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DETLEF BLUHM (HRSG.)

BücherdämmerungÜber die Zukunft der Buchkultur

Mit Beiträgen von Detlef Bluhm, Dietmar Dath, Jan Hegemann, Thomas Macho, Volker Oppmann,

Elisabeth Ruge, Stephan Selle, Klaus Sielker und Katja Splichal

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie;

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Der Lambert Schneider Verlag ist ein Imprint der WBG.

© 2014 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), DarmstadtDie Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht.

Satz: Satzpunkt Ursula Ewert GmbH, BayreuthEinbandgestaltung: Peter Lohse, Heppenheim

Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem PapierPrinted in Germany

Besuchen Sie uns im Internet: www.lambertschneider.de

ISBN 978-3-650-40003-1

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:eBook (PDF): 978-3-650-73798-4eBook (epub): 978-3-650-73799-1

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INHALT

DETLEF BLUHM Vorwort – Von Stanislaw Lem und der Zukunft der Buchkultur 7

THOMAS MACHOBücher im digitalen Zeitalter – Von der Gutenberg- in die Turing-Galaxis 10

DIETMAR DATHDichtung gegen Dumpinglohn – Von der Ökonomie des Schreibens 21

DETLEF BLUHMAutoren im Netz – Von der Schriftstellerei im digitalen Zeitalter 31

KATJA SPLICHALModerne Content-Produzenten – Von neuen Buchformaten und Geschäftsmodellen 41

DETLEF BLUHMDer Buchhandel und seine Kunden – Von vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Beziehungen 58

STEPHAN SELLEAnders lesen – Von einer neuen Kulturtechnik 75

KLAUS SIELKERWas kommt nach Facebook? – Von der Zukunft sozialer Medien 87

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6 Inhalt

VOLKER OPPMANNE-Reader, Smartphones & Tablets – Von der Vielfalt und ihrer Bedrohung 104

DETLEF BLUHMFuture Lab – Von erstaunlichen Perspektiven 123

JAN HEGEMANNUrheberrecht – Von Eigentum und Diebstahl 133

ELISABETH RUGEDruckerschwärze versus Bytes? – Von der Koexistenz verschiedener Formate 150

Literatur 157

Die Autorinnen und Autoren 159

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DETLEF BLUHM

Vorwort Von Stanislaw Lem und der Zukunft der Buchkultur

Dämmerung [crepusculum] heißt das schon einige Zeit vor dem Aufgange und noch einige Zeit nach dem Untergange der Sonne

stattfindende, mehr oder weniger erhellende Licht, jenes die Morgendämmerung, dieses die Abenddämmerung.

Herders Conversations-Lexikon | 1854–1857

Die Buchbranche befindet sich gegenwärtig zwar nicht im Dämmerzustand, aber mitten in einer Zeitenwende, die an technologischem Wandel kaum zu überbieten ist und deren Zukunft allerhand Überraschendes mit sich bringen wird. Wir stehen ja erst am Anfang des vierten Umbruchs der Medien-geschichte, der digitalen Revolution, und können schon auf-grund der enormen Geschwindigkeit technischer Entwicklun-gen nur Vermutungen über die nähere Zukunft anstellen. Ob also für das Buch, seine Kultur und die Märkte, auf denen es vertrieben wird, ein Morgen oder ein Abend dämmert, wird hier mit Gewissheit nicht für alle Aspekte der Buchkultur und ihres Marktes festgestellt werden können.

Nur eines ist sicher. Das Buch wird es als Inhalt oder Con-tent oder Prinzip Buch immer geben, es hat ja bereits vor der Erfindung der Schrift existiert: als mündliche Erzählung, die von Generation zu Generation überliefert wurde. Nur seine Form – heute sagen wir dazu sein Ausgabeformat – hat sich im Lauf der Jahrtausende geändert. Die handgeschriebene Rolle aus Papyrus hat die mündliche Erzähltradition abgelöst,

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der fest gebundene Kodex aus Pergament folgte der Papy-rusrolle und wurde ab 1450 von Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern verdrängt.

Wie sich aber der Buchmarkt in nächster Zeit entwickelt und wie er in fünf, zehn oder gar zwanzig Jahren aussehen wird, darüber können nur Vermutungen angestellt werden.

