet,die zu Dutzenden in ihren goldenen und silbernen Tiegelnaufgestellt worden waren. [...] Auf dem Altar stand ein Tellermit einem bescheidenen Opfer von Gerstenmehl. Ein Mönchergriff die Schallbecken, während ein anderer ein Horn in denMund nahm, aus dem ein langer klagender Ton kam. DieKlänge aus den Schallbecken vermischten sich miteinander, undihre Schwingungen, die sich durch den Raum ausbreiteten,

hatten eine beruhigende Wirkung auf mich. Ich verweilte einenAugenblick lang im Gebet und las aus den Buddha-Sutren; ichhielt bei der inne, die von der Notwendigkeit spricht, Vertrauenund Mut zu fassen.

Später in der Nacht brach der Dalai Lama, mit einer Hose undeinem langen schwarzen Mantel bekleidet, wie er ihn noch niein seinem Leben getragen hatte, ins Exil auf. Die höchsteInstitution des Landes war abermals suspendiert, zumviertenmal innerhalb eines halben Jahrhunderts.

Zwei Tage lang erfuhr Lhasa nichts von seinem Aufbruch.Als die Chinesen von der Flucht hörten, verkündeten sie mitLautsprechern, der Dalai Lama sei »entführt« worden; siebegannen den Palast zu bombardieren und die noch immerversammelte Volksmenge mit Maschinengewehren zubeschießen.

Die Nachhut schützte durch mutigen Einsatz die kleine Schar

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vor den chinesischen Verfolgern; am 30. März erreichten derDalai Lama und seine Exilsgefährten die Grenze zu Assam. Dasindische Radio verkündete die Neuigkeit in aller Welt, die

indische Regierung schickte eine Willkommensbotschaft. Am18. April gab der Dalai Lama in Tezpur eine offizielle Erklärungab; er schilderte die Ereignisse und hielt fest, daß er aus eigenemWillen weggegangen sei. Am 24. April hatte er eine langeBesprechung unter vier Augen mit Nehru. Der Bericht über diedramatischen Ereignisse in Tibet und die Entschlossenheitseines jungen Gesprächspartners, den Kampf um dieUnabhängigkeit unter Respektierung der eingegangenen

Verpflichtungen und des Lebens der in die Geschehnisseverwickelten Personen fortzusetzen, vermochten am Standpunktdes indischen Premierministers nichts zu verändern; er wolltesich ebenfalls an die 1954 mit China eingegangenenVerpflichtungen halten; in den früher festgelegten fünf Grundsätzen der friedlichen Koexistenz - Pancha Shila - warTibet als integrierender Bestandteil Chinas anerkannt worden.

Die öffentliche Meinung und gewisse politische Kreise in Indienhatten erst kürzlich diese Haltung kritisiert. Als 1958 die erstenBerichte über das chinesische Verhalten nach Delhi gelangten,brandmarkte ein Mitglied des Parlaments, Acharya Kripalani,das Abkommen von 1954; ihm liege »der Fehler zugrunde, daßwir das Siegel unserer Einwilligung zur Zerstörung einer mit unsgeistig und kulturell eng verbundenen alten Nation gesetzthaben«.

Einige Wochen verbrachte der Dalai Lama mit Nachdenken inder Stille. Dann hielt er am 20. Juni vor mehr als hundertJournalisten aus aller Welt eine Pressekonferenz ab, an der erden 1951 aufgezwungenen 17-Punkte-Vertrag aufkündigte underklärte: »Wo immer ich in Begleitung meiner Regierung auchbin, anerkennt mich das tibetische Volk als sein Oberhaupt.«Noch am gleichen Abend wurde durch eine offizielle indischeVerlautbarung mitgeteilt, die Exilregierung des Dalai Lama

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werde nicht anerkannt.

Indien widersetzte sich aber auch nicht den internationalenDemarchen des Dalai Lama. Pandit Nehru hatte zu ihm gesagt:

»Sie befinden sich in einem freien Land; handeln Sie so, wie Siees für gut halten.«

Mit einer sorgfältig dokumentierten Depesche an denGeneralsekretär der Vereinten Nationen forderte der Dalai Lamaeine nochmalige Überprüfung der Frage, die El Salvador 1950aufgeworfen hatte. Der entsprechende Resolutionsentwurf wurde von der Föderation von Malaysia und von Irland

vorgelegt und von den Vereinigten Staaten und derGeneralversammlung unterstützt. Die Diskussion fand am 20.und 21. Oktober statt. In der Resolution 1253 wurde an dieRespektierung der Menschenrechte erinnert und auf diekulturellen und religiösen Eigenheiten Tibets hingewiesen, derName der Volksrepublik China wurde nicht einmal erwähnt; dieGeneralversammlung sprach sich mit 46 gegen 9 Stimmen bei26 Enthaltungen, worunter Indien und Großbritannien, dafür

aus. Vorsichtshalber hatte Sri Lanka einen für die Verehrungeiner Buddha-Reliquie vorgesehenen Besuch des Dalai Lamaabgesagt.

Der unaufhaltsame Verlauf der Geschichte hatte es mit sichgebracht, daß das Land des Schnees und der Seen im Schutzseiner Berge und seines Glaubens keine Insel mit einereigenständigen Kultur geblieben war. Unter dem Deckmantel

einer Ideologie, die von sich behauptete, sie werde alle anderenIdeologien verdrängen, erlebte das Hochland eine neue Form derKolonisierung mit allen ihren Begleiterscheinungen wieUnterdrückung und sinnlose Menschenopfer. In derinternationalen Arena war die tibetische Tragödie nur mehr einThema unter anderen in einem Interessengerangel, in dem nurblinde und von den Umständen diktierte Impulse das Geschehenbestimmten.

Tenzin Gyatso begann eine Wallfahrt zu den Quellen. Beim

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Baum, unter dem der Buddha die Erleuchtung empfangen hatte,weihte er, der erst vierundzwanzig Jahre alt war, zum erstenmalin seinem Leben hundertzweiundsechzig junge Novizen zu

Priestern. Im Gazellenhain, wo der Buddhazweitausendfünfhundert Jahre zuvor gelehrt hatte, griff erdieselbe Botschaft auf: »Das Leiden ist der erste Schritt zurBefreiung.« Zweitausend aus Nepal herbeigekommene Tibeterin seiner Begleitung befanden sich ebenfalls auf derPilgerschaft, aber als Flüchtlinge in einem Zustand vollerBetrübnis.

Eine gewaltige Reserve an Mitleiden in Indien kam dem Mutund dem Elend zu Hilfe. Die Regierung unterbreitete denFlüchtlingen das Angebot, den Dalai Lama, seine Familie undseine Mitarbeiter in Moosurie und später, 1960, in Dharamsalaunterzubringen. In der Umgebung wurde Land für tibetischePächter ausgeschieden, deren Zahl schon bald auf fasthunderttausend anwuchs. Im Ausland wurde ebenfalls viel füreine Aufnahme von Flüchtlingen unternommen, etwa in Nepal

und besonders in der Schweiz, wo eine große tibetische Kolonieund zahlreiche Kinder eine neue Heimstätte fanden.

In Lhasa hatte eine von hundertvierzigtausend Soldatengestützte Militärdiktatur die tibetischen Institutionen abgelöst. Inden Klöstern und Dörfern waren die alten Strukturengewalttätigen Veränderungen unterworfen worden, die bloßEntmutigung auslösten; große Ländereien wurden nicht mehrbebaut, und der erzwungene Anbau von Weizen anstelle dertraditionellen Gerste erwies sich als ein Fehlschlag.

In Dharamsala versuchte der Dalai Lama mit hartnäckigerKlarsicht, einen Demokratisierungsprozeß in Gang zu bringen.Am 2. September 1960 setzte er die Abgeordnetenkommissionein, eine gesetzgeberische Körperschaft mit Vertretern aus denProvinzen Ü und Tsang, Amdo und Kham; die alte Bon-Religion wurde ebenfalls berücksichtigt. Der Kashag wurde

durch zusätzliche Ministerien für Erziehung, Information,

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Sicherheit und Wirtschaftsfragen ergänzt.

Nichts von alledem hätte sich ohne die Religion als Trägerverwirklichen lassen; der Dalai Lama sammelte mit offizieller

indischer Unterstützung eine Gemeinschaft vontausendfünfhundert Mönchen um sich, die aufgrund ihres hohenBildungsstandes aus den sechstausend im Exil befindlichenMönchen ausgewählt worden waren.

