Bei spätem Regen

20
Dennis Fassing Bei spätem Regen Kurzgeschichte

description

Auf ein Gewitter zu warten, kann ein Fehler sein. Manchmal ist es aber auch einfach notwendig.

Transcript of Bei spätem Regen

Page 1: Bei spätem Regen

Dennis Fassing

Bei spätem Regen Kurzgeschichte

Page 2: Bei spätem Regen
Page 3: Bei spätem Regen

Jetzt fängt alles von vorne an

Der Wind treibt uns fort und dann

Reden wir genau wie bisher

Von unserm Leben

Das sich immer so weiter dreht

Und wir immer noch nichts verstehen

Von dem Chaos in unsern Hirnen

Und dem Gang unserer Wege

- Gisbert zu Knyphausen: So seltsam durch die Nacht

Page 4: Bei spätem Regen
Page 5: Bei spätem Regen

Caspar saß lange am Seeufer. Während er hinüber zu

einer Gruppe von Windsurfern sah, trank er in kleinen

Schlucken aus einer Flasche Bier. Er hörte die Umge-

hungsstraße in seinem Rücken wie ein weißes Rau-

schen, sie wurde überstimmt von den vielen Grillen

und Heupferdchen um ihn herum. Es war drückend

heiß, er schwitzte und die Surfschüler ließen sich frei-

willig von ihren Brettern fallen. Caspar überlegte, ob er

schwimmen sollte, doch eigentlich mochte er das Was-

ser hier nicht, den Schlamm am Ufer, den kleinen Bach

mit der hässlichen Schleuse, vor der er als Kind Angst

gehabt hatte. Stattdessen legte er sich auf den Rücken

und sah in den Himmel, der von einem so starken Blau

war, dass es ihm künstlich vorkam.

Er schloss die Augen und versuchte, die Reflexe der

Sonne hinter seinen Lidern zu fixieren. Bilder zuckten

durch seinen Kopf und er dachte an die letzten Wochen,

von denen sehr wenig geblieben war. Irgendwie fühlte

sich nichts richtiger an, als am See zu sitzen, oder im

Hochfeld, oder im Stadtwald, auf dieser Bank, die

5

Page 6: Bei spätem Regen

kaum einer kannte. So vieles hatte noch durch seinen

Kopf zu gehen.

Als er seine Augen wieder aufschlug war der Himmel

rötlich-grau und sein Bier schal. Er setzte sich auf,

doch sein Kopf schien liegen zu bleiben. Kleine Blitze

wanderten durch sein Blickfeld. Er legte die Flasche

auf den Boden und sah zu, wie die letzten Schlucke

Bier im trockenen Boden versickerten. Das Zirpen der

Insekten war lauter geworden und die Surfer schienen

verschwunden. Aus Richtung der großen Stadt türmten

sich Wolkenberge auf. Sie schienen nicht näher zu

kommen, vielmehr immer höher in den Himmel zu

wachsen. Caspar wusste, dass er es, sollte es dieses

Wetter ernst meinen, nicht mehr rechtzeitig nach Hause

schaffen würde. Stattdessen blieb er einfach sitzen und

horchte darauf, wie die Geräusche der Tiere um ihn

herum lauter wurden, um dann kurz vor Einbruch des

Sturms zu verklingen. Der erste Wind seit Tagen streif-

te sein feuchtes Gesicht und er streckte das Kinn her-

6

Page 7: Bei spätem Regen

aus. In der Ferne schlug ein Blitz ein. Der Knall danach

klang metallisch und fern, es dauerte, bis er über das

Feld rollte.

Caspar stand auf und klopfte sich den Staub von den

Beinen. Sich langsam im Kreis drehend überprüfte er

seine Möglichkeiten. Auf der anderen Seeseite lagen

ein Kinderspiel- und Grillplatz, ein runder Holzpavillon

mit vollgeschriebenen Wänden und zerritzten Bänken.

Würde er in Richtung der Umgehung laufen, käme er

zur Unterführung, ein kleiner Metalltunnel unter der

Straße. Er mochte keinen dieser Orte. Der Wind frisch-

te auf und drückte ihn mit einer starken Böe einen

Schritt vorwärts. Caspar erkannte, dass der Sturm

schnell näher kam. Auf den flachen Feldern konnte

man bei gutem Wetter den Rand der Stadt erkennen.

Jetzt schnitt eine Klinge aus Regen über die Wiesen.