Nicht mehr – aber auch nicht weniger – haben sich die Autorinnen und Autoren dieses Buches vorgenommen: sich in Originalbeiträgen für diesen Band vorzustellen, wie das Buch, seine Kultur und sein Markt zukünftig aussehen könnten. Als Mutmacher bei diesem riskanten Vorhaben hat dieser kurze Text von Stanislaw Lem Pate gestanden:

»Den ganzen Nachmittag verbrachte ich in der Buchhand-lung […] Sie erinnerte an ein elektronisches Labor. Bücher waren kleine Kristalle mit gespeichertem Inhalt. Lesen konnte man sie mithilfe eines Optons. Der sah einem Buch sogar ähnlich, allerdings mit nur einer einzigen Seite zwischen den Einbanddeckeln. Berührte man dieses eine Blatt, so erschie-nen hintereinander die Textseiten in ihrer Reihenfolge […] In der Buchhandlung befanden sich eigentlich nur einzelne Buchexemplare, und wenn jemand sie brauchte, wurde der Inhalt des angeforderten Werks in einem kleinen Kristall fest-gehalten […] Also wurde das Buch sozusagen jedesmal neu gedruckt, wenn jemand es brauchte. Probleme von Auflagen, ihrer Höhe oder des Vergriffenseins hatten aufgehört zu exis-tieren […] Ich konnte alle meine Einkäufe in einer Tasche un-terbringen, obwohl es an die dreihundert Titel waren.«

Diese Zeilen finden sich in Stanislaw Lems utopischem Werk Transfer, das 1961 erschienen ist. Der Roman beschreibt das uns heute längst vertraute E-Book und seine Lesegeräte mit verblüffender Genauigkeit – zu einer Zeit, als kaum jemand eine derartige Technologie im Auge hatte. Angespornt von diesem Weitblick haben wir versucht, nach vorne zu schauen und für diesen Band zu überlegen, was kommen könnte: in absehbarer Zeit und manchmal sogar darüber hinaus.

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Vorwort 9

Dabei hat sich jede Autorin, jeder Autor von einem ganz eigenen Standpunkt aus auf den Weg gemacht. Es sollte hier nicht darum gehen, eine einheitliche Sicht auf mögliche Ent-wicklungen zu präsentieren. Vielmehr bestand von Anfang an die erklärte Absicht, unterschiedlichen Perspektiven Raum zu geben.

Gutenbergs Erfindung hat unsere Welt grundlegend verän-dert. Der Buchdruck hat die Deutungshoheit des Klerus und des Adels infrage gestellt, breiten Bevölkerungsschichten Zu-gang zu Informationen und Bildung verschafft, die Reforma-tion ermöglicht, die Aufklärung befördert und vieles andere mehr bewirkt – bis in die heutige Zeit. Er hat auch den Buch-markt seiner Zeit ordentlich durcheinandergewirbelt. Her-kömmliche Berufe starben aus, neue entstanden. Traditionelle Buchhandlungen verschwanden, junge Unternehmen haben den Markt neu erfunden. Dieser Prozess hat viele Jahrzehnte angedauert.

Die Digitalisierung wird unsere Welt, den Buchmarkt und die Buchkultur womöglich noch grundlegender verändern, als wir uns heute vorstellen können. Für uns Autorinnen und Au-toren sieht es deshalb so aus, als befinde sich unsere Bran-che gerade am Vorabend eines neuen Morgens.

Wir danken dem Verlag Lambert Schneider herzlich für die Ein-richtung der Facebook-Seite Bücherdämmerung, auf der Sie, die Leserinnen und Leser sich wie auf dem Blog buecherdaemmerung.wordpress.com zu unseren Themen äußern und mit uns ins Ge-spräch kommen können. Darauf freuen wir uns sehr.