Alle diese Initiativen wurden durch den Schatz ermöglicht,der 1950 an der Grenze Sikkims sorgfältig vergraben wordenwar.

Von 1960 bis 1965 gründete und besuchte Tenzin Gyatso alsMönch und als Staatsoberhaupt Empfangszentren auf indischemGebiet für seine Landsleute im Exil.

Persönlichkeiten aus zahlreichen Ländern leisteten ihrenBeitrag zu Einrichtungen, die, wie aus den innenpolitischenEreignissen in Tibet zu schließen war, vermutlich währendlängerer Zeit ihre Aufgabe erfüllen mußten.

Die tibetische Regierung eröffnete Büros, um solche Kontaktemit der Außenwelt zu erleichtern. Nepal, das einzige Land auf der Erde, das seit dem 18. Jahrhundert allen Stürmen zum Trotzeine konsularische Vertretung in Lhasa aufrechterhalten hatte,nahm zuerst einen Abgesandten des Dalai Lama auf. New York,Zürich, Tokio, London und Washington folgten dem Beispiel.77 

Der Himmel über Tibet wurde noch düsterer. Der PanchenLama brachte 1962 den Mut auf, dem Präsidenten Mao Zedong

ein ausführliches Memorandum zuzustellen, in dem er seineKritik an den und seine Klagen über die chinesischen Methodenausführlich darstellte. Als er 1964 eingeladen wurde, währenddes Mönlam-Festes in Lhasa eine Ansprache zu halten, erklärteer vor der versammelten Volksmenge, der wahre Führer destibetischen Volkes sei der Dalai Lama. Zusammen mitzahlreichen Mönchen aus dem Kloster Tashilhunpo wurde erverhaftet und in einem Prozeß hinter verschlossenen Türen

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verurteilt. Man verlegte ihn in ein Hochsicherheitsgefängnis inChina, wo er einem Programm für »politische Umerziehung«unterzogen wurde.

Im Herbst 1962 führten bewaffnete Auseinandersetzungen ander Grenze zu China, das die MacMahon-Linie noch immernicht akzeptieren wollte, in Indien zu einer Neubesinnung überdie Beziehungen zu Peking. 1964 starb Pandit Nehru; seineStellung als Regierungschef nahm Lal Bahadur Shastri ein, dersich für eine andere Haltung in der Tibet-Frage entschied. 1965wurde dieses Problem auf Verlangen Thailands, der Philippinen,Maltas, Irlands, Melanesiens, Nicaraguas und, noch immer mitderselben Beharrlichkeit, El Salvadors abermals von denVereinten Nationen diskutiert. Indien stimmte jetzt für dieResolution.

Der Krieg, der 1965 und 1966 zwischen Indien und Pakistanausgetragen wurde, war für den Dalai Lama ein neues Beispielvon menschlichem Leiden. Die Unterzeichnung desFriedensvertrages in Taschkent durch Yakub Khan und Lal

Bahadur Shastri wurde getrübt durch den Tod Shastris, der einerHerzkrise erlag. Einige Tage später wurde Indira Gandhi alsneue Premierministerin vereidigt; während ihrer ganzenRegierungszeit unterstützte sie die Einrichtungen für dietibetischen Flüchtlinge in Indien.

Um diese Zentren weiteren Kreisen bekannt zu machen, Hilfevon außen zu mobilisieren und dafür zu sorgen, daß die Welt

Tibet nicht vergaß, unternahm der Dalai Lama eine ganze Reihevon Reisen. Gewissermaßen als ein Echo auf die Expeditionen,die Forscher, Wissenschaftler und Missionare in denvergangenen Jahrhunderten in sein Land unternommen hatten,machte er jetzt die Botschaft des buddhistischen Glaubens undder buddhistischen Kultur auf allen Kontinenten bekannt. Dieerste Reise führte ihn Ende 1967 nach Thailand und Japan.Während seines Fluges zwischen diesen beiden Ländern flog

über Vietnam eine B-52 der amerikanischen Luftwaffe an

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seinem Flugzeug vorbei: »Ich fühlte mich betroffen, als ichfeststellen mußte, daß man nicht einmal in zehntausend MeternHöhe vor dem Schauspiel der Unmenschlichkeit des Menschen

gegenüber seinen Mitmenschen sicher war.«1975 bereiste er sechs Wochen lang elf west- und

nordeuropäische Länder. Die Begegnung in Rom mit Papst PaulVI. wurde zum Beginn eines harmonischen Dialogs zwischenzwei denselben geistlichen Werten verpflichteten religiösenOberhäuptern.

In China war die Kulturrevolution entfesselt worden. Die

Roten Garden tauchten im August 1966 in Lhasa auf. Noch liegtkeine vollständige Bilanz der Zerstörungen vor: »Die Liste dervernichteten religiösen Bauten, Heiligtümer und Kunstwerke isteine der traurigsten und schändlichsten Seiten im Buch derWeltgeschichte.«78 Die beruhigenden Erklärungen derchinesischen Staatsführung gehörten längst der Vergangenheitan. Mit einiger Verwunderung nimmt man zur Kenntnis, daß dieZentralregierung in Peking, ob sie von den Kaiserdynastien,

dem Guomindang oder dem kommunistischen Regimeeingesetzt worden war, zu allen Zeiten nicht imstande gewesenist, die Handlungen ihrer zivilen, militärischen, polizeilichenund politischen Vertreter in Tibet unter Kontrolle zu halten. DieSprache, in der die Anordnungen aus der Hauptstadt geschriebenwaren, wurde offensichtlich von den ausführenden Organen inden weit entfernten Grenzregionen ganz anders verstanden.Hinzu kam aber auch, daß sich Beamte und Offiziere in einerUmwelt, die sie als feindlich empfanden und auf die sie mitSchikanen und Brutalitäten reagierten, anders als üblichverhielten.

Der tibetische Widerstand regte sich wieder stärker. DieUnterdrückung forderte noch mehr Opfer als 1959. Die Kämpfererhielten amerikanische Waffen, was ihre Schlagkraft und ihreEntschlossenheit verstärkte. Sie errichteten in den

Flüchtlingsgemeinschaften im nepalesischen Hinterland

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Stützpunkte. China übte deshalb Druck auf das kleineKönigreich aus. Der Dalai Lama, der die Anstrengungen diesesLandes bei der Aufnahme seiner Landsleute zu schätzen wußte,

wollte neue Kämpfe und neues Leiden verhindern; er entsandteeinen Emissär, der die Widerstandskämpfer auffordern sollte,ihre Waffen den Nepalesen zu übergeben.

Nach Maos Tod 1976 kamen aus Rotchina Signale einerÖffnung und eine Aufforderung zu neuen Gesprächen. 1977 wareine solche Botschaft aus den Aussagen des neuen PräsidentenLi Xiannian (Li Hsiennien) herauszuhören, der gewisse Exzesseder Kulturrevolution bedauerte; auch eine Erklärung von NgaboNgawang Jigme wies in dieselbe Richtung; der tibetischeUnterhändler von 1951 war eine wichtige Persönlichkeit imkommunistischen Apparat in Peking geworden; er versichertevor aller Öffentlichkeit, China hoffe auf eine Rückkehr desDalai Lama und seiner Anhänger. Der neue Generalsekretär derPartei, Hua Guofeng (Hua Kuofeng), äußerte sich nochdeutlicher, indem er andeutete, daß die alten tibetischen Bräuche

und Institutionen zweckmäßigerweise wiederhergestellt werdensollten.

Im November 1978 folgte eine konkrete Geste:Vierunddreißig Gefangene, vorwiegend Beamte der früherenVerwaltung, wurden in Lhasa unter großem Propagandaaufwandals die »letzten Anführer der Rebellen« aus der Haft entlassen.

