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BAUEN AUS DER NOT DAS LABOR HINTER DEN DEBATTEN PLANEN UND BAUEN IN THÜRINGEN 1945–49 ULRICH WIELER DISSERTATION WEIMAR 2008 AUSZUG

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BAUEN AUS DER NOT

DAS LABOR HINTER DEN DEBATTEN

PLANEN UND BAUEN IN THÜRINGEN

1945–49

ULRICH WIELER

DISSERTATION WEIMAR 2008

AUSZUG

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BAUEN AUS DER NOT

DAS LABOR HINTER DEN DEBATTEN

PLANEN UND BAUEN IN THÜRINGEN

1945–49

Dissertation zur Erlangung des akademischen

Grades Doktor-Ingenieur an der Fakultät

Architektur der Bauhaus-Universität Weimar

vorgelegt von Ulrich Wieler

geb. 10. Mai 1965

Weimar, Januar 2008

Gutachter

Prof. Dr.-Ing. Gerd Zimmermann, Bauhaus-Universität Weimar

Prof. Dr.-Ing. Werner Durth, Technische Universität Darmstadt

Prof. Dr. Thomas Topfstedt, Universität Leipzig

Tag der Disputation: 20. Juli 2009

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INHALT

VORBEMERKUNG...................................................................................................................6

DANK....................................................................................................................................7

1.0 VIER JAHRE IN DER MITTE DEUTSCHLANDS – DAS LABOR HINTER DEN DEBATTEN ........8

1.1 BLICKRAHMEN UND AUSSCHNITT .................................................................................11

1.1.1 Beschränkung und Erweiterung auf einen Zeitraum............................................................11

1.1.2 Thüringen - eine Region auf wechselndem Gebiet ..............................................................15

1.2 STAND UND MOTIVE DER FORSCHUNG..........................................................................17

1.2.1 Sichtweisen vor 1989 – Der geteilte Blick auf sich selbst.....................................................17

1.2.2 Sichtweisen nach 1989 – Gemeinsame Perspektiven ..........................................................19

1.2.3 Arbeitsweisen und eigene Vorarbeiten ..............................................................................22

1.2.4 Anwendung ..................................................................................................................24

2.0 WIE BAUEN? EINE DEUTSCHE DISKUSSION NACH 1945................................................26

2.1 DIE VERSPRECHEN DES NEUBEGINNS ...........................................................................26

2.1.1 Die Ästhetik des Mangels................................................................................................28

2.1.2 Die SBZ als Schauplatz tugendhafter Not? ........................................................................31

2.2 ANGST UND UTOPIE EINES JAHRHUNDERTS .................................................................34

2.2.1 Meinungen zum Ende und Anfang ....................................................................................36

2.2.2 „Verlust der Mitte” ........................................................................................................36

2.2.3 Zwischen Architektur- und Gesellschaftsidealen .................................................................38

2.2.4 Die neue Stadt auf der tabula rasa...................................................................................42

2.2.5 Industrialisierung und Massenbedarf ................................................................................46

2.3 DIE SBZ ALS EIGENES DISKUSSIONSMILIEU ................................................................47

2.3.1 Ideen um Material, Baustoffe und Bauweisen ....................................................................53

2.3.2 Ausblick auf eine geteilte Debatte nach 1950 ....................................................................57

3.0 BEDINGUNGEN DES THÜRINGER WEGES .......................................................................60

3.1 DIE VERSCHOBENE MITTE DEUTSCHLANDS...................................................................63

3.1.1 Chance der Provinz. Tradition des Provinziellen..................................................................66

3.1.2 Thüringen und seine Nachbarn ........................................................................................68

3.1.3 Erstereignisse und Modellerfahrungen der SBZ ..................................................................70

4

3.2 AKTIONSSTRUKTUR UND INSTITUTIONEN....................................................................73

3.2.1 Verwaltung und Gesetze des Bauens................................................................................73

3.2.2 Das Bild des Planers. Berufsverbände und Interessenvertretungen .......................................75

3.2.3 Thüringer Architektenschaft ............................................................................................80

3.2.4 Generationsverschiebungen ............................................................................................85

3.3 DIE „PRODUZIERENDE HOCHSCHULE” IN WEIMAR .......................................................88

3.3.1 Das Bauhaus. Marke und Erinnerung................................................................................90

3.3.2 Das Selbstverständnis der Weimarer Hochschule ...............................................................92

3.3.3 Personal und Ideen........................................................................................................94

3.3.4 Gustav Hassenpflug. Der gesundheitliche Städtebau. ....................................................... 100

3.3.5 Hermann Henselmann. Initiator, Architekt und Lehrer ...................................................... 106

3.4 EIN PLANUNGSVERBAND ALS INSTITUTIONELLE VERSUCHSBAUSTELLE ..................... 111

3.4.1 Aktionsfeld Bodenreform. Neubauernprogramm in Thüringen ............................................ 113

3.4.2 Aktionsfeld Städtebau. Aufbauideen und ihre Vermittlung . ............................................... 114

3.4.3 Institutionelles Zwischenwesen in Hoheitskonkurrenzen.................................................... 116

3.4.4 Metamorphose eines Experiments.................................................................................. 119

4.0 ERBE - THÜRINGER AKTIONSFELDER IN AUFBAU, UMBAU UND NEUBAU. .................... 123

4.1 AUFBAU. STÄDTE SUCHEN EIN NEUES BILD ................................................................ 124

4.1.1 Das doppelt verlorene Nordhausen ................................................................................ 125

4.1.2 Weimar in Nordhausen. Der Planungsverband ................................................................. 128

4.1.3 Missverständnisse und „einsetzende Baulust” .................................................................. 134

4.1.4 Mahnen und warten. Erste Bauten ................................................................................. 137

4.1.5 Eine Stadt sucht sich selbst .......................................................................................... 140

4.1.6 Erfurts Transformation zur Hauptstadt............................................................................ 143

4.2 UMBAU AN SYMBOLEN, KULTUR- UND ERBEORTEN ..................................................... 146

4.2.1 Alte Denkmäler im Bedeutungswandel. Der Kyffhäuser ..................................................... 148

4.2.2 Neue Denkmäler um neue Inhalte. Buchenwald ............................................................... 151

4.2.3 Klassisches Erbe in neuer Form. Das Weimarer Nationaltheater ......................................... 155

4.2.4 „Entgiftung” und „Entprovinzialisierung”. Goethe und das Jahr 1949................................... 159

4.2.5 Das Kulturhaus. Perspektiven eines neuen Bautyps .......................................................... 164

4.3 NEUBAU UM DIE MAXHÜTTE UNTERWELLENBORN...................................................... 170

4.3.1 Neue wirtschaftliche Vorzeichen und das Wesen „Max” ..................................................... 171

4.3.2 Heimatentwürfe. Siedlungen um die Maxhütte................................................................. 173

ulrichwi
Hervorheben

5

4.3.3 Das Werk zwischen den Dörfern .................................................................................... 174

4.3.4 Chance für junge Planer. Wettbewerb zur Siedlungserweiterung Kamsdorf .......................... 177

4.3.5 Das Jugenddorf. Vorabversuch einer gebauten Gemeinschaft ............................................ 181

4.3.6 Ausblick auf einen „Sozialistischen Realismus”................................................................. 185

5.0 REFORM - LÄNDLICHES BAUEN UND „NEUE DORFDEMOKRATIE”................................. 190

5.1 TRADITIONEN DER AGRARREFORM............................................................................. 191

5.1.1 Boden und Raum......................................................................................................... 191

5.1.2 Bodenreform als deutscher Sonderweg........................................................................... 194

5.1.3 Bauformen im Neubauernprogramm .............................................................................. 196

5.2 DAS NEUBAUERNPROGRAMM - DIE THÜRINGER VARIANTE ........................................ 198

5.2.1 „Neue Dorfdemokratie” als gesellschaftliches Versprechen ................................................ 199

5.2.2 Modellgesellschaften .................................................................................................... 202

5.2.3 Die handbuchwürdigen Dörfer. Großfurra-Neuheide und Seega .......................................... 203

5.2.4 Bandstadtprojekt Mühlhausen-Langensalza ..................................................................... 212

5.2.5 Die fünfzig Tage von Bruchstedt .................................................................................... 218

5.3 ZENTRAL- UND MODELLSCHULEN - DIE „DEMOKRATISCHE BILDUNGSREFORM” ......... 220

5.3.1 Thüringer Traditionen der Reformpädagogik.................................................................... 223

5.3.2 Bauen gegen die Schulkaserne...................................................................................... 224

5.3.3 Zentralisieren und Gliedern. Testfeld Thüringen ............................................................... 232

6.0 THÜRINGER KONSTELLATIONEN UND SUBSTRATE. FAZIT UND THESEN ...........................

ANHANG

Bildanhang ......................................................................................................................... 244

Literaturverzeichnis ............................................................................................................. 274

Archivalien ......................................................................................................................... 295

Periodika. Berücksichtigte Zeitschriften der Jahre 1945-50 ........................................................ 297

Zitierte Grundsätze und Gesetze............................................................................................ 298

Abkürzungen ...................................................................................................................... 299

Namensverzeichnis .............................................................................................................. 300

Bildquellen.......................................................................................................................... 303

BEDINGUNGEN DES THÜRINGER WEGES

KAPITEL 3

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allgemeinen Handlungskontext der SBZ eingebettet. Dennoch fügte die Nachwelt

gerade aus Geschichten dieser Art, die im Fall des „Wunders von Bruchstedt” buch-

stäblich zum Roman wurden,218 das Bild eines modellhaften Thüringens zusammen.

Besonders aus der Berliner Perspektive konnten derartige Mythen gedeihen, die

gleichermaßen in der sprichwörtlichen Vorzeit der „antifaschistisch-demokratischen

Umwälzung” wie in der geografischen Unschärfe des fernen Südwestens ortlos wur-

den. Die Abschaffung der Länder 1952 legte zusätzlich nahe, „Thüringen” von ei-

nem Regionsbegriff zur Metapher einer vergangenen Epoche zu verschieben.

