BEMESSUNG NACH BRITISCHEN UND FRANZÖSISCHEN...

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1 BEMESSUNG NACH BRITISCHEN UND FRANZÖSISCHEN NORMEN: MULTIKULTURELLES INGENIEURDENKEN H. Schroeter Dr. Schroeter & Dr. Kneidl Beratende Ingenieure, Weiden ZUSAMMENFASSUNG Die Eurocodes sind zwar in aller Munde aber noch nicht auf den Schreibtischen der Ingenieure angekommen. In England und Frankreich wird, wie auch in Deutschland, im Regelfall nach den nationalen Normen konstruiert und bemessen. Aber auch bei einer Bemessung nach EC für ein anderes Land ist es vorteilhaft, die unterschiedliche Denkweise der ausländischen Kollegen zu kennen. Dies vermeidet Reibungsverluste und gibt manchmal auch Anlass, die eigene Praxis zu hinterfragen. Am Beispiel der Stahlbaunormen werden einige kulturelle Unterschiede aber auch Gemeinsamkeiten deutlich. EINLEITUNG Die derzeit gültigen Stahlbaunormen in Frankreich, Großbritannien und Deutschland beruhen alle auf einem gegenüber dem EC1 vereinfachten Konzept der Teilsicherheitsbeiwerte und sie erlauben eine plastische Bemessung. Trotzdem sind die drei nationalen Normwerke sehr unterschiedlich. Das liegt sowohl an nationalen Traditionen wie auch an unterschiedlichen Auffassungen, wie eine Norm für das Bauwesen aussehen und was sie enthalten sollte. Hier werden, auch aus Zeitgründen nur die Grundnormen betrachtet. Es gibt in allen drei Ländern zahlreiche weitere Normen über die Materialien, die konstruktive Gestaltung, die Bauausführung usw. KULTURELLE UNTERSCHIEDE England, sozusagen das Ursprungsland der Ingenieure, steht immer noch in der Tradition Stevensons. Der Ingenieur ist Bastler und Erfinder, kein Wissenschaftler. Die frühen englischen Ingenieure wie z. B. Stevenson oder Telford lehnten die theoretisch- wissenschaftliche Betrachtungsweise ab. Ein paar handsame Formeln können nicht schaden aber das Wichtigste bleibt das Konstruieren. Eine Sonderstellung nimmt hier I. K. Brunel ein. Allerdings war sein Vater ein nach England emigrierter Franzose! Frankreich und Deutschland wurden im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert von der wirtschaftlichen Überlegenheit Englands aufgeschreckt. Die Reaktion war die Gründung von Schulen. Namhafte Wissenschaftler, vor allem Mathematiker, wie z.B. Navier, befassten sich nun mit den theoretischen Grundlagen. Und mit den Schulen kam der wissenschaftlich gebildete Ingenieur. Das ist bei den Franzosen immer noch stärker als bei uns zu spüren. In der französischen Norm findet sich z.B. in einem Anhang die wissenschaftliche Herleitung des Stabknickens. Also Stoff für die Hochschule. Überhaupt ist die französische Norm fast als Lehrbuch zu begreifen. Es wird unter anderem das Momentenausgleichsverfahren nach Kani erläutert. In Deutschland wurden die ersten Ingenieurschulen erst im 19. Jahrhundert gegründet (z.B. München 1861) Die deutsche Ingenieurwissenschaft neigt offenbar zu Abstraktion: Die wissenschaftliche Ausbildung des Ingenieurs wird als selbstverständlich vorausgesetzt. Die Norm setzt den aktuellen Stand der Wissenschaft voraus und gibt dem Ingenieur nur die Randbedingungen und Parameter zur Anwendung dieser wissenschaftlichen Erkenntnisse.

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BEMESSUNG NACH BRITISCHEN UND FRANZÖSISCHEN NORMEN: MULTIKULTURELLES INGENIEURDENKEN H. Schroeter Dr. Schroeter & Dr. Kneidl Beratende Ingenieure, Weiden

ZUSAMMENFASSUNG Die Eurocodes sind zwar in aller Munde aber noch nicht auf den Schreibtischen der Ingenieure angekommen. In England und Frankreich wird, wie auch in Deutschland, im Regelfall nach den nationalen Normen konstruiert und bemessen. Aber auch bei einer Bemessung nach EC für ein anderes Land ist es vorteilhaft, die unterschiedliche Denkweise der ausländischen Kollegen zu kennen. Dies vermeidet Reibungsverluste und gibt manchmal auch Anlass, die eigene Praxis zu hinterfragen. Am Beispiel der Stahlbaunormen werden einige kulturelle Unterschiede aber auch Gemeinsamkeiten deutlich.

EINLEITUNG Die derzeit gültigen Stahlbaunormen in Frankreich, Großbritannien und Deutschland beruhen alle auf einem gegenüber dem EC1 vereinfachten Konzept der Teilsicherheitsbeiwerte und sie erlauben eine plastische Bemessung.

Trotzdem sind die drei nationalen Normwerke sehr unterschiedlich. Das liegt sowohl an nationalen Traditionen wie auch an unterschiedlichen Auffassungen, wie eine Norm für das Bauwesen aussehen und was sie enthalten sollte.

