Bemerkungen Zu Einer Begriffsgeschichte Aus Kulturwisschschftlicher Perspektive Müller

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Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft Jahrgang 2004

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Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft Jahrgang 2004

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Archiv fürBegriffsgeschichte

Begründet vonErich Rothacker

Herausgegeben vonChristian Bermes, Ulrich Dierse

und Christof Rapp

FELIX MEINER VERLAGHAMBURG

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Begriffsgeschichteim Umbruch?

Herausgegeben vonErnst Müller

FELIX MEINER VERLAGHAMBURG

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Im Felix Meiner Verlag erscheinen folgende Zeitschriften und Jahrbücher:

– Archiv für Begriffsgeschichte– Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft– Aufklärung. Interdisziplinäre Zeitschrift für die Erforschung des 18. Jahr-

hunderts und seiner Wirkungsgeschichte– Dialektik. Zeitschrift für Kulturphilosophie– Hegel-Studien

Ausführliche Informationen finden Sie im Internet unter »www.meiner.de«.

Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der DeutschenNationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet

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ISBN 3-7873-1693-0

Archiv für Begriffsgeschichte · ISSN 1617-4399 · Sonderheft Jg. 2004

© Felix Meiner Verlag 2005. Die Zeitschrift und alle in ihr enthaltenen Beiträge sindurheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks,der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung vorbehalten. Dies betrifftauch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Ver-fahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bän-der, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklichgestatten. Satz: Type &Buch Kusel, Hamburg. Druck und Bindung: Druckhaus »Tho-mas Münzer«, Bad Langensalza. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff.Printed in Germany. www.meiner.de/afb

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Ernst MüllerEinleitung. Bemerkungen zu einer Begriffsgeschichte aus kulturwissenschaftlicher Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Praxis und MethodeRalf KonersmannWörter und Sachen. Zur Deutungsarbeit der Historischen Semantik . . . . . 21

Margarita Kranz›Wider den Methodenzwang‹? Begriffsgeschichte im Historischen Wörterbuch der Philosophie – mit einem Seitenblick auf die Ästhetischen Grundbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33

Dietrich BusseArchitekturen des Wissens. Zum Verhältnis von Semantik und Epistemologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43

Bild, Metapher und PalimpsestHelmut HühnDie Entgegensetzung von ›Osten‹ und ›Westen‹, ›Orient‹ und ›Okzident‹ als begriffsgeschichtliche Herausforderung . . . . . . . . . . . . 59

Stefan WillerMetapher und Begriffsstutzigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69

Klaus KrügerBild – Schleier – Palimpsest. Der Begriff des Mediums zwischen Materialität und Metaphorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81

Begriffsgeschichte und politische Semantik

Clemens Knobloch ›Rasse‹ vor und nach 1933 – vornehmlich in den Geisteswissenschaften . . . 113

Martin WengelerTiefensemantik – Argumentationsmuster – soziales Wissen: Erweiterung oder Abkehr von begriffsgeschichtlicher Forschung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131

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Registrierung der Semantik – zwischen alten und neuen Medien

Dieter KlicheZwischen Lemmatisierung und Registrierung.Über die Schwierigkeit, ästhetische Grundbegriffe zu bestimmen . . . . . . . 147

Michael NiedermeierGrund- und Wesenswörter. Probleme der Darstellung in einem thesaurischen Autorenwörterbuch. Ein Werkstattbericht . . . . . . . . . . . . . . . 159

Robert CharlierSynergie und Konvergenz. Tradition und Zukunft historischer Semantik am Beispiel des Goethe-Wörterbuchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167

Gunter ScholtzVom Nutzen und Nachteil des Computers für die Begriffsgeschichte . . . . . 185

Abstracts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195

Inhalt6

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Vorwort

Im Februar 2004 fand am Zentrum für Literaturforschung (Berlin) ein zweitägigerWorkshop unter dem Titel Begriffsgeschichte im Umbruch statt, zu dem Sigrid Wei-gel, Direktorin des Zentrums, und der Herausgeber eingeladen hatten. Ausgangs-punkt der Tagung war die Vermutung, daß der voraussehbare Abschluß derzunächst letzten groß angelegten Begriffsgeschichtsprojekte (der Philosophie,Rhetorik und Ästhetik) keineswegs auch das Ende begriffs- und semantikge-schichtlicher Forschung bedeuten wird. In einer weiteren historischen Perspek-tive sollten deswegen die diskursiven Voraussetzungen der Begriffsgeschichte analysiert, in einer engeren die derzeit vor ihrer Beendigung stehenden diszi-plinären Projekte verglichen, ihre Realisierung an ihren Ansprüchen gemessen,der Forschungsstand und Desiderate der theoretisch-methodischen Debatten sowie begriffsgeschichtliche Experimente gesichtet werden. Vor allem ging es umdie Frage, ob und wie sich der derzeitige kulturwissenschaftliche Umbau der Geisteswissenschaften auf den Gegenstandsbereich und die Methoden von Be-griffsgeschichte und historischer Semantik auswirken könnte. Das betraf insbeson-dere die interdisziplinäre Konfiguration der Gegenstände von Begriffsgeschichtesowie das Verhältnis der herkömmlichen Begriffsgeschichte zur Metaphorologie,Diskursgeschichte, Epistemologie und Sprachpragmatik. Zugleich stand zur Diskussion, ob und wie die neuen Techniken des Computers für die begriffsge-schichtliche Recherche, die Registrierung und vernetzte Darstellung semantischerWissensbestände genutzt werden können. Die Beitragenden waren aufgefordert,ihre methodologischen Überlegungen mit exemplarischen Fallstudien zu ver-binden.

Die Spannbreite der Teilnehmer (aus Philosophie, Germanistik, Linguistik, Ge-schichts-, Kultur-, Kunst- und Literaturwissenschaft) reichte von den Vertreternsolcher Projekte, die direkt in die großen begriffsgeschichtlichen Wörterbücher involviert sind, über ebenfalls zur historischen Semantik arbeitende, aber bislangin die Debatten weniger einbezogene Projekte, wie das Goethe-Wörterbuch, bishin zu solchen, deren experimentierende Ansätze neue, die Begriffsgeschichtsfor-schung bereichernde Gegenstände und Methoden versprechen.

Die Tagung fand eine die Erwartungen der Veranstalter übertreffende Auf-merksamkeit in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit. Daß die Beiträge desWorkshops nun in einem Band publiziert werden können, verdankt sich derfreundlichen Fürsprache des langjährigen Herausgebers des Archivs für Begriffs-geschichte, Gunter Scholtz (Bochum), und der Unterstützung durch die Lektorindes Felix Meiner Verlages, Marion Lauschke, aber auch der Bereitschaft fast allerAutoren, ihre zunächst lediglich als Diskussionsthesen gedachten Beiträge in kur-zer Zeit für den Druck auszuarbeiten. Robert Charlier und Stefan Willer konntennachträglich als Autoren gewonnen werden.

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Silvia Pohl (Berlin) hat die Aufsätze des Bandes redaktionell bearbeitet. DerHerausgeber glaubt auch im Namen der Autoren sprechen zu können, wenn er ihrfür die sorgfältige Redaktion der Texte einen besonderen Dank abstattet.

Ernst Müller, BerlinOktober 2004

Vorwort8

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Einleitung

Ernst Müller

Bemerkungen zu einer Begriffsgeschichte aus kulturwissenschaftlicher Perspektive

Einen historischen Index haben nicht nur die Begriffe, sondern auch die Erfor-schung ihrer Geschichte. Das trifft auf beide, ursprünglich deutsche Ausgangs-punkte der Begriffsgeschichte und historischen Semantik zu: auf das HistorischeWörterbuch der Philosophie (HWPh), Vorbild für Lexika verschiedener geisteswis-senschaftlicher Disziplinen, und auf die Geschichtlichen Grundbegriffe der histo-risch-politischen Sprache in Deutschland. Während letztere sowohl national wie in-ternational methodisch modifizierte Nachfolgeprojekte gefunden haben, ist daskonkurrenzlose HWPh während seiner Realisierung nicht nur hinsichtlich derLemma-Auswahl, sondern auch, was die methodische Konzeption betrifft, konti-nuierlich verändert worden.

