Bei spätem Regen
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Transcript of Bei spätem Regen
Dennis Fassing
Bei spätem Regen Kurzgeschichte
Jetzt fängt alles von vorne an
Der Wind treibt uns fort und dann
Reden wir genau wie bisher
Von unserm Leben
Das sich immer so weiter dreht
Und wir immer noch nichts verstehen
Von dem Chaos in unsern Hirnen
Und dem Gang unserer Wege
- Gisbert zu Knyphausen: So seltsam durch die Nacht
Caspar saß lange am Seeufer. Während er hinüber zu
einer Gruppe von Windsurfern sah, trank er in kleinen
Schlucken aus einer Flasche Bier. Er hörte die Umge-
hungsstraße in seinem Rücken wie ein weißes Rau-
schen, sie wurde überstimmt von den vielen Grillen
und Heupferdchen um ihn herum. Es war drückend
heiß, er schwitzte und die Surfschüler ließen sich frei-
willig von ihren Brettern fallen. Caspar überlegte, ob er
schwimmen sollte, doch eigentlich mochte er das Was-
ser hier nicht, den Schlamm am Ufer, den kleinen Bach
mit der hässlichen Schleuse, vor der er als Kind Angst
gehabt hatte. Stattdessen legte er sich auf den Rücken
und sah in den Himmel, der von einem so starken Blau
war, dass es ihm künstlich vorkam.
Er schloss die Augen und versuchte, die Reflexe der
Sonne hinter seinen Lidern zu fixieren. Bilder zuckten
durch seinen Kopf und er dachte an die letzten Wochen,
von denen sehr wenig geblieben war. Irgendwie fühlte
sich nichts richtiger an, als am See zu sitzen, oder im
Hochfeld, oder im Stadtwald, auf dieser Bank, die
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kaum einer kannte. So vieles hatte noch durch seinen
Kopf zu gehen.
Als er seine Augen wieder aufschlug war der Himmel
rötlich-grau und sein Bier schal. Er setzte sich auf,
doch sein Kopf schien liegen zu bleiben. Kleine Blitze
wanderten durch sein Blickfeld. Er legte die Flasche
auf den Boden und sah zu, wie die letzten Schlucke
Bier im trockenen Boden versickerten. Das Zirpen der
Insekten war lauter geworden und die Surfer schienen
verschwunden. Aus Richtung der großen Stadt türmten
sich Wolkenberge auf. Sie schienen nicht näher zu
kommen, vielmehr immer höher in den Himmel zu
wachsen. Caspar wusste, dass er es, sollte es dieses
Wetter ernst meinen, nicht mehr rechtzeitig nach Hause
schaffen würde. Stattdessen blieb er einfach sitzen und
horchte darauf, wie die Geräusche der Tiere um ihn
herum lauter wurden, um dann kurz vor Einbruch des
Sturms zu verklingen. Der erste Wind seit Tagen streif-
te sein feuchtes Gesicht und er streckte das Kinn her-
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aus. In der Ferne schlug ein Blitz ein. Der Knall danach
klang metallisch und fern, es dauerte, bis er über das
Feld rollte.
Caspar stand auf und klopfte sich den Staub von den
Beinen. Sich langsam im Kreis drehend überprüfte er
seine Möglichkeiten. Auf der anderen Seeseite lagen
ein Kinderspiel- und Grillplatz, ein runder Holzpavillon
mit vollgeschriebenen Wänden und zerritzten Bänken.
Würde er in Richtung der Umgehung laufen, käme er
zur Unterführung, ein kleiner Metalltunnel unter der
Straße. Er mochte keinen dieser Orte. Der Wind frisch-
te auf und drückte ihn mit einer starken Böe einen
Schritt vorwärts. Caspar erkannte, dass der Sturm
schnell näher kam. Auf den flachen Feldern konnte
man bei gutem Wetter den Rand der Stadt erkennen.
Jetzt schnitt eine Klinge aus Regen über die Wiesen.
Der Rand des Sturms also. Ein Sommergewitter, wie
man es sich vorstellte. Caspar lief auf den Wanderweg
um den See herum und überlegte, ob er sein Hemd aus-
ziehen sollte, doch er blieb einfach nur stehen und war-
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tete.