Der Rand des Sturms also. Ein Sommergewitter, wie

man es sich vorstellte. Caspar lief auf den Wanderweg

um den See herum und überlegte, ob er sein Hemd aus-

ziehen sollte, doch er blieb einfach nur stehen und war-

7

Page 8: Bei spätem Regen

tete.

Das Mädchen erreichte ihn noch vor dem Regen. Sie

kam so plötzlich über den Hügel gerannt, dass Caspar

erst nicht auf sie reagierte. Doch ihre langen roten Haa-

re hoben sich derart gegen den dunklen Horizont ab,

dass er sie schließlich fixierte. Sie war nass oder ge-

schwitzt vom Rennen. Ihr dunkelblaues Kleid klebte an

ihrem schmalen Körper, die weißen Tupfen darauf

passten zu ihrem blassen Teint.

„Was stehst du denn so blöd rum?“, rief sie ihm entge-

gen und ihre Stimme war hoch und atemlos.

„Es lohnt nicht mehr zu Laufen, du schaffst es nicht

mehr ins Trockene“, rief er zurück, während sie an ihm

vorbei rannte und seine Schulter streifte. Er schaute

weiter auf die Schnittstelle, die sie fast erreicht hatte.

Die Luft schmeckte bereits nach Regen. Sie kam zu-

rück zu ihm.

„Und was dann?“, fragte sie, schwer atmend, die Hände

in die Hüften gestützt. Caspar sah sich um.

8

Page 9: Bei spätem Regen

„Hast du Angst vor Gewittern?“, fragte er.

„Nicht mehr als andere“, sagte sie.

„Dann komm mit“, sagte er und lief ins hüfthohe Gras

der alten Felder hinein, weg von der aufgewühlten

Oberfläche des Sees. Sie waren keine fünf Schritte

weit, als der Regen sie erreichte. In nur einem Augen-

blick spürte Caspar, wie er von der dichten Wand über-

zogen wurde. Von seinen Haaren liefen ihm Rinnsaale

in die Augen und er verlor sein Ziel aus dem Blick. Das

Rauschen war überwältigend. Das Pumpen des Blutes

in seinen Ohren kam überein mit dem Trommeln des

Regens. Von hinten griff dann die Hand des Mädchens

in sein Hemd. Er drehte sich um und nickte ihr zu,

zeigte nach vorne und war sich nicht sicher, ob sie es

überhaupt sehen konnte, ihr Gesicht war ein weißer

Fleck und roter Schimmer. Sie schrie etwas, er verstand

es nicht. Also kämpfte er sich nur weiter vor durch das

schwere Gras, bis der Regen nachließ und seine Hände

den Stamm des Baumes berührten.

Caspar strich sich seine Haare glatt und das Wasser aus

9

Page 10: Bei spätem Regen

seinem Gesicht, dann drehte er sich zu seiner Begleite-

rin um. Sie stand mit dem Rücken zu ihm, unter den

weitesten Ausläufern der Äste.

„Komm doch näher an den Stamm“, riet er ihr, „hier

wirst du nicht so nass.“

„Was ist das für ein Baum?“, fragte sie, ohne sich zu

bewegen.

„Eine Buche. Eine Rotbuche, glaube ich“, antwortete er

und zeigte auf die im dunklen Licht schwarz wirkenden

Blätter.

„Aber bei Gewitter unter einem Baum zu stehen ist

doch dumm?“, sagte sie.

„Es geht nur um die Höhe und da ist dieser hier kein

Problem. Der hier ist eher breit als hoch, um uns herum

sind lauter höhere Bäume“, sagte er und klopfte gegen

den breiten Stamm. „Komm her, hier ist es fast tro-

cken.“

Zögernd kam sie zu ihm und berührte schließlich wie er

den Stamm. Sie lehnte sich mit dem Rücken dagegen

und sah ins Geäst, einzelne dicke Tropfen trafen ihr Ge-

10

Page 11: Bei spätem Regen

sicht. Um sie herum rauschte der Sturm. Donner wan-

derte über die Ebene und immer wieder wurde die

graue Luft durch einen weißen Schnitt zersetzt. Er

lehnte sich neben sie. Beide sagten sie eine ganze Weile

nichts, sondern starrten unter den niedrig hängenden

Ästen auf die Wiese hinaus.

„So Stürme dauern selten lange“, eröffnete Caspar das

Gespräch.

„Dieser hier wird länger gehen“, sagte das Mädchen

wie selbstverständlich.

„Hm“, machte Caspar.

„Wie heißt du?“, fragte sie.

„Caspar. Du?“

„Sara“.