3.2 AKTIONSSTRUKTUR UND INSTITUTIONEN

Die Entwicklung im Bauen nach 1945 lässt sich als politische Wirkungsgeschichte

beschreiben, bei der ein Blick auf Regelwerke, d.h. auf die einklagbaren Absprachen

einer Gesellschaft, lohnt. Da viele Bestimmungen nach dem Zusammenbruch des

Nationalsozialismus noch nicht existierten oder funktionierten, musste dennoch auf

die zeitaktuellen Handlungsanliegen und Ordnungswünsche der Akteure reagiert

werden. Im Folgenden wird versucht, die Umstände für Architektur und Städtebau

in Thüringen über Gesetze, Instanzen und Körperschaften zu erfassen. Dabei lässt

sich nachweisen, wie mild sich der Epochenbruch von 1945 vollzieht. Beim Wandel

der strukturellen Grundlagen herrschte das Prinzip der Novellierung, das oft mit

einem rückwärts gewandten Blick auf die letzte stabile Referenz der Zwischen-

kriegszeit gepaart war. So sehr der Berufsstand des Planers in der Regel auf be-

kannte und örtlich gebundene Aktionsstrukturen angewiesen ist, so sehr sah er sich

nach 1945 einer Mischung aus übernommenen Gesetzen und unklaren Zuständig-

keiten gegenüber. Der Zeit kann man gleichwohl einen doppelten Veränderungsim-

puls zusprechen, der in der SBZ stärker als in den Westzonen nachweisbar ist. Ab-

gesehen von der demographischen Welle, die von Osten kommend in der SBZ zu-

erst und verstärkt spürbar wurde, wandelten sich die Randbedingungen von innen

durch die entschlossene Entnazifizierung von Institutionen und Behörden. In Thü-

ringen dauerte dieser Prozess wegen des hohen Anteils an NSDAP-Mitgliedern in der

Verwaltung länger als in anderen Ländern.219

3.2.1 VERWALTUNG UND GESETZE DES BAUENS

Mit dem Befehl Nr. 110 vom 26. Oktober 1945 verfügte der oberste Chef der sowje-

tischen Militärverwaltung, Marschall Schukov, dass „in Anbetracht des gegenwärti-

gen Fehlens einer Zentralregierung in Deutschland”220 Provinzialverwaltungen und

218

Siehe Kapitel 5.2.5.

219 Vgl. Broszat; Weber 1993, S. 178.

220 Siehe: ThHStAW, LaThMWA, Hauptabteilung Bauwesen, 2298, Bl. 186.

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Verwaltungen der föderalen Länder das Recht eingeräumt würde, Gesetze und Ver-

ordnungen für das jeweilige Territorium zu erlassen. In dieser Verlautbarung lag

eine zwangsläufige Länderautonomie begründet, die den Handlungsrahmen für die

folgenden Jahre vorgab. Der Föderalbegriff war kein politisches Grundbekenntnis der

SMAD. Eher sollte sich der Neubeginn eines kollabierten Staatswesens mit einer ge-

lähmten Hauptstadt aus der Summe getrennter Spielstätten zusammensetzen, um

überschaubar und machbar zu bleiben. In derselben Richtung gaben die Länder Zu-

ständigkeiten an Gemeinden und Kreise weiter. In Thüringen regelte darum das

„Gesetz über den Wiederaufbau von Städten und Dörfern im Land Thüringen” vom

18. Oktober 1945 die Schlüsselfrage der Enteignung.221 Architektur und Städtebau

suchten trotzdem ihre zentralen Abstimmungsforen. So veranstaltete der Magistrat

der Stadt Berlin am 12. September 1946 eine Konferenz von Stadtbauräten aus

Städten der SBZ, um die unterschiedlichen lokalen Handlungsmöglichkeiten und -

geschwindigkeiten aufeinander abzustimmen. Im Bewusstsein um seinen Mangel

wurde ein Gesetzesarchiv beschlossen, das beim Stadtrat Hans Scharoun eingerich-

tet werden und alle Gesetze sammeln sollte, die dem Aufbau dienten und die mitt-

lerweile lokal und regional entstanden waren.222 Aus der Tatsache, dass der Boden

in der SBZ nicht sofort verstaatlicht wurde, ergab sich eine grundsätzliche Weiter-

führung privater Bauherrschaft mit privatem Grundbesitz.223 Das thüringische

Baurecht umfasste Landesbauordnung und Landesbaupolizeiverordnung, die beide

unverändert in der Fassung vom 2. September 1930 übernommen wurden.224

Am anderen Ende der Handlungskette mangelte es an der behördlichen Erfassung

tatsächlicher Bauaktivität. Die alliierte Kommandatura Berlin verfügte im Mai 1946,

dass alle Bauarbeiten genehmigungspflichtig und nur dann gestattet seien, wenn sie

über eine technische Bescheinigung zu Konstruktionsmethoden und eine Freigabe

über Verwendung bestimmter Mengen von Materialien und Arbeitskräften verfügten.

Diese Genehmigung, die von einem „Bezirksbaurat” zu erteilen war, musste an der

Baustelle angeschlagen sein.225 Solche Ankündigungen sind nicht ohne die gleichzei-

221 Vgl. ThHStAW, LaThMWA, 2386, Bl. 161.

222 So formuliert in einem Brief vom 23. Oktober 1946 „an die Herren Oberbürgermeister der Städte“,

genannt werden dann 29 Städte der SBZ; ThHStAW, LaThMWA, 2386, Bl. 140.

223 Langsam verschob sich die Rechtslage im Bodeneigentum zur staatlichen Inanspruchnahme, vgl.

Beyme 1987, S. 275ff.

224 Siehe Diez; Sommer 1946.

225 Abschrift eines Papiers der Alliierten Kommandatura Berlin vom 29. Mai 1946, Bauarbeitengenehmi-

gung; ThHStAW, LaThMWA, Hauptabteilung Bauwesen, 2298, Bl. 70. In der Thür. Landesbaupolizei-

verordnung vom 2. Oktober 1930, die 1946 unverändert nachgedruckt wurde, ist nur davon die Rede,

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KAPITEL 3

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tigen Klagen über wilde Selbstbaustellen zu lesen. Sie geben Auskunft über eine

Ordnungssuche im Bauen, das sich nach dem totalen Kontrollverlust der Bomben-

zerstörungen schnellstmöglich wieder einer administrativen Überwachung zu stellen

hatte. In einem Bericht vom Februar 1946 über den gegenwärtigen Stand des Wie-

deraufbaus der zerstörten Städte und Dörfer in Thüringen betonte das Landesamt

für Kommunalwesen in Weimar, dass die Lösung des Aufbaus im „Schwerpunkt bei

den Selbstverwaltungen der Stadt- und Landkreise”226 liege. Die zwangsläufige

kommunale und länderspezifische Selbständigkeit konnte nichts daran ändern, dass

bald die verhüllte oder auch offene Übernahme von Zuständigkeiten durch Zentral-

instanzen einsetzte. In der Landesverwaltung waren Machtentzug und fortschreiten-

de Infragestellung des Gesetzgebungsrechtes spürbar. Diese Dynamik zur Zentrali-

sierung hat sich aus der Perspektive des Rückblicks als tragische Anlage in der Ge-

nese der DDR verfestigt. Dennoch ist den Jahren bis 1949 der Glaube an eine Hand-

lungsfreiheit zuzugestehen.

3.2.2 DAS BILD DES PLANERS.

BERUFSVERBÄNDE UND INTERESSENVERTRETUNGEN

Architekten und Ingenieure sahen sich nach 1945 ganz besonders in der Pflicht, die

erhofften Gestaltungsmöglichkeiten in diskutierbare Bilder zu übersetzen und waren

in ihrer Wirtschaftsweise dennoch an eine herkömmliche Praxis gebunden. Schon

die Gebührenerhebung des Architekten in der SBZ war nur eine angepasste Über-

nahme. So wurden Planer mit einem Erlass vom 21. Juli 1949 angewiesen, von der

preisrechtlich zulässigen Baukostensumme 35% abzuziehen, um seine Architekten-

gebühr sodann gemäß Gebührenordnung vom 15. August 1942 zu berechnen.227

Diese Anweisung war notwendig geworden, nachdem die im Befehl Nr. 63/46 der

SMAD vorgegebene Preiskontrolle auf den Stand von 1944 „ständig zu Ausfällen

zwischen Architekten und Auftraggebern Anlaߔ228 gab. Zur gleichen Zeit suchte

man nach einer berufsständischen Heimat. Für Architekten bescherten die folgen-

den Jahre ein gewandeltes Selbstverständnis der Profession. Es stand ihnen zum

einen die Fachabteilung Bauwesen in der Kammer der Technik zur Mitgliedschaft

offen, die sich zwar hauptsächlich den Perspektiven der Bauwirtschaft verschrieben

dass sich ein Bauerlaubnisschein „auf der Baustelle oder [...] in deren Nähe befinden” müsse, vgl.

Diez, Sommer 1946, S. 104.

226 Bericht des Landesamtes für Kommunalwesen in Weimar über den gegenwärtigen Stand des Wieder-

aufbaus der zerstörten Städte und Dörfer in Thüringen, vom 4. Februar 1946; ThHStAW, LaThMWA,

2386, Bl. 22.

227 Vgl. N.N., in: Industrie und Handel, 23/1949, S. 157.

228 Vgl. SMAD-Befehl Nr. 63 vom 26. Februar 1946 über die Verstärkung der Preiskontrolle, in: Gesetze,

Befehle, Verordnungen Sachsen. 1946 vom 18. März 1946, S. 24.

BEDINGUNGEN DES THÜRINGER WEGES

KAPITEL 3

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hatte, aber gemäß ihrer Satzung genauso die Technische Wissenschaft, Forschung

und Praxis fördern wollte.229 Damit war ein Zuständigkeitskonflikt angelegt. Für

Grundlagenforschung und Ausbildung war ab 1947 das Institut für Baukunst und

Bauwissenschaft an der Akademie der Wissenschaften zuständig. Die 1946 durch

den FDGB gegründete „Kammer der Technik” unterstützte ebenfalls technische For-

schungen und Veröffentlichungen, z.B. im Fachausschuss Lehmbau. Damit ver-

wischten sie die Grenzen zwischen berufsständischen Interessen und einer anwen-

dungsbezogenen Forschung, welche sich wiederum in Konkurrenz zu den Hochschu-

len befand.