Hier werden, auch aus Zeitgründen nur die Grundnormen betrachtet. Es gibt in allen drei Ländern zahlreiche weitere Normen über die Materialien, die konstruktive Gestaltung, die Bauausführung usw.

KULTURELLE UNTERSCHIEDE England, sozusagen das Ursprungsland der Ingenieure, steht immer noch in der Tradition Stevensons. Der Ingenieur ist Bastler und Erfinder, kein Wissenschaftler. Die frühen englischen Ingenieure wie z. B. Stevenson oder Telford lehnten die theoretisch-wissenschaftliche Betrachtungsweise ab. Ein paar handsame Formeln können nicht schaden aber das Wichtigste bleibt das Konstruieren. Eine Sonderstellung nimmt hier I. K. Brunel ein. Allerdings war sein Vater ein nach England emigrierter Franzose!

Frankreich und Deutschland wurden im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert von der wirtschaftlichen Überlegenheit Englands aufgeschreckt. Die Reaktion war die Gründung von Schulen. Namhafte Wissenschaftler, vor allem Mathematiker, wie z.B. Navier, befassten sich nun mit den theoretischen Grundlagen. Und mit den Schulen kam der wissenschaftlich gebildete Ingenieur. Das ist bei den Franzosen immer noch stärker als bei uns zu spüren. In der französischen Norm findet sich z.B. in einem Anhang die wissenschaftliche Herleitung des Stabknickens. Also Stoff für die Hochschule. Überhaupt ist die französische Norm fast als Lehrbuch zu begreifen. Es wird unter anderem das Momentenausgleichsverfahren nach Kani erläutert.

In Deutschland wurden die ersten Ingenieurschulen erst im 19. Jahrhundert gegründet (z.B. München 1861) Die deutsche Ingenieurwissenschaft neigt offenbar zu Abstraktion: Die wissenschaftliche Ausbildung des Ingenieurs wird als selbstverständlich vorausgesetzt. Die Norm setzt den aktuellen Stand der Wissenschaft voraus und gibt dem Ingenieur nur die Randbedingungen und Parameter zur Anwendung dieser wissenschaftlichen Erkenntnisse.

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Die Unterschiede zwischen den nationalen Normen werden schon im Titel deutlich:

Deutschland: Stahlbauten Bemessung und Konstruktion; Stabilitätsfälle, Knicken von Stäben und Stabwerken

Frankreich: Règles de calcul des construction en acier : Berechnungsregeln für Stahlkonstruktionen

Großbritannien: Structural use of steelwork in building, Code of practice for design. Gebrauch von tragenden Stahlkonstruktionen beim Bauen, Anwendungsregeln für Konstruktion und Ausführung

ERSTER ÜBERBLICK

Informationen im Internet

Deutschland: Normensuche www.beuth.de, Bestellung www.mybeuth.de

Frankreich: www.afnor.fr (Association Francaise de Normalisation )

Entweder über Menüs:

www.afnor.fr - construction – Normes de la construction - Conception technique et dimensionnement - Calcul des structures

Oder als direkte Adresse zur Liste der Baunormen:

http://www.afnor.fr/datacons/normes_marches/publiees/conception_dimensionnement/087calcul_structures.html

Großbritannien: www.bsi-global.com (British Standards Institution)

Normensuche über: http://bsonline.techindex.co.uk

Leider gibt es auf dieser Seite keine Liste der Baunormen

In beiden Ländern ist eine Online-Bestellung möglich. Die Preise sind ähnlich hoch wie für deutsche Normen. In England gibt es aber zum Beispiel eine Studentenausgabe mit allen wesentlichen Baunormen für 200 GBP.

Gültige Ausgaben der Normen

Deutschland: DIN 18800 Die Kenntnis dieser Norm wird vorausgesetzt

Derzeit 4 Teile, herausgegeben 2001:

18800 Teil 1 Stahlbauten Bemessung und Konstruktion

18800 Teil 2 Stahlbauten Stabilitätsfälle, Knicken von Stäben und Stabwerken

18800 Teil 3 Stahlbauten Stabilitätsfälle, Plattenbeulen

18800 Teil 4 Stahlbauten Stabilitätsfälle, Schalenbeulen

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Frankreich: CM 66 mit Additif 80

Herausgeber ist das CTICM: Centre Technique Industriel de la Construction Métallique

Titel:

CM 66 Règles de calcul des construction en acier Erstauflage 1966

Additif 80 (1980) Ergänzung für plastische Bemessung

Als gebundenes Buch in 12. Auflage (2002) erhältlich

Die Norm befasst sich nur mit Stabwerken. Einige Regeln für Stegbeulen sind enthalten.

Großbritannien: BS 5950-1:2000

Titel: Structural use of steelwork in building, Code of practice for design. Rolled and welded sections.

Lose Blätter im Ordner.

Es gibt noch die Teile 2 bis 9 und einen Band zu den Ergänzungen:

EP 915: The SCI Guide to the Amendments to BS 5950-1:2000

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GLIEDERUNG

DIN 18800 Die Kenntnis dieser Norm wird bei den Zuhörern vorausