BB-Rechtsprechungsreport zur Arbeitnehmerüberlassung 2012/2013, BB 2014, 1461 (Teil 1)

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Dr. André Zimmermann, RA/FAArbR BB-Rechtsprechungsreport zur Arbeitnehmerüberlassung 2012/2013 (Teil 1) Es ist derzeit in der Unternehmens- und Beratungspraxis nicht leicht, den Überblick zu behalten über die Rechtsprechung zum AÜG – drei Stichworte: Schwellenwerte, vorübergehend und Industriedienstleistun- gen. Der Beitrag soll hier helfen. Er skizziert in zwei Teilen die wesent- liche Rechtsprechung zum AÜG der Jahre 2012 und 2013, geordnet nach sieben großen Themenfeldern. Wegen ihrer besonderen praktischen Bedeutung steht die Rechtsprechung des BAG im Mittelpunkt. I. Betriebsübergang bei Zeitarbeitsunter- nehmen – Wirtschaftliche Einheit Ein Betriebsübergang liegt vor, wenn ein neuer Rechtsträger eine beim Veräußerer bereits bestehende wirtschaftliche Einheit unter Wahrung ihrer Identität fortführt. 1 Beim Veräußerer muss daher eine wirtschaftliche Einheit identifiziert und festgestellt werden, dass sie identitätswahrend beim Erwerber fortgeführt wird. In Umsetzung der Vorgaben des EuGH 2 hat das BAG seine Rechtspre- chung zur Bestimmung der wirtschaftlichen Einheit bei Zeitarbeits- unternehmen Ende 2013 dahingehend konkretisiert, dass hier die wirtschaftliche Einheit aus der Gesamtheit von Verwaltungsangestell- ten, Leiharbeitnehmern und Fachkenntnissen besteht, um die Dienst- leistung zu erbringen. 3 Leiharbeitnehmer allein stellten daher keine wirtschaftliche Einheit und damit keinen übergangsfähigen Betrieb (-steil) dar. Für das Vorliegen einer betriebsübergangsfähigen Einheit müsse hinzukommen, dass diese ohne Inanspruchnahme anderer wichtiger Betriebsmittel und ohne Inanspruchnahme anderer Teile des Veräußerers einsatzbereit sei. Die Übernahme von Auftragsbezie- hungen mit Entleihern bei Weiterbeschäftigung allein von Leiharbeit- nehmern, nicht aber der Verwaltungsangestellten, genügt danach nicht, um einen Betriebsübergang bei Zeitarbeitsunternehmen anzu- nehmen. Da gar keine Verwaltungsmitarbeiter übernommen worden waren, konnte der Achte Senat offenlassen, wie viele Verwaltungsmitarbeiter hätten übernommen werden müssen, um eine einsatzbereite wirt- schaftliche Einheit und damit einen Betriebsübergang anzunehmen. Eine einsatzbereite wirtschaftliche Einheit wird man wohl nur anneh- men können, wenn so viele Verwaltungsmitarbeiter übernommen werden, dass sie den Arbeitseinsatz der Leiharbeitnehmer beim Er- werber organisieren können. 4 Von dem Betriebsübergang bei Zeitarbeitsunternehmen zu unter- scheiden ist der Betriebsübergang beim Entleiher. Bis Ende 2010 ent- sprach es einhelliger Auffassung, dass Leiharbeitnehmer nicht zu den übergehenden Arbeitnehmern zählen, wenn es beim Entleiher zu ei- nem Betriebsübergang kommt. In seiner „Albron Catering“-Entschei- dung vom 21.10.2010 zu einer dauerhaften konzerninternen Überlas- sung hat der EuGH die aus nationaler Sicht neue Kategorie eines „nichtvertraglichen Arbeitgebers“ geschaffen und befunden, dass auch der „nichtvertragliche Arbeitgeber“ Veräußerer im Sinne der Betriebs- übergangsrichtlinie 2001/23/EG sein könne. 5 Die Folgen aus dieser Entscheidung sind noch weitgehend ungeklärt. Sie wird teilweise so verstanden, dass nicht nur in einem Konzern dauerhaft überlassene Leiharbeitnehmer bei einem Betriebsübergang auf den Erwerber übergehen, sondern auch sonstige Leiharbeitnehmer. 6 Das BAG hat sich hierzu noch nicht geäußert. II. Betriebsbedingte Kündigung bei Zeitarbeitsunternehmen – Sozialauswahl Eine betriebsbedingte Kündigung ist sozial ungerechtfertigt, wenn sie nicht durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt ist, die einer Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers entgegenstehen, §1 II 1 KSchG. Der Arbeitgeber muss eine unternehmerische Entscheidung treffen, die kausal zum Wegfall des Beschäftigungsbedarfs führt. Wei- ter darf keine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit existieren und die Grundsätze der Sozialauswahl müssen beachtet werden. Für all das trifft grundsätzlich den Arbeitgeber die Darlegungs- und Beweislast, § 1 II 4 KSchG. Zur Darlegung des Wegfalls des Beschäftigungsbedarfs bei einem Zeit- arbeitsunternehmen hatte sich das BAG schon 2006 geäußert. 7 Da- nach genügt der Hinweis auf einen auslaufenden Auftrag und einen fehlenden Anschlussauftrag nicht: Der Verleiher muss anhand der Auftrags- und Personalplanung vielmehr einen dauerhaften Auftrags- rückgang darlegen; kurzfristige Auftragsschwankungen reichen nicht. Das ist das unternehmerische Risiko des Verleihers. Bei Zeitarbeitsunternehmen macht neben der Darlegung des wegge- fallenen Beschäftigungsbedarfs vor allem die Sozialauswahl Probleme. So ist fraglich, wie die – nach ständiger Rechtsprechung des BAG be- triebsbezogene – Sozialauswahl zu erfolgen hat, etwa ob nur Leihar- beitnehmer miteinander vergleichbar sind, die beim selben Entleiher eingesetzt sind oder nur Leiharbeitnehmer, die zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung überlassen sind und wie sich Regelungen über Austauschrechte des Verleihers oder „Abmeldungen“ durch den Entleiher im Überlassungs- oder Einsatzvertrag auf den Kreis der ver- gleichbaren Arbeitnehmer auswirken. Das BAG hat hier Mitte 2013 wichtige Punkte geklärt. 8 Es hat ent- schieden, dass überlassene Arbeitnehmer auch während der Zeit ihrer Arbeitsleistung beim Entleiher weiter dem Betrieb des Verleihers zu- geordnet sind. Zum Betrieb des Verleihers gehören damit nicht nur Betriebs-Berater | BB 24.2014 | 6.6.2014 1461 Aufsätze | Arbeitsrecht 1 BAG, 23.5.2013 – 8 AZR 207/12, BB 2014, 61. 2 EuGH, 13.9.2007 – C-458/05, NZA 2007, 1151. 3 BAG, 12.12.2013 – 8 AZR 1023/12, BB 2014, 637. 4 Hamann, jurisPR-ArbR 9/2014 Anm. 3. 5 EuGH, 21.10.2010 – C 242/09, NZA 2010, 1225. 6 Vgl. einerseits Willemsen, NJW 2011, 1546, andererseits Forst, RdA 2011, 228. 7 BAG, 18.5.2006 – 2 AZR 412/05, AP Nr. 7 zu § 9 AÜG. 8 BAG, 20.6.2013 – 2 AZR 271/12, NZA 2013, 837. 1 / 4