Am 1. Februar 1979, als die Vereinigten Staaten die

Volksrepublik China offiziell anerkannten, trat der PanchenLama zum erstenmal seit seiner Verhaftung wieder in derÖffentlichkeit auf. Vierzehn Jahre Umerziehung warennotwendig gewesen, um ihn davon zu überzeugen, daß er denguten Willen Chinas durch angemessene Worte unterstützensollte: »Falls sich der Dalai Lama aufrichtig für das Glück unddas Wohlergehen der tibetischen Volksmassen interessiert, sosoll er in diesem Punkt keine Zweifel offenlassen: Ich darf ihm

versichern, daß der heutige Lebensstandard der Tibeter um ein

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Mehrfaches höher ist als zur Zeit der früherenGesellschaftsordnung.«

Von solchen Aussagen ermutigt, mahnte der Dalai Lama,

China solle jene Exiltibeter in ihre Heimat zurückkehren lassen,die ihre Familien wiedersehen möchten, aber auch Ausländernden Zugang ermöglichen. Maßnahmen in diesem Sinne wurdenangeordnet. Kurze Zeit später wollte sein älterer Bruder, GyaloThondrup, der mit einer Frau chinesischer Herkunft verheiratetwar und Freunde in Hongkong hatte, von ihm wissen, ob er einean ihn ergangene Einladung nach China annehmen dürfe. Überdie chinesische Botschaft in Indien ließ der Dalai Lamadaraufhin verlauten, er möchte gerne eine offizielle Missionnach Tibet entsenden, und er beauftragte seinen Bruder, inChina die aufgenommenen Kontakte in diesem Sinneweiterzuführen.

Dann erhielt er die Einladung, die buddhistischenGemeinschaften in der Sowjetunion und in der Mongolei zubesuchen. Er wurde vom Klerus der orthodoxen Kirche herzlich

empfangen. Unterwegs in Burjätien entdeckte er vollerErgriffenheit, daß die Mönche und Laien in einem Kloster auf tibetisch beteten, das die Sprache für religiöse Ausdrucksformengeblieben war.

Am 2. August 1979 brachen fünf Persönlichkeiten, worunterder andere Bruder des Dalai Lama, Lobsang Samten, der ihn auf seinem ganzen Weg begleitet hatte, seit er sein Geburtsdorf 

verlassen hatte, aus Delhi über Peking nach Tibet auf.Erst nach zweiwöchigen Diskussionen in Peking konnte dieReiseroute festgelegt werden, auf der die Abgesandten ganzTibet besuchen sollten. Überall drängten sich Volksmassen umsie; die Menschen verlangten Auskunft über den Dalai Lama. InLhasa wurde der Empfang zu einem Freudenfest. Angesichtsdieser Begeisterung der Bevölkerung, die ein baldiges Ende derfremden Besetzung ahnte, seufzte ein höherer chinesischer

Beamter: »Ein einziger Tag hat genügt, um zwanzigjährige

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Bemühungen hinfällig werden zu lassen.«

Doch der Bericht der Delegierten nach der Rückkehr war ineinem eher negativen Ton verfaßt: Mit Aufnahmen von

zerstörten Klöstern, die in Lagerhäuser, Fabriken, Ställeumgewandelt worden waren, belegten sie eine lange Liste vonVerletzungen der Menschenrechte; erwähnt wurden Mängel,Hungersnöte, zerstörte Wälder und geschädigte Böden (seit1955 sollen fünfzig Millionen Bäume gefällt worden sein undTausende von Hektar Ackerland brachgelegen haben).Chinesische Bauern, die sich hier niedergelassen hatten, undeine maßlose Überweidung hatten die natürlicherweisevorkommenden Tierarten, Vögel und Pflanzenfresser, dezimiert.Durch die Verstaatlichung der Güter und die Profanierung derEinrichtungen der buddhistischen Schule Tibets war zur großenVerzweiflung der städtischen und ländlichen Bevölkerung dasganze System der tibetischen Kultur erschüttert worden.

Zwei weitere Untersuchungskommissionen wurden 1980entsandt. Die eine, die aus jungen Leuten zusammengesetzt war,

wurde von den Chinesen unter dem Vorwand ausgewiesen, siestachle die Volksmassen zur Rebellion an. Die andere, die vonder Schwester des Dalai Lama, Jetsun Perna, geleitet wurde,studierte die Situation im Schulwesen; ihre Schlußfolgerungenkönnen mit einem Satz des senegalesischen SchriftstellersCheikh Amidou Khan zusammengefaßt werden: »Wiegt das,was eure Kinder in den neuen Schulen lernen, all das auf, wassie darin vergessen werden?«

Anfang April 1982 begab sich eine Delegation ausDharamsala nach Peking. Sie wurde vom Minister JuchenThubten Namgyal geleitet, dem der Vorsitzende derVolksversammlung, Lodi Gyaltsen Gyari, und ein Dolmetscherzur Seite standen. Sie sollte Gespräche über die Zukunft Tibetsführen. Es zeigte sich aber sehr rasch, daß China nur an etwasinteressiert war, nämlich an der Rückkehr des Dalai Lama. Ein

Fünf-Punkte-Vorschlag wurde vorgelegt, in dem dieser Wunsch

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deutlich zum Ausdruck kam, der aber auch mit einigenZusicherungen und gleichzeitig mit etlichen Warnungenausgeschmückt war.

Während einiger Jahre öffnete sich Tibet dem Tourismus;1985 entstanden moderne Hotels in Lhasa, Shigatse undTsedang für die ausländischen Besucher. 1986 wurde dieFührung einiger dieser Häuser sogar einer amerikanischen Firmaanvertraut.

Der Dalai Lama wurde 1979,1981 und 1984 in denVereinigten Staaten empfangen. Diesen Reisen blieb der Erfolg

nicht versagt, denn im Juli 1985 wurde ein von einundneunzigKongreßmitgliedern unterzeichneter Brief an den Präsidentender Volksversammlung in Peking, Li Xiannian, gesandt. Chinawurde darin aufgefordert, »volle und gebührendeAufmerksamkeit den sehr vernünftigen und berechtigtenBestrebungen Seiner Heiligkeit, des Dalai Lama, und seinesVolkes zu schenken«. Das war das erste Zeichen eineroffiziellen amerikanischen Unterstützung für die tibetische

Regierung und ihr Oberhaupt.Der amerikanische Kongreß veröffentlichte einen Bericht

über Verletzungen der Menschenrechte in Tibet und ludgleichzeitig abermals den Dalai Lama ein. Am 21. September1985 gab Seine Heiligkeit Tenzin Gyatso im Kapitol eineErklärung ab, die seither als ein Friedensplan und einRegierungsprogramm in fünf Punkten aufgefaßt werden darf:

• Die Umwandlung von ganz Tibet, die Regionen Amdo undKham eingeschlossen, in eine Friedenszone79;

• Verzicht Chinas auf seine Politik, Chinesen in dieses Gebietumzusiedeln, wodurch die Existenz der Tibeter als Volkgefährdet wird;

• Respektierung der Grundrechte und der demokratischenFreiheit des tibetischen Volkes;

• Wiederherstellung und Schutz der natürlichen Umwelt in

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Tibet und Verzicht Chinas auf deren Nutzung zur Herstellungvon Waffen und zur Ablagerung nuklearer Abfälle;

• Einleitung wirklicher Verhandlungen über den zukünftigen

Status Tibets und die Beziehungen zwischen dem chinesischenund dem tibetischen Volk.

In Lhasa befeuerte dieser Traum von Freiheit die Geister. InPeking sprach man von Separatismus. Der Aufruf zum Dialogwurde konzessionslos verworfen. Der Wind, der die seit Jahrenerwarteten Worte herbeigeweht hatte, verwandelte sich in einenSturm. Er löste einen weiteren Zyklus von Kundgebungen mit

der unvermeidlich sich daran anschließenden heftigenUnterdrückungswelle aus. China rief die Mönchsgemeinschaftenauf, im März 1988 an den althergebrachten Mönlam-Feiernteilzunehmen, und verstärkte gleichzeitig seine militärische undpolizeiliche Präsenz. Die Volksmenge bewegte sich um denJokhang-Tempel, wobei Gebete und Rufe nach Unabhängigkeitsich miteinander vermischten. Man hörte erste Schüsse, derheilige Tempel wurde mit Waffengewalt gestürmt. Das Blut von

zahlreichen Opfern wurde vergossen. Eine von einem britischenPolitiker angeführte unabhängige Untersuchungskommission,die im Einverständnis mit Peking nach Tibet gereist war, konntenur noch bedrückende Zeugenaussagen sammeln.