Trotz der Nähe der genannten Institutionen untereinander ergaben sich zusätzliche

Interessenunterschiede, solange immer noch Wünsche nach einer eigenständigen

Architektenkammer bestanden. Ein Treffen am 13. Juni 1947 zwischen der Einheits-

gewerkschaft, dem Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB), und der Thürin-

ger Landeskammer der Technik wollte die Rollen klären. Unter der Überschrift:

„Gründung einer Architektenkammer Thüringen oder korporative Überführung der

Architekten Thüringens in die Kammer der Technik – Fachgruppe Bauwesen” wur-

den der Kammer der Technik die Vertretung technischer Interessen zugestanden

und dem FDGB die Wahrnehmung sozialer Interessen. Die Zusammenkunft wurde

in einem Fazit zusammengefasst, in dem über einige Vertreter aus der „Kammer

der Technik”, welche eine separate Architektenkammer forderten, der Verdacht ge-

äußert wurde, dass sie „noch nichts aus der Vergangenheit gelernt haben und heute

wieder ihre eigenen Wege neben der Solidarität grundsätzlich gehen wollen.”230 In

diesem Zusammenhang ist noch die Idee zu erwähnen, den Deutschen Werkbund in

der SBZ weiter zu führen. Bis 1947 wurde, obgleich ohne Erfolg, eine Zusammen-

führung von Einzelverbänden des Werkbundes unter einem gesamtdeutschen Dach

erwogen.231

Die frühen Auseinandersetzungen zwischen berufsständischen Interessenvertretern

sind aufschlussreich, um den Voraussetzungswandel für die Berufe des Architekten

und des Ingenieurs nach 1945 zu beurteilen. Der freiberufliche Architekt wurde mit

dem schwindenden Privateigentum und der abnehmenden privaten Bauherrschaft

229 So in §2 unter der Überschrift „Ziel” der Satzung der Kammer der Technik in der sowjetischen Besat-

zungszone, vgl. Die Technik, 1/1946, S. 3f.

230 Niederschrift einer Unterredung vom 13. Juni 1947, zw. FDGB und Landeskammer der Technik;

ThHStAW, 2308 LaThMWA, Hauptabteilung Bauwesen, Bl. 54, Bl. 154f.

231 Bekannt ist die Initiative um Hanns Hopp, der sich im Kulturbund engagierte und eine Gründung des

Werkbundes evt. als Sektion des Kulturbundes unterstützte, vgl. Wiesemann 2000, S. 141f.

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zurückgedrängt. In bissigen Artikeln schürte Hermann Henselmann als ein Mei-

nungsführer das Misstrauen gegenüber dem privaten Architektenberuf. Im Egois-

mus der Auftragsbeschaffung und des kleinlichen Wettbewerbsdenkens seinen Kol-

legen gegenüber verkenne der Freischaffende die Tragweite der zu leistenden ge-

sellschaftlichen Aufgaben. Den „Unternehmer mit Reißbrett” setzte Henselmann mit

dem Schieber gleich, der aus der Not den eigenen Vorteil ziehe und der sich als Pla-

ner überdies der wissenschaftlichen Unterfütterung seines Handelns widersetze.232

Die Klage Henselmanns karikierte den Architekten als gesetzlosen Freibeuter. Zu

diesem Bild trug auch bei, dass unter Planern die Berufsbezeichnung des Architek-

ten ungeschützt verwendet werden durfte, da eine anerkannte Zertifizierungsin-

stanz fehlte. Architekten fanden zwar im FDGB in der „Sparte 17 Architektur” ihre

Interessenvertretung und soziale Absicherung. Dennoch wurde wiederholt ein end-

gültiges Architektengesetz eingefordert, das klären sollte, wie eine Zulassung ent-

schieden würde, und vor allem welcher Fachausschuss oder welche Spruchkammer

diese Zulassung geben sollte. In Thüringen war es seit 1946 Regierungsbaurat Leo

Stegmann, der im Landesamt für Kommunalwesen Vorschläge für ein Architekten-

recht ausarbeitete und vorantrieb.233 Die danach folgenden Versuche, die Architek-

ten im Thüringer Rahmen zum Nachweis ihrer Befähigung zu bringen, waren glück-

los und dauerten ebenso lange wie die Phase der SBZ selbst.

Die Thüringer Diskussion um die Zertifizierung des Berufsstandes steht hier aber-

mals stellvertretend für eine grundsätzliche Auseinandersetzung um den Architek-

ten in der SBZ. Dokumentiert sind zwei Begründungslinien, die den freien Architek-

ten näher zu bestimmen wünschten. Zum einen sollten bestätigte Fachleute be-

nannt werden, die für anspruchsvolle, zusammenhängende und städtebauliche Pla-

nungen in Frage kämen. Ein zweites Motiv, den freien Architekten als Berufsgruppe

genauer einzugrenzen, waren Rechte und auch Vorrechte, deren Missbrauch es zu

beschränken galt. Treibende Kraft für die erste Initiative waren Beschwerden u.a.

aus dem Hauptamt Bauwesen im Thüringer Wirtschaftsministerium, dass bei Flä-

chenaufteilungs-, Bebauungs-, und Fluchtlinienplänen „mangelhafte Leistungen der

Planverfasser”234 erheblichen wirtschaftlichen Schaden verursacht hätten. Deswe-

gen wurde eine „Durchführungsverordnung zum §1 der Landesbauordnung vom 20.

232 Henselmann, in: bildende kunst, 1/1947, S. 10ff. und auch Henselmann, in: Neue Bauwelt, 35/1947,

S. 547f.

233 Eine große Menge von Varianten und Zuarbeitungsquellen sind dokumentiert, siehe ThHStAW, 2308

LaThMWA.

234 Brief von Hauptabteilungsleiter Hirsch aus dem Wirtschaftsministerium an die „Gesetzgebungsabtei-

lung im Ministerium des Innern” vom 7. April 1949; ThHStAW, 2308, LaThMWA, Bl. 19.

BEDINGUNGEN DES THÜRINGER WEGES

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September 1930 über die Zulassung zur Ausführung städtebaulicher Planungen”

angemahnt. Der Formulierungsvorschlag dazu wurde 1948/49 in etlichen Varianten

diskutiert. Schon Ende 1948 bremste ein Brief der Hauptverwaltung Bauwesen in

der Deutschen Wirtschaftskommission (DWK) die Diskussion. Die DWK war 1947

gegründet worden, um eine einheitliche Wirtschaftsplanung in der SBZ zu forcieren.

Man bat um die Zuarbeit entsprechender Vorüberlegungen, da eine Regelung in

dieser Sache „nur auf zonaler Ebene erfolgen”235 könne. In derselben Sache bat im

Mai 1949 die Hauptverwaltung der DWK, die schon bald im Ministerium für Aufbau

aufgehen würde, die Thüringer Landesbehörden noch einmal nachdrücklich, dass

das Gesetz vom Land zurückgestellt werden solle, weil die Hauptverwaltung der

SBZ selbst dazu Richtlinien herausgeben würde.236

Der angesprochene zweite Grund, den Architekten in seiner Berufsbezeichnung zu

kontrollieren, waren Vorteile, wie das Privileg gemäß Befehl Nr. 153 der SMAD, das

Personen freier Berufe von der Meldepflicht bei Arbeitsämtern und der Einsatzpflicht

ausnahm.237 Mit dem Vorrecht, nicht zu Arbeitseinsätzen herangezogen zu werden,

standen Architekten in der Rechtfertigungspflicht, dass ihre Arbeit dem Aufbau zu

nützen habe. Der Status des freiberuflichen Architekten stand damit nach 1945 un-

ter einem wachsenden Zweifel, der durch die unklaren berufsständischen Festle-

gungen genährt wurde. So schlug der Entwurf für eine „Verordnung zur Ausführung

des Befehls Nr. 153 der SMAD vom 29. November 1945 betreffend Zulassung und

Registrierung von freischaffenden Architekten und Städtebauern”238 vor, Architekten

für eine Freistellung vom Arbeitseinsatz nur zu registrieren, „wenn sie durch einen

beim Ministerium für Wirtschaft eingerichteten Fachausschuß als solche anerkannt

sind.”239 Ähnlich wie in der zuvor beschriebenen Initiative blieb es lediglich bei Vor-

schlägen, die im Thüringer Ministerium für Wirtschaft und Arbeit zur Ablage kamen.

Darin variierte die Zusammensetzung des geforderten Fachausschusses, dem in

jedem Fall Vertreter aller zu beteiligenden Institutionen angehören sollten: des Mi-

nisteriums für Wirtschaft, des Landesvorstandes des FDGB, des Landesvorstandes

235 Brief der Hauptverwaltung Bauwesen in der Deutschen Wirtschaftskommission (DWK) in der SBZ an

das Thüringer Wirtschaftsministerium vom 20. Dezember 1948; ThHStAW, LaThMWA, 2308, Bl. 106.

236 Aus einem Brief des Leiters Herr Scholz des Hauptamtes Bauwesen der DWK an den Leiter Hirsch im

Hauptamt Bauwesen im Thüringer Wirtschaftsministerium vom 31. Mai 1949; ThHStAW, 2308 (A

787) LaThMWA, Hauptabteilung Bauwesen (6.2.), 1945-46, Bl. 13.

237 Siehe Befehl Nr. 153 der SMAD über die Sicherstellung von Arbeitskräften in den wichtigsten Indu-

striezweigen, vom 29. November 1945, dort unter §3.

238 Die Varianten liegen in mehreren Korrekturstadien vor. ThHStAW, LaThMWA, 2308, Bl. 59.

239 Das zitierte Dokument nennt z.B. keine Vertreter der Kammer der Technik als Teilnehmer im Fach-

ausschuss, ebd.

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KAPITEL 3

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des Kulturbundes, der Staatl. Hochschule für Baukunst und Bildende Künste in

Weimar sowie „namhafte Vertreter des Fachgebietes”.240

Beide Verordnungsvorstöße sind in Thüringen nicht mehr zur Wirkung gekommen.