Nicht zuletzt beruht die unbestreitbare Erfolgsgeschichte des HWPh darauf,daß die Herausgeber auf eine einheitliche Theorie und Methodologie aus pragma-tischen Gründen weitgehend verzichteten (vgl. den Beitrag von MargaritaKranz in diesem Band). Das als Hilfsmittel viel benutzte HWPh hat deswegen aufdie systematische Philosophie weniger innovativ gewirkt als etwa Reinhart Ko-sellecks Geschichtliche Grundbegriffe auf die Geschichtswissenschaften. Tatsäch-lich hat Joachim Ritter in seinem Vorwort die geisteswissenschaftlichen und her-meneutischen Prämissen nur äußerst zurückhaltend markiert: von der »sichrealisierende[n] Bildung des Geistes« ist die Rede sowie davon, »daß die Philoso-phie im Wandel ihrer geschichtlichen Positionen und in der Entgegensetzung derRichtungen und Schulen sich als perennierende Philosophie fortschreitend entfal-tet«.1 Ritter läßt das Programm weniger als Programm und die Ausschlüsse kaumals Ausschlüsse erkennen, sondern überführt beide in Pragmatik. Obwohl dasHWPh im Grunde weniger Begriffsgeschichte im engeren Sinne bietet, sonderndie Verwendungsgeschichte philosophischer Termini dokumentiert,2 erzeugt dieInvarianz von Termini den Schein einer analogen Kontinuität philosophischer

1 Joachim Ritter: Vorwort. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter. Bd. 1 (Basel 1971) VIf. Zur Kritik des Konzepts von linguistischer Seite vgl. Clemens Knobloch: Überlegungen zur Theorie aus sprach- und kommunikationswissenschaftlicher Sicht.In: Archiv für Begriffsgeschichte 35 (1992) 7–24.

2 Vgl. Winfried Schröder: Was heißt ›Geschichte eines philosophischen Begriffs‹? In: Die In-terdisziplinarität der Begriffsgeschichte, hg. von Gunter Scholtz. Archiv für Begriffsgeschichte,Sonderheft (Hamburg 2000) 159–172.

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Bedeutungen. Auch die Aussparung der Metaphorik wird von Ritter nicht theore-tisch, sondern nur pragmatisch begründet. Dabei ist, wie zeitgleich Hans Blumen-berg gezeigt hat und wie es Stefan Willer im vorliegenden Band noch zuspitzt,der zeichentheoretische Status von Metaphern so umfassend prekär, daß ihre Re-flexion und Einbeziehung ein neues Licht auf die Begriffgeschichte insgesamtwirft.3 Schließlich geht Ritter implizit davon aus, daß Ausgangs- und Endpunktder disziplinären Aufsplitterung der Wissenschaften die Philosophie bleibe. Philo-sophie als Geisteswissenschaft ist Universaldiskurs, wobei impliziert wird, daßauch die Genese wissenschaftlicher Begriffe keiner anderen als der ideenge-schichtlichen Logik folgt.

Diese vor 35 Jahren noch weithin akzeptierten, im weiteren Sinne geisteswis-senschaftlichen und hermeneutischen Voraussetzungen, sind gerade im letztenJahrzehnt einer prinzipiellen Neuorientierung gewichen, die nun als kulturwissen-schaftlicher Umbau der Geisteswissenschaften gefaßt wird. Begriffsgeschichte istdabei auch zu einem genuinen Thema der Literaturwissenschaft geworden, weil siees mit Sprache in ihrer Entwicklung zu tun hat und philologisch arbeitet. Wenn imfolgenden, trotz der Vagheit dessen, was heute darunter verstanden wird, von ei-nem positiven Begriff von Kulturwissenschaften ausgegangen wird, dann durchausin dem Bewußtsein, daß sich solche Bezugnahme zwischen der Charybdis traditio-neller Geisteswissenschaften und der vielköpfigen Szylla modischer Trends be-wegt. Es gibt aber Hinweise dafür, daß die Kulturwissenschaften nicht nur an Be-griffsgeschichte interessiert sind, sondern die von ihnen in den Blick genommenenGegenstände und Methoden befruchtend auf die Begriffsgeschichte zurückwirkenkönnen. Anknüpfend an jüngere Arbeiten4 betrifft das 1. die interdisziplinäreKonfiguration der begriffsgeschichtlichen Gegenstände, insbesondere die Einbe-ziehung der (Natur-)Wissenschaften und Künste, 2. die Verbindung von Begriffs-geschichte und historischer Semantik, 3. die Erweiterung der Begriffsgeschichteum Diskursgeschichte und die rhetorische Seite der Begriffe, insbesondere die me-taphorische, und 4. das Bewußtsein der medialen Verfaßtheit von Wissensregistern.

I. Interdisziplinäre Konfiguration der Gegenstände der Begriffsgeschichte

Während die wichtigsten geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen inzwi-schen die Geschichte ihrer Begriffe reflektiert haben, hat der seit dem 19. Jahr-hundert gerade in der deutschen Entwicklung anhaltende Methodendualismus zwischen ideographisch-historischen Geistes- und nomothetisch konzipierten

Einleitung10

3 J. Ritter konzediert mit Hans Blumenberg, daß die Einbeziehung der Metaphern an die»Substruktur des Denkens« heranführen würde, J. Ritter: Vorwort, a. a.O. [Anm. 1] IX.

4 Vgl. Die Interdisziplinarität der Begriffsgeschichte, hg. von Gunter Scholtz, a. a.O.[Anm. 2]; Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metapherngeschichte, hg. von Hans Erich Bödeker (Göttingen 2002); Herausforderungen der Begriffsgeschichte, hg. von Carsten Dutt(Heidelberg 2003).

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Naturwissenschaften dazu geführt, daß die historische Semantik der Naturwissen-schaften bislang kaum erforscht worden ist. Rückblickend läßt sich feststellen, daßdie methodische Ausprägung der philosophischen Begriffsgeschichte historisch na-hezu parallel mit ihrer geistesgeschichtlichen Verengung verlief. Ernst Cassirer,Lehrer Joachim Ritters, hatte die historische Semantik zwar als Methode mit um-fassendem Anspruch konzipiert. Gerade aber der heute für die kulturwissenschaft-liche Öffnung der Begriffsgeschichte wiederholt in Anspruch genommene Satz ausdem Essay of Man: »Die Regeln der Semantik, nicht die Naturgesetze, liefern dieallgemeinen Grundsätze für das historische Denken«,5 kann in seiner Oppositions-bildung verdecken, daß die Naturgesetze ebenso ihre historische Semantik haben,wie umgekehrt andere kulturelle Diskurse vielfach ihre Semantik den Naturwis-senschaften entlehnen. Dabei verkennt eine (mehr oder weniger implizite) Unter-scheidung von Fakten und ihrer Interpretation, daß bereits die Formierung vonFakten in einem diskursiven Feld stattfindet. Während es der lange von der Ideen-und Terminologiegeschichte dominierten Begriffsgeschichte in Deutschland nurmühsam zu gelingen scheint, ihre geistesgeschichtliche Herkunft (im Anschluß anden Dilthey-Schüler Erich Rothacker und an Hans-Georg Gadamer) abzule-gen, so hat sich unabhängig davon die französische Wissenschaftsgeschichte frühauf die Syntagmatik synchroner Diskurse und ihre Brüche konzentriert, wobeiwiederum die Diachronie der Begriffsentwicklung oft ausgeblendet wird.6

Wenn Ritter davon ausging und dieses Prinzip im HWPh auch praktisch umge-setzt wurde, daß die verschiedenen Verwendungsweisen von Begriffen, »die sowohl in der Philosophie wie in fachwissenschaftlichen Disziplinen ihren Ort ha-ben, und ebenso Begriffe, wie ›Feld‹, ›Struktur‹ u. a., die in verschiedenen Wissen-schaften eine tragende, aber durchaus differenzierte Bedeutung haben«,7 jeweilsin getrennten Abschnitten darzustellen seien, dann wird nicht nur das historisch-genetische Prinzip durchbrochen, sondern es werden gerade die für diese verschie-denen Verwendungsweisen interessanten Phänomene der semantischen Übertra-gung ausgeblendet. Gleichwohl hat gerade die Begriffsgeschichte, in der sichzunehmend internationale Standards durchgesetzt haben, der kulturwissenschaft-lichen Wende zugearbeitet: indem sie antiteleologisch ein verstärktes Bewußtseindavon entwickelt hat, daß sämtliche Wissensformen historisch erzeugt sind. Dermethodische Dualismus von Natur- und Geisteswissenschaften kann unterlaufenwerden, wenn die ›harte Ontologie‹ (Dietrich Busse) der Naturwissenschaftenbezogen auf die Historizität ihrer Semantik nicht anders als die Gegenstände derGeisteswissenschaften behandelt wird. Dennoch ist ein historisch-semantischerAnsatz, der, dezidiert interdisziplinär, den Akzent auf semantische Übergänge, auf

E. Müller · Begriffsgeschichte aus kulturwissenschaftlicher Perspektive 11

5 Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur.A. d. Engl. übers. von Reinhard Kaiser (Hamburg 1996) 297.