Verschiedene Länder ermahnten China, Verhandlungenaufzunehmen. Im Juni 1988 legte der Dalai Lama auf Einladungdes Europäischen Parlaments in Strassburg seine

Friedensvorschläge dar; er fügte hinzu, Tibet könnte unterVorbehalt der Zustimmung des tibetischen Volkes durchaus alsmit der Volksrepublik China assoziierter Staat leben, dieweiterhin für die Außenpolitik und die Verteidigung zuständigwäre. Peking kritisierte in seiner Antwort das EuropäischeParlament aufs heftigste, weil es den Dalai Lama angehört habe.Zur gleichen Zeit schlug die chinesische Regierung freilich demDalai Lama auch ein Treffen zwischen Vertretern der beiden

Parteien vor; die Rede war von Genf. Der Tienanmen-Frühling

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Wie seine Vorgänger hat auch Tenzin Gyatso seinen Beitragzur Bereicherung des mystischen Wissens und zur Verbreitungder Botschaft des Buddha geleistet. Seine Kommentare zu einem

der schönsten Gedichte der buddhistischen Literatur,   Der Weg zur Erleuchtung von Shantideva, einem großen Heiligen ausdem Indien des 9. Jahrhunderts, tragen dazu bei, daß das Radder Lehre in alle Ewigkeit in Bewegung bleibt. Auch seinePredigten drehen sich um dieselben Weisheitsthemen: dieSelbstvergessenheit und das Heil aller.

So wie die früheren Buddhas den Gedanken der Erweckungformuliert und in sich schrittweise weiterentwickelt haben, lasseich ihn in mir zum Nutzen aller Wesen wachsen.

Im Unterschied zu den früheren Dalai Lamas hatte er sich miteiner materialistischen Welt auseinanderzusetzen, deren Mängelihn dazu anregten, sich Gedanken über den sozialen Fortschrittund über die Stellung der Ethik und der Moral im öffentlichenLeben zu machen.

Ohne den Mut zu verlieren, wendet er sich gegen die

Ausmerzung des Religiösen: »Es ist eine absurde Behauptunganzunehmen, die Moral und die Religion hätten keinen Platz inder Politik und ein religiöser Mensch habe sich wie einEinsiedler abzusondern.«

Wort und Werk von Tenzin Gyatso stellen eine Trilogie dar;als Mensch betont er die universelle Verantwortung jedesMenschen seinesgleichen und der Natur gegenüber; als Apostel

des Buddhismus wendet er sich an alle, die wie er denMenschen besserzumachen versuchen, wobei jede Religion ihreigenes geistliches Heilmittel gegen geistliche Übel einbringt;als Tibeter und Dalai Lama hält er fortwährend die Erinnerungan sein Land und sein Volk wach.

Von der buddhistischen Botschaft und der Bestätigung durchseine Gläubigen erleuchtet, geht er den Weg dieserBestimmung, die der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig

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geahnt hat: »Immer und überall werden Menschen zur Heiligkeitgezwungen, weil das religiöse Gefühl der Menschheit diesehöchste Form des Geistes immerwährend braucht.«

1989 hat das norwegische Nobelpreis-Komitee dem DalaiLama den Friedenspreis zuerkannt. Tenzin Gyatso, dervierzehnte Dalai Lama, der geschrieben hat: »Die Reinkarnationhat nur einen Zweck, nämlich die Kontinuität eines Werkes zuerleichtern«, begab sich nach Oslo, beladen mit dem ganzenErbe seiner Vorgänger. Im Namen von ihnen allen und imGedanken an seine Gläubigen als auch an die gesamteMenschheit hat der Mönch und Staatsmann, zwei Funktionen,die durch die Geschichte und den Glauben unauflöslichmiteinander verbunden sind, seine Dankesrede mit diesemuniversellen Gebet beendet:

Solange der Raum Bestand hat, Solange es empfänglicheWesen gibt, Hoffe auch ich auf ein Bleiben, Um die Leiden derWelt zu vertreiben.

 La Valée de Dormelles, 14. März 1993

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Anmerkungen 

Das Volk - Herkunft und Verteilung der Bevölkerung

1 Tibetische Erzählungen aus dem 9. Jahrhundert.

2 Mircea Eliade: Histoire des croyances et des idéesreligieuses. Band III, 31. Kapitel: Les religions tibetaines. Payot,Paris 1978. Seite 274.

3 Rolf A. Stein: La Civilisation tibétaine. L'Asiathèque, Paris1987.

4 In den Hochtälern Kaschmirs sind Ethnologen auf eineRasse gestoßen, die sie als rein arisch einstufen. Der Zugang zudiesem Gebiet, um das sich Indien und Pakistan streiten, istAusländern verboten. Doch 1980 hat die indische Polizei hierzwei junge deutsche Frauen aufgegriffen, die aus rassistischerÜberzeugung und mit der Absicht hierhergekommen waren, sichvon diesen Ariern schwängern zu lassen.

5 Tenzin Gyatso/Dalai Lama: Mon pays et mon peuple.Olizane, Genève 1990.

6 Rolf A. Stein: La Civilisation tibétaine.

Avalokiteshvara, die Inkarnation des Mitleidens, wird auf tibetisch auch Chenresi genannt.

Die Zentralmacht

7 Rolf A. Stein: La Civilisation tibétaine.

8 Ähnliche Mythen sind in den sakralen Übungen derMenschheit weit verbreitet. Eine solche Verbindung zumHimmel findet sich bei den australischen Aborigines wie bei den

biblischen Juden, bei denen diese Überzeugung im Turmbau zu

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Babel sogar eine materielle Architektur erhielt; dieser Ehrgeizder frühen Menschen oder die entfesselten Leidenschaften desKönigs Drigun sind freilich ein Sinnbild für den Einbruch des

Übels in diese Welt..., und der Mensch wird anschließend ausdem irdischen Paradies vertrieben.

9 Devanagari ist noch immer die Schrift der nepalesischenSprache.

10 Die Newar sind noch immer eine der aktivstenVölkerschaften Nepals. Als Bauern, Viehzüchter undHandwerker galten sie während langer Zeit als eine arbeitsame

Gruppe der Bevölkerung, sie wurden aber von der im 18.Jahrhundert an die Macht gelangten Dynastie, die Nepal geeinigthatte, eher vernachlässigt. Erst 1986 erhielten die Newar mitMarich Man Singh Shresta ihren ersten Regierungschef in dernepalesischen Geschichte.

11 Dzo: Kreuzung von Yak und Büffel.

12 Rolf A. Stein: La Civilisation tibétaine.

13 Dasselbe gilt für Nepal: Bis 1950 übten diePremierminister, deren Amt sich wie bei den merowingischenHausmeiern vom Vater auf den Sohn vererbte, die wirklicheMacht aus.

14 Fosco Maraini: Tibet secret, Arthaud, Paris 1990.

15 Die Kulturrevolution hat diesem großartigen Klosterschwer zugesetzt, doch derzeit wird es restauriert; ein Besuchdieses Denkmals gehört zu den erhebendsten Augenblicken beider Entdeckung Tibets.

16 Aber nicht: »ihre Königreiche zu vereinigen«, wie oft infehlerhaften Übersetzungen zu lesen ist. Die Bedeutung dieses»kleinen Unterschieds« für die heutigen Auseinandersetzungenüber die historische Begründbarkeit der tibetischen Forderungenist unschwer zu erkennen...

17 Der Dalai Lama wird als eine Reinkarnation von Chenresi

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(Avalokiteshvara), der Panchen Lama als eine Manifestation desBuddha Amitabha betrachtet.

18 Hier wurde dem Buddha die Erleuchtung zuteil. Für die

buddhistischen Gläubigen ist der Ort ein Wallfahrtszentrum, wo jährlich eine wichtige Zusammenkunft stattfindet.

Der Zusammenbrach der Staatsmacht

19 Rolf A. Stein: La Civilisation tibétaine.

20 Eine Medizin-, Pharmazie- und Astronomieschule wurdeauf dem Chakpori-Hügel erbaut, der dem Potala-Palastgegenüber liegt; das Gebäude ist während der Kulturrevolutionvollständig zerstört worden.

Die mongolische Intervention

21 Sherab Gyaltsen Amipa: Histoire et doctrine de la traditionSakyapa. Dervy-Livres, Paris 1987. - Als eine historischeWiederholung dieser ersten offiziellen Reise eines tibetischenStaatsmannes nach China darf der Besuch (1954) desvierzehnten Dalai Lama in Peking bezeichnet werden.

22 In Ganden, einer eigentlichen heiligen Stadt, lebten zugewissen Zeiten bis zu zehntausend Mönche. Dieses Symbol dertibetischen Kultur und ihrer Regierungsform wurde in der Zeit

der antireligiösen Revolution von 1966 bis 1976 praktisch völligzerstört.