Sie waren obsolet mit sich abzeichnenden neuen Arbeitsformen für Architekten. Am

15. Juni 1949 unterrichtete der Leiter im Hauptamt Bauwesen im Thüringer Wirt-

schaftsministerium ein Gremium aus FDGB und dem Wirtschafts- sowie Innenmini-

sterium von der Notwendigkeit „eines zentralen Projektierungsbüros im Lande Thü-

ringen, welches die Planungen für alle Invest-Bauten durchzuführen hat.”241 Noch

stellte er den freischaffenden Architekten in Aussicht, „soweit sie nicht auftragsweise

in diesem Projektierungsbüro mitarbeiten”242, mit den übrigen privaten Bauaufträ-

gen vorlieb nehmen zu können oder zu müssen. Wie die Spezies des freien Architek-

ten in der DDR schließlich ausstarb, ist in der Literatur beschrieben worden.243 Die

Anfechtungen, denen eine freie Berufsgruppe in der SBZ ausgesetzt war, setzten

sich zusammen aus einer allgemeinen Neudefinition im Verhältnis des Planers zum

Bauherrn und zur Gesellschaft.244 Dass schließlich der „übersteigerte Individualis-

mus” in der Architektursprache des freien Architekten aus reiner Selbstwerbung ge-

schehe, befeuerte die bereits einsetzende Diskussion um eine „formalistische Archi-

tektur”, die ihre Indifferenz dem Gesamtwohl gegenüber schon alleine in der Er-

scheinung belege.245 Das staatliche Projektierungsbüro wurde ferner als Plattform

herbeigewünscht, um einen gerechten Zugang zu Aufträgen zu garantieren. Anläss-

lich einer FDGB-Sitzung am 14. Juni 1949 prangerte der Weimarer Architekt Paul

Bräunlich an, wie bei Planungen für Schulneubauten Aufträge „von Prof. Hensel-

mann an einen engen Kreis seiner Hochschulmitarbeiter vergeben”246 worden seien.

Die Gründe dafür wurden der unübersichtlichen Verteilung von Architekten und der

schlechten Informationspraxis zugeschrieben. Es seien „zum Großteil [...] die Archi-

tekten über das Ausmaß der zu bewältigenden Aufgaben in Unkenntnis.”247

240 Ebd.

241 Leiter Hirsch im Hauptamt Bauwesen im Thüringer Wirtschaftsministerium in einem Aktenvermerk,

Betr. Einschaltung der freischaffenden Architekten in den Zweijahresplan; ThHStAW, LaThMWA, 2308,

Bl. 54.

242 Ebd.

243 Vgl. Topfstedt, in: Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung 2000, S. 10f.

244 Wie sich der freie Architekt im Sozialismus von selbst verunmöglichte, sollte in der Lesart der DDR an

seinen hausgemachten Widersprüchen begründet werden, vgl. Ricken 1977, S. 157.

245 Vgl. Palutzki 2000, S. 29.

246 ThHStAW, LaThMWA, Hauptabteilung Bauwesen, 2308, Bl. 54.

247 Ebd.

BEDINGUNGEN DES THÜRINGER WEGES

KAPITEL 3

80

3.2.3 THÜRINGER ARCHITEKTENSCHAFT

Die Architektenschaft des Landes bündelte sich in den Einzelzentren der Kreisstädte,

besonders auf der West-Ost-Achse von Eisenach bis Altenburg. In Thüringen ist in

den Jahren der SBZ ein Generationswechsel zu lokalisieren, der mit bis dahin unge-

kannten strukturellen und arbeitsorganisatorischen Wandlungen einherging. Die fol-

gende Zusammenfassung identifiziert neben bekannten Namen ebenso Architekten

aus der „zweiten Reihe”. Nahezu keiner der skizzierten Lebenswege beschritt einen

linearen Verlauf. In lokalem Pragmatismus absolvierten die meisten Planer die An-

passungsleistung an drei Systeme.248 Deshalb müssen Bezugslinien sowohl in die

Zeit der Weimarer Republik, als auch in der DDR ausgelegt werden.

In einer Liste des Jahres 1949 zur „Namhaftmachung von Facharbeitern für städte-

bauliche Planungen” wurden dem Thüringer Ministerium für Wirtschaft und Arbeit

von den Kreisbauämtern und Staatshochbauämtern ca. 160 Architekten genannt,

um als vertrauenswürdige Fachleute aktenkundig zu sein.249 An diesem Überblick

wird deutlich, dass nach 1945 in Thüringen jenseits der Weimarer Hochschule kaum

überregional bekannte Planer auftraten. Vergleichbare Betrachtungen zu regionalen

Akteursgruppen, wie sie z.B. Peter Krieger für Hamburg vorgenommen hat250, ma-

chen deutlich, dass die Auswertung der wichtigsten zeitgenössischen Fachzeitschrif-

ten in Bezug auf Thüringen keine breitenwirksame Methode sein könnte, um persön-

liche Handlungslinien zu verfolgen. Hilfreich sind Momentaufnahmen, wie die besag-

te Architektenliste, um einen Querschnitt durch die Gruppe der angestammten Pla-

ner zu finden. Architekten der Geburtsjahrgänge bis 1900 tauchen wieder auf, die

das Werden der Moderne miterlebt und mitgestaltet haben, um nach 1945 diese

Prägung weiter zu tragen oder gerade zu verleugnen. Es zeigt sich ein dem Berufs-

stand eigenes Beharrungsvermögen an den Orten, an denen viele der genannten

Namen seit Jahrzehnten wirkten. Es lassen sich Namen den größeren Städten zu-

ordnen, wo sich Einzelgeschichten in lokale Milieus einbetten. Die folgende, kom-

mentierte Zusammenstellung beruht auf dieser „Namhaftmachung” des Ministeri-

ums.

Paul Schraps (1894–1961), der lokale Gegenspieler oder Berufskonkurrent des be-

reits 1932 nach Norwegen emigrierten Thilo Schoder wird für die Stadt Gera aufge-

führt. Schraps, der für die sozialdemokratische Tageszeitung „Volkswacht” 1928–29

248 In diesem Sinn öffnet die Arbeit von Holger Barth den Blick auf die beiden Wirkmächte, Autor und

Umwelt, in seinem Fall am Beispiel des Architekten Gustav Lüdecke, vgl. Barth 2004.

249 Datiert auf den 4. Januar 1949; ThHStAW, LaThMWA, Hauptabteilung Bauwesen, 2308, Bl. 33.

250 Siehe Krieger 1995.

BEDINGUNGEN DES THÜRINGER WEGES

KAPITEL 3

81

das Verlagsgebäude in Gera gebaut hatte, war im Nationalsozialismus bei der Pla-

nung von Straßenmeistereien und anderen autobahnbegleitenden Hochbauten aktiv.

Ebenso ist Kurt Jahn vermerkt, der zusammen mit dem Berliner Architekten Hans

Brandt 1928/29 in Gera das erste Hochhaus, den Handelshof, baute.

Allein Jena kann nach Gera für Thüringen als der

Ort benannt werden, wo sich in der ersten Hälfte

des 20. Jahrhunderts das Bild der modernen

Groß- und Industriestadt architektonisch formen

wollte. Gekoppelt an die Zeiss-Werke entstan-

den große Werksanlagen und einige Hochhäuser.

Es tauchen auch nach 1945 bekannte Namen

der Zwanzigerjahre auf. Das Duo Schreiter und

Schlag war mit dem Jenaer Zeissplanetarium

(1925–26) überregional wahrgenommen wor-

den. An Hans Schlag (1890–1970), der u.a. bei Theodor Fischer in München studiert

hatte, und dem älteren Johannes Schreiter (1872–1957) vollzog sich die Werkslinie

eines Büros über mehr als drei Jahrzehnte.251 Der Motor für diese Kontinuität waren

seit der Weimarer Republik die Zeiss-Werke als Auftraggeber bis hin zum VEB Carl

Zeiss der DDR. Auch im Nationalsozialismus realisierten die Beiden Siedlungen für

das Werk (Ringwiesensiedlung, 1933–37; Siedlung am Schlegelsberg, 1937–39). Es

war Hans Schlag, der sich nach 1945 noch über zwanzig Jahre in die Diskussion um

den Wiederaufbau Jenas einmischte und dessen Hochhauskulisse 1967 im Gegen-

satz zu Henselmanns Vorplanung mit Turm für Jena nicht zum Zug kam.252 Rolf Fri-

cke und Horst Fischer, zwei Abkömmlinge der „Stuttgarter Schule” meldeten sich in

Jena genauso zurück, wie der Dessauer Bauhausabsolvent Alfred Arndt (1898–

1976). Kurzzeitig als Baurat in der Jenaer Stadtverwaltung angestellt, gibt sein Ta-

gebuch einen aufschlussreichen Bericht über ein Architektenschicksal in den ersten

Nachkriegsmonaten. Arndt hoffte, im Umfeld der Weimarer Hochschule an der Wie-

dererrichtung eines Bauhauses mitzuwirken und einen Lehrerposten zu erhalten.253

Der ebenfalls im Dessauer Bauhaus ausgebildete Konrad Püschel (1907–97) konnte

diesen Schritt nach seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft 1948 tun. Püschel war

in der Gruppe „Rot Front” um Hannes Meyer 1930 in die Sowjetunion gegangen, war

dort bis 1937 geblieben und hat dabei eine Entwicklung beschritten, die ihn nach

251 Siehe Thüringisches Landesamt für Denkmalpflege 1999.

252 Vgl. Raschke, in: Barth; Topfstedt (u.a.) 2000, S. 196.

253 Siehe Bauhaus-Archiv 1999.

5 Entwurf Bau 36 für die Carl-Zeiss-

Werke, Architekten Johannes Schreiter,

Hans Schlag 1926

BEDINGUNGEN DES THÜRINGER WEGES

KAPITEL 3

82

1945 für eine Karriere in der DDR vorbereitet hat.254 Arndt oder auch der zeitweilige

Weimarer Professor Gustav Hassenpflug (1907–77), beides Dessauer Bauhaus-

Absolventen, waren zu sehr an der inhaltlichen Weiterführung des Bauhauses inter-

essiert, um für länger in der SBZ/DDR zu bleiben. Arndt zieht 1948 nach Hessen.