6 Vgl. Friedrich Balke: Das Ethos der Epistemologie (Nachwort). In: Gaston Bachelard: Epi-stemologie (Frankfurt a. M. 1993) 235–252.

7 J. Ritter: Vorwort, a. a.O. [Anm. 1] X.

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disziplinenübergreifende Begriffe und die Semantik der Naturwissenschaften legen würde, ein Desiderat. Es ginge dabei um solche Konfigurationen von Gegen-ständen und ihren zugehörigen Praktiken, die quer zu den bestehenden Diszipli-nen stehen. Die vorliegenden Wörterbücher leisten das bestenfalls für die Zeit, inder sich die Einzeldisziplinen noch unter dem Dach der Philosophie entwickelten,also vor der Ausdifferenzierung der modernen Wissenschaften.

Umgekehrt gibt es in der Wissenschaftsgeschichte (der französischen Traditionvon Gaston Bachelard, Georges Canguilhem bis Michel Foucault) methodi-sche Ansätze, die Geschichte der Epistemologien von der ›Genealogie der Begrif-fe‹ her zu entwickeln.8 Und auch hierzulande wendet sich die Wissenschaftsge-schichte zunehmend der Historisierung gerade derjenigen Begriffe zu, die dieDichotomie von Natur- und Geisteswissenschaften verfestigt haben.9

Was mit der interdisziplinären Konfiguration der Gegenstände und der Unter-suchung ihrer historischen Semantik an der Schnittstelle von Natur und Kultur gemeint ist, läßt sich exemplarisch an Figuren zeigen, die am Zentrum für Litera-turforschung bearbeitet werden. Das Projekt Generation, Genealogie etwa ver-anschaulicht, wie mit der Zäsur des Übergangs von der Präformationslehre zur Epigenesis ›Genealogie‹ zu einem zentralen Dispositiv für Biologie und Zeu-gungslehre wird, während gleichzeitig eine Familialisierung des ›Generationen‹-Begriffs erfolgt, die das heutige soziologische Konzept präfiguriert; die semanti-sche Dimension von Generation als mythologisches Narrativ, als zyklischesZeitmodell und als Repräsentation von Verwandtschaftsordnungen verschwindetdabei. Das Projekt zu Erbe, Erbschaft wiederum zeigt, wie heute unterschiedli-chen Fächern (Biowissenschaften, Recht, Soziologie, Ökonomie, Ethnologie, Ge-schichtswissenschaft, Literatur- und Kunstwissenschaft) zugeordnete Phänomeneineinander verschränkten Umbrüchen von Vorstellungen und Praktiken um 1800entsprangen: als Naturalisierung und ›Verinnerlichung‹ der Vererbung, als Kodifi-zierung des Erbrechts, als Futurisierung des Lebens, als Politisierung und Nationa-lisierung des kulturellen Erbes und als Familialisierung und Individualisierung.

Die interdisziplinäre Konfiguration der begriffsgeschichtlichen Gegenständeöffnet sich aber nicht nur der Wissens- und Wissenschaftsgeschichte, sondern auch– jenseits der Textmedien – den Archiven der Ikonologie. Anknüpfend an AbyWarburgs Mnemosyne-Projekt, aber auch an Horst Bredekamps Studien zumZusammenhang zwischen Bild und Philosophie wäre, neben der generellen Pro-blematik der Metaphorik, deren Zusammenhang mit anderen Formen der bild-lichen Repräsentation zu eruieren. Ins Zentrum der kulturwissenschaftlichen Per-

Einleitung12

8 Georges Canguilhem: Die Geschichte der Wissenschaften im epistemologischen Werk Gaston Bachelards. In: ders.: Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie. Gesammelte Aufsätze,hg. von Wolf Lepenies (Frankfurt a. M.1979) 17.

9 Vgl. etwa Lorraine Daston / Peter Galison: Das Bild der Objektivität. In: Ordnungen derSichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, hg. von Peter Geimer (Frankfurta. M. 2002) 29–99.

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spektive rückt dabei die Frage, was an der Grenze zwischen Sprachlichem undNichtsprachlichem, Material und Bedeutung, Sachen und Wörtern passiert.10 Imvorliegenden Band bezieht der Berliner Kunstwissenschaftlers Klaus Krüger be-griffsgeschichtliche Methoden auf die bildenden Künste, d.h. auf einen Gegen-standsbereich, der gemeinhin als begriffslos par excellence gilt.11 Indem er in einer– bislang weithin ungeschriebenen – Begriffsgeschichte von Palimpsest zeigt, wieder Begriff, der aus der bildendenden Kunst stammt, seine theoretische Karriereaber in der Literaturwissenschaft gemacht hat, nun auf die visuellen Künstezurückwendet werden kann, also einen mehrfachen Registerwechsel vornimmt,versucht Krüger semantische Beziehungen zwischen Dokumenten der Kunstge-schichte und verschiedenen Medien aufzuweisen. Warburgs Idee des Bilderatlas-ses wird so in einem nicht nur semiotischen, sondern auch die ästhetische Erfah-rung umfassenden Sinne aufgenommen.

Die kulturwissenschaftliche Perspektive verschiebt also insgesamt die Gegen-standsebene der Begriffsgeschichte: von der Wissenschaft zum Wissen, von derÄsthetik zu den Kunstwerken, von der Theorie zu Praktiken und Techniken, vonder Schrift zu anderen Medien, von den absoluten Metaphern zum metaphorologi-schen Denken und den Referenzen, auf die sie sich beziehen.

II. Verbindung von Begriffsgeschichte und historischer Semantik

Eine ebenso auf Wissen, statt allein auf Wissenschaft zielende Begriffsgeschichtehätte sich nicht nur auf andere Textsorten zu beziehen. Sie könnte auch die Dicho-tomie zwischen der bislang allein auf die politisch-soziale Semantik bezogene The-matisierung der Alltagswelt und die nach dem Vorbild des HWPh praktizierte Ter-minologiegeschichte überbrücken, deren Tendenz zur ›Gipfelwanderung‹ anhandkanonisierter philosophischer Großdenker vielfach kritisiert wurde; zumal sich inmodernen Gesellschaften Macht nicht nur über den explizit politisch-sozialenSprachgebrauch, sondern wesentlich auch über Wissen etabliert.12 Im vorliegen-den Band konkretisiert Martin Wengeler (Düsseldorf) das Konzept sprachprag-matisch orientierter und topologischer Argumentationsanalyse am Beispiel zen-traler Begriffe der bundesrepublikanischen Semantik (soziale Marktwirtschaft).Wie eng verflochten wissenschaftliche und gesellschaftliche Allgemeinlogiken aufdie Formung von Begriffen wirken, so daß ihre Veränderungen nur mittels einer

E. Müller · Begriffsgeschichte aus kulturwissenschaftlicher Perspektive 13

10 Monika Wagner: Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne (München2001).

11 Beim Berliner Workshop hatte der Zürcher Musikwissenschaftler Laurenz Lütteken einparalleles Unternehmen zur historische Semantik in der Musik vorgestellt, das demnächst separatin der Reihe Historische Semantik, hg. von Gadi Algati / Klaus Krüger / Ludolf Kuchenbuch, beiVandenhoeck publiziert wird.