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Dr. André Zimmermann, RA/FAArbR

BB-Rechtsprechungsreport zurArbeitnehmerüberlassung 2012/2013 (Teil 1)

Es ist derzeit in der Unternehmens- und Beratungspraxis nicht leicht,

den Überblick zu behalten über die Rechtsprechung zum AÜG – drei

Stichworte: Schwellenwerte, vorübergehend und Industriedienstleistun-

gen. Der Beitrag soll hier helfen. Er skizziert in zwei Teilen die wesent-

liche Rechtsprechung zum AÜG der Jahre 2012 und 2013, geordnet nach

sieben großen Themenfeldern. Wegen ihrer besonderen praktischen

Bedeutung steht die Rechtsprechung des BAG imMittelpunkt.

I. Betriebsübergang bei Zeitarbeitsunter-nehmen – Wirtschaftliche Einheit

Ein Betriebsübergang liegt vor, wenn ein neuer Rechtsträger eine

beim Veräußerer bereits bestehende wirtschaftliche Einheit unter

Wahrung ihrer Identität fortführt.1 Beim Veräußerer muss daher eine

wirtschaftliche Einheit identifiziert und festgestellt werden, dass sie

identitätswahrend beim Erwerber fortgeführt wird.

In Umsetzung der Vorgaben des EuGH2 hat das BAG seine Rechtspre-

chung zur Bestimmung der wirtschaftlichen Einheit bei Zeitarbeits-

unternehmen Ende 2013 dahingehend konkretisiert, dass hier die

wirtschaftliche Einheit aus der Gesamtheit von Verwaltungsangestell-

ten, Leiharbeitnehmern und Fachkenntnissen besteht, um die Dienst-

leistung zu erbringen.3 Leiharbeitnehmer allein stellten daher keine

wirtschaftliche Einheit und damit keinen übergangsfähigen Betrieb

(-steil) dar. Für das Vorliegen einer betriebsübergangsfähigen Einheit

müsse hinzukommen, dass diese ohne Inanspruchnahme anderer

wichtiger Betriebsmittel und ohne Inanspruchnahme anderer Teile

des Veräußerers einsatzbereit sei. Die Übernahme von Auftragsbezie-

hungen mit Entleihern bei Weiterbeschäftigung allein von Leiharbeit-

nehmern, nicht aber der Verwaltungsangestellten, genügt danach

nicht, um einen Betriebsübergang bei Zeitarbeitsunternehmen anzu-

nehmen.

Da gar keine Verwaltungsmitarbeiter übernommen worden waren,

konnte der Achte Senat offenlassen, wie viele Verwaltungsmitarbeiter

hätten übernommen werden müssen, um eine einsatzbereite wirt-

schaftliche Einheit und damit einen Betriebsübergang anzunehmen.

Eine einsatzbereite wirtschaftliche Einheit wird man wohl nur anneh-

men können, wenn so viele Verwaltungsmitarbeiter übernommen

werden, dass sie den Arbeitseinsatz der Leiharbeitnehmer beim Er-

werber organisieren können.4

Von dem Betriebsübergang bei Zeitarbeitsunternehmen zu unter-

scheiden ist der Betriebsübergang beim Entleiher. Bis Ende 2010 ent-

sprach es einhelliger Auffassung, dass Leiharbeitnehmer nicht zu den

übergehenden Arbeitnehmern zählen, wenn es beim Entleiher zu ei-

nem Betriebsübergang kommt. In seiner „Albron Catering“-Entschei-

dung vom 21.10.2010 zu einer dauerhaften konzerninternen Überlas-

sung hat der EuGH die aus nationaler Sicht neue Kategorie eines

„nichtvertraglichen Arbeitgebers“ geschaffen und befunden, dass auch

der „nichtvertragliche Arbeitgeber“ Veräußerer im Sinne der Betriebs-

übergangsrichtlinie 2001/23/EG sein könne.5 Die Folgen aus dieser

Entscheidung sind noch weitgehend ungeklärt. Sie wird teilweise so

verstanden, dass nicht nur in einem Konzern dauerhaft überlassene

Leiharbeitnehmer bei einem Betriebsübergang auf den Erwerber

übergehen, sondern auch sonstige Leiharbeitnehmer.6 Das BAG hat

sich hierzu noch nicht geäußert.

II. Betriebsbedingte Kündigung beiZeitarbeitsunternehmen – Sozialauswahl

Eine betriebsbedingte Kündigung ist sozial ungerechtfertigt, wenn sie

nicht durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt ist, die einer

Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers entgegenstehen, § 1 II 1

KSchG. Der Arbeitgeber muss eine unternehmerische Entscheidung

treffen, die kausal zum Wegfall des Beschäftigungsbedarfs führt. Wei-

ter darf keine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit existieren und die

Grundsätze der Sozialauswahl müssen beachtet werden. Für all das

trifft grundsätzlich den Arbeitgeber die Darlegungs- und Beweislast,

§ 1 II 4 KSchG.

Zur Darlegung des Wegfalls des Beschäftigungsbedarfs bei einem Zeit-

arbeitsunternehmen hatte sich das BAG schon 2006 geäußert.7 Da-

nach genügt der Hinweis auf einen auslaufenden Auftrag und einen

fehlenden Anschlussauftrag nicht: Der Verleiher muss anhand der

Auftrags- und Personalplanung vielmehr einen dauerhaften Auftrags-

rückgang darlegen; kurzfristige Auftragsschwankungen reichen nicht.

Das ist das unternehmerische Risiko des Verleihers.

Bei Zeitarbeitsunternehmen macht neben der Darlegung des wegge-

fallenen Beschäftigungsbedarfs vor allem die Sozialauswahl Probleme.

So ist fraglich, wie die – nach ständiger Rechtsprechung des BAG be-

triebsbezogene – Sozialauswahl zu erfolgen hat, etwa ob nur Leihar-

beitnehmer miteinander vergleichbar sind, die beim selben Entleiher

eingesetzt sind oder nur Leiharbeitnehmer, die zum Zeitpunkt des

Ausspruchs der Kündigung überlassen sind und wie sich Regelungen

über Austauschrechte des Verleihers oder „Abmeldungen“ durch den

Entleiher im Überlassungs- oder Einsatzvertrag auf den Kreis der ver-

gleichbaren Arbeitnehmer auswirken.

Das BAG hat hier Mitte 2013 wichtige Punkte geklärt.8 Es hat ent-

schieden, dass überlassene Arbeitnehmer auch während der Zeit ihrer

Arbeitsleistung beim Entleiher weiter dem Betrieb des Verleihers zu-

geordnet sind. Zum Betrieb des Verleihers gehören damit nicht nur

Betriebs-Berater | BB 24.2014 | 6.6.2014 1461

Aufsätze | Arbeitsrecht

1 BAG, 23.5.2013 – 8 AZR 207/12, BB 2014, 61.2 EuGH, 13.9.2007 – C-458/05, NZA 2007, 1151.3 BAG, 12.12.2013 – 8 AZR 1023/12, BB 2014, 637.4 Hamann, jurisPR-ArbR 9/2014 Anm. 3.5 EuGH, 21.10.2010 – C 242/09, NZA 2010, 1225.6 Vgl. einerseits Willemsen, NJW 2011, 1546, andererseits Forst, RdA 2011, 228.7 BAG, 18.5.2006 – 2 AZR 412/05, AP Nr. 7 zu § 9 AÜG.8 BAG, 20.6.2013 – 2 AZR 271/12, NZA 2013, 837.

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einsatzfreie, sondern auch die überlassenen Arbeitnehmer. Dement-

sprechend sind grundsätzlich in die Sozialauswahl alle vergleichbaren

Arbeitnehmer des Verleihers einzubeziehen, die von ihm zum Zweck

der Überlassung an Dritte beschäftigt werden. Der Einbeziehung steht

auch nicht entgegen, wenn der Entleiher einen Leiharbeitnehmer „ab-

gemeldet“ hat, jedenfalls dann nicht, wenn der Verleiher den Leihar-

beitnehmer gegen einen der übrigen überlassenen, sozial weniger

schutzwürdigen Arbeitnehmer hätte austauschen können.

Das BAG stellt klar, dass für Zeitarbeitsunternehmen die allgemeinen

Grundsätze der Sozialauswahl gelten. Das heißt: Die Kündigung trifft

nicht „automatisch“ denjenigen Leiharbeitnehmer, der vom Auftrags-

wegfall betroffen ist, sondern es ist eine Sozialauswahl nach den allge-

meinen Grundsätzen durchzuführen. Offengeblieben ist, inwieweit

sich vertragliche Vereinbarungen zwischen Verleiher und Entleiher

über den Ausschluss der Austauschbarkeit von Arbeitnehmern auf die

Sozialauswahl auswirken und ob überlassene Arbeitnehmer, deren

persönliche Überlassung geschuldet ist (z.B. wegen besonderer fachli-

cher Kompetenzen), in die Sozialauswahl einzubeziehen sind.9

Fehlt es an einem vertraglichen Ausschluss des Austauschrechts,

nimmt das BAG ein solches Austauschrecht an – mit der Folge einer

entsprechend weiten Sozialauswahl. Wird ein Ausschluss des Aus-

tauschrechts vereinbart, dürfte dies dazu führen, dass die Arbeitneh-

mer nicht in die Sozialauswahl einzubeziehen sind.10 Der Verleiher

nimmt sich durch den Verzicht auf ein Austauschrecht aber Flexibili-

tät. Bei der Vertragsgestaltung muss er abwägen, welches Interesse

schwerer wiegt.

III. Berücksichtigung von Leiharbeitnehmernbei Schwellenwerten

Bei Zeitarbeitsunternehmen sind Arbeitnehmer nach allgemeinen

Grundsätzen bei allen arbeitsrechtlichen Schwellenwerten zu berück-

sichtigen. Weil Leiharbeitnehmer aber in keinem Arbeitsverhältnis

zum Entleiher stehen – nur punktuell weist das Gesetz dem Entleiher

die Arbeitgeberstellung (z.B. § 11 VI, VII AÜG, § 12 II ArbSchG, § 6

II 2 AGG) zu –, ist ihre Berücksichtigung dort fraglich. Bis vor Kur-

zem ließ die Rechtsprechung Leiharbeitnehmer bei den in der Praxis

wichtigen Schwellenwerten des Kündigungsschutzes, der Betriebsver-

fassung und der Unternehmensmitbestimmung unberücksichtigt. Seit

Ende 2011 ist diese Rechtsprechung aber im Wandel.

1. Geltungsbereich des allgemeinenKündigungsschutzes

Es entsprach bis Januar 2013 nahezu einhelliger Meinung und der

Rechtsprechung mehrerer Landesarbeitsgerichte, dass Leiharbeitneh-

mer im Einsatzbetrieb für die Schwellenwerte in § 23 I KSchG – un-

abhängig von der Überlassungsdauer – nicht zählen.11 Begründet

wurde das damit, dass nur solche Arbeitnehmer zu den in der Regel

beschäftigten Arbeitnehmern gehören, die in einem Arbeitsverhältnis

zum Inhaber des Betriebs stehen.

Ende Januar 2013 entschied das BAG, dass im Betrieb eingesetzte

Leiharbeitnehmer bei der Bestimmung der Betriebsgröße nach § 23 I

3 KSchG zu berücksichtigen sind, wenn ihr Einsatz auf einem in der

Regel vorhandenen Personalbedarf beruht.12 Zur Berechnung des

Schwellenwertes seien sämtliche für den Betriebsinhaber weisungsge-

bunden tätigen und in den Betrieb eingegliederten Arbeitnehmer mit-

zuzählen, soweit mit ihnen ein regelmäßiger Beschäftigungsbedarf ge-

deckt werde. Dabei könne es sich auch um im Betrieb eingesetzte

Leiharbeitnehmer handeln, soweit ihr Einsatz der den Betrieb im All-

gemeinen kennzeichnenden Beschäftigungslage entspreche.

Das folge aus Sinn und Zweck der Regelung. Der Berücksichtigung

von Leiharbeitnehmern stehe nicht schon entgegen, dass sie kein Ar-

beitsverhältnis zum Betriebsinhaber begründet haben. Die Heraus-

nahme der Kleinbetriebe aus dem Anwendungsbereich des Gesetzes

solle der dort häufig engen persönlichen Zusammenarbeit, ihrer zu-

meist geringen Finanzausstattung und dem Umstand Rechnung tra-

gen, dass der Verwaltungsaufwand, den ein Kündigungsschutzprozess

mit sich bringt, die Inhaber kleinerer Betriebe typischerweise stärker

belaste. Das, so der Zweite Senat, rechtfertige keine Unterscheidung

danach, ob die den Betrieb kennzeichnende regelmäßige Personalstär-

ke auf dem Einsatz eigener oder entliehener Arbeitnehmer beruhe.

Für die Praxis ist damit die Berücksichtigung von Leiharbeitnehmern

im Rahmen der Schwellenwerte des § 23 I KSchG entschieden: Sie

sind mitzuzählen, wenn ihr Einsatz auf einem in der Regel vorhande-

nen Personalbedarf beruht. Das Eingreifen des allgemeinen Kündi-

gungsschutzes kann daher künftig nicht mehr dadurch verhindert

werden, dass bei einem in der Regel vorhandenen Personalbedarf

Leiharbeitnehmer statt Stammarbeitnehmer beschäftigt werden.13

Die Rechtsprechung ermittelt den in der Regel vorhandenen Perso-

nalbedarf anhand eines Rückblicks und einer Prognose zum Zeit-

punkt des Ausspruchs der Kündigung. Nicht entscheidend ist die

Kopfzahl der tatsächlich bei Ausspruch der Kündigung beschäftigten

Leiharbeitnehmer. Sie ist mehr oder minder zufällig und muss nicht

repräsentativ sein für den Betrieb. Maßgeblich ist die den Betrieb all-

gemein kennzeichnende Beschäftigungslage.14 Zeiten außergewöhn-

lich hohen oder niedrigen Geschäftsanfalls bleiben damit außen vor.

Das gilt beispielsweise für erhöhten Personalbedarf aufgrund von Jah-

resabschlussarbeiten, Inventur, Ausverkauf oder Weihnachtsgeschäfts

und verminderten Bedarfs wegen Ferien. Entsprechend ist zu prüfen,

ob der Einsatz von Leiharbeitnehmern auf solchen außergewöhnli-

chen Umständen beruht. Das sollte entsprechend dokumentiert wer-

den.

Auch dann, wenn auf einem Arbeitsplatz ständig wechselnde Leihar-

beitnehmer eingesetzt werden, sind sie zu berücksichtigen, soweit ihr

Einsatz die regelmäßige Belegschaftsstärke kennzeichnet. Letztlich

zählt das BAG die mit Arbeitnehmern besetzten Arbeitsplätze, ohne

zwischen Stammarbeitnehmern und Leiharbeitnehmern zu unter-

scheiden. Auf Personenidentität der eingesetzten (Leih-)Arbeitneh-

mer kommt es nicht an.15

Den Referenzzeitraum bzw. den Zeitraum, während dessen der Ar-

beitsplatz von einem Stammarbeitnehmer oder einem Leiharbeitneh-

mer besetzt ist bzw. voraussichtlich besetzt sein wird, hat das BAG in

seiner Entscheidung aus Januar 2013 nicht festgelegt. Aufgrund des

identischen Wortlauts („in der Regel“) in § 111 BetrVG, § 9 BetrVG,

§ 17 I 1 KSchG und § 23 I KSchG sind die Grundsätze anzuwenden,

die das BAG zu diesen Vorschriften entwickelt hat. Danach kommt es

darauf an, ob die Arbeitnehmer während des größten Teils eines Jah-

1462 Betriebs-Berater | BB 24.2014 | 6.6.2014

Arbeitsrecht | AufsätzeZimmermann · BB-Rechtsprechungsreport zur Arbeitnehmerüberlassung 2012/2013 (Teil 1)

9 Ablehnend etwa Boemke, BB 2006, 997, 998.10 Schüren/Behrend, NZA 2003, 521, 524.11 LAG Berlin, 30.1.2001 – 3 Sa 2125/00, juris; LAG Nürnberg, 27.7.2011 – 4 Sa 713/10, ju-

ris.12 BAG, 24.1.2013 – 2 AZR 140/12, NZA 2013, 726.13 Kock, BB 2013, 884.14 BAG, 22.1.2004 – 2 AZR 237/03, BB 2004, 1059.15 Vgl. Braun, ArbRB 2013, 199; Ginal, GWR 2013, 344.

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res, das heißt länger als sechs Monate beschäftigt werden.16 Bei einer

arbeitsplatzbezogenen Sichtweise sind damit für den Schwellenwert in

§ 23 I KSchG alle Arbeitsplätze zu berücksichtigen, die bei Zugang

der Kündigung bei einem Rückblick in die Vergangenheit und einem

Ausblick in die Zukunft innerhalb eines Referenzzeitraums von zwölf

Monaten17 länger als sechs Monate mit Leiharbeitnehmern besetzt

waren bzw. voraussichtlich sein werden.

Vor Ausspruch einer Kündigung sollte der Arbeitgeber, der sich un-

terhalb der Schwelle des § 23 I KSchG wähnt, daher genau prüfen,

welche Arbeitsplätze in der Vergangenheit durch Leiharbeitnehmer

besetzt waren und perspektivisch weiterhin durch Leiharbeitnehmer

besetzt sein werden und weiter prüfen, warum Leiharbeitnehmer ein-

gesetzt wurden. Wenn Rahmenüberlassungs- und die einzelnen Ein-

satzverträge flexibel gestaltet sind (kurze Kündigungsfristen), kann

möglicherweise ein Abbau von Leiharbeitnehmern dazu führen, dass

der Schwellenwert doch nicht überschritten wird, auch wenn es nicht

auf die zufällige Zahl der tatsächlich beschäftigten Leiharbeitnehmer

zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung ankommt.18

Ob Leiharbeitnehmer beim Entleiher für die Schwellenwerte in § 17 I

KSchG zu berücksichtigen sind – § 17 I KSchG enthält zwei Schwellen-

werte: den Schwellenwert der Betriebsgröße und den Schwellenwert der

Zahl der Entlassungen – ist derzeit noch unklar. Das BAG ist in seiner

Entscheidung zu § 111 BetrVG davon ausgegangen,19 dass „die Zahlen-

und Prozentangaben in § 17 I KSchG deutlich überschritten“ seien und

daher eine Betriebsänderung nach § 111 S. 3 Nr. 1 BetrVG vorliege.20

Da der Arbeitgeber nur 20 eigene Arbeitnehmer beschäftigte und da-

rüber hinaus zeitweise eine Leiharbeitnehmerin, hatte dasBAGdie Leih-

arbeitnehmerin für den Schwellenwert der Betriebsgröße in § 17 I

KSchG stillschweigend mitgezählt. Andernfalls wäre die niedrigste

Schwelle des § 17 I 1Nr. 1KSchGnicht erreichtworden.