Für Erfurt stand der Name Theo Kellner (1899–

1969), der sich untrennbar mit Anlagen des ge-

nossenschaftlichen Wohnungsbaus der Zwi-

schenkriegszeit verknüpft (z.B. ErWo-Block,

1928/29). Nach dem Krieg führte Kellner u.a.

den Wiederaufbau der Thomaskirche (1945–50)

durch.255 Georg Bierbaum war in Erfurt mit Ge-

schäfts- und Industriebauten (z.B. der Malzfa-

brik Wolff, 1930–36) in gediegenem, naturstein-

schwerem Populärmodernismus bekannt gewor-

den. Schließlich bot sich für die Stadt Erfurt Gu-

stav Lüdecke (1890–1976) an. Lüdecke, Mitar-

beiter bei Hermann Muthesius (Von 1913–14)

und Heinrich Tessenow (1922) beschäftigte sich

Zeit seines Lebens mit dem Thema des Typenhauses.256 Er nahm 1931 am Wettbe-

werb „Das wachsende Haus” teil, den der Berliner Stadtbaurat Martin Wagner aus-

lobte. Sein Prototyp eines ländlichen Siedlerhauses wurde anlässlich der Dresdner

Jahresschau „Garten und Heim” 1937 vom Gauheimstättenamt Sachsen der Deut-

schen Arbeitsfront in Auftrag gegeben und ausgestellt. Seit 1932 wirkte er als Archi-

tekt in Erfurt, baute Siedlungen für die DAF und war 1945/46 kurzzeitig Mitarbeiter

im Planungsverband der Hochschule Weimar.257 Er sollte in der DDR nach 1950 wie-

derum eine Rolle bei der Entwicklung von Typengrundrissen für den Wohnungsbau

spielen.258 Das Beispiel Lüdecke gibt eine ertragreiche, und lang dauernde Werkbio-

grafie innerhalb der Thüringer Architektenschaft.259

254 Vgl. Schätzke 1999, S. 130; Püschel beschreibt diese Zeit, vgl. Püschel, in: Wissenschaftliche Zeit-

schrift der HAB, 4/1976, S. 468ff.

255 Vgl. Hüter (u.a.) 1978, S. 62.

256 Wie sehr sich an der Entwicklung Lüdeckes zwischen Tradition und Moderne die Uneindeutigkeit eines

architektonischen Standpunktes verdeutlicht und dennoch zur berichtenswerten Personalgeschichte

wird, beschreibt Holger Barth in seiner Dissertation zu Gustav Lüdecke, vgl. Barth 2004.

257 Der Rückfluss seiner lange vorher entwickelten typisierten Bauernstelle in die Planungen der Bodenre-

form ist nachgewiesen, vgl. Kapitel 5.2.3.

258 Vgl. Hartung in: Barth; Topfstedt (u.a.) 2000, S. 71.

259 Siehe Barth 2004.

6 Haus des Volkes, Probstzella, Gara-

gen, Alfred Arndt 1927

BEDINGUNGEN DES THÜRINGER WEGES

KAPITEL 3

83

Die Nennungen an das Ministerium beschreiben in ihrer tabellarischen Nüchternheit

den überschaubaren Kosmos Thüringer Städte mit ihren Berufsnetzwerken. Auch in

den kleinen Zentren Thüringens zeigten sich intakte Konstellationen bewährter Ar-

chitektennamen. Die Altenburger Siedlungsarchitekten Karl Mazukuly, Emil Möller

und Herrmann Bartsch sind genannt, von denen der Erstgenannte Meisterschüler bei

Joseph Maria Olbrich an der TH Darmstadt,260 der Letztgenannte Mitarbeiter bei

Bruno Taut und Hermann Muthesius gewesen war.261 Im Landkreis Nordhausen

empfahlen sich Erwin Gericke, ein Schüler Paul Schultze-Naumburgs, der dort bald

Stadtplanungsamtsleiter werden sollte und Konrad Riemann, Absolvent der TH Han-

nover, welcher ab 1948 den Verwaltungsbau für die Ziegelei Zwinge als eigenwillige

Plastik in Ziegelmauerwerk komponierte. Ferdinand Ehler und Arthur Dockhorn ste-

hen für das reiche Industriestädtchen

Bleicherode, in dem beide nach 1920 ihr Ver-

ständnis einer ländlichen Moderne an kleinen

Dimensionen baulich ausdrücken konnten.

Schließlich sei im äußersten Westen die Auto-

stadt Eisenach erwähnt, wo der Architekt Alfred

Schmidt in den Zwanziger- und Dreißigerjahren

durch Kaufhausbauten bekannt wurde, deren

eines er zusammen mit Fritz Höger realisierte.

Die analysierte Liste an das Ministerium für Wirtschaft und Arbeit war teils Indiz für

eine fehlende berufsständische Zusammenfassung von Architekten in einer eigenen

Kammer (vgl. Kapitel 3.2.2) und spiegelt den Wunsch der Landesregierung wieder,

in der privatwirtschaftlichen Architektenschaft schnell auf ortsgebundene Fachleute

zurückgreifen zu können. Indirekt nennen die Listen, wovon es noch weitere in ähn-

licher Zusammenstellung gab,262 eine Elite Thüringer Architekten, deren Anschluss

in der ersten Jahrhunderthälfte an die Diskussion und die Denklinien der Zeit

manchmal nachweisbar ist, in vielen Fällen dagegen Vermutung bleibt. Dieser Elite

gehörten Mitarbeiter berühmter Meister an. Architekten trugen nach 1920 Ideen

ihrer Ausbildungsstätten von Stuttgart bis Dessau in die Thüringer Provinz, die in

der Geschichtsschreibung als unvereinbar geschildert werden. Die gebauten Phäno-

260 Vgl. Personalbogen Karl Mazukuly, Nr. 5484 des BDA; ArchIRS.

261 So zu sehen im Altenburger „Dichterviertel”, 1929–36, an dem alle drei Architekten mitarbeiteten,

vgl. Wieler (u.a.) 2006, S. 408.

262 Ähnliche Listen lagen dem Ministerium für Arbeit im selben Dokumentationszusammenhang vor, siehe

ThHStAW, LaThMWA, Hauptabteilung Bauwesen 2308.

7 Anbau an Ziegelwerk „Jacobi”, Zwin-

ge/Eichsfeld, Konrad Riemann 1948-52

BEDINGUNGEN DES THÜRINGER WEGES

KAPITEL 3

84

typen der Schüler zeigen sich meist milder und versöhnlicher. Der Generation der

Thüringer Vorkriegsarchitekten darum eine äußerlich unentschlossene Position zwi-

schen Neuem Bauen, Heimatstil oder nachklingendem expressionistischen Dekorati-

onsstil nachzuweisen, ist nicht schwer. Wichtiger ist jedoch, an den ausgeführten

Bauaufgaben einen gesellschaftlichen Wissensstand abzulesen, der sich bis 1945 in

Thüringen über Architektur vermittelt hat und für die Nachkriegsgesellschaft des

Landes vorausgesetzt werden kann. Thüringer Planer und Ingenieure standen in

ihrem Gestaltwillen ebenso zwischen Moderne und Tradition, wie ihre großstädti-

schen Kollegen. Sie waren in ihrer Praxis mit den Schlüsselaufgaben und Maßstäben

des 20. Jahrhunderts vertraut. Auf Ihren Zeichenbrettern entstanden Fabriken,

Staudämme, Stellwerke oder Kaufhäuser. Die soziale Frage suchten auch hier ihre

Antworten in Massenwohnungsbau, Krankenhäusern und einer neuen demokrati-

schen Repräsentationsidee von Behörden, Sozial- oder Bildungseinrichtungen. Nicht

zuletzt der Typ der Villa zeitigte in Thüringen einige bemerkenswerte Beispiele zwi-

schen modernistischem Dekor und dem Wunsch, an einen internationalen Stil ange-

schlossen zu sein.

Nach 1945 präsentierte sich die alte und teilweise neue Garde von Architekten und

lässt gleichwohl Namen aus der Zeit vor 1945 vermissen, die sich besonders im

Bauen des Nationalsozialismus profiliert hatten. Stellvertretend sei der Weimarer

Architekt Ernst Flemming genannt, der in Thüringen mit Verwaltungs- und Kultur-

bauten im Nationalsozialismus bekannt wurde und ein großes Büro geführt hatte.

Flemming steht für eine Gruppe von Architekten, die im Nationalsozialismus enga-

giert waren und dem Thüringen ab 1933 ein gebautes Gesicht gegeben haben.263

Anders Georg Schirrmeister aus Jena, der ebenfalls während des „Dritten Reiches”

gebaut hatte. Er verfasste sowohl vor 1945 einen Generalbebauungsplan für seine

Heimatstadt Jena als auch Wiederaufbaupläne nach 1945 für die gleiche Stadt.264 Er

war nach 1945 ebenso aktiv wie Hans Lahnert (*1922) aus Gera, später Professor in

Weimar. In Lahnert erschließt sich eine weitere Thüringer Architektenbiografie mit

einer weiten Ausdehnung in die DDR und einer gleichzeitigen Verankerung in der

Vorkriegszeit. Lahnert studierte von 1941–45 in Weimar, wo er gleichzeitig 1941–42

unter Hermann Giesler Bauführer an der Baustelle zum Gauforum war, dann im Bü-

ro Ernst Flemming arbeitete und gleichzeitig eine Stelle als Hilfsassistent bei Ger-

263 Ausgehend von der Publikation von Friedrich Voigt: Staatlicher Bauwille in Thüringen 1932-1937,

Weimar 1938, lässt sich an öffentlichen Bauaufgaben die Stoßrichtung der nationalsozialistischen

Landesregierung nachverfolgen, siehe Voigt 1938.

264 Vgl. Diers; Grohé; Meurer 1999, S. 19.

BEDINGUNGEN DES THÜRINGER WEGES

KAPITEL 3

85

hard Offenberg bekleidete.265 Flemming und Schirrmeister stehen für Planer, die im

Kontext der Zeit an überregional beachteten Bauvorhaben in Thüringen teilhatten.

Der Grad der Wichtigkeit, den die nationalsozialistische Regierung dem Land Thürin-

gen zumaß, hatte einen Personalstab geschaffen, der sich insbesondere in Weimar

um Hermann Giesler bildete und der sich mit dem Kriegsende zerstreute. Giesler

selbst praktizierte nach einer Haft von 1945–52 bis 1987 als Architekt in Düsseldorf.

3.2.4 GENERATIONSVERSCHIEBUNGEN

In den Umrissen der Thüringer Architektenschaft nach 1945 bildet sich die Vor-

kriegszeit noch einmal als Schatten ab. Werklinien erfuhren nach dem Kriegsende

ihre Fortsetzung oder ihren Ausgangspunkt, auch deswegen, weil die Weimarer

Hochschule nur mit kurzen kriegsbedingten Unterbrechungen kontinuierlich Absol-

venten freisetzte. Der Rückblick aus heutiger Sicht belegt jedoch auch, wie sich die

wirksame Gruppe von Planern personell erneuerte. Ein zweiter Betrachtungsschritt

erschließt eine Generation, die im Thüringen der SBZ eine entscheidende Prägung

erhalten hat, um sie in ihr späteres Berufsleben in der DDR weiter zu tragen. Über

die regionalen Gruppen der damals schon beruflich gefestigten Architekten hinaus,

sind die ersten Nachkriegsjahre in Thüringen äußerst prägend für viele Studenten

der Weimarer Hochschule. Die weiter gefasste Rückschau erschließt eine eigene

Altersgruppe, die in den Jahren vor der DDR ausgebildet wurde. Die praktische

Mitarbeit bei Aufbauplanungen schon während des Studiums wurde immer wieder

als Urerlebnis für die spätere „sozialistische Etappe des Aufbaus”266 beschrieben.

Das heutige Bild der jugendlich motivierten Pionierstimmung in jenen Jahren setzt

sich aus Erlebnisberichten der Generation zusammen, die nach 1915 geboren wur-

de. So fiel die Gründungszeit der DDR zusammen mit der Zeit der Selbstgründung

mancher Architektenpersönlichkeit.

Trug die ältere Generation der oben genannten Protagonisten Ausbildungserfahrun-

gen und Hochschulabschlüsse des gesamten deutschen Reiches nach Thüringen, so

beschränkten sich die Lern- und ersten Praxiserlebnisse eines neuen Kreises jünge-

rer und nicht mehr so junger Planer auf die SBZ. Krieg, Vertreibung und Gefangen-

schaft verzögerten manche Männerbiografie, die nun an der Weimarer Hochschule

eine neue Chance bekam. Dem Barmener Leopold Wiel (*1916) war der Studienab-

schluss in Weimar noch 1940 gelungen, so dass er sich sogar schon in der obenge-

nannten Liste der ministeriell gemeldeten Architekten als Fachmann anbieten konn-

265 Siehe Karteibogen zur Aufnahme in den BDA, Bezirksgruppe Erfurt vom 15. März 1961 (Nr. 2250).

ArchIRS.

266 Wimmer, in: Architektur der DDR, 10/1989, S. 46.

BEDINGUNGEN DES THÜRINGER WEGES

KAPITEL 3

86

te. Er plante 1945/46 die ersten Bauten für die Weimarer Stadtwerke und führte

kleinere Bauaufträge aus, u.a. eine der ersten Thüringer Einfamilienhäuser der

Nachkriegszeit (Haus für Dr. med. Gülke, Am Horn, Weimar 1945–46). Demselben

Jahrgang angehörig studierte hingegen Hartmut Colden (1915–82), der in Stuttgart

in den Dreißigerjahren sein Studium begonnen hatte, nach dem Krieg in Weimar zu

Ende. Während seiner anschließenden Assistentenzeit am Lehrstuhl für Städtebau

von Gustav Hassenpflug nahm

er z.B. 1948 am Wettbewerb

Kulturhaus Nordhausen zusam-

men mit seinem Assistentenkol-

legen Hermann Räder teil.267

Hermann Räder (1917–1980)

sollte eben diesen Lehrstuhl ab

1951 innehaben. Er selbst war

ebenfalls erst 1946 Absolvent in

Weimar geworden, nachdem er

1939/40 bereits in Stuttgart und

München studiert hatte.268 In

seiner Assistentenzeit bei Has-

senpflug nahm er an einigen überregionalen Wettbewerben (u.a. Wiederaufbau Alt-

stadt Nürnberg) teil. Ihm sollte in Weimar eine lange Professorenkarriere bis 1969

bevorstehen, wohingegen Hartmut Colden in Rostock zum Hauptakteur der Stadter-

weiterungen nach 1955 wurde. Wiederum ähnlich verhielt es sich mit Karl Somme-

rer (1918–1981), der als gelernter Zimmermann nach seinem Abschluss in Weimar

Assistent im Lehrstuhl Wohn- und Gesellschaftsbauten war, um ab 1954 das Amt

des Chefarchitekten im Büro für Städtebau in Gera zu bekleiden. So fand sich eine

Gruppe reifer oder spätberufener Architekten, die meist schon Berufserfahrung hat-

ten oder einen fragmentarischen Bildungshintergrund nach Thüringen hineintrugen.

Der bereits an anderer Stelle erwähnte Egon Hartmann setzt sein in Weimar unter-

brochenes Studium in der Kriegszeit aus, um es ebendort schwer verwundet 1945

wieder aufzunehmen und abzuschließen. Danach nahm er bei seiner Arbeit in der

„Staatlichen Beratungsstelle für Städtebau in Thüringen” auf zahlreiche Aufbaupla-

nungen des Landes Einfluss und krönte mit der Realisierung der Erfurter Landtags-

bauten seinen Thüringer Planungsbeitrag.

267 Siehe auch Kapitel 4.1.1 (Aufbaustadt Nordhausen): 1. Preis: Gustav Hassenpflug und Heinrich Weiß;

2. Preis: Hermann Räder und Hartmut Colden; 3. Preis: Gustav Hassenpflug und R. Seidel, vgl. N.N.,

in: Bauplanung und Bautechnik, 10/1948, S. 282ff.

268 Vgl. Barth; Topfstedt 2000; S. 179f.

8 Stadtwerke Weimar, Entwurf und Teilausführung,

Leopold Wiel 1945–47 (>BA 3.8 A)

BEDINGUNGEN DES THÜRINGER WEGES

KAPITEL 3

87

Die Generation der verzögerten Absolventen

wurde begleitet von jungen Kollegen, die durch-

schnittlich zehn Jahre jünger waren und die ihre

Jahre in Thüringen als negative oder positive

Schlüsselerfahrung beschreiben werden. In je-

nen Jahren studierten in Weimar Jürgen Joedic-

ke (*1925, Student 1946–50) und ein kurzes

Semester lang Hardt-Waltherr Hämer (*1922,

Student 1949), dessen Vater Walter Hämer zur

selben Zeit, und ebenfalls nur kurz, den verlas-

senen Lehrstuhl Henselmanns innehatte. Für

einen der jüngsten Weimarer Nachkriegsstuden-

ten, Martin Wimmer, lag die Mitarbeit in der Pla-

nungsgruppe von Professor Curt Siegel zur spä-

ter noch zu beschreibenden Jugendsiedlung Un-

terwellenborn genau in jenem Zwischenbereich,

der Studieninhalte mit aktuellen Bauaufträgen

zusammenführte.269 Im selben Studentenkollek-

tiv befand sich ebenfalls Eberhard Zeidler (*1926), der 1948 Thüringen verließ, um

im folgenden Jahr bei Egon Eiermann in Karlsruhe Diplom zu machen und 1951 nach

Kanada auszuwandern. Naheliegenderweise wurden viele der später wichtigen Be-

zirks- und Stadtarchitekten Thüringens in Weimar ausgebildet. Auch jenseits der

Weimarer Hochschule erwarben sich in Thüringen junge Planer der Nachkriegszeit

das Rüstzeug für den späteren Beruf. Der Landarchitekt Erhardt Gißke (1924-93)

war Absolvent der Staatsbauschule Gotha und betreute den spektakulären Wieder-

aufbau des Dorfes Bruchstedt. Er wurde 1973 Generaldirektor in der Baudirektion

des Ministeriums für Bauwesen in Berlin.270 Für manchen bot die Zeit der ersten und

rasanten Bauaktivitäten sogar eine Gelegenheit, durch Praxis und ohne Studium

zum Planer aufzusteigen. So war z.B. Peter Schweizer (*1921) im Team um Egon

Hartmann als technischer Angestellter in Weimar tätig. Seine Arbeit beim VEB Pro-

jektierung Thüringen wurde ihm später als Architektenleistung anerkannt. Er wurde

1952 kommissarischer Chefarchitekt im Entwurfsbüro Stalinstadt und 1953/54 zum

stellvertretenden Chefarchitekten von Groß-Berlin ernannt.271 Das Thüringen der

ersten vier Jahre nach dem Krieg bot in fast allen beschriebenen Biografien eine 269 Wimmer, in: Architektur der DDR, 10/1989, S. 46f., vgl. Wimmer, in: Winkler 2005, S. 120ff.

270 Siehe die Autobiografie des Architekten, vgl. Gißke 1988.

271 Raschke, in: Barth; Topfstedt 2000, S. 207f.

9 Egon Hartmann auf der Baustelle der

Erfurter Landtagsbauten, ca. 1950

BEDINGUNGEN DES THÜRINGER WEGES

KAPITEL 3

88

beschleunigte persönliche und berufsbezogene Entwicklung. Aufgeschobene Qualifi-

zierungsschritte wurden nachgeholt, Studienarbeiten und Praxiserfahrungen ver-

mischten sich. Dass in den Planungsaufgaben und Bauabsichten der Zeit eine ähnli-

che Nachholmentalität spürbar war, erfasste den akademischen Rahmen der Weima-

rer Hochschule ebenso wie die Landesadministration Thüringens. Dieser Dynamik

entwuchs das Projekt eines Planungsverbandes.

3.3 DIE „PRODUZIERENDE HOCHSCHULE” IN WEIMAR

In den Gebäuden der Weimarer Hochschule, dem Ensemble, das 1905–11 von Hen-

ry van der Velde als Kunstschule gebaut wurde, endete kriegsbedingt im Mai 1945

der Unterricht. Nach dem Einmarsch der Alliierten dienten die Weimarer Hochschul-

bauten zeitweise als Lazarett für die amerikanischen Truppen.272 Eine Momentauf-

nahme der Stimmung, wie sie in der Zeit des betriebsamen Abwartens geherrscht

haben muss, geben die Tagebucheintragungen des ehemaligen Dessauer Bauhaus-

schülers Alfred Arndt, der mit dem Interesse einer möglichen Anstellung die Hoch-

schule aufsuchte. Arndt hatte 1927 im thüringischen Probstzella mit dem Haus des

Volkes einen Kulturbau in konsequent sachlichem Duktus errichtet und war als Ar-

chitekt im Geist des Bauhauses bekannt. Er suchte wieder die Nähe seines damali-

gen Bauherren, des sozial engagierten Industriellen Franz Itting und trat eine An-

stellung als Baurat in Jena an. Im Sommer 1945 pendelte er immer wieder nach

Weimar, um die Aussicht auf ein Lehramt an der Hochschule auszuloten.273 Die Idee

von einem neuen Bauhaus versuchte er u.a. zusammen mit Wassili Luckhardt schon

im Juli 1945 beim Thüringer Volksbildungsministerium vorzustellen. Seine Gesprä-

che mit Hermann Henselmann274 gerieten zuerst zur Erkenntnis übereinstimmender

Ideen, „er wird begeistert: Kinder wir sind ja alle einer Meinung.”275, führten jedoch

letztlich zu keiner Anstellung. Arndts Anwesenheit in Thüringen fällt in jene Monate,

in denen über die Übernahme alter und die Einstellung neuer Professoren in Weimar

diskutiert wird.276

Die Weimarer Personalpolitik nach 1945 dokumentiert die notwendige Identitätssu-

che einer Ausbildungsstätte mit großer Vergangenheit. Zuerst fand das Land Thü-

ringen in Ernst Neufert den Wunschkandidaten für den Direktionsposten. „An die

272 Vgl. Offenberg 1974, S. 302.

273 Vgl. Bauhaus-Archiv 1999, S. 12.

274 Vgl. ebd., S. 90.

275 Vgl. ebd., S. 90.

276 Die gesamten Bewerbungsschreiben zur Neubesetzung der Hochschule, siehe ThHStAW, LaThMV,

3863.