12 Im Anschluß an Kurt Röttgers: Spuren der Macht. Begriffsgeschichte und Systematik(Freiburg, München 1990).

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präzisen Analyse politischer und ökonomischer Diskurse erkennbar werden, zei-gen – an weit auseinander liegenden Beispielen – der Sprachwissenschaftler Cle-mens Knobloch (Siegen) für die ›semantische Verkörperung‹ von ›Rasse‹ in denGeisteswissenschaften sowie Michael Niedermeier für das Goethische gotisch-gothaisch, d.h. den Zusammenhang zwischen dem ästhetischen Begriff ›gotisch‹und Goethes Bestreben, die Genealogie der Gothaer Herzöge von den Goten zustützen.

Dabei ließen sich – anschließend an Ludwik Fleck13 – unterschiedliche Ebe-nen der Wissensrepräsentation unterscheiden: semantische Verschiebungen beimTransfer zwischen hochgradig formalisierten Wissenschaftssprachen und deren Po-pularisierungen (von Lehrbüchern bis zum Wissenschaftsfeuilleton). Zu vermutenist, daß vor allem in diesem Vermittlungsprozeß interdiskursive, metaphorischeBedeutungen produziert werden. Dabei kann auch an Überlegungen Peter Gali-sons zu Kreolismen in der Kontaktzone unterschiedlicher Wissenstraditionen an-geknüpft werden.14

Auch ›Kulturwissenschaft‹ ist ein Beispiel für die terminologiegeschichtlichkaum zu rekonstruierende Genese von Grundbegriffen, die nur in ihrer Einheitvon (politisch-) sozialer Sprache und Wissen zu erfassen ist. Das HWPh führt zwarim vierten Band ›Kulturgeschichte‹ und ›Kulturanthropologie‹ auf, Kulturwissen-schaft aber hat keinen eigenen Eintrag. Sicher wird auch ›Kulturwissenschaft‹ ineiner verbesserten Neuauflage »vor das Forum der geschichtlichen Tradition« ge-stellt werden.15 Ein solcher Artikel würde sicher (was prinzipiell schon 1976 mög-lich gewesen wäre) u. a. vergegenwärtigen, das bereits Heinrich Rickert den Be-griff in Unterscheidung zur Naturwissenschaft verwendet hat. Und doch ginge daswesentlich Neue in dieser Rückbindung verloren. Diente ›Kulturwissenschaft‹ ei-nem liberalen Bildungsbürgertum noch dazu, ›Individuen‹ und ›Werte‹ gegenüberden positivistischen Naturwissenschaften zu akzentuieren, so avanciert der Begriff(wo er nicht etwa nur einen neuen Kulturkreis-Chauvinismus bezeichnet) heuteauch in einem Kontext, in dem es den zunehmend marginalisierten Geisteswissen-schaften um die Partizipation an den dominierenden, weil verwertbaren Natur-,Technik- und Medienwissenschaften, also um institutionelle Macht- und Ressour-cenverteilung um den Preis der Verabschiedung sozialhistorischer und politischerFragen geht. Dabei lebt der Begriff davon, daß er, obwohl er als Titel inzwischenschon ganze Handbücher füllt, vage, begrifflich keineswegs festgestellt, damithochgradig umstritten, deswegen aber auch diskursiv lebendig ist. Natürlich gibt esnamhafte Stichwortgeber (auf die künftige Wörterbücher zurückgreifen werden),

Einleitung14

13 Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführungin die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv [1935] (Frankfurt a. M. 1980).

14 Vgl. Peter Galison: Materielle Kultur, Theoretische Kultur und Delokalisierung. In: Kunst-kammer, Laboratorium, Bühne. Schauplätze des Wissens im 17. Jahrhundert, hg. von HelmarSchramm (Berlin, New York 2003).

15 J. Ritter mit Hans-Georg Gadamer: Vorwort, a. a.O [Anm. 1] VII.

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aber die Logik seines Aufstiegs wird letztlich nur nachvollziehen können, wer an-dere Textsorten einbezieht, die, wie Feuilleton oder Drittmittelanträge, einen eherseriellen Charakter haben.

Dieser offenbar unvermeidliche Aufstieg von Begriffen zu diskursiver Machtund Geltung ist nun gerade nicht etwas, wovon sich seriöse Begriffshistoriker mitdégoût abzuwenden hätten, sondern vielleicht sogar die Form, in der sich – wasdann etwas euphemistisch klingt – Begriffe als ›Denkmäler von Problemen‹(Theodor W. Adorno), nämlich von gesellschaftlichen Debatten konstituieren.Bezogen auf eine kulturwissenschaftlich orientierte Begriffsgeschichte könnte das,kritisch und reflexiv gewendet, zunächst heißen: die historische Semantik hat da-von auszugehen, daß der Diskurs die Gegenstände erst bildet, von denen er spricht(Ralf Konersmann) – und zwar auf einer Ebene, die von den Wissensbereichenselbst meist unzureichend reflektiert wird. Sie unterstellt die Begriffe nicht alsSubjekte, sondern beobachtet und reflektiert, wie und von wem Bedeutungen kon-stituiert werden. Wenn dagegen die sozialen Bedingungen, die Diskursstrategiender Akteure etc. ausgeblendet werden, dann gleicht die isolierte Geschichte vonBegriffen der Übertragung eines Fußballspiels, bei dem einzig die Bewegung desBalls, aber weder die Mannschaften, Spieler und Schiedsrichter, noch die Regeln,noch das Publikum und die Medien sichtbar sind. Eine kulturwissenschaftlichePerspektive ist, wie die Begriffsgenese, durchaus konstruktiv, indem sie das Selbst-verständnis einer Epoche überschreitet und Verbindungen, Felder, Serien, Spurenund Streuungen beschreibt, die nicht mit einer ideengeschichtlichen Rekonstruk-tion der Begriffe zusammenfallen. Wenn Begriffsgeschichten in Narration, Mate-rialbasis, Ausschlüssen und methodischen Zugängen notwendig kontingent sind(Konersmann), wäre neben der Frage, ›wie Begriffe entstehen‹, auch diejenige zuthematisieren, wie ihre Geschichte erzählt wird. Die lexikalische Form scheint da-gegen geradezu eine Schreibweise essentieller Geschichten gesicherten Wissens zuerzwingen. Die auch in vielen Beiträgen dieses Bandes praktizierte Synthese vonbegriffsgeschichtlicher Arbeit und methodischer Reflexion wäre insofern durch-aus verallgemeinerbar.

Die Abkehr von der ›Höhenkammlinie‹ (Rolf Reichardt) der Begriffsge-schichte müßte sich zugleich dem Problem der Verlaufsform von Begriffsgeschich-ten stellen: den für die Wissenschaftsgeschichte wichtigen Brüchen, Diskontinuitä-ten, Schwellenzeiten, der Sprengung traditioneller Epistemologien, also derÜberwindung des »Axioms der Kontinuitisten«,16 aber auch der in Begriffsge-schichten oft ausgeblendeten Dimension der Verbreitung und Reichweite von Be-griffen (zu statistischen Methoden der Lexikometrie vgl. Gunter Scholtz). DieArtikelstruktur des HWPh, philosophische Termini auf ihre antiken Wurzelnzurückzuführen, suggeriert den Schein einer philosophia perennis und verdecktden diskontinuierlichen Verlauf von Begriffsgeschichten. Das umgekehrte Verfah-ren der Ästhetischen Grundbegriffe, selbst bei eindeutig historischen Grundbegrif-

E. Müller · Begriffsgeschichte aus kulturwissenschaftlicher Perspektive 15

16 G. Canguilhem: Die Geschichte der Wissenschaften, a. a.O. [Anm. 8] 18.

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fen, von der aktuellen Problemlage auszugehen, birgt dagegen die Gefahr in sich,geschichtliche Brüche von der Gegenwart her einzuebnen und kann erneut zu ei-ner teleologischer Betrachtungsweise führen (etwa hin auf eine postmoderne Ge-mengelage, die sich auch sehr schnell wieder als historisch erweisen kann).