In der Praxis verbleibt Unsicherheit. Hinzu kommt, dass die nationale

Sicht nicht entscheidend sein wird: Welcher Arbeitnehmerbegriff

maßgeblich ist und ob Leiharbeitnehmer unter die Schwellenwerte

des § 17 I KSchG fallen, wird bindend nur der EuGH entscheiden

können, da § 17 KSchG die Massenentlassungsrichtlinie 98/59/EG in

nationales Recht umsetzt und dementsprechend richtlinienkonform

auszulegen ist.21

2. Zahl der BetriebsratsmitgliederBis zum Frühjahr 2013 entsprach es gefestigter Rechtsprechung des

Siebten Senats, Leiharbeitnehmer bei den Schwellenwerten in § 9

BetrVG nicht zu berücksichtigen, selbst wenn sie länger als drei Mo-

nate eingesetzt werden und damit nach § 7 Satz 2 BetrVG selbst den

Betriebsrat im Einsatzbetrieb wählen dürfen.22 Nur betriebsangehöri-

ge Arbeitnehmer seien zu zählen. Betriebsangehörigkeit setze ein Ar-

beitsverhältnis zum Betriebsinhaber voraus und die Eingliederung in

dessen Betriebsorganisation („Zwei-Komponenten-Lehre“). An einem

Arbeitsverhältnis zum Betriebsinhaber fehle es bei Leiharbeitneh-

mern. Die Kurzformel: „Sie wählen, aber sie zählen nicht.“

Durch Beschluss vom 13.3.2013 hat der Siebte Senat diese Rechtspre-

chung aufgegeben.23 In der Regel beschäftigte Leiharbeitnehmer seien

für die Schwellenwerte in § 9 BetrVG mitzuzählen. Wenige Wochen

zuvor hatte der Senat die „Zwei-Komponenten-Lehre“ für den dritt-

bezogenen Personaleinsatz aufgegeben.24 Bereits vorangegangen wa-

ren Entscheidungen des Ersten und des Zweiten Senats im Oktober

2011 und Januar 2013 zur Berücksichtigung von Leiharbeitnehmern

bei § 111 BetrVG25 und § 23 I KSchG26.

Entscheidend für eine Berücksichtigung spreche Sinn und Zweck der

Schwellenwerte. Durch die Staffelung solle sichergestellt werden, dass

die Zahl der Betriebsratsmitglieder in einem angemessenen Verhältnis

zur Zahl der betriebsangehörigen Arbeitnehmer stehe, deren Interes-

sen und Rechte der Betriebsrat zu wahren habe. Die Abhängigkeit der

Betriebsratsgröße von der Zahl der in der Regel im Betrieb beschäftig-

ten Arbeitnehmer trage dem Umstand Rechnung, dass hiervon der

Tätigkeitsaufwand des Betriebsrats maßgeblich bestimmt werde: Je

mehr Arbeit im Betriebsrat anfalle, desto mehr Mitglieder solle er ha-

ben.

Für die Praxis ist schon für die Betriebsratswahlen 2014 die neue

Rechtsprechung des BAG maßgeblich: In der Regel beschäftigte Leih-

arbeitnehmer sind hier bei allen Schwellenwerten des § 9 BetrVG für

die Zahl der zu wählenden Betriebsratsmitglieder zu berücksichtigen.

Auf den ersten drei Stufen, also in Betrieben mit bis zu 100 Arbeit-

nehmern, müssen Leiharbeitnehmer nach § 9 S. 1 BetrVG zusätzlich

wahlberechtigt sein.

Zur Frage, wann Leiharbeitnehmer in der Regel beschäftigt werden und

damit vom Wahlvorstand zu berücksichtigen sind, verweist der Senat

explizit auf seine Rechtsprechung zur Berücksichtigung von Aushilfs-

kräften. In der Regel beschäftigt sind danach die Arbeitnehmer, die nor-

malerweisewährenddes größtenTeils des Jahres in demBetrieb beschäf-

tigt werden.27 Leiharbeitnehmer sind damit bei den Schwellenwerten

des § 9 BetrVG zu berücksichtigen, wenn sie bei Erlass des Wahlaus-

schreibens bereits länger als sechs Monate eingesetzt wurden oder auf-

grund konkreter Entscheidungen des Entleihers zu erwarten ist, dass sie

länger als sechs Monate eingesetzt werden. Wurden oder werden sie vo-

raussichtlich nur für einen kürzeren Zeitraum eingesetzt, etwa zur Be-

wältigung vonAuftragsspitzen, zählen sie nichtmit.

Es spricht auch hier viel dafür, dass die Gerichte bei der Prüfung der

regelmäßigen Beschäftigung nicht auf den einzelnen Leiharbeitneh-

mer abstellen werden, sondern fragen werden, ob ein Arbeitsplatz län-

ger als sechs Monate von einem Leiharbeitnehmer besetzt wird. Die

Auswechslung der Leiharbeitnehmer auf solchen Arbeitsplätzen wird

daher nicht dazu führen, dass keine regelmäßige Beschäftigung von

Leiharbeitnehmern vorliegt. Auch bei Aushilfsarbeitskräften kommt

es nicht darauf an, ob derselbe Arbeitnehmer einen Arbeitsplatz län-

ger als sechs Monate besetzt hat. Maßgeblich ist, ob ein Arbeitsplatz

länger als sechs Monate von Aushilfskräften besetzt ist.28 In seiner ak-

tuellen Rechtsprechung zu § 111 S. 1 BetrVG29 und § 23 Abs. 1 S. 2

KSchG30 stellt das BAG ebenfalls darauf ab, ob ein sechs Monate

überdauernder Beschäftigungsbedarf besteht, der mit Leiharbeitneh-

mern gedeckt wird. Auf Personenidentität der eingesetzten Leihar-

beitnehmer kommt es nicht an.