Das Mädchen erreichte ihn noch vor dem Regen. Sie
kam so plötzlich über den Hügel gerannt, dass Caspar
erst nicht auf sie reagierte. Doch ihre langen roten Haa-
re hoben sich derart gegen den dunklen Horizont ab,
dass er sie schließlich fixierte. Sie war nass oder ge-
schwitzt vom Rennen. Ihr dunkelblaues Kleid klebte an
ihrem schmalen Körper, die weißen Tupfen darauf
passten zu ihrem blassen Teint.
„Was stehst du denn so blöd rum?“, rief sie ihm entge-
gen und ihre Stimme war hoch und atemlos.
„Es lohnt nicht mehr zu Laufen, du schaffst es nicht
mehr ins Trockene“, rief er zurück, während sie an ihm
vorbei rannte und seine Schulter streifte. Er schaute
weiter auf die Schnittstelle, die sie fast erreicht hatte.
Die Luft schmeckte bereits nach Regen. Sie kam zu-
rück zu ihm.
„Und was dann?“, fragte sie, schwer atmend, die Hände
in die Hüften gestützt. Caspar sah sich um.
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„Hast du Angst vor Gewittern?“, fragte er.
„Nicht mehr als andere“, sagte sie.
„Dann komm mit“, sagte er und lief ins hüfthohe Gras
der alten Felder hinein, weg von der aufgewühlten
Oberfläche des Sees. Sie waren keine fünf Schritte
weit, als der Regen sie erreichte. In nur einem Augen-
blick spürte Caspar, wie er von der dichten Wand über-
zogen wurde. Von seinen Haaren liefen ihm Rinnsaale
in die Augen und er verlor sein Ziel aus dem Blick. Das
Rauschen war überwältigend. Das Pumpen des Blutes
in seinen Ohren kam überein mit dem Trommeln des
Regens. Von hinten griff dann die Hand des Mädchens
in sein Hemd. Er drehte sich um und nickte ihr zu,
zeigte nach vorne und war sich nicht sicher, ob sie es
überhaupt sehen konnte, ihr Gesicht war ein weißer
Fleck und roter Schimmer. Sie schrie etwas, er verstand
es nicht. Also kämpfte er sich nur weiter vor durch das
schwere Gras, bis der Regen nachließ und seine Hände
den Stamm des Baumes berührten.
Caspar strich sich seine Haare glatt und das Wasser aus
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seinem Gesicht, dann drehte er sich zu seiner Begleite-
rin um. Sie stand mit dem Rücken zu ihm, unter den
weitesten Ausläufern der Äste.
„Komm doch näher an den Stamm“, riet er ihr, „hier
wirst du nicht so nass.“
„Was ist das für ein Baum?“, fragte sie, ohne sich zu
bewegen.
„Eine Buche. Eine Rotbuche, glaube ich“, antwortete er
und zeigte auf die im dunklen Licht schwarz wirkenden
Blätter.
„Aber bei Gewitter unter einem Baum zu stehen ist
doch dumm?“, sagte sie.
„Es geht nur um die Höhe und da ist dieser hier kein
Problem. Der hier ist eher breit als hoch, um uns herum
sind lauter höhere Bäume“, sagte er und klopfte gegen
den breiten Stamm. „Komm her, hier ist es fast tro-
cken.“
Zögernd kam sie zu ihm und berührte schließlich wie er
den Stamm. Sie lehnte sich mit dem Rücken dagegen
und sah ins Geäst, einzelne dicke Tropfen trafen ihr Ge-
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sicht. Um sie herum rauschte der Sturm. Donner wan-
derte über die Ebene und immer wieder wurde die
graue Luft durch einen weißen Schnitt zersetzt. Er
lehnte sich neben sie. Beide sagten sie eine ganze Weile
nichts, sondern starrten unter den niedrig hängenden
Ästen auf die Wiese hinaus.
„So Stürme dauern selten lange“, eröffnete Caspar das
Gespräch.
„Dieser hier wird länger gehen“, sagte das Mädchen
wie selbstverständlich.
„Hm“, machte Caspar.
„Wie heißt du?“, fragte sie.
„Caspar. Du?“
„Sara“.
Er spürte an seiner Schulter die Hitze, die ihr Körper
ausstrahlte und wunderte sich darüber, denn der Regen
kühlte ihn aus und er fror. Caspar blickte sie von der
Seite an, sie kaute auf ihrer Unterlippe herum.