Er spürte an seiner Schulter die Hitze, die ihr Körper

ausstrahlte und wunderte sich darüber, denn der Regen

kühlte ihn aus und er fror. Caspar blickte sie von der

Seite an, sie kaute auf ihrer Unterlippe herum.

„Komische Situation, was?“, sagte er und versuchte ein

schiefes Grinsen, welches ihn selbst nicht überzeugte.

11

Page 12: Bei spätem Regen

Sie sah ihn an, löste sich vom Stamm, ging ein paar

Schritte im Kreis. Schließlich sagte sie: „Das liegt nicht

an dir und an mir. Aber hier ist es gefährlich, wir soll-

ten nicht hier sein.“

„Es ist kein Problem, wirklich. Der ganze Regen, das

Donnern, das wirkt alles bedrohlich, aber das ist nichts,

was uns gefährlich wird. Es kann nur ein wenig laut

werden, dass ist alles.“

Sara schüttelte den Kopf, so energisch, das Tropfen in

alle Richtungen spritzten. So standen sie sich gegen-

über und keiner wusste etwas zu sagen. Caspar schloss

die Augen und legte sein Ohr an den Stamm. Er glaubte

zu hören, wie er tief in seinem Inneren knackte. Er hör-

te die Blätter und Äste, die im Sturm aneinander rieben

und das hohe Gras, welches das Rauschen des Meeres

imitierte. Tief Luft holend spürte er, wie sein Puls sich

beschleunigte, wie seine Muskeln reagierten. Als er die

Augen öffnete, war Saras Gesicht direkt vor ihm. Auch

ihr Ohr an den Stamm gedrückt, sprangen ihre blauen

Augen über ihn hinweg. Da waren Sommersprossen auf

12

Page 13: Bei spätem Regen

ihrer Haut, sehr blass und kaum zu erkennen. Ihre roten

Strähnen, die ihr in die Stirn hingen, wurden selbst

durch die Feuchtigkeit nicht dunkler. Ihr Atem traf ihn,

er war so warm wie der Rest von ihr.

Caspar setzte an, etwas zu sagen, doch sie kam ihm zu-

vor: „Geh ruhig hoch, es macht mir nichts aus.“ Er

stutzte.

„Du willst hochklettern, oder?“, setzte sie nach. Saras

Blick war unergründlich, sie wich dem seinen nicht

aus. Caspar sah nach oben. Durch die vielen Veräste-

lungen konnte man nichts vom Himmel erkennen.

„Aber es ist doch gefährlich, dachte ich?“, fragte er. Sie

nickte nur. Er wartete auf eine weitere Erklärung, ir-

gendwas von ihr, doch er ahnte, dass keine folgen wür-

de.

Ein Blitz kam nahezu zeitgleich mit seinem Donner.

Caspar stellte seinen linken Fuß an den Stamm, sprang

ab und ergriff die tief stehenden Äste. Mühsam zog er

sein Gewicht in eine Astgabel hinauf. Der Baum war

derart in die Breite gewachsen, dass die Herausforde-

13

Page 14: Bei spätem Regen

rung darin bestand, zwischen den dichten Ästen hin-

durch einen Weg nach oben zu finden. Wasser schlug

Caspar von jedem Blatt entgegen, je höher er kam, des-

to stärker regnete es wieder auf ihn herab. Er kam ins

Schwitzen, denn er kletterte schnell. Die Angst, den

Höhepunkt des Sturms zu verpassen, trieb ihn an. Als

er durch die Baumkrone hindurch stieg und die Tritt-

stellen dünner wurden, hielt er an und drehte sich um.

Er lehnte sich mit dem Rücken in einen der hoch ste-

henden Äste und stellte sich breitbeinig in den Baum.

Caspar sah sich um.

Die Graslandschaft um ihn herum war ein Organismus,

vom Sturmwind zum Atmen getrieben und wankend

hin und her gerissen. Die Wolken hingen so tief, dass er

mit den Händen nach ihnen greifen wollte, Regen

schlug ihm ins Gesicht. Die Schnellstraße war nicht

mehr zu erkennen, er saß auf der Spitze einer grün-

grauen Insel, einem Meer aus Schilf, in dem nur verein-

zelte andere Bäume herausragten. Es blitzte von Wolke

zu Wolke und Caspar schrie in den Donner hinein. Er

14

Page 15: Bei spätem Regen

knöpfte sein Hemd auf und streckte seine nackte Brust

ins Wetter. Unter ihm sah er Sara, die in die Wiese ge-

laufen war und ihm mit beiden Armen zuwinkte.