Betriebs-Berater | BB 24.2014 | 6.6.2014 1463

Aufsätze | ArbeitsrechtZimmermann · BB-Rechtsprechungsreport zur Arbeitnehmerüberlassung 2012/2013 (Teil 1)

16 Vgl. BAG, 16.11.2004 – 1 AZR 642/03, AP Nr. 58 zu § 111 BetrVG 1972; BAG, 18.10.2011 –1 AZR 335/10, BB 2012, 969.

17 Vgl. BAG, 24.2.2005 – 2 AZR 207/04, NZA 2005, 766.18 Vgl. Range-Ditz, ArbRB 2013, 187, 188.19 Vgl. Lembke, NZA 2013, 1312, 1316, Fn. 46.20 BAG, 18.10.2011 – 1 AZR 335/10, NZA 2012, 221, 222.21 Vgl. Ramstetter/Hartmann, AuA 2013, 410, 412.22 BAG, 22.3.2000 – 7 ABR 34/98, BB 2000, 2098; BAG, 16.4.2003 – 7 ABR 53/02, BB 2003,

2178; BAG, 10.3.2004 – 7 ABR 49/03, BB 2004, 2753.23 BAG, 13.3.2013 – 7 ABR 69/11, BB 2013, 2045.24 BAG, 5.12.2012 – 7 ABR 48/11, NZA 2013, 793.25 BAG, 18.10.2011 – 1 AZR 335/10, BB 2012, 969.26 Vgl. oben IV. 1.27 BAG, 7.5.2008 – 7 ABR 17/07, NZA 2008, 1142; BAG, 12.11.2008 – 7 ABR 73/07, AP Nr. 13

zu § 9 BetrVG 1972.28 LAG Düsseldorf, 26.9.1990 – 12 TaBV 74/90, BeckRS 1990, 30458466.29 BAG v. 18.10.2011 – 1 AZR 335/10, BB 2012, 969.30 Vgl. oben IV. 1.

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Es wird allgemein davon ausgegangen, dass das BAG seine neue

Rechtsprechung auf die Zahl der Freistellungen, § 38 BetrVG, über-

tragen wird.31 In vielen Betrieben dürften daher (mehr) Betriebsrats-

mitglieder freizustellen sein, weil jetzt die Schwelle für (weitere) Frei-

stellungen erreicht wird.

Für einige Schwellenwerte des BetrVG ist die Berücksichtigung von

Leiharbeitnehmern noch ungeklärt – etwa §§ 1 I, 99 I, 106 I BetrVG.

In seiner jüngeren Rechtsprechung betrachtet das BAG jeden Schwel-

lenwert isoliert und fragt, ob Sinn und Zweck des Schwellenwertes

eine Einbeziehung von Leiharbeitnehmern gebietet. Für die Praxis ist

das verbunden mit Rechtsunsicherheit, weil nach der Rechtsprechung

des BAG zu §§ 9, 111 BetrVG selbst innerhalb desselben Gesetzes die

Begriffe „wahlberechtigte Arbeitnehmer“ unterschiedliche Bedeutung

haben können und der Schutzzweck einer Norm nicht immer klar be-

stimmbar ist. Möglicherweise kommt der Gesetzgeber der Rechtspre-

chung zuvor: Nach dem Koalitionsvertrag „Deutschlands Zukunft ge-

stalten“ soll gesetzlich klargestellt werden, „dass Leiharbeitnehmer bei

den betriebsverfassungsrechtlichen Schwellenwerten grundsätzlich zu

berücksichtigen sind, sofern dies der Zielrichtung der jeweiligen

Norm nicht widerspricht.“32

3. UnternehmensmitbestimmungIm Bereich der Eingangsschwellenwerte der Unternehmensmitbestim-

mung (§ 1 Abs. 1 MitbestG: 2000 Arbeitnehmer; § 1 Abs. 1 DrittelbG:

500 Arbeitnehmer) ist die zivilgerichtliche Rechtsprechung bislang

der „Zwei-Komponenten-Lehre“ des BAG gefolgt und hat Leiharbeit-

nehmer dementsprechend nicht mitgezählt.33 Im August 2012 ent-

schied aber das Arbeitsgericht Offenbach, dass wahlberechtigte Leih-

arbeitnehmer bei der Ermittlung der Arbeitnehmerzahl nach § 9

Abs. 1 MitbestG zu berücksichtigen sind.34 Es verwies hierbei auf die

Entscheidung des BAG vom 18.10.2011 zu § 111 Satz 1 BetrVG35 und

führte vor allem Sinn und Zweck der Norm an.

Das Hessische LAG hat diese Entscheidung im April 2013 bestätigt.36

Eine am Sinn und Gesetzeszweck orientierte Gesetzesauslegung führe

dazu, dass wahlberechtigte Leiharbeitnehmer bei der Berechnung der

Überschreitung des Schwellenwertes des § 9 MitbestG mitzuzählen

seien. Zur konkreten Feststellung der Unternehmensgröße verweist

das LAG auf einen Referenzzeitraum von sechs Monaten bis zwei Jah-

ren, für den Rückblick und Prognose vorzunehmen seien. Für die

Frage der regelmäßigen Beschäftigung nimmt das Gericht Bezug auf

den Beschluss des BAG vom 18.10.2011 und stellt darauf ab, ob Leih-

arbeitnehmer normalerweise während des größten Teils eines Jahres,

also länger als sechs Monate beschäftigt werden.

Gegen den Beschluss wurde Rechtsbeschwerde zum BAG eingelegt.37

Auch hierfür ist der Siebte Senat zuständig. Es spricht einiges dafür,

dass der Siebte Senat seine neue Rechtsprechung zu § 9 BetrVG auf

§ 9 MitbestG übertragen wird. Das dürfte dann auch für § 1 I Mit-

bestG und § 1 I DrittelbG gelten – mit der Folge, dass wesentlich

mehr Unternehmen Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat hätten.