Interessant erscheint die Begriffsgeschichte vor dem ›Sprung auf die Bühne desWissens‹ (Foucault). Wenn ein Begriff fachwissenschaftlich geadelt und domesti-ziert wird, hat er seine diskursive Funktion meist schon verloren – deren Verlaufaber erscheint oft erst dann in den Wörterbüchern. Schließlich: Wie kann derÜbergang von Begriffen in eine andere Terminologie dargestellt werden? Wie ver-schwinden Begriffe? Gehört die Darstellung der Semantik des Vergessenen, Ver-drängten, Unbewußten, der blinden Flecke zur Begriffsgeschichte? Sich diesenFragen zu stellen, würde wohl bedeuten, daß Begriffsgeschichte nicht mehr vonTermini, sondern von einem semantischen Feld (unterschiedlicher Begriffswörter)ausgehen müßte. Das hieße zugleich, die vielfach kritisierten Zwänge einer alpha-betischen Ordnung aufzugeben.17

III. Diskursgeschichte und rhetorische Figuren

Umstritten ist, ob sich die im Zuge der Erforschung von Epistemologien in denBlick genommene synchrone Syntagmatik (Diskursgeschichte) mit der diachronenPerspektive der historischen Semantik verbinden läßt (vgl. dazu Busse im vor-liegenden Band). Wird letztlich die Differenz zwischen Begriffsgeschichte und Diskursgeschichte nicht ganz einzuebnen sein, so gibt es dennoch Anlaß zu derVermutung, daß mit der kulturwissenschaftlichen und wissensgeschichtlichen Per-spektivierung der Begriffsgeschichte solche Dichotomien in Frage gestellt werdenkönnen. Einen interessanten Zugang dazu liefert etwa Foucault im Anschluß anCanguilhem: Wenn er die Trias Irrtum (zugleich Ausschluß, Normierung) – Leben– Begriff der geisteswissenschaftlichen Trias: Wahrheit – Präsenz – Subjekt entge-gensetzt, dann bezeichnet das die gegenüber den Geisteswissenschaften (ein-schließlich der ideengeschichtlich orientierten Begriffsgeschichte) veränderte Per-spektive. Zugleich betont Foucault die katalytische Funktion der (definierten)Begriffe für die Formierung von Epistemologien.18 Die Schwelle eines über Begriffe formierten Gegenstandes ist dann aber nicht anders als begriffsgeschicht-lich zu eruieren. Für die Wissen(schafts)geschichte wäre es wichtig, diejenigen –

Einleitung16

17 Eine Verabschiedung der alphabetisch-lexikalischen Ordnung legen auch Dietrich Busseund Margarita Kranz nahe. Vgl. für die Sozialgeschichte Rolf Reichardt: Wortfelder – Bilder –semantische Netze. Beispiele interdisziplinärer Quellen und Methoden in der Historischen Seman-tik. In: Die Interdisziplinarität, a. a.O. [Anm. 2] 111–113.

18 Michel Foucault: Vorwort zu Georges Canguilhem ›On the Normal and the Pathological‹.In: ders.: Schriften in vier Bänden – Dits et Écrits, hg. von Daniel Defert u. a., Bd. 3 (Frankfurt a. M.2003) 551–567.

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begriffsgeschichtlich oft nicht geadelten oder geistesgeschichtlich verstellten – Be-griffe herauszuheben, deren Semantik Katalysator für die Formierung von Episte-mologien ist und die die Wissenschaften unterhalb des Generalisierungsgrades derPhilosophie verbinden. Oft handelt es sich dabei um solche Begriffen, die gar nichtzu Grundbegriffen wurden und dennoch epistemisch eine katalytische Funktionhatten (z. B. Ansteckung, Entropie, Information, Perspektive, Reflex).

Abgesehen von der Diskursgeschichte rückt derzeit die Metaphorik ins Zen-trum der Debatten um die Begriffsgeschichte. Neben Willers Prolegomena zu ei-ner Begriffsgeschichte von Metapher stellt Helmut Hühn im vorliegenden BandÜberlegungen zur Metapher ›Osten–Westen‹ vor, wobei er zugleich Verbindungenzu Methoden sozialhistorischer Semantik zieht. Dabei wäre zu klären, ob diezunächst ausgesparte Metapherngeschichte gleichsam als Supplement zu beste-henden Begriffsgeschichten zu thematisieren ist oder ob nicht vielmehr der Blickauf die figurale und tropische Verfaßtheit der Sprache zugleich die traditionelle,von ihr zunächst getrennt behandelte Begriffsgeschichte verändert. Vermeintlichscharf definierte Begriffe tragen Restbestände ihrer Ursprungsmetaphorik mitsich und in ursprünglichen Metaphern sind Bedeutungen angelegt (oder ausge-schlossen), die die Begriffsentwicklungen präformieren können. Entlehnungenund Registerwechsel bleiben den Begriffen offenbar nicht äußerlich, ihr semanti-scher Inhalt verweist nicht selten auf denjenigen Gehalt, der im terminologisiertenBegriff verschwindet. Wenn etwa Immanuel Kant in der Kritik der reinen Ver-nunft den erkenntnistheoretisch zentralen Begriff der Deduktion zugleich demRechtsdiskurs entlehnt und in Analogie zur Epigenesis (gegen die Präformations-theorie) entwickelt, dann sind dies mehrfache Übersetzungen, wobei die Übernah-me der Regel eines anderen Diskurses die Lösung des Erkenntnisproblems selbstmitformt.

Ein Metaphernlexikon müßte entweder alle Begriffe noch einmal aufnehmenoder (im Sinne von Blumenbergs philosophisch-theologisch aufgeladenen ›abso-luten Metaphern‹) selektiv verfahren. Willer fragt in seinem Beitrag, ob die ge-nuine Relationalität von Metaphern es überhaupt erlaubt, sie zu ›Subjekten‹ (oderStichwörtern) einer Begriffsgeschichte zu machen. Wie er mit Nietzsche undDerrida zeigt, ist die Trennung zwischen eigentlicher und uneigentlicher Sprachenicht ohne metaphysische Voraussetzungen zu haben.

Ist ›Figur‹ in den letzten Jahren in ihrer Repräsentationsfunktion, weniger in ihrer Beziehung zur Begriffsgeschichte reflektiert worden,19 so arbeiten geradeKultur-, Literaturwissenschafts- und Wissenschaftshistoriker nicht selten anstelledes privilegierten Begriff-Begriffs mit dem der (Denk-)Figur. Während Begriff(mit seiner Herkunft von logos, idea) eher auf invariante geistige Bedeutungen

E. Müller · Begriffsgeschichte aus kulturwissenschaftlicher Perspektive 17

19 Eine interessante Ausnahme ist Horst Günther: Freiheit, Herrschaft und Geschichte.Semantik der historisch-politischen Welt (Frankfurt a. M. 1979) 12f., der in den Begriffsgeschich-ten von milieu/ambiance (Leo Spitzer) bzw. figura (Erich Auerbach) zugleich alternative Geschichtsmodelle und Narrationsmöglichkeiten von Geschichte erkennt.