Die Religion

23 Tenzin Gyatso/Dalai Lama: Mon pays et mon peuple.

24 Mircea Eliade: Histoire des croyances et des idées

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religieuses.

25 Es gibt ein Bon-Dorf in einem engen Tal nördlich vonJomoson vor der nepalesischen Ortschaft Mustang, zu dem

Ausländer noch immer keinen Zutritt haben; das dortige Klosterist im Inneren und an der Fassade mit lauter buddhistischenSymbolen verziert, die wiederum mit dekorativen Motivenvermischt sind, die von Auffassungen und Gebräuchen derBönpo-Magier beeinflußt sind.

26 Das Kangyur ist eine Sammlung der Worte des BuddhaShakyamuni, das Tengyur die Sammlung der Kommentare,

welche die indischen Meister zu den Worten des Buddha verfaßthaben. Beide Sammlungen sind Übersetzungen aus demSanskrit in die tibetische Sprache und enthalten diebuddhistische Lehre in ihrer Gesamtheit.

27 Vielleicht auch aus dem 2. Jahrhundert, denn dieMeinungen über sein Geburtsjahr gehen auseinander.

28 In den westlichen Ausläufern des tibetischen Hochlandes,die auch »Klein-Tibet« genannt werden.

29 Daniel-Rops: L'Eglise des temps barbares. Band II, Seite441.

Der Beginn

30 Aus einem Vortrag, den Professor L. de Milloue am 21.

Januar 1900 im Musée Guimet gehalten hat, und zwar zur Frage:»Wie ist es zur weltlichen Macht der Dalai Lamas gekommen?«

Gendün Drub

31 Eine Gottheit des buddhistischen Pantheons, die von denTibetern übernommen worden ist. Sie sieht in der sakralen

Ikonographie im allgemeinen schreckenerregend aus, obwohl ihr

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beschützende Eigenschaften zugesprochen werden.

32 Mircea Eliade: Histoire des croyances et des idéesreligieuses. Band II, Seite 213.

33 Wie wir noch sehen werden, wird das Kloster Tashilhunpoder Sitz des Panchen Lama, einer Institution, die im 17.Jahrhundert vom fünften Dalai Lama geschaffen wurde; derzehnte, 1938 geborene Panchen Lama ist 1989 gestorben; seinNachfolger ist noch nicht bestimmt.

34 Der erste römische Pontifex Maximus, der heilige Petrus,trägt auf bildlichen Darstellungen oft den Schlüssel als Symbol

der christlichen Kirche in der Hand.35 Eine genaue Umrechnung der Daten des tibetischen

Kalenders in unsere Zeitrechnung ist nicht einfach. Das Jahrbeginnt mit dem Neumond Ende Januar/Anfang Februar; es istdeshalb im allgemeinen eine Woche kürzer als imgregorianischen Kalender, und um diesen Unterschiedauszugleichen, besteht das tibetische Schaltjahr aus dreizehnMonaten. Daraus ergibt sich, daß das Jahr nach einem Schaltjahrspäter als die anderen Jahre des gleichen Zyklus beginnt. Lautder tibetischen Chronik ist Gendün Drub Ende Dezember 1474gestorben. In unserem Kalender sind das die ersten Tage imJanuar 1475.

Gyalwa Gendün Gyatso

36 Eine weibliche indische Gottheit, die vom Mahayana-Buddhismus übernommen worden ist. Tara ist in Tibet sehrpopulär. Sie gilt als das weibliche Gegenstück zuAvalokiteshvara und personifiziert die universelle Liebe zu denLebewesen. Man ruft sie wie die christliche Gottesmutter an undstellt sie in verschiedener Gestalt dar, aber immer friedlich undlächelnd.

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37 Mircea Eliade: Histoire des croyances et des idéesreligieuses. Band II, Seite 216.

38 Der Manjushri ist vor sehr langer Zeit entstanden und im

ganzen Mahayana-Bereich verbreitet. Für manche Buddhistenist Manjushri eine historische Persönlichkeit, die spätervergöttlicht wurde. Große Denker wie Padmasambhava undTsongkhapa werden als Inkarnationen von Manjushri betrachtet.

39 Die Sutras sind die gesammelten Worte (Lehrreden) desBuddha, und diese Überlieferung ist allen Schulen desBuddhismus, dem Theravada und dem Mahayana, gemeinsam.

Das Mahayana seinerseits hat sich in Bodhisattvayana undVajrayana gespalten; diese letztere Strömung, die Schule derTantras, ist die esoterische Version des Buddhismus.

Gyalwa Sonam Gyatso

40 Tenzin Gyatso/Dalai Lama: Cent Eléphants sur un brin

d'herbe. Editions du Seuil, Paris 1991.41 Karman (oder Karma): ein Verhalten nach dem Gesetz der

Verkettung von Ursache und Wirkung.

42 In Narthang, 1153 gegründet, wurde währendJahrhunderten die größte Sammlung von Druckstöcken aus Holzaufbewahrt. Im 15. Jahrhundert waren hier die bekanntestenBücher herausgegeben worden. Die Druckvorlagen für die

heiligen Texte wurden 1966 zu einem großen Teil von denRoten Garden zerstört. - Sakya, 1173 gegründet, war der Sitz derÄbte, die von den Mongolen den Auftrag erhalten hatten, dieweltliche Macht in Tibet auszuüben, und diese auch mehrereJahrhunderte lang ausgeübt hatten.

43 Als »Rotmützen« werden die Mönche des Nyingmapa-,des Kagyapa- und des Sakyapa-Ordens bezeichnet.

44 Rolf A. Stein: La Civilisation tibétaine.

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Yönten Gyatso

45 Michel Bur: Suger, abbé de Saint-Denis, Regent de France.Februar 1992.

Ngawang Lobsang Gyatso

46 Laut Rolf A. Stein nahm die Jonangpa-Schule, die über

den Dharmakaya, die durch das Gesetz des Buddha vorgegebenegeistliche Grundlage, hinausging, einen noch transzendenterenZustand als die Leerheit an, nämlich die absolute Existenz alsletzte, unabhängige und ewige Wirklichkeit. Dieser vonDenkern im 15. Jahrhundert eingeführte Begriff wurde als eineHäresie betrachtet; die Schriften der Jonangpa wurden vomfünften Dalai Lama auf den Index gesetzt, ihre Klöster vomGelugpa-Orden übernommen.

47 1988 wurde in London ein Buch mit dem Titel »SecretVision of the fifth Dalai-Lama« veröffentlicht, in dem derOriginaltext analysiert wird.

48 Tenzin Gyatso/Dalai Lama: Mon pays et mon peuple. Seite60.

49 Ebd.

50 Unter dem Titel »Peintures médicales tibétaines« sind

diese Illustrationen 1992 von drei Tibetologen, einem Russen,einem Engländer und einem Franzosen, herausgegeben worden;der vierzehnte Dalai Lama hat ein Vorwort zu dieserbemerkenswerten Publikation verfaßt.

51 Im Kloster von Hemis wird eine Kopie desautobiographischen Manuskripts des fünften Dalai Lamaaufbewahrt.

52 Sylvain Lévi: Le Nepal, étude historique d'un royaume

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hindou. Librairie le Toit du monde, Paris 1985.

53 Ebd.

54 Die Analyse und die Interpretation des Textes sind einemArtikel von A. S. Martynow, Sinologe und Tibetologe in SanktPetersburg, entnommen: On the Status of the Fifth Dalai Lama.In: Tibet Journal.

55 Ebd. - Im 19. Jahrhundert standen die Abgesandten derKönigin Viktoria vor demselben semantischen unddiplomatischen Problem, als sie vermeiden mußten, daß Englandals ein Vasallenstaat des chinesischen Reiches betrachtet werden

konnte.56 Die Historiker sind sich über sein Todesjahr nicht einig:

1653, 1654 oder 1655. G. Schulemann zitiert Quellen, wonachsich Gushri Khan 1654 von den Regierungsgeschäftenzurückgezogen habe und 1656 gestorben sei; diese These würdedie religiösen Neigungen des Herrschers bestätigen, doch einesolche Version, mit welcher oft die letzten Tage von großenMännern in ein besseres Licht gerückt werden, ist so häufig inpopulären Jahrbüchern anzutreffen, wenn präzise historischeAngaben fehlen, daß man sie wohl als Legende abtun darf 

57 Mehrere Historiker lassen durchblicken, er sei einnatürlicher Sohn von Lobsang Gyatso gewesen. H. E.Richardson bestreitet in seiner Analyse des Ernennungsdekretsfür den Regenten Sangye Gyatso diese These, die ihm zufolgedurch keinen chinesischen oder tibetischen Text belegt ist und

die erst 1834 von einem italienischen Missionar erwähnt wird.Vgl. Bulletin of the School of Oriental and African Studies,University of London, 1980.