Eine Entscheidung des Senats aus März 2013 zum aktiven Wahlrecht

nach dem Drittelbeteiligungsgesetz im Gemeinschaftsbetrieb weist in

diese Richtung.38 Hier war wesentliches Argument für die Anerken-

nung des Wahlrechts der mit einem Unternehmen arbeitsvertraglich

verbundenen Arbeitnehmer bei der Wahl der Arbeitnehmervertreter

in den Aufsichtsrat bei jedem Trägerunternehmen, dass die Arbeit-

nehmer eines Gemeinschaftsbetriebes nicht nur durch die Entschei-

dungen desjenigen Unternehmens betroffen seien, mit dem sie einen

Arbeitsvertrag geschlossen haben, sondern gleichermaßen von den

unternehmerischen Entscheidungen der weiteren am Gemeinschafts-

betrieb beteiligten Unternehmen. Nachdem das BAG die „Zwei-Kom-

ponenten-Lehre“ für den drittbezogenen Personaleinsatz ausdrücklich

aufgegeben hat und hier die vertragliche Beziehung zu einem Träger-

unternehmen ausreichen lässt, spricht einiges dafür, dass der Siebte

Senat diese Begründung auf Leiharbeitnehmer übertragen und sie bei

dem Schwellenwerten der Unternehmensmitbestimmung mitzählen

wird.39

Möglicherweise wird das BAG anknüpfen an eine Entscheidung zum

Gemeinschaftsbetrieb aus 1961.40 Danach soll es keine Rolle spielen,

wie die vertraglichen Beziehungen der einzelnen Arbeitnehmer be-

schaffen sind.41 Wichtig sei nur, wie viele Arbeitnehmer beschäftigt

werden. Es sei auf die ständig besetzten Arbeitsplätze abzustellen.

Größe und wirtschaftliche Bedeutung eines Unternehmens könnten

nach dem Arbeitsanfall, den ständig besetzten Arbeitsplätzen oder

den Arbeitspensen bestimmt werden. Deshalb müssten außer den in

einem Arbeitsvertragsverhältnis zu den betreffenden Unternehmen

stehenden Arbeitnehmern auch diejenigen hinzugezählt werden, die

in dieses eingegliedert sind und in diesem Arbeiten verrichten, sei es

auch als Leiharbeiter oder in ähnlicher Form. Wer ihr vertraglicher

Arbeitgeber ist, sei nicht entscheidend.

Knüpft das BAG an diese Rechtsprechung an, werden Leiharbeitneh-

mer für die Schwellenwerte der Unternehmensmitbestimmung zäh-

len, wenn sie auf dauerhaft bestehenden Arbeitsplätzen eingesetzt

werden.42 In Zukunft wird der Einsatz von Leiharbeitnehmern daher

wohl keine taugliche Strategie zur Vermeidung der Unternehmens-

mitbestimmung43 mehr sein.

Auch in der Unternehmensmitbestimmung ist eine klare Tendenz in

der jüngeren Rechtsprechung der Gerichte für Arbeitssachen erkenn-

bar, Leiharbeitnehmer bei den Schwellenwerten zu berücksichtigen.

Die Gerichte für Arbeitssachen sind allerdings nur zuständig für An-

fechtungssachen (§ 22 I MitbestG, § 11 I DrittelbG). Im Übrigen sind

die Zivilgerichte zuständig (§§ 97f. AktG). Es bleibt daher abzuwar-

ten, ob die Zivilgerichte die Entwicklung der arbeitsgerichtlichen

Rechtsprechung nachvollziehen werden.

Dr. André Zimmermann, RA/FAArbR, ist Counsel im Frank-furter Büro von King & Wood Mallesons LLP. Er verfügt überbesondere Expertise im Bereich Fremdpersonaleinsatz.

1464 Betriebs-Berater | BB 24.2014 | 6.6.2014

Arbeitsrecht | AufsätzeZimmermann · BB-Rechtsprechungsreport zur Arbeitnehmerüberlassung 2012/2013 (Teil 1)

31 Vgl. LAG Hessen, 12.8.2013 – 16 TaBV 25/13, BeckRS 2013, 74895; Bissels, BB 2013, 2047;Dzida, ArbRB 2013, 338.

32 Vgl. dazu Zürn/Maron, BB 2014, 629, 631.33 OLG Hamburg, 29.10.2007 – 11 W 27/07, BeckRS 2007, 19416; OLG Düsseldorf,

12.5.2004 – 19 W 2/04 AktE, 19 W 2/04 AktE, BeckRS 2004, 07727.34 ArbG Offenbach, 22.8.2012 – 10 BV 6/11, BeckRS 2012, 75531.35 BAG, 18.10.2011 – 1 AZR 335/10, BB 2012, 969.36 LAG Hessen, 11.4.2013 – 9 TaBV 308/12, BeckRS 2013, 70446.37 7 ABR 42/13.38 BAG, 13.3.2013 – 7 ABR 47/11, BB 2013, 2298; näher zum Gemeinschaftsbetrieb Lüers/

Schomaker, BB 2013, 565.39 Vgl. Mückl, BB 2013, 2298, 2300.40 Vgl. Löw, BB 2012, 3135.41 BAG, 1.12.1961 – 1 ABR 15/60, AP Nr. 1 zu § 77 BetrVG.42 Löw, BB 2012, 3135.43 Vgl. Rieble, BB 2006, 2018, 2019.

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