„Komische Situation, was?“, sagte er und versuchte ein
schiefes Grinsen, welches ihn selbst nicht überzeugte.
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Sie sah ihn an, löste sich vom Stamm, ging ein paar
Schritte im Kreis. Schließlich sagte sie: „Das liegt nicht
an dir und an mir. Aber hier ist es gefährlich, wir soll-
ten nicht hier sein.“
„Es ist kein Problem, wirklich. Der ganze Regen, das
Donnern, das wirkt alles bedrohlich, aber das ist nichts,
was uns gefährlich wird. Es kann nur ein wenig laut
werden, dass ist alles.“
Sara schüttelte den Kopf, so energisch, das Tropfen in
alle Richtungen spritzten. So standen sie sich gegen-
über und keiner wusste etwas zu sagen. Caspar schloss
die Augen und legte sein Ohr an den Stamm. Er glaubte
zu hören, wie er tief in seinem Inneren knackte. Er hör-
te die Blätter und Äste, die im Sturm aneinander rieben
und das hohe Gras, welches das Rauschen des Meeres
imitierte. Tief Luft holend spürte er, wie sein Puls sich
beschleunigte, wie seine Muskeln reagierten. Als er die
Augen öffnete, war Saras Gesicht direkt vor ihm. Auch
ihr Ohr an den Stamm gedrückt, sprangen ihre blauen
Augen über ihn hinweg. Da waren Sommersprossen auf
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ihrer Haut, sehr blass und kaum zu erkennen. Ihre roten
Strähnen, die ihr in die Stirn hingen, wurden selbst
durch die Feuchtigkeit nicht dunkler. Ihr Atem traf ihn,
er war so warm wie der Rest von ihr.
Caspar setzte an, etwas zu sagen, doch sie kam ihm zu-
vor: „Geh ruhig hoch, es macht mir nichts aus.“ Er
stutzte.
„Du willst hochklettern, oder?“, setzte sie nach. Saras
Blick war unergründlich, sie wich dem seinen nicht
aus. Caspar sah nach oben. Durch die vielen Veräste-
lungen konnte man nichts vom Himmel erkennen.
„Aber es ist doch gefährlich, dachte ich?“, fragte er. Sie
nickte nur. Er wartete auf eine weitere Erklärung, ir-
gendwas von ihr, doch er ahnte, dass keine folgen wür-
de.
Ein Blitz kam nahezu zeitgleich mit seinem Donner.
Caspar stellte seinen linken Fuß an den Stamm, sprang
ab und ergriff die tief stehenden Äste. Mühsam zog er
sein Gewicht in eine Astgabel hinauf. Der Baum war
derart in die Breite gewachsen, dass die Herausforde-
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rung darin bestand, zwischen den dichten Ästen hin-
durch einen Weg nach oben zu finden. Wasser schlug
Caspar von jedem Blatt entgegen, je höher er kam, des-
to stärker regnete es wieder auf ihn herab. Er kam ins
Schwitzen, denn er kletterte schnell. Die Angst, den
Höhepunkt des Sturms zu verpassen, trieb ihn an. Als
er durch die Baumkrone hindurch stieg und die Tritt-
stellen dünner wurden, hielt er an und drehte sich um.
Er lehnte sich mit dem Rücken in einen der hoch ste-
henden Äste und stellte sich breitbeinig in den Baum.
Caspar sah sich um.
Die Graslandschaft um ihn herum war ein Organismus,
vom Sturmwind zum Atmen getrieben und wankend
hin und her gerissen. Die Wolken hingen so tief, dass er
mit den Händen nach ihnen greifen wollte, Regen
schlug ihm ins Gesicht. Die Schnellstraße war nicht
mehr zu erkennen, er saß auf der Spitze einer grün-
grauen Insel, einem Meer aus Schilf, in dem nur verein-
zelte andere Bäume herausragten. Es blitzte von Wolke
zu Wolke und Caspar schrie in den Donner hinein. Er
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knöpfte sein Hemd auf und streckte seine nackte Brust
ins Wetter. Unter ihm sah er Sara, die in die Wiese ge-
laufen war und ihm mit beiden Armen zuwinkte.