Rigdzin Jamyang Gyatso

58 K. Dhondup: Vie et chants d'amour du sixième Dalai-

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einen Freipaß für eine Reise von Paris nach London ausgestellthatte.

Tsültrim Gyatso

65 Wie wir hervorgehoben haben, sah auch der Vertrag mitNepal vor, daß alle fünf Jahre eine Delegation zu entsenden war.Obwohl der Tribut 1908 zum letztenmal entrichtet worden war,mußte Nepal 1959, als sich das Land um den Beitritt zur UNObemühte, auf Drängen der Sowjetunion, die damals die

Interessen des kommunistischen China vertrat, den Beweisseiner Unabhängigkeit von Peking erbringen - was auch miteiner ebenso begründeten wie höflichen Argumentation getanwurde.

Trinle Gyatso

66 W.Eberhard: Histoire de la Chine. Payot, Paris 1952.Thubten Gyatso

67 Vgl. Heather Stoddard: Le Mendiant de l'Amdo.

68 Ebd.

69 Jacques Bacot: Introduction à l'histoire du Tibet. Sociétéasiatique, Paris 1962.

70 Ebd.71 Heather Stoddard: Le Mendiant de l'Amdo.

Tenzin Gyatso

72 Tenzin Gyatso/Dalai Lama: Mon pays et mon peuple.

73 Tenzin Gyatso/Dalai Lama: Au loin la liberté. Fayard,

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Paris 1990.

74 Der Botschafter der Vereinigten Staaten in Nepal währendder Jahre 1986 bis 1988 war ein ehemaliger amerikanischer

Kampfpilot. Er erzählte seinen Gesprächspartnern von diesennächtlichen Operationen aus den Ebenen Nordindiens in diechinesischen Kampfzonen, bei denen viele seiner Kameraden ihrLeben verloren hatten.

75 Fosco Maraini: Tibet secret.

76 Das Abkommen ist inzwischen von den Tibetern fürungültig erklärt worden, weil es unter Zwang unterzeichnet

worden war.77 Später sind Büros in Genf, Paris, Budapest, Moskau und

Canberra hinzugekommen. Ungarn hat immer sehr viel Interessean den Völkern Zentralasiens bekundet. Einer der Begründer derTibetologie war Alexander Csoma aus Körös. 1832 hat er einesder ersten tibetischenglischen Wörterbücher verfaßt. Er ist inDarjeeling gestorben und begraben worden.

78 Fosco Maraini: Tibet secret.79 Der König von Nepal hat 1975 für sein Land denselbenVorschlag unterbreitet; seine Bestrebungen wurden vonhundertsiebzehn Mitgliedstaaten der Vereinten Nationenunterstützt. Michail Gorbatschow seinerseits hat dieEntmilitarisierung der chinesischsowjetischen Grenzevorgeschlagen, um auch hier eine Zone des Friedens und derguten Nachbarschaft zu schaffen.

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Wichtige chronologische Daten 

TIBET CHINA ÜBRIGE WELT

Vor Christi Geburt Vor Christi Geburt Vor Christi Geburt

751wird die Stadt Romgegründet1028-256

regiert die Dynastie derZhou 628

kommt Zarathustra zurWelt

1063wird Böntön Shenrabgeboren, der Begründerder Bon-Religion

um 600wird Lao -tzu geboren586-538wird das jüdische Volknach Babylon verschleppt

551kommt Kong Fuzi (Kung-fu-tse, Konfuzius) zur Welt

221stellt Qin Shihuangdi (Chi'in

Shih Huangti) dieReichseinheit her214wird die Große Mauervollendet

558wird ShakyamuniSiddharta geboren, derBuddha Gautama 332

besiegt Alexander derGroße die Perser bei Issos

127beginnt die Herrschaft vonNyatri Tsenpo und damitdie tibetische Zeitrechnung

206-220 n. Chr.herrscht die Dynastie derHan

52erleidet Vercingetorix eineNiederlage bei Alesia

Nach Christi Geburt Nach Christi Geburt Nach Christi Geburt30erleidet Jesus denKreuzestod212werden gemäß einemErlaß von Caracalla alleBewohner des Reiches

römische Bürger

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TIBET CHINA ÜBRIGE WELT312erringt Konstantin derGroße

den Sieg an derMilvischenBrücke313wird das ToleranzediktvonMailand erlassen361-363herrscht Iulianus Apostataüber das Römische Reich

496erringt Chlodwig I. einenSiegüber die Alemannen498tritt Chlodwig I. zumChristentum über537wird die Hagia Sophia inKonstantinopel errichtet567 (oder 572)kommt Mohammed inMekkazur Welt

618-906blühen während der Dynastieder Tang (T'ang) die Künste

629-644bereist Hiuan Tsang Tibetund Indien

622übersiedelt Mohammedmitseinen Anhängern nachMedina (Hedschra)

617-649herrscht Songtsen Gampoals32. König über Tibet

635kommt der erste

nestorianische Mönch inChina an650-683herrscht Gao Tsong alsKaiser;Juden und Muslime lassensich in China nieder

638erobern die AraberJerusalem

641heiratet der König einechinesische und einenepalesische Prinzessin;wird das Jokhang-Klostergegründet

704-755

684-701versucht die Kaiserin WuHao, den Buddhismus als

692nehmen die Araber

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herrscht Tride Tsukten Karthagoein710

heiratet er die PrinzessinKin Ch'en

755-797dauert die Herrschaft vonTrisong Detsen

Staats -religion einzuführen

732werden die Araber bei

Toursund Poitiers besiegt

763fällt China erstmals inTibet ein

779wird das Kloster Samye

gegründet

785-809

herrscht Kalif HarunAr Raschid über dasislamische Reich

792-794Konzil von Lhasa undSamye; durch einenköniglichen Erlaß wird dasMahayana eingeführt

815-838herrscht Tritsug DetsenRalpachen

821wird Frieden mit Chinageschlossen

800wird Karl der Große inRomzum römischen Kaisergekrönt

906-960lösen fünf Dynastien

einanderab

911setzen sich dieNormannen inFrankreich fest

842wird König Langdarmaermordet

Bis Anfang des13.Jahrhunderts bleibt das

tibetische Reich inFürsten-tümer und Klöstergespalten1040-1123lebt Milarepa, Dichter undMystiker

987

bekehrt sich Rußland zumChristentum

1042-1054predigt Atisha, einindischer

Mystiker, in Tibet, wo er

960-1278übt die Song -Dynastie die

Herrschaft aus

1054spaltet sich die christliche

Kirche

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1066besiegt derNormannenherzogWilhelm der Eroberer

König Harald beiHastings1099erobern die KreuzfahrerJerusalem1118wird der Templer-Ordengegründet

auchstirbt

1207

sucht eine tibetischeDelegation TschingisKhan auf 

1187erobert Saladin Jerusalem

1215wird die PariserUniversitätoffiziell gegründet

1244wird Sakya Pandita vondenMongolen zum Vizekönigvon

Tibet ernannt

1279wird Kublai Khan ersterKaiser der Yuan-Dynastie1275-1292bereist Marco Polo daschinesische Reich

1250wird Ludwig der Heiligein

Ägyptengefangengenommen

1309

nehmen die PäpsteWohnsitz in Avignon

1314ist der Templer-Orden amEnde

1260erhält Chögyal PhagpavomMongolen Kublai KhandenTitel Vizekönig

1307wird Johannes von Monte-corvino Erzbischof vonPeking

1356verliert der Papst durchdie Goldene Bulle seinenEinfluß auf die Wahl desKaisers

1357-1419lebt Tsongkhapa,Reformer des Mönchtumsund Gründer des Gelugpa-

Ordens

1368-1644herrscht die Ming-Dynastie

1382

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verbrennen die MongolenMoskau