THÜRINGER KONSTELLATIONEN UND SUBSTRATE. FAZIT UND THESEN

KAPITEL 6

236

6.0

THÜRINGER KONSTELLATIONEN UND SUBSTRATE. FAZIT UND THESEN

Der vorliegenden Arbeit einen Namen zu geben, hat immer wieder Varianten be-

schert, die der Grundstimmung der beschriebenen Zeitphase Rechnung tragen woll-

ten. Die schließliche Benennung „Bauen aus der Not. Das Labor hinter den Debat-

ten” lässt Auslegungsmöglichkeiten und trifft dennoch den Hauptcharakter des Lan-

des Thüringen nach 1945. Mit dem „Bauen aus der Not” ist zuerst jene Not ge-

meint, die aus der moralischen Katastrophe des Nationalsozialismus erwuchs. Der

Begriff der Not erfasst ebenso jene Situation des Mangels, die im Nachkriegs-

deutschland alles Planen und Bauen unter den Schatten der fehlenden Ressourcen

stellte. Ein gestalterischer Standpunkt musste mit oder gegen die materiellen Nöte

eingenommen werden. Auch der Verzicht auf eine mögliche Gestalt war ein Stand-

punkt, der sich in die Gedankenwelt der Zeit einbauen ließ. „Der Mangel” als gesell-

schaftliches und materielles Faktum hatte bereits in der ersten Jahrhunderthälfte

architektonische Kernthemen berührt, sowohl des „Neuen Bauens”, als auch der

konservativen Reformen. Fragen des Existenzminimums, des minimalen und hygie-

nischen Hausens, des rationellen Bauens traten nach 1945 in eine neue Bewäh-

rungsphase, ebenso wie Fragen der Heimatbildung, der Bodenbindung oder der

regionalen Materialwahl. Den Planern und ihren Positionen wurde einiges an Selbst-

bewusstsein abverlangt. Sie mussten sich in einer Ausgangslage, die wenig Alterna-

tiven bot, jenen schöpferischen Spielraum, den das Planen braucht, im Kleinen kul-

tivieren. Architektonisches Denken forderte aus Gründen der Not ethische und so-

ziale Geisteshaltungen heraus und bot dabei nur begrenzte bautechnische Entfal-

tungsmöglichkeiten. Das Bauen der direkten Nachkriegsjahre war neben seinen

erschwerenden Randbedingungen ebenso ein Bauen aus der Not heraus, d.h. ein

Bauen, um der Not zu entkommen. Nach 1949 gerieten die Jahre vor der Gründung

der DDR darum besonders schnell in die Einschätzung einer Übergangsphase, einer

überwundenen Zeit. Die spätere Prachtentfaltung der „Nationalen Traditionen“ ver-

weist die Phase der Not sehr deutlich in die Vergangenheit.

Mit dem „Labor hinter den Debatten” wagt die Arbeit eine Festlegung Thüringens

auf ein eigenes Denk- und Handlungsmilieu. Hinter oder neben den Debatten zu

stehen, lässt sich für die Region im allgemeinen Zusammenhang der SBZ erklären,

die an der deutschsprachigen Diskussion um den Aufbau einen eigenständigen und

aber auch eingeschränkten Anteil hatte. Den Begriff der Debatte gilt es dabei vor-

sichtig zu benutzen, ergaben sich doch wenige breite Plattformen des direkten oder

öffentlichen Austausches von Standpunkten. Meinungen traten vielmehr publizi-

stisch gegeneinander an oder entwickelten sich im brieflichen Schlagabtausch zwi-

schen einzelnen Akteuren. Die Debatte um das Bauen nach dem Krieg stand in der

THÜRINGER KONSTELLATIONEN UND SUBSTRATE. FAZIT UND THESEN

KAPITEL 6

237

SBZ in einem gesamtdeutschen Austausch, soweit man immer noch an eine deut-

sche Einheit glauben konnte. Ihre Austragungsorte war dennoch soweit getrennt,

dass traditionelle Teilgebiete in der deutschen Meinungslandschaft nach wie vor

unabhängig und für sich funktionierten.

Die publizierten Ansichten im deutschsprachigen Raum werden deshalb so breit

erfasst, um Deckungsgleichheiten von Anschauungen zu ermessen, d.h. den „Geist

der Zeit” zu schildern. Thüringen war in den beschriebenen vier Jahren gekenn-

zeichnet durch einen eigenen Diskussionsraum. Entscheidungen waren dem Mei-

nungszentrum Berlin noch nicht in dem Maß unterworfen, wie nach der Gründung

der DDR. Gleichzeitig begannen sich indes die Nachbarregionen, die zum größeren

Teil jenseits der Grenze der SBZ lagen, als Austauschpartner zu entfernen. In einer

ursprünglichen Annahme hat die Arbeit die Nachbarschaft Thüringens zu den be-

nachbarten Besatzungszonen als Standortvorteil und Ausrichtungsspezifikum bele-

gen wollen. Im Umkehrschluss bilden die dürftigen Belege eines solchen Austau-

sches eine Argumentationsstütze für die Hermetik des Thüringischen Handlungs-

raumes.

Der Begriff des Labors umschreibt den Umsetzungswillen in Thüringen, der sich

jenseits der Debatten äußern wollte und die Gefahr des Scheiterns nicht ausschloss.

In der Selbstsicht wollte das Land Thüringen Testfall für den Aufbau einer neuen

Gesellschaft sein, sowohl politisch als auch in architektonischen und städtebauli-

chen Konzepten. Die Sicht von außen, wie sie nun unternommen wurde, unter-

scheidet, welchen eigenen Weg dieses Land Thüringen gehen konnte und wo der

Kontext der SBZ sein Gewicht hatte. Architektur und Städtebau eignen sich für die

Beschreibung intellektueller und politischer Ideenverhandlungen der Jahre 1945–49

besonders gut, weil sie akteursreiche Querschnitte durch eine Gesellschaft im Wan-

del liefern. Dass für diesen Umbruch das Land Thüringen eine überschaubare und

gleichwohl ergiebige Versuchsanordnung stellt, konnte sich bestätigen. Das Spek-

trum der Aufgaben knüpfte sich nicht nur an den übergeordneten Wunschkatalog

der SBZ, sondern stand unter einem gesonderten regionalen Erwartungsdruck.

THESE_MITTENLAGE

Thüringen findet sich in der Mitte Deutschlands in einer mehrfachen Ferne zu Bal-

lungsräumen, Industriezentren, der Hauptstadt und den Nationalgrenzen. Diese

zentrale Abgeschiedenheit wurde zuletzt vor 1945 durch die nach hierher verlager-

ten Kriegsindustrien unterstrichen. Angesichts der überregionalen Zusammenhän-

ge, die spätestens der Nationalsozialismus eingeführt hatte, darf jedoch die geogra-

THÜRINGER KONSTELLATIONEN UND SUBSTRATE. FAZIT UND THESEN

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fische Position als Anlassgeber für eigene Thüringer Themen nicht zu weit strapa-

ziert werden. Die Lage gibt vielmehr mittelbare Indizien für den Start nach 1945.

Wo sich andernorts in Deutschland vor den Trümmern zerstörter Städte Standpunk-

te zuspitzten, hatten die thüringischen Städte, die vornehmlich Kleinstädte waren,

im Vergleich zu anderen Regionen geringen Schaden durch Bombardements zu be-

klagen. Wie sich das vermutete ländliche Naturell Thüringen in der Berichterstat-

tung um die Bodenreform zum Renommee verfestigte und wie weit es ein falsches

Bild war, wird in der Arbeit transparent gemacht. Eine noch tiefer verankerte Eigen-

art Thüringens ist die traditionelle Rolle der Region für bekannte nationale Mythen.

Um Orte, wie die Wartburg, den Kyffhäuser oder um große deutsche Köpfe ranken

sich Vorstellungen, die Thüringen eine besondere historische Zuständigkeit zumes-

sen. Wo sich diese Bedeutungsüberlieferungen mit den vollständig geänderten poli-

tischen Vorzeichen der sowjetischen Besatzungszone überlagerten, etwa um die

Person Johann Wolfgang von Goethes, lassen sich gewünschte und hingenommene

Traditionen mit dem Umbruchwillen zu einer neuen Gesellschaft vergleichen. Der

gewollte Bruch äußerte sich in Gestaltungsfragen ausgesprochen deutlich und rieb

sich gleichermaßen an den Beharrungsphänomenen des Landes wie an der erstar-

kenden zentralistischen Einflussnahme mit sowjetischer Rückbindung. Ausgehend

vom Begriff der „verschobenen Mitte” lässt sich die Neuorientierung Thüringens

beschreiben, die mit der Zonierung durch die Alliierten einsetzte und mit der deut-

schen Teilung besiegelt wurde.