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THOMAS MACHO

Bücher im digitalen ZeitalterVon der Gutenberg- in die Turing-Galaxis

Im Jahr 1953 – also vor rund sechzig Jahren – erschien Ray Bradburys dystopischer Roman Fahrenheit 451 im Verlag Bal-lantine Books (der heute zu Random House gehört). Bradbury selbst hatte den Roman um eine Feuerwehr, die Brände nicht bekämpft, sondern legt, indem sie Bücher verbrennt, primär nicht als Polemik gegen die Zensurpolitik Senator McCarthys intendiert, sondern als Kritik am Fernsehen, das Nationen in Familien zu verwandeln drohe, und die Zimmerwände in scheinbar trans parente, zugleich aber immer festere Mauern. Der Titel des Romans sollte die Temperatur bezeich nen, bei der sich Papier entzündet; hier hat Bradbury vermutlich geirrt (oder Fahrenheit mit Celsius verwechselt): Zeitungspapier entzündet sich bei 175° Celsius (347° Fahrenheit), Schreibpa-pier bei 360° Celsius (680° Fahrenheit), und Papier von höhe-rer Qualität benötigt sogar eine Temperatur zwi schen 450° und 550° Celsius (842° bis 1.022° Fahrenheit), um zu entflam-men. Aber darauf kommt es nicht an, ebenso wenig wie auf Michael Moores Aneignung des Titels von 2004 (Fahrenheit 9/11), die Bradbury in einem Telefoninterview mit Dagens Ny-heter, das am 2. Juni 2004 veröffentlicht wurde, bissig kom-mentierte: »Michael Moore ist ein dämlicher Drecksack. So denke ich über ihn. Er hat mei nen Titel geklaut und die Zahlen ausgewechselt, ohne mich jemals um Erlaubnis zu fragen.« Nichts destotrotz gewann Moores Film 2004 die Palme d’or von Cannes, ganz im Gegensatz zu François Truffauts 1966 in englischer Sprache gedrehter Verfilmung des Romans (mit

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Oskar Werner und Julie Christie in den Hauptrollen), die keine Auszeichnungen erhielt.

Inwiefern sind die düsteren Zukunftsvisionen Bradburys und Truffauts – nach siebzig oder bald fünf zig Jahren – einge-treten? Wann und wo werden Bücher oder ganze Bibliotheken verbrannt? Wann und wo begegnen wir den verschworenen Gemeinschaften, die ihr Leben – wie die »Buchmenschen« in Fahrenheit 451 – dem Schutz kultureller und literarischer Werte widmen? Gewiss wird der Buch markt – spätestens seit der Jahrtausendwende – immer wieder von Krisen und schlimmen Ängsten erschüttert. Regelmäßig werden dramatische Um-satzeinbrüche prognostiziert, auch wenn die Rück gänge häufig moderater ausfallen als befürchtet. Kleine Buchhandlungen verschwinden; selbst große Handelsketten schließen Filialen und bangen um ihre Investitionen. Das Inseratenaufkommen der überregionalen Presse sinkt; selbst das Feuilleton angese-hener Zeitungen wird immer dünner. Ratlos und uneinig ist der Markt bei der Benennung möglicher Ursachen für diese Krisen. Vor zehn Jahren wurde gern auf den 11. September verwiesen oder auf die Euro-Umstellung; heute werden die Tur bulen-zen auf den Finanzmärkten und die Schuldenkrise verant-wortlich gemacht. Sobald die Leute sparen, vermeiden sie in erster Linie den Konsum von Luxusgütern. Bücher und Zeitungsabonne ments geraten insofern rasch in Verdacht, nicht dringend benötigt zu werden, als wir stets ein paar Bü-cher im eigenen Regal entdecken können, die wir noch nicht gelesen haben, ganz abgesehen da von, dass wir wöchentlich mehrere Zeitungsausgaben in den Altpapier-Container stop-fen, ohne sie wenigstens einmal durchgeblättert zu haben.

Bücher auf dem Weg von der Gutenberg- in die Turing-Galaxis

Uneinigkeit herrscht auch bei der Beurteilung von Marktberei-nigungs- und Konzentrationsprozessen. Während einerseits