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zielt und eine Teleologie präzisierter Terminologisierung aufruft, ist ›Figur‹ als al-ternatives Instrument zur Bedeutungserfassung weniger in der idealistischen Tra-dition verortet. ›Figur‹ könnte zu einem heuristischen interdisziplinären Instru-ment werden, mit dem sich die Dichotomien von Begriff, Metapher, Diskurs undSprachpragmatik unterlaufen läßt, um insbesondere semantische Transfers, Regi-sterwechsel und Übersetzungen zwischen verschiedenen Wissensbereichen zu erfassen. ›Figur‹ ist nicht bestimmten Diskursen zugeordnet (wie der Begriff tradi-tionell der Philosophie und Wissenschaft, die Metapher dem literarisch-ästheti-schen Diskurs) und erlaubt durch ihre Bedeutungsgeschichte unterschiedlichsteZugriffsmöglichkeiten, sie ist »offener Schauplatz von Darstellung und zugleichderen theoretischer Reflexion«.20 ›Figur‹ (griech. typos) steht im Spannungsfeldvon antiken und christlich-jüdischen Deutungstraditionen und vereint theologi-sche, rhetorische, bildliche, poetische, ästhetische, performativ-theatralische undräumlich-bewegungstechnische Bezüge.21 In ihrer säkularen Interpretation ermög-licht ›Figur‹, Walter Benjamins antihistoristischem dialektischen Bild vergleich-bar, eine nicht-hermeneutische Lektüre, insofern die Deutung der Geschichte alsihre Umschreibung immer (auch) eine Konstruktion von der Gegenwart her ist.22

IV. Registrierung von Wissen und neue Medien

Durch die neuen medientechnischen Speicher- und Recherchemöglichkeiten (sta-tistische, korpuslinguistische Verfahren) wird die Frage zugespitzt, ob und wie seri-elle, vernetzte, in erheblicher Streubreite vorliegende Okkurenzen synthetisiertund in semantische Formen überführt werden können. Beim Workshop legte derMediävist Bernhard Jussen erste Experimente mit korpuslinguistischen, statisti-schen Wortfeldanalysen mittelalterlicher Texte vor, bei denen er – abseits von Her-meneutik und Interpretation – die Relevanz theoretischer Probleme empirisch zuverifizieren versuchte. Zwar setzt vorerst auch die Digitalisierung die Konzentrati-on auf klassische ›Volltexte‹ fort, doch ist es offenbar nur eine Frage der Zeit, bisauch andere Textsorten verfügbar sind. Überspitzt gesagt, ermöglicht der Compu-ter, daß heute jeder Autor mit seinen ins Netz gestellten Texten wie ein Klassikerrecherchierbar ist. Wer sich heute über die historische und gegenwärtige Begriffs-verwendung kundig machen will, verwendet nicht allein die einschlägigen Wör-terbücher. Überraschender sind oftmals (kombinierbare) Recherchen mit denSuchmaschinen des Internets. Neben ›Rauschen‹ verdeutlichen gerade deren Er-

Einleitung18

20 De figura. Rhetorik – Bewegung – Gestalt, hg. von Gabriele Brandstetter / Sybille Pe-ters (München 2002) 8.

21 Vgl. Erich Auerbach: Figura. In: ders.: Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie(Bern, München 1967) 55–92.

22 In diesem Sinne auch E. Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländi-schen Theorie (Bern, Stuttgart 1988) 510.

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gebnisse, daß das hierarchisch geordnete, disziplinäre Wissen einer anderen Struk-tur gewichen ist (die nur seriell zu erfassen wäre). Daß diese Fülle von Okkurren-zen keineswegs nur ein Segen ist und sich der Turmbau von Babel und eine baby-lonische Sprachverwirrung wechselseitig steigern können, sich also das Problemeiner (menschlichen, d.h. endlichen) Synthese und Interpretation erneut und sogarverstärkt stellt, zeigt Gunter Scholtz in seinem Beitrag.

Abseits der technischen Frage stellt sich die nach dem historischen Index derOrdnung und Registrierung des Wissens.23 Welche (realisierbare) Ordnung desWissens wäre – nach Enzyklopädik und Lexikalik – der kulturwissenschaftlich-in-terdisziplinären Orientierung und den neuen Kommunikationsmedien angemes-sen? Funktionen der digitalen Technik (Hyperlinks, Volltextangebote etc.) bietengegenüber den Printmedien bessere Möglichkeiten, um die oft kritisierte, weiläußerliche alphabetische Ordnung als klassisches Register (dazu Dieter Kliche)zu durchbrechen.

Dabei wird die Vermutung, daß es eine Konvergenz zwischen Wort- und Be-griffsfeldanalysen mit der entstehenden Computertechnik gab, dadurch bestätigt,daß das Goethe-Wörterbuch bereits seit den 40er Jahren mit Computertechnikengearbeitet hat. Heute rückt die Idee, daß verschiedene Wörterbuchprojekte mitihren teils sich ergänzenden, teils sich überschneidenden Wissensbeständen undauch pluralen Methoden schrittweise in einem gemeinsamen Internetportal ver-bunden werden können (Niedermeier, Robert Charlier), in greifbare Nähe. DasGoethe-Wörterbuch, das bislang in den methodischen Debatten zur Begriffsge-schichte weniger Bedeutung hatte, überschreitet durch die neuen Techniken be-reits die Grenzen zwischen Begriffsgeschichte und Wortverwendung. Charliermacht, wo sonst vor allem ein Bruch konstatiert wird, auf erstaunliche strukturelleKonvergenzen zwischen den Lexika und Thesauren des lexikalischen Gutenberg-und des vernetzten Computerzeitalters sowie auf die Konventionalisierung szienti-stischer Prinzipien im Netz aufmerksam.

Wenn der vorliegende Band den Titel Begriffsgeschichte im Umbruch? mit ei-nem Fragezeichen versieht, dann auch deswegen, weil bereits die Tagung keines-wegs eine Dichotomie vom ›Ende‹ der Begriffsgeschichte und einem fröhlichen›weiter so!‹ erkennen ließ.24 In ihrer Gesamtheit zeigen die Beiträge, daß es dabeiaber weder um das bloß additive Ausfüllen von Lücken gehen kann noch um an-gestammte Rechte, noch um eine durch redaktionellen Pragmatismus zu ersetzen-de Theorieenthaltsamkeit, aber auch nicht um eine verbindliche Metatheorie. Ver-schiedene Disziplinen und Interessen, sogar einzelne Begriffgeschichten erfordern

E. Müller · Begriffsgeschichte aus kulturwissenschaftlicher Perspektive 19

23 Vgl. Andreas B. Kilcher: Mathesis und poiesis: Enzyklopädik der Literatur 1600 bis 2000(München 2003).

24 Vgl. auch die Tagungsberichte von Michael Niedermeier: Begriffsgeschichte im Umbruch.In: Circular. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften 8 (2004) H. 29/Juli, S. 29, so-wie von Carlos Spoerhase: Begriffsgeschichte im Umbruch (Fachtagung in Berlin vom 20.–21. 2.2004). In: Zeitschrift für Germanistik, N.F. 3 (2004) 626–628.

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einen ›Pluralismus der Methoden und Perspektiven‹ (Konersmann) oder ein ›ge-schmeidiges Regelwerk, eine ›regula lesbia‹ (Kranz). Dies eröffnet Räume fürunterschiedliche Richtungen wie Projekte, die miteinander kooperieren und nichtnur konkurrieren könnten.

Einleitung20

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Praxis und Methode

Ralf Konersmann

Wörter und SachenZur Deutungsarbeit der Historischen Semantik

Der Weltgeist ist toleranter als man denkt.

(Goethe an Reinhard, 12. Mai 1826)

Zu den fruchtbarsten Initiativen, die in der jüngeren Vergangenheit aus dem Kreisder geisteswissenschaftlichen Fächer hervorgegangen sind, gehört die Begriffsge-schichte. Das längst auf mehrere Disziplinen und auch international verbreiteteInteresse am Bedeutungswandel theoriesprachlich konventionalisierter Formelnentstammt ursprünglich einem Fach, von dem man es am wenigsten erwartet hätte:der traditionell auf Abschlußgedanken abonnierten Philosophie.

Am Anfang stand die Initiative des Baseler Verlagshauses Schwabe, das denNachdruck des letztmals in den zwanziger Jahren erschienenen Wörterbuchs derphilosophischen Begriffe von Rudolf Eisler ins Auge gefaßt hatte. Leise Zweifelan der Zeitgemäßheit des Vorhabens wurden rasch bestätigt und zwangen zu ei-nem aktualisierten Entwurf. Das Ergebnis war das Historische Wörterbuch derPhilosophie, das, unter der Verantwortung Joachim Ritters, als Neuausgabe desEisler angelegt war. Die einstweilen in ihren Anfängen stehende begriffsge-schichtliche Forschung, so der auf Integration bedachte Vorsatz der ersten Stunde,»gelte es, als perennierende Philosophie« fortschreitend zu entfalten, und ebenso»die geschichtliche Prägung und Bildung« des philosophischen Gegenstandes insBewußtsein zu heben.1 Ausdrücklich sprach der Herausgeber sich dafür aus, dieEntscheidung zwischen einem eher cartesianisch-systematischen und einem ehergeschichtlichen Philosophieverständnis, deren Grundspannung zehn Jahre zuvorHans Blumenberg herausgestellt hatte,2 im Rahmen der redaktionellen Belangedes Wörterbuchs nicht weiter zu vertiefen, sondern offenzuhalten.