„Komm hoch!“, schrie er ihr sinnlos hinunter, das Blut
tönte in seinen Ohren. Sara gestikulierte, er erkannte
nicht, was sie wollte, dann warf sie sich ins hohe Gras.
Der einschlagende Blitz nahm Caspar jegliche Sinne.
Er hörte das Geräusch des krachenden Baumes noch
bevor sich der weiße Fleck auf seiner Netzhaut ein-
brannte. Er wurde gegen den Ast in seinem Rücken ge-
drückt und die Luft aus seinen Lungen entwich. Seine
Haare stellten sich auf und ein Geruch von Ozon stieg
ihm in die Nase. Für einen Moment hörte er nichts an-
deres als sein Atmen, er spürte nicht einmal mehr den
Regen auf seiner Haut. Als er die Augen öffnete, sah er
nichts. Seine Hände hielten sich nicht mehr fest, ir-
gendetwas unter ihm war auf einmal nicht mehr da und
Caspar rutschte ab.
Als er die Augen das nächste Mal öffnete, blickte er auf
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die festgefrorene Linie eines Blitzes. Dieser schwebte
über Saras Gesicht, teilte es längs über ihrer Nase in
zwei Hälften. Er presste seine Augen zu, der Blitz blieb
auch in der Dunkelheit. Sein Rücken schmerzte, er lang
unbequem, seine Beine baumelten in der Luft.
„Was ist denn?“, brachte er heraus.
„Du bist nicht bis zum Boden gefallen, du bist einfach
nach ein paar Metern auf breiten Ästen liegen geblie-
ben.“, hörte er Saras Stimme in seinen Ohren. Sie klang
blechern und viel zu weit weg dafür, dass er sie gerade
vor sich gesehen hatte.
„Nein, ich meine… was ist denn…“, setzte er an und
versuchte, sich umzublicken, ihm war schwindelig.
Sara saß neben ihm auf einem anderen Ast, die Knie
angezogen und die Füße auf seine Oberschenkel ge-
stellt. Er selbst lag gegen den Stamm gelehnt und auf
einer Astgabel, unbequem aber gesichert. Sara schob
ein Blätterdickicht zur Seite und gab den Blick frei auf
die Wiese und eine brennende Fichte, die wenige Meter
entfernt den Hügel hinauf stand. Caspar fuhr den Baum
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mit seinen Blicken ab und schaffte es so, das abklin-
gende Abbild des Blitzes auf seiner Iris mit dem ge-
spaltenen Stamm vor ihm in Einklang zu bringen.
„Wusstest du, dass das passieren würde?“, fragte er.
„Nein. Nein, das nicht.“, sagte Sara und sah genau wie
er auf dieses seltsame Bild hinaus.
Bis sie von der Buche herabgeklettert waren, war der
Sturm abgeklungen. Langsam gingen sie auf den immer
noch brennenden Baum zu, starrten zu seiner glimmen-
den geknickten Spitze hinauf. Wasserdampf stieg zi-
schend von den Flammen auf, es roch nach verbrann-
tem Holz und Nadeln. Zu sehen, wie die Flammen sich
aus dem trockenen Inneren des gebrochenen Stammes
speisten, aber nicht in die getränkte Umgebung über-
greifen konnten, machte Caspar sprachlos. Sie standen
bei dem Baum, bis das Feuer zwei schwelende Teilstü-
cke zurückgelassen hatte. Danach gingen sie langsam
durch die Wiese, zurück zum Weg. Sie beide fuhren mit
nach außen gekehrten Handflächen die Spitzen der
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Gräser entlang.
„Ich denke darüber nach, was das jetzt für mich bedeu-
tet“, begann Caspar.
„Der Blitz?“, fragte sie.
„Das Gewitter, der Baum, der Blitz. Du. Das alles.“,
sagte er. Sie schwiegen eine Weile und horchten auf das
Knirschen der klumpigen Kiesel unter ihren Schuhen.
„Nein, ich glaube, da steckt nicht viel mehr dahinter“,
sagte Sara schließlich. „Das ist einfach passiert.“
Sie sah ihm ins Gesicht und lächelte. Er wich ihrem
Blick schnell aus und musste dann selbst grinsen. Das
Blau ihrer Augen hallte ihm nach.
„Darf ich dich nach Hause bringen?“, fragte er.
„Ja, dass darfst du.“, sagte sie.
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