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der Untergang kleiner Buchhandlungen und unabhängiger Verlage beklagt wird, heißt es andererseits, die Konzentrati-onsbildung verlaufe noch viel zu zaghaft und langsam. Kriti-siert werden die komplizierten Strukturen des Vertriebs oder die Tendenzen zur Überproduktion, die sich in erhöhten La-gerkosten niederschlagen. Wahlweise wird die Aufrechterhal-tung oder der Verstoß ge gen die Buchpreisbindung als Kri-sensymptom moniert; bis heute ist es in Europa bei den ge-setzlich fixierten Buchpreisen geblieben, die den Verlagen die Mischkalkulation erleichtern. Den ökonomi schen Analysen sekundiert die Behauptung, dass wir im Zeitalter eines umfas-senden Medienwech sels leben: Gleichsam mit Lichtge-schwindigkeit werde der Flug von der Gutenberg- zur Turing-Galaxis absolviert. Computer, Smartphones und Internet, so lautet die Hypothese, verändern die Praktiken der Lektüre – die kulturellen Techniken der Distribution von Wissen und In-formation – viel dramati scher als alle anderen Medien der Mo-derne zusammen. Bücher und Zeitungen scheinen im Netz nicht ohne tief greifenden Funktions- und Gestaltwandel überleben zu können; befürchtet wird oben drein, dass der Internet-Buchhandel seine Geschäftsanteile durch logistische und technische Perfek tionierung weiterhin erheblich steigern wird. Bekanntlich kann man ja heute ein Buch mit einem ein-zigen Mausklick bestellen, an die Haustür liefern lassen, Kurz-beschreibungen, Zeitungs- und Kunden rezensionen lesen, ja sogar eruieren, was die anderen Kunden, die das Buch ge-kauft haben, sonst noch in Erwägung gezogen haben; indivi-duelle Empfehlungen (automatisch generiert aus den letzten eigenen Bestellungen), Suchfunktionen und die persönliche Buchhaltung ergänzen ein Servicepaket, das kaum eine stati-onäre Buchhandlung mehr selbstverständlich anbieten kann.

Dennoch lehren bisherige Erfahrungen, dass ein Medien-wechsel nicht automatisch zur Auslöschung des älteren durch das neuere Medium führt. Viel häufiger entwickeln sich uner-wartete Wechselwir kungen, Synergien, die manche Potenziale

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und Qualitäten der scheinbar überwundenen Medien über-haupt erst sichtbar machen. So hat die Briefpost vom Telefon nicht weniger profitiert als der Film vom Fernsehen oder das Buch von der Zeitung (und umgekehrt). Und darum ist die Er-wartung durchaus legitim, dass auch die Bücher vom Internet profitieren werden. Aber wie? Und welche Bücher? Am Ende von Truffauts Fahrenheit-Film werden – nach dem inszenierten Tod des Feuer wehrmanns Montag – verschiedene »Buchmen-schen« mit den Titeln der Bücher vorgestellt, die sie auswen-dig lernen (oder bereits gelernt haben). Alle Bürger und Bürge-rinnen dieser Buchrepublik re präsentieren Klassiker: Platons Politeia, Wuthering Heights von Emily Brontë, The Corsair von Lord Byron, Lewis Carrolls Alice in Wonderland (und Through the Looking Glass), Pilgrim’s Progress von John Bunyan, Be-cketts Waiting for Godot, Jean-Paul Sartres Traktat zur Juden-frage – gewiss eine seltsame und überraschende Wahl –, Ray Bradburys Martian Chronicles (eine Reverenz an den Autor von Fahrenheit 451), The Pickwick Papers und David Copper-field von Charles Dickens, Machiavellis Il Principe und Jane Austens Pride and Prejudice, in zwei Bänden, vertreten durch zwei Brüder, die mit den Namen Pride und Prejudice vorge-stellt werden. Montag, der ehemalige Feuerwehrmann, ent-scheidet sich für die Tales of Mystery and Imagination von Edgar Allan Poe. Die Auswahl ist vielleicht ein wenig konser-vativ und irritierend; sie betrifft – mit Ausnahme lediglich von Platon, Machiavelli und Sartre – den Kanon britischer Natio-nalliteratur, jenseits der Frage nach Original und Über setzung. Wenn ich vor die Entscheidung gestellt wäre, einen Teil meines Lebens mit einem einzigen Buch zu verbringen, würde ich ver-mutlich einen anderen Titel auswählen.

Bücher als Zeitmaschinen

Doch anders gefragt: Wären die Bücher, die in den Zukunfts-wäldern Bradburys und Truffauts aus wendig gelernt werden,

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nicht hervorragende Kandidaten für E-Books: für Bücher, die wir nicht stän dig mit uns herumtragen, aber auch nicht mis-sen wollen? Ein Buch, das ich liebe, will ich als Objekt besit-zen; ein Buch, das mir irgendwann nützlich sein könnte, ist mir auch als tragbares Dokument – als E-Book oder PDF-Datei – willkommen. Bücher sind Speichermedien wie viele andere Medien auch. Aber sie sind – abgesehen von Steinen, die bei hohem Eigengewicht nur wenige Zeichen aufbe wahren können – die langlebigsten Speichermedien, die jemals erfun-den wurden. Textseiten im In ternet können täglich wechseln oder verschwinden (was sich bei jeder Bearbeitung der im Lauf der Zeit angelegten Bookmarks prompt bestätigt); ihre Archivierung wäre aufgrund der exponentiellen Wachstums-raten des Netzes ebenso sinnwidrig wie chancenlos. Nach wie vor wird diskutiert, wie man Internet-Seiten zitieren soll. Mit Web-Adresse und Datum? Aber wer könnte denn ein sol-ches Zitat überprüfen? Das Internet ist gar nicht darauf ange-legt, temporale Verdichtungen zu ermögli chen; es funktioniert als topologisches System, ganz anders als die Bücher und Bibliotheken, die gleichsam ein jahrtausendelanges Gespräch führen. Bücher sind Brücken zwischen entfernten Kultur-räumen und Epochen; sie sind – nicht nur in Ray Bradburys Roman – Instrumente der Überlebens kunst. Niemand wird eine DVD-Sammlung vererben, erst recht nicht seine Home-page. Privatbiblio theken können dagegen leicht mehrere Ge-nerationen überdauern; unter günstigen Umständen wer den sie sogar immer wertvoller. Kurzum, wir können also schwere und ortsfeste Speichermedien (wie etwa Steine), die sehr wenig Inhalt für sehr lange Zeit konservieren können, unter-scheiden von den beweglicheren, leichteren Speichermedien (wie den Büchern), die deutlich mehr Inhalte, aber für ge-wöhnlich etwas kürzere Zeit – statt für Jahrtausende für Jahr-hunderte – aufbewahren; und wir kön nen diese Gutenberg-Speicher unterscheiden von den extrem mobilen und schnel-len, ungeheuer leichten – ein USB-Stick mit einer Kapazität

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von 64 GB, auf dem Sie etwa viertausend Bücher spei chern können, wiegt gerade noch 14 Gramm – Turing-Medien, die sehr viel mehr Inhalte, allerdings womöglich für erheblich kür-zere Zeiträume – statt für Jahrhunderte für Jahrzehnte – auf-heben.

Jacques Attali hat in seinem Buch Millennium behauptet, dass Bücher die ältesten »nomadischen Objekte« sind. In der Funktion eines mobilen Speichers werden sie inzwischen zwar von jedem Handy übertroffen; aber die nomadische Wanderlust der Bücher hat sich immer schon mehr auf die Zeit als auf den Raum be zogen: Bücher sind die einzigen Zeit-maschinen, die wir tatsächlich besitzen.

Bücher als Modekollektionen

Wie werden nun Verlage und Buchhandlungen diesem einzig-artigen Charakter ihres Produkts gerecht? Die Antwort fällt ernüch ternd aus – gar nicht. Bücher werden seit geraumer Zeit behandelt wie Modekollektionen. Es gibt Frühjahrskollektio-nen, es gibt Herbstkollektionen. Was nicht rechtzeitig verkauft wird, landet zum Sommer- oder Winterschlussverkauf auf den Ramschtischen oder in Einrichtungen, die – etwas ver schämt und widersinnig – als »moderne Antiquariate« bezeichnet wer-den. Verlage scheinen sich ihrer vergangenen Produktion zu schämen; ein Buch, das nicht in den ersten Monaten nach seinem Erscheinen verkauft wird, gilt für den Markt bald als unverkäuflich; und ich warte nur noch auf den Augenblick, in dem Bücher nicht mehr bloß mit Preisschildern, sondern auch – wie Milchprodukte oder Konserven – mit einem Haltbarkeits-datum beklebt werden: Empfohlen wird die Lektüre vor der Frühjahrsmesse 2014. Dabei sind Bücher die Alt-Erscheinun-gen schlechthin, gerade keine saisonab hängigen Waren; die Liste der Bücher, deren Bedeutung erst nach Jahrzehnten er-kannt wurde, wür de beispielsweise jedem Verlag zu höherer Ehre gereichen. Allen Kanon-Diskussionen und Editions-