1 Joachim Ritter: Vorwort. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Rit-ter / Karlfried Gründer. Bd. 1 (Basel, Stuttgart 1971) VII – Die Grundspannung deutet auf das spä-testens seit Wilhelm Windelband geläufige »Dilemma« der Philosophiegeschichte, zwischen Ge-nesis und Geltung, zwischen Historismus und Präsentismus einen philosophisch befriedigendenAusgleich finden zu müssen. Vgl. Ulrich Johannes Schneider: Die Theorie der Philosophiege-schichte. In: Philosophiegeschichte und Hermeneutik, hg. von Volker Caysa / Klaus-Dieter Eichler(Leipzig 1996) 46–69.

2 Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie [1960] (Frankfurt a. M. 1998).

Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2005 · ISBN 3-7873-1693-0

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Das ist nun beinahe ein halbes Jahrhundert her. Inzwischen ist nicht nur derAbschluß des mittlerweile auf zwölf Bände angewachsenen Historischen Wörter-buchs in Reichweite, im Laufe der Zeit sind auch eine Reihe von Parallelgründun-gen erfolgt, die das methodologische Profil der Begriffsgeschichte weiter geschärftund erheblich differenziert haben. Die Geschichtlichen Grundbegriffe unter derHerausgeberschaft Otto Brunners, Werner Conzes und Reinhart Kosel-lecks erschienen seit Anfang der siebziger Jahre und wurden 1997 abgeschlossen.Gegründet wurde ebenso ein Historisches Wörterbuch der Rhetorik, seit 1992 ge-leitet von Gert Ueding, sowie schließlich die Ästhetischen Grundbegriffe, die un-ter dem geschäftsführenden Herausgeber Karlheinz Barck zügig erarbeitet wer-den und von denen heute fünf Bände vorliegen.

Die Vorliebe für Wörterbuchpräsentationen ist zweifellos der Grund für dieaußerordentliche Produktivität der begriffsgeschichtlichen Forschung. Weniger of-fenkundig ist die allmähliche Veränderung der Konzeption, die sich seit der Neu-ausgabe des Eisler vollzogen hat. Sieht man einmal ab von den Historikern, dieihre begriffsgeschichtliche Arbeit von Beginn an theoretisch begleitet haben undeine international geführte Debatte anregten,3 vollzog sich der konzeptionelleWandel der Begriffsgeschichte im stillen. Auch darin wird man ein Charakteristi-kum begriffsgeschichtlicher Forschungspraxis erkennen dürfen: Die in den Gei-steswissenschaften notorische Methodendiskussion blieb marginal, währendgleichzeitig die Dokumentation der Erträge in der sinnlich-sichtbaren Gestalt ge-wichtiger Folianten gleichmäßig voranschritt.

Was nun den Stand der Dinge betrifft, so möchte ich die These wagen, daß dieBegriffsgeschichte, wie sie einst von Ritter und seinen Schülern gedacht war, mitdem Abschluß der großen Wörterbuchunternehmungen ihr Potential unter Beweisgestellt und zugleich ausgeschöpft hat. Die historische Bedeutungsforschung befindet sich in einer Situation des Übergangs. Im folgenden möchte ich diese Si-tuation beschreiben und zunächst rekapitulieren, was philosophische Begriffsge-schichte war und ist. Im zweiten Teil skizziere ich den methodologischen Balance-akt, der für die Begriffsgeschichte wie für die Historische Semantik bezeichnend ist,indem ich sie methodologisch als Versuche zur Überwindung reduktionistischerVerfahrensweisen profiliere. Schließlich erinnere ich an die theoretischen Anfängeder Historischen Semantik speziell im Kreis des französischen Enzyklopädismusund riskiere einen Ausblick.

Praxis und Methode22

3 Vgl. Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metapherngeschichte, hg. von Hans Erich Böde-ker (Göttingen 2002) sowie Reinhart Koselleck: Begriffsgeschichte. In: Lexikon Geschichtswis-senschaft. Hundert Grundbegriffe, hg. von Stefan Jordan (Stuttgart 2002) 40–44.

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I. Zeitlichkeit

Begriffshistoriker erkennt man daran, daß die Sprache des Wissens sie hellhörigmacht – jener verbreitete »Gebrauch von Ausdrücken«, wie Georg Simmel einmalsagte, »die eigentlich wie verschlossene Gefäße von Hand zu Hand gehen, ohnedaß der thatsächlich darin verdichtete Gedankengehalt sich für den einzelnen Ge-braucher entfaltete.«4 Die Arbeit der Begriffsgeschichte unterläuft derlei Tenden-zen, indem sie die im Gebrauch verschlissenen, moribunden Begriffe revitalisiertund auf einer Ebene mittlerer Allgemeinheit die Profillinie der Bedeutungsent-wicklung nachzeichnet und scharf herausstellt. Für die Begriffshistoriker der er-sten Stunde lag in dieser Leistung selbst schon ein Zweck. Der Umweg über dieGeschichte, den sie einschlugen, diente der Erneuerung ebenjenes begrifflichenAnspruchs, der in den Nivellierungen, Verkürzungen und Simplifikationen des täg-lichen Gebrauchs verloren zu gehen droht.

Die theoretische Handhabe für die Interventionen dieser Sprach- und Begriffs-kritik bot das hegelianische Erbteil der philosophischen Begriffsgeschichte, dasneben Ritter selbst vor allem Hermann Lübbe bewußt gemacht und gegenwärtiggehalten hat.5 Es sollte die Pointe begriffsgeschichtlicher Forschung sein, sich aufdie Spur des Fortschritts zu setzen, den die mit deutlicher Anspielung auf Hegelso genannte »Arbeit des Begriffs« in der Moderne bereits hinter sich gebracht hat-te. Nicht im großen und ganzen, aber doch im Speziellen soll demnach die Begriffs-geschichte die Theorietauglichkeit einzelner Formeln und Figuren nicht nur rück-blickend darstellen, sie soll auch im Blick auf Gegenwart und Zukunft über sieentscheiden. Tatsächlich, so Norbert Hinske noch 1986, sei die Praxis der Be-griffsgeschichte in dem Maße philosophisch, wie sie sich der Autorität der kriti-schen Vernunft verpflichtet wisse. »Das Instrument des Begriffs nicht einfach nurzu gebrauchen, wie es in den Einzelwissenschaften oder im politischen Leben dieRegel ist, sondern es ständig zu überprüfen, instandzuhalten und zu schärfen, zähltheute, im Zeitalter der Ideologien, vielleicht mehr denn je zu den elementarenAufgaben der Philosophie.«6

Hauptaufgabe der philosophischen Begriffsgeschichte sollte es demnach sein,die »historistische« Versuchung der von Hegel in seiner Logik explizierten»schlechten Unendlichkeit« abzuwehren, und zwar nicht so sehr durch eine wort-geschichtliche Besinnung, sondern durch eine ganz und gar gegenwartsbezogenePräparierung, ja Emphatisierung des Begriffs, bei der sich die Philosophie der ge-schichtlichen Zeugnisse als Mittel bedient. Der Ausgriff auf die Geschichte sollte

R. Konersmann· Wörter und Sachen 23

4 Georg Simmel: Philosophie des Geldes [1900]. Gesamtausgabe, hg. von Otthein Rammstedt.Bd. 6 (Frankfurt a. M. 1989) 621.