1391kommt Gendün Drub zurWelt (er wird später alsder

erste Dalai Lamabezeichnet)1409wird Ganden gegründet

1416wird Drepung gegründet

1419wird Sera gegründet

1434-1534bekämpfen sich die

Fürsten-familien der Provinzen ÜundTsang hundert Jahre lang

1405stirbt Timur

1447wird Tashilhunpogegründet1475kommt Gendün Gyatso(der zweite Dalai Lama)

zur Welt

1403macht Kaiser Yung LoPeking

endgültig zur Hauptstadt

1453erobern die TürkenKonstantinopel

1492entdeckt ChristophKolumbusAmerika

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TIBET CHINA ÜBRIGE WELT1494öffnet Vasco da Gama den

Seeweg nach Indien

1517schlägt Martin Luther inWittenberg seine Thesenan1529belagern die Türken Wien

1526-1658herrschen die Mogulenüber Indien

1543wird Sonam Gyatsogeboren1578verleiht Altan Khan demdritten Dalai Lama,Sonam

Gyatso, den Titel «Talai»1582wird Kumbum gegründet

1540wird die Gesellschaft Jesugegründet

1582darf Matteo Ricci in Chinaeinreisen

1594erläßt Heinrich IV. das

Ediktvon Nantes

1589kommt Yönten Gyatso zurWelt, der vierte DalaiLama

1613kommt in Rußland die

Romanow-Dynastie an diMacht1620legt die Mayflower inMassachusetts an

1617

wird Ngawang LobsangGyatso, der fünfte DalaiLama, geboren

1601wird Matteo Ricci amKaiserhof empfangen

1642setzt der Mongole GushriKhan den König vonTsangab; er übergibt dem Dalai

1644-1911gründen die Mandschu nachdem Sturz der Ming-

Dynastie

1633wird Galileo Galileiverurteilt

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die Qing -DynastieLama die unbeschränkteMacht

1645wird mit der ErrichtungdesPotala (1695 vollendet)begonnen

1644-1662übt Kaiser Shun Chih dieMacht aus 1648

opponiert in Frankreichder Adel gegen dasabsolutistischeKönigtum; wird KönigKarl I. von England inLondon hingerichtet; gehtder Dreißigjährige Krieg

zu Ende1650wird Chökyi Gyaltsen zumersten Panchen Lamaernannt

1652stattet der fünfte DalaiLamaChina einen Besuch ab1682-1697

herrscht Sangye Gyatso alsRegent

1683belagern die OttomanenWien

1663-1722herrscht Kaiser Kangxi(K’ang-hsi) in Peking

1685wird das Edikt von Nantesaufgehoben1689wird Wilhelm III. von

Oranien König vonEngland

1683wird Jamyang Gyatso, dersechste Dalai Lama,geboren

1696wird Peter der Große Zarvon Moskau

1705fällt Lhabsang Khan, derAnführer der Qoshot-Mongolen,in Tibet ein

1710wird Port -Royal zerstört

1708Geburt von Kelsang

Gyatso

1689schließen China und

Russland den Vertrag vonNertchinsk ab

1713stirbt der Sonnenkönig

Ludwig XIV.

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1717wird Lhasa von denDsungaren geplündert

1723wird das Christentum inChina verboten

1747gründet Ahmed SchahDourrani Afghanistan

1720

kommt ein chinesischesExpeditionskorps in Lhasaan

1752erscheint dieEnzyklopädie von Diderot

und d ’Alembert1765werden die Jesuiten ausFrankreich ausgewiesen1768einigt Prithivi NatayanNepal unter seinerHerrschaft

1758wird Jampel Gyatso, der

achte Dalai Lama, geboren

1728wird eine ständige Garnisonin Lhasa stationiert; zweiAmban vertreten in Tibet dieStaatsmacht

1769wird Napoleon geboren

1772kommt es zur erstenTeilungPolens

1773hebt Papst Klemens XIV.dieGesells chaft Jesu auf 1776erklären die Vereinigten

Staaten von Amerika ihreUnabhängigkeit

1774führt Bogle seinen AuftraginTibet aus

1787werden die Protestanten inFrankreich als legalanerkannt

1790/1791bricht der Krieg mit dennepalesischen Gurkhas aus

1806wird Lungtog Gyatsoneunter

Dalai Lama

1815rebellieren Muslime in

1804wird Napoleon I.französischerKaiser

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1816folgt ihm Tsültrim Gyatsoalszehnter Dalai Lama

Sinkiang

1842tritt China im Vertrag vonNanking Hongkong anGroßbritannien ab

1838kommt Kedrub Gyatso,der elfte Dalai Lama, zurWelt

1854-1856herrscht Krieg mit Nepal

1850-1864wird das Land von derTaiping-Revolutionerschüttert

1860besetzen die Franzosen undEngländer Peking

1839-1842erleiden die Engländerin Afghanistan eineNiederlage

1856wird Trinle Gyatso, derzwölfte Dalai Lama,geboren

1864/1865erobert RußlandZentralasien

1861-1875übt Cixi (Ts'u -hsi) dieRegentschaft aus1876

folgt auf ihn ThubtenGyatso,der dreizehnte Dalai Lama 1893

wird Mao Zedong geboren1895übernimmt der dreizehnteDalai Lama die Macht

1898-1908wird Cixi abermals Regentin1899beginnt der Boxeraufstand

1891erscheint die Enzyklika

 Rerum Novarum über dieLebensbedingungen derArbeiterschaft

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TIBET CHINA ÜBRIGE WELT

1904bricht der russisch-

 japanischeKrieg aus

1904unternehmen die Briten

einenFeldzug nach Lhasa; derDalaiLama begibt sich in dieMongolei und nach Chinains Exil1909kehrt der Dalai Lama nachLhasa zurück

1905kommt es in Moskau zueinem Aufstand

1910

besetzen chinesischeTruppenLhasa; der Dalai Lamabegibtsich nach Indien ins Exil

1908sterben Cixi und KaiserKuang Siu

1911erhebt sich das Volk gegendieChinesen

1911wird die Republikausgerufen

1913

kehrt der Dalai Lamazurück;Tibet wird unabhängig

1910

wird MarokkofranzösischesProtektorat

1913

erfolgt die Gründungdes Guomindang

1916-1926bekämpfen sich die Generälegegenseitig

1914bricht der Erste Weltkriegaus

1914wird zwischen Tibet,Großbritannien und Chinadie Vereinbarung vonSimla getroffen(aber von China nichtratifiziert)

1923verläßt der Panchen LamadasLand

1921werden Afghanistan unddie

Mongolei unabhängig

1921wird die chinesischeKommunistische Partei

gegründet

1933stirbt der dreizehnte DalaiLama; der Abt von Retingübtdie Regentschaft aus

1933kommt Adolf Hitler an dieMacht

1934/1935findet der Lange Marsch derKommunisten statt

1935kommt der vierzehnte 1937

1935fällt Italien in Äthiopien

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einund bricht der spanischeBürgerkrieg aus

DalaiLama zur Welt

1939

bricht der ZweiteWeltkriegaus1947erlangt Indien dieUnabhängigkeit

beginnt der Krieg gegenJapan

1940wird der vierzehnte DalaiLama, Tenzin Gyatso,inthronisiert

1949wird die VolksrepublikChina proklamiert

1948wird der Staat Israelgegründet

1950begibt sich der vierzehnteDalai Lama nach Sikkimins Exil und kehrt erwieder nach Lhasa zurück;die Vereinten Nationenprüfen erstmals dastibetische Problem

1951

marschiert die chinesischeVolksarmee in Tibet ein;ein«Abkommen» in siebzehnPunkten wirdabgeschlossen

1953stirbt Josef Stalin

1954beginnt derUnabhängigkeits-kampf Algeriens

1954stattet der Dalai LamaPekingeinen Besuch ab

1959begibt sich der Dalai Lamanach Indien ins Exil

1957wird mit dem RömerVertragdie EuropäischeWirtschafts-gemeinschaft (EWG)gegründet

1960-1965lassen sich tibetischeFlüchtlinge in Indien undNepalnieder

1962erlangt Algerien dieUnab-

hängigkeit

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1963wird der amerikanischePräsident John F.Kennedy

ermordet1964stirbt der indischeMinisterpräsident PanditNehru

1965prüfen die VereintenNationen zum zweitenmaldas tibetische Problem

1965bricht der Krieg zwischenIndien und Pakistan aus

1966-1976findet die Kulturrevolutionstatt

1968kommt es weltweit zuStudentenunruhen

1971wird die VolksrepublikChinaals Mitgliedstaat in dieVereinten Nationenaufgenommen1976stirbt Mao Zedong