THESE_MENSCHENWELLEN

Das Land Thüringen sah sich im Kontext der SBZ einem immensen Zulauf und

Durchlauf von Personal ausgesetzt, der gleichzeitig neue Qualitäten von Beiträgen

bedeutete. Dieses Angebot an mitdenkenden und handlungswilligen Fachleuten,

gepaart mit einer grundsätzlich neuerungsbereiten Administration ergab sich aus

der Menge an Flüchtlingen, die sich mit ansässigen Netzwerken mischte. Eine kleine

aber wirkungsvolle Gruppe von ehemaligen Buchenwald-Häftlingen konnte mit ihrer

Vorstellung zu einem Gemeinwesen in Thüringen die ersten Jahre nach 1945 beein-

flussen und teilweise auch bestimmen. Aus diesem Personal kombinierte sich eine

reformwillige Elite, die einer sich verfestigenden politischen Struktur gegenüber-

stand und eben diese gleichzeitig zu formen begann. Das Weiterwandern von han-

delnden Personen über die Zonengrenzen war der Ausdruck einer Bevölkerung im

Umbruch. In den vier Jahren bis 1949 bestand eine Konstellation von Ideen und

Personen, die später mit der doppelten Staatenbildung beendet wurde. Die Men-

schenwellen bescherten der SBZ im Vergleich zu den westlichen Besatzungszonen

den mit Abstand höchsten prozentualen Bevölkerungsanstieg. Die demografische

THÜRINGER KONSTELLATIONEN UND SUBSTRATE. FAZIT UND THESEN

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Steilkurve nach oben war jedoch keineswegs das Ergebnis der unmittelbaren Nach-

kriegszeit. Schon im Krieg hatte die industrielle Produktionskonzentration in Thürin-

gen die Bevölkerung wachsen lassen. Dazu kam die Menge an KZ-Häftlingen, sowie

Ost- und Westevakuierten, welche die Einwohnerzahl schon bis 1945 um mehr als

700.000 Menschen anschwellen ließen. Dieser Ausnahmezustand bot nicht nur un-

vorhersehbare Personalkombinationen, die Unschärfe der Bevölkerung in Menge

und Zusammensetzung führte immer wieder zu falschen Grundannahmen für den

Thüringer Baubedarf. Zu hoch gegriffene Bevölkerungsprognosen waren ein Frei-

brief zum Träumen. Sie beeinflussten ebenso die Nordhäuser Aufbauplanung wie

die vermutete Menge an Neubauernstellen oder auch die Bandstadtutopie zwischen

Mühlhausen und Langensalza.

THESE_NACH DEM BAUHAUS

Das Land Thüringen in seiner gesamten Ausdehnung für die kurzen Jahre bis 1949

beschreiben zu wollen, müsste offensichtliche Gewichtungen vernachlässigen. Auch

wenn sich in Fallbeispielen das Panorama einer vielgliedrigen Region abzeichnet,

bündelten sich die Entscheidungszuständigkeiten in den zentralen Städten des Lan-

des. Die Weimarer Hochschule und die Ministerien bildeten einen Personenkreis, der

federführend bei Entscheidungen wirkte. Immer dort, wo Schlüsselfragen des Auf-

baus zu verhandeln waren, sah sich die Weimarer Hochschule in der Pflicht und

wurde durch den bereits 1945 geschaffenen Planungsverband in die Konzeption des

Neuanfangs professionell integriert. Die Nachfolgeinstitution des Bauhauses spielte

die Rolle des Ratgebers mit der dauerhaften Entwicklungsmöglichkeit zum kollekti-

ven Planungsbüro. Der aus dem ersten Bauhaus erwachsene Geist des Ortes gebot

sowohl Hochschullehrern als auch Studenten ihre Beziehung zu dieser Gestaltungs-

tradition verpflichtend oder abgrenzend zu definieren, d.h. sie mussten in jedem

Fall in der Mitte des 20. Jahrhunderts eine grundlegende Position zum Bauen und

zum „Neuen Bauen” beziehen. Diese Standortbestimmung mündete nicht etwa in

einer wieder aufgenommenen „Bauhaus-Tradition”. Vielmehr setzte sich nach Wie-

derbelebungsversuchen die Auffassung durch, das Bauhaus in seiner Vergangenheit

zu belassen und der Gegenwart ihre eigenen, neuen Herausforderungen zuzugeste-

hen. Der Rang der Hochschule ist, was ihre Vorarbeiten betrifft, für den Thüringer

Aufbau belegt. Der tatsächliche Einfluss muss angesichts einer geschwindigkeitsrei-

chen Metamorphose des Planungsverbandes, der Kerninstitution des Aufbaus, rela-

tiviert werden. Innerhalb der gezielten Betrachtung der Weimarer Hochschule ergibt

sich wiederum ein unumgängliches Gewicht um die Person Hermann Henselmann,

dem Direktor der Hochschule bis 1949. In ihm hatte das Land nicht nur einen hoch-

belastbaren Organisator an die Spitze der einzigen Thüringer Hochschule für den

THÜRINGER KONSTELLATIONEN UND SUBSTRATE. FAZIT UND THESEN

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Gestalternachwuchs gesetzt. Henselmann war ebenso ein kreativer Autokrat, des-

sen Ideenmaschinerie nahezu alle Planungsthemen der Zeit ausgesetzt waren.

Warum seine erfindungsreichen Vorschläge in Thüringen keinen Baugrund fanden,

lag oft genug an ihrem bewusst gewählten Charakter der programmatischen Skizze,

die Thüringen nur als Beispielstandort für das weiter gefasste Modellgebiet der SBZ

verwenden wollte. Henselmann bot in den Jahren vor seinem Wegzug nach Berlin

das fruchtbare Spektrum seiner Widersprüchlichkeit zwischen Stratege und Phan-

tast.

THESE_ERBE, REFORM, EXPERIMENT

Um den Themenkomplex der Kontinuitäten – über das Jahr 1945 hinweg auf dem

Weg in eine zentral geführte DDR – kreist ausnahmslos jedes Kapitel der Arbeit.

Die vier Jahre, die den Kern der Arbeit bilden, lassen sich keinesfalls als moralisch

lautere Pause zwischen Nationalsozialismus und dem SED-Staat für die Architektur-

geschichte retten. Zu zahlreich sind die weitergeführten Handlungsstränge. Die ad-

ministrativen Stellen, sei es die SMAD oder die Thüringer Landesregierung, mussten

immer wieder abwägen, wo man die politische Belastung von Akteuren hinter die

fachliche Erfahrung stellen konnte. Dabei entsteht jedoch kein Widerspruch zur

These des eigentümlichen und neuartigen Handlungsmilieus im Thüringen dieser

Zeit. Vielmehr kennzeichnete diese Mischung von Einflussfaktoren die Thüringer

Eigenart in den Jahren bis zur Gründung der DDR. Deshalb lässt sich jener Zeit-

spanne die Moderne als Geisteshaltung und das „Neue Bauen” als ihr folgerichtiger

Kanon weder als sehnsuchtsdominant noch als prägend zuweisen, auch wenn die

späteren Ächtungsanstrengungen der Jahre nach 1950 das vermuten lassen. Die

Inventur der Ideen nach 1945 breitet wesentlich mehr davon aus, was das 20.

Jahrhundert bis dahin an architektonischen Willensäußerungen auf der Suche nach

dem Besseren abgeworfen hat. Dabei erschließt sich der Doppelcharakter einer bi-

lanzierenden und antizipierenden Denkweise, der sich bei allem Bewusstsein um

Rückbindung und Tradition der Eindruck offener Möglichkeiten bot. Hier ist darum

auch zur Frage zurückzukehren, ob dieses Thüringen seit seiner Gründung 1920

den zweifelhaften Charakter der totalitären Experimentierzone in sich trug, die glei-

chermaßen dem Nationalsozialismus als auch dem Staatssozialismus einen voreilig

fruchtbaren Acker bot. Der historische Vergleich ist nicht möglich. Die ausgebreite-

ten Aspekte dieser Arbeit zeigen eine Fülle von Ideen, Projekten und Planungen aus

den Jahren nach 1945, die den Namen des Experiments gerade deswegen verdie-

nen, weil sie in ihrem Spektrum keine einheitliche Linie trugen und auch nicht vor-

bereiteten. Das Thüringen der Nachkriegszeit hat diesem Nebeneinander von ge-

THÜRINGER KONSTELLATIONEN UND SUBSTRATE. FAZIT UND THESEN

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scheiterten und geglückten Versuchen, die sich nur teilweise im institutionalisierten

Rahmen der späteren DDR wiederfanden, seinen Raum gegeben.

THESE_GENERALPROBE DDR

Dem Grundgedanken vom Labor folgend, muss sich die kurze Zeit der vier Jahre

dennoch auf ihren Vorbereitungsstatus für die spätere DDR beleuchten lassen. Das

Nebeneinander von Handlungsrichtungen steht für eine Zeit, die sich noch nichts

anderes als eine deutsche Einheit vorstellen kann. Dennoch zeichneten sich auch

vor der Gründung der DDR im Verhältnis zur Sowjetischen Militäradministration und

zu ihren Thüringer Vertretern Kraftkonstellationen ab, die eine zentralisierende Dy-

namik innerhalb der SBZ und eine teilende Kraft im gesamtdeutschen Kontext nicht

verdecken können. Am institutionellen Rahmen der planenden Berufe ebenso wie

bei der Formulierung kommunaler Bauaufgaben können Verluste der Thüringer

Handlungsautonomie beschrieben werden, die bereits vor 1949 einsetzten. Insbe-

sondere an der Entwicklung des Architektenberufes im Thüringen der SBZ lässt sich

schildern, wie der Kollektivgedanke den individuellen Autor ablöst. Simultane

Aspekte, wie das Resistenzvermögen der Provinz, die Vision eines gesamtdeutschen

Staatswesens, der Generationenwechsel zwischen alten und neuen Netzwerken und

die ideologische Unentschlossenheit mancher Protagonisten zeichnen die Umrisse

eines werdenden politischen Organismus’ nach, den die SED nach 1946 auch in

Thüringen ausbildete. Die DDR hat die Jahre von 1945–49 als „antifaschistisch-

demokratische Umwälzung” mit der Logik einer Generalprobe in ihr Genesebild ein-

geordnet. Genauso wenig jedoch, wie eine Epoche diesen Vorbehaltstatus über sich

selbst aussprechen würde, genauso ernst sind die schon früh wirkenden Machtme-

chanismen zu nehmen, die den vagen Demokratiebegriff der Zeit umlagerten, ihn in

Frage stellten, um als erstarkendes Gerüst den Staatsapparat der DDR vorzuberei-

ten. Dass heute ein neuer Blick auf die Jahre der SBZ nach dem Krieg eingenom-

men werden kann, liegt nicht nur an einem Generationenwechsel bei den Betrach-

tenden, sondern auch an einer mittlerweile erfassbaren „Geschichte der Geschichts-

schreibung” zu dieser Phase.