5 Vgl. Hermann Lübbe: Begriffsgeschichte als dialektischer Prozeß. In: Archiv für Begriffsge-schichte 19 (1975) 8–15; s. a. ders.: Säkularisierung. Geschichte eines ideenpolitischen Begriffs(Freiburg, München 1965) 7–22.

6 Norbert Hinske: Lebenserfahrung und Philosophie (Stuttgart-Bad Cannstatt 1986) 188f.

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helfen, die eigentliche, die wahre Bedeutung der philosophischen Begriffe zu aktualisieren und vor dem Verschleiß durch Gedankenlosigkeit, Ignoranz oderMißbrauch zu bewahren. In der Praxis der Wörterbucharbeit war dieser Vorsatzjedoch nicht durchzuhalten, ja er war, wie schon die äußerlichen Veränderungenallein des Historischen Wörterbuchs der Philosophie erkennbar machen, im Grun-de konzeptionswidrig. Es hat sich gezeigt, daß begriffsgeschichtliche Auffrischun-gen das Vokabular der Vernunft weniger vereindeutigen als bereichern und es damit dem Andrang sachfremder Verwertungsinteressen ebenso entziehen wiedem Definitätsanspruch der Vernunfterkenntnis.

Der kritische, aber eben auch distraktive Gestus begriffsgeschichtlicher For-schung ist der Grund, weshalb ihre Einstellung zu den Sprachformen des philoso-phischen Denkens die Ausnahme geblieben ist. Sie durchkreuzt jene Standardauf-fassung des Begriffs als eines letzten, unangreifbaren und fraglosen Besitzes,7 diebis auf den heutigen Tag verbreitet ist. Nach wie vor präsentiert die einschlägigeLiteratur, einschließlich der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichtsschreibung,ganze Begriffsfelder – Begriffe der Sinnlichkeit wie ›Hören‹, ›Sehen‹, ›Spiegeln‹;Begriffe der Forschung wie ›Struktur‹, ›Prozeß‹, ›Übersicht‹; Begriffe der Wissen-schaft wie ›Objektivität‹, ›Wahrnehmung‹, ›Tatsache‹ – als transhistorische Gege-benheiten. Den entscheidenden Fingerzeig liefert hier die geläufige, auf Hegelund Schiller zurückgehende Rhetorik. Für gewöhnlich ist der Bericht über dasAuftauchen eines Begriffs dem Mythos der Pallas Athene nachempfunden, welchemit einem Mal und als Ganze dem Haupte Jupiters entsprang.8 Begriffe, so gibtuns dieses Deutungsmuster zu verstehen, sind wie Götter: unvordenklich, wehrhaftund in allen ihren Erscheinungen sich selbst gleich – bewegliche Abbilder, wiePlaton das zehnte Buch seines Timaios überschreibt, der Unvergänglichkeit.

Die begriffsgeschichtliche Wörterbucharbeit der letzten Jahrzehnte hat dieseKonvention einer Vernunfterkenntnis bloß aus Begriffen und damit das traditio-nelle Selbstbild des philosophischen Denkens in einem Maße erschüttert, das bisheute noch kaum wahrgenommen worden ist. Sie stellt uns das Bild einer Begriffs-geschichte vor Augen, welche die Begriffe weniger an der Reinheit der Idee be-mißt als daran, wie sie tatsächlich verwendet wurden. Diese Arbeit ist historisch,sie ist philologisch und sie ist kritisch. Es handelt sich um eine Praxis, welche dieBeglaubigungspraktiken der Tradition allein durch die Art ihres Zugriffs ins Wan-

Praxis und Methode24

7 Vgl. Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neue-ren Zeit. Bd. 1 [1906]. Gesammelte Werke, hg. von Birgit Recki. Bd. 2 (Hamburg 1999) 2 – Be-kanntlich hat Cassirer diese frühe Begriffskritik weiter vertieft und 1910 in einer speziellen Mo-nographie zusammenhängend dargestellt: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungenüber die Grundfragen der Erkenntniskritik. Ebd. Bd. 6 (Hamburg 2000) – Die Zusammenhängezwischen Cassirers Begriffsschrift und der späteren Konzipierung der Begriffsgeschichte durchJoachim Ritter, der ein Schüler Cassirers gewesen ist, liegen noch weitgehend im dunkeln.

8 Zur Leitfunktion des Mythos für die Wissenschaftsgeschichtsschreibung vgl. Lorraine Da-ston: Wunder, Beweise und Tatsachen zur Geschichte der Rationalität (Frankfurt a. M. 2001) 7f.,128f.

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ken bringt – einer Praxis, die an Vorbedingungen bindet, was eben noch absolut er-schien; die in Kontexte einbettet, was Voraussetzungslosigkeit geltend macht; diedas Unangreifbare der Neugierde aussetzt; und die bezweifelt, was eben noch frag-los galt. Die Begriffsgeschichte läßt die Zeitlichkeit der Wörter und Formeln alsderen eigentliches Element hervortreten, so daß wir für ihren Geltungsbereich dieFeststellung treffen können: Philosophische Begriffe haben nicht nur eine Ge-schichte, sie sind ihre Geschichte.

II. Sprachlichkeit

Angestoßen durch ihre Praxis, hat sich die Begriffsgeschichte Schritt für Schrittauf die konzeptionellen Grundlagen eines Unternehmens zubewegt, dessen Titel-begriff auf eine Formulierung Ernst Cassirers zurückgeht: auf die HistorischeSemantik.9 Ungeachtet spezieller Zuschreibungen, die von unterschiedlichenFächertraditionen und -differenzen in den nationalen Wissenskulturen herrühren,dürfte heute Konsens darüber bestehen, daß es die Aufgabe der Historischen Se-mantik sei, kulturell manifeste Bedeutsamkeiten im Horizont ihrer Geschichte zuzeigen. Ich bin versucht, diese Feststellung als Faustformel anzubieten. Sagen wiralso: Historische Semantik – das ist die Untersuchung kulturell manifester Bedeut-samkeiten im Horizont der Geschichte.

Wie unschwer zu erkennen ist, nimmt diese Formel die Sprache als Paradigmafür die Gegenstandswelt der bedeutungsgeschichtlichen Forschung in Anspruch –die Sprache, verstanden als Inbegriff dessen (um die berühmte FormulierungHans-Georg Gadamers zu variieren), was von Menschen verstanden werdenkann.10 Dies vorausgesetzt, stellt sich die philosophische Begriffsarbeit als die be-wußte Anstrengung dar, die Welt der Sachen und die Welt der Wörter aufeinanderzu beziehen, das heißt den ebenso komplexen wie fragilen Zusammenhang zu be-

R. Konersmann· Wörter und Sachen 25

9 Vgl. Ralf Konersmann: Semantik, historische. In: Historisches Wörterbuch der Philoso-phie, a. a.O. [Anm. 1] Bd. 9 (1995) 593–598.

10 Die Formulierung lautet: »Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache.« Hans-GeorgGadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik [1960] Gesam-melte Werke, Bd. 1 (Tübingen 1990) 478. – Gadamers Sprachbegriff ist so weit gefaßt, daß er insMetaphorische hinüberspielt: Verstehen dient Gadamer als Kriterium für Sprachlichkeit, nichtumgekehrt. Was hier ›Sprachlichkeit‹ heißt, schließt somit Laute, Gebärden, Bilder mit ein. Werdie solchermaßen konkretisierte Verhältnisbestimmung mit den Augen Johann Gottfried Her-ders und Cassirers wahrnimmt, wird die kulturphilosophische Pointe bemerken. Mit der Beto-nung der Sprachlichkeit unseres Weltverhältnisses verbindet sich die Einsicht, daß wir – so Her-der 1774 – »immer in einer Welt« leben, »die wir uns selbst bilden« (Vom Erkennen undEmpfinden in der menschlichen Seele. Werke, hg. von Wolfgang Pross. Bd. 2 [München, Wien 2002]545–579, hier 566). Bei Cassirer, der ebendarin die Grunderfahrung der condition moderne er-kennt, heißt es entsprechend: »Statt mit den Dingen hat es der Mensch nun gleichsam ständig mitsich selbst zu tun.« (Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur[Frankfurt a. M. 1990] 50).