1967

reist der Dalai Lamaerstmals ins Ausland

1977

kehrt Deng Xiaoping an dieMacht zurück

1975wird Nepal alsFriedenszonevorgeschlagen

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TIBET CHINA ÜBRIGE WELT

1979besuchen Vertreter desDalaiLama Tibet und China1982begibt sich eine neuetibeti-sche Delegation nachChina

1978wird Kong Fuzi rehabilitiert;

mit Japan wird ein Friedens-vertrag abgeschlossen

1985

legt der Dalai Lama inWashington einenFünf -Punkte-Plan vor

1985

darf die katholischeKathedrale in Pekingwieder geöffnet werden

1987-1988kommt es in Lhasa zutragischen Ereignissen

1988werden in Schanghai zweiprotestantische Rischöfegeweiht

1979fällt die Rote Armee inAfghanistan ein

1989wird dem Dalai Lama derFriedens-Nobelpreiszugesprochen

1989beendet das Militär dieDemonstration auf demTienanmen-Platz

1989öffnet sich die BerlinerMauer

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Bibliographie 

Ein Großteil der von Roland Barraux benutzten Literatur wird im Rahmen der Anmerkungen angeführt. Im folgenden sind nur noch jene Werke angegeben, die in deutscher Spracheerhältlich sind und/oder die für das Verständnis der Geschichteder Dalai Lamas von besonderer Bedeutung sind. 

Bacot, Jacques: Introduction à l'histoire du Tibet. Sociétéasiatique, Paris 1962.

Bacot, Jacques: Le Tibet révolté. Peuples du monde 1988.

Bacot, Jacques: Milarepa, ses méfaits, ses épreuves, sesilluminations. Fayard, Paris 1990.

Baumann, Bruno: Die Götter werden siegen. Das verborgeneTibet. Herbig 1991.

Bell, Charles: Portrait of the Dala'i Lama. Collins, London1946.

Bell, Charles: Tibet, Past and Present. Oxford 1968.

Bogle, George: Im Land der lebenden Buddhas.Entdeckungsreise in das verschlossene Tibet 1774-1775.Erdmann, Bonn 1984.

Chögyam Trungpa: Das Herz des Buddha. Buddhistische

Lebenspraxis im modernen Alltagsleben. O. W. Barth, München1993.

Commission internationale de Juristes: La Question du Tibetet la primauté du droit. Genf 1959.

Commission internationale de Juristes: Le Tibet et laRépublique de Chine. Genf 1960.

Dalai Lama / Drewermann, Eugen: Der Weg des Herzens.

Gewaltlosigkeit und Dialog zwischen den Religionen. Walter,

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-405-

Solothurn 1995.

Dalai Lama III. (Gyalwa Sonam Gyatso): Stufen zurErleuchtung, dharma ed., Hamburg 1992.

Dalai Lama VI. (Rigdzin Jamyang Gyatso): Liebeslieder. ImWaldgut, Frauenfeld 1986. Dalai Lama: Das Auge einer neuenAchtsamkeit. Traditionen und Wege des tibetischenBuddhismus. Eine Einführung aus östlicher Sicht. Goldmann,München 1993.

Dalai Lama: Das Buch der Freiheit. Die Autobiographie desFriedens-Nobelpreisträgers. Lübbe, Bergisch-Gladbach 1991.

Dalai Lama: Eine Politik der Güte. Schriften von und über dasreligiöse und politische Oberhaupt des tibetischen Volkes. Hrg.von Sidney Puburn, Walter, Ölten 1992.

Dalai Lama: Einführung in den Buddhismus. Die Harvard-Vorlesungen. Herder, Freiburg i.Br. 1993.

Dalai Lama: Mein und Leben und mein Volk. Die TragödieTibets. Droemer Knaur, München 1982.

Dalai Lama: Sehnsucht nach dem Wesentlichen. DieGespräche in Bodhgaya. Herder, Freiburg i.Br. 1993.

David-Néel, Alexandra: Der Lama der fünf Weisheiten.Sphinx, Basel 1990. David-Néel, Alexandra: Heilige und Hexer.Glaube und Aberglaube im Lande des Lamaismus. Brockhaus,Mannheim 1984.

Dhondup: Sixième Dalai-Lama. Vie et Chants d'amour. Ciaire

Lumière. Eguilles 1987.Dowman, Keith: Der Flug des Garuda. Vier Dzogchen-Texte

mit Kommentar. Theseus, Zürich 1993.

Dowman, Keith: Die Meister des Mahamudra. Leben,Legenden und Lieder der 84 Erleuchteten. Diederichs, München1991.

Eliade, Mircea: Geschichte der religiösen Ideen. Quellentexte.

Herder, Freiburg i. Br. 1981.

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Eliade, Mircea: Geschichte der religiösen Ideen. Herder,Freiburg i.Br. 1993.

Evans-Wentz, Walter Y.: Milarepa. Tibets großer Yogi.

Scherz, München 1989.Gaborieau, Marc: Récit d'un voyageur musulman au Tibet. C.

Klincksieck, Paris 1973.

Goldstein, Melvyn C./Beall, Cynthia M.: Die NomadenWesttibets. Der Überlebenskampf der tibetischenHirtennomaden. Verlag Das Andere, Nürnberg 1991.

Govinda Anagarika: Der Weg der weißen Wolken. Erlebnisse

eines buddhistischen Pilgers in Tibet. O.W. Barth, München1991.

Govinda, Anagarika: Grundlagen tibetischer Mystik. Nachden esoterischen Lehren des Großen Mantra. O.W. Barth,München 1992.

Gyaltsen, Sherab: Geistesschulung im tibetischenBuddhismus. Vorbereitende Übungen und Meditationen.

Ansata, Interlaken 1986.Harrer, Heinrich: Sieben Jahre in Tibet. Mein Leben am Hof 

des Dalai Lama. Ullstein, Berlin 1992.

Harrer, Heinrich: Tibet. Zeitdokumente aus den Jahren 1944-1951. Offizin, Zürich 1991.

Hedin, Sven: Abenteuer in Tibet. Brockhaus, Mannheim1987.

Hedin, Sven: Transhimalaja. Entdeckungen und Abenteuer inTibet. Brockhaus, Mannheim 1985.

Huc, Régis-Evariste: Das Chinesische Reich. Stroemfeld / Roter Stern, Frankfurt 1987.

Huc, Régis-Evariste: Reise durch die Mongolei nach Tibetund China. 1844-1846. Societäts-Verlag, Frankfurt 1986.

Kalu Rimpoche: Den Pfad des Buddha gehen. Eine

Einführung in die meditative Praxis des tibetischen Buddhismus

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von den vorbereitenden Übungen bis zur höchsten Stufe derMeditation. O. W. Barth, München 1991.

Karmapa, Wangchug Dorje: Das Diamantlicht des

gewöhnlichen Geistes. MahamudraPraxis. Octopus, Wien 1988.Karmapa, Wangtschug Dordsche: Mahamudra. Ozean des

Wahren Sinnes. 3 Bde. Zürich 1990-1992.

Karmay, Samten Gyaltsen / Stoddard, Heather: Secret Visionof the Fifth Dalai-Lama, Serindia, London 1988.

Koch, Erwin Erasmus: Auf dem Dach der Welt. DieGeschichte der Dalai-Lamas. Nest, Frankfurt a. M. 1960.

Levenson, Claude B.: Dalai Lama. Die autorisierte Biographiedes Nobelpreisträgers. Benziger, Zürich 1990.

Levenson, Claude B.: Die Vision des Dalai Lama. DerFriedensnobelpreisträger im Gespräch. Benziger, Zürich 1991.

Malik, Inder L.: Dalai-Lamas of Tibet. Uppal PublishingHouse, New Delhi 1984.

Nicolazzi, Michael Albrecht: Die Bon-Religion Tibets.

Welterfahrung mit Geistern, Schamanen und Mönchen. Walter,Solothurn 1995.

Richardson, Hugh Edward: Tibet. Geschichte und Schicksal.Alfred Metzner, Frankfurt a. M. 1964.

Schuh, Dieter: Erlasse und Sendschreiben mongolischerHerrscher für tibetische Geistliche. Ein Beitrag zur Kenntnis derUrkunden des tibetischen Mittelalters und ihrer Diplomatik.

VGH Wissenschaftsverlag, Bonn (o. J.).S h H W lf B ddhi S if S h l d