„Komm hoch!“, schrie er ihr sinnlos hinunter, das Blut

tönte in seinen Ohren. Sara gestikulierte, er erkannte

nicht, was sie wollte, dann warf sie sich ins hohe Gras.

Der einschlagende Blitz nahm Caspar jegliche Sinne.

Er hörte das Geräusch des krachenden Baumes noch

bevor sich der weiße Fleck auf seiner Netzhaut ein-

brannte. Er wurde gegen den Ast in seinem Rücken ge-

drückt und die Luft aus seinen Lungen entwich. Seine

Haare stellten sich auf und ein Geruch von Ozon stieg

ihm in die Nase. Für einen Moment hörte er nichts an-

deres als sein Atmen, er spürte nicht einmal mehr den

Regen auf seiner Haut. Als er die Augen öffnete, sah er

nichts. Seine Hände hielten sich nicht mehr fest, ir-

gendetwas unter ihm war auf einmal nicht mehr da und

Caspar rutschte ab.

Als er die Augen das nächste Mal öffnete, blickte er auf

15

Page 16: Bei spätem Regen

die festgefrorene Linie eines Blitzes. Dieser schwebte

über Saras Gesicht, teilte es längs über ihrer Nase in

zwei Hälften. Er presste seine Augen zu, der Blitz blieb

auch in der Dunkelheit. Sein Rücken schmerzte, er lang

unbequem, seine Beine baumelten in der Luft.

„Was ist denn?“, brachte er heraus.

„Du bist nicht bis zum Boden gefallen, du bist einfach

nach ein paar Metern auf breiten Ästen liegen geblie-

ben.“, hörte er Saras Stimme in seinen Ohren. Sie klang

blechern und viel zu weit weg dafür, dass er sie gerade

vor sich gesehen hatte.

„Nein, ich meine… was ist denn…“, setzte er an und

versuchte, sich umzublicken, ihm war schwindelig.

Sara saß neben ihm auf einem anderen Ast, die Knie

angezogen und die Füße auf seine Oberschenkel ge-

stellt. Er selbst lag gegen den Stamm gelehnt und auf

einer Astgabel, unbequem aber gesichert. Sara schob

ein Blätterdickicht zur Seite und gab den Blick frei auf

die Wiese und eine brennende Fichte, die wenige Meter

entfernt den Hügel hinauf stand. Caspar fuhr den Baum

16

Page 17: Bei spätem Regen

mit seinen Blicken ab und schaffte es so, das abklin-

gende Abbild des Blitzes auf seiner Iris mit dem ge-

spaltenen Stamm vor ihm in Einklang zu bringen.

„Wusstest du, dass das passieren würde?“, fragte er.

„Nein. Nein, das nicht.“, sagte Sara und sah genau wie

er auf dieses seltsame Bild hinaus.

Bis sie von der Buche herabgeklettert waren, war der

Sturm abgeklungen. Langsam gingen sie auf den immer

noch brennenden Baum zu, starrten zu seiner glimmen-

den geknickten Spitze hinauf. Wasserdampf stieg zi-

schend von den Flammen auf, es roch nach verbrann-

tem Holz und Nadeln. Zu sehen, wie die Flammen sich

aus dem trockenen Inneren des gebrochenen Stammes

speisten, aber nicht in die getränkte Umgebung über-

greifen konnten, machte Caspar sprachlos. Sie standen

bei dem Baum, bis das Feuer zwei schwelende Teilstü-

cke zurückgelassen hatte. Danach gingen sie langsam

durch die Wiese, zurück zum Weg. Sie beide fuhren mit

nach außen gekehrten Handflächen die Spitzen der

17

Page 18: Bei spätem Regen

Gräser entlang.

„Ich denke darüber nach, was das jetzt für mich bedeu-

tet“, begann Caspar.

„Der Blitz?“, fragte sie.

„Das Gewitter, der Baum, der Blitz. Du. Das alles.“,

sagte er. Sie schwiegen eine Weile und horchten auf das

Knirschen der klumpigen Kiesel unter ihren Schuhen.

„Nein, ich glaube, da steckt nicht viel mehr dahinter“,

sagte Sara schließlich. „Das ist einfach passiert.“

Sie sah ihm ins Gesicht und lächelte. Er wich ihrem

Blick schnell aus und musste dann selbst grinsen. Das

Blau ihrer Augen hallte ihm nach.

„Darf ich dich nach Hause bringen?“, fragte er.

„Ja, dass darfst du.“, sagte sie.

18

Page 19: Bei spätem Regen

19

Page 20: Bei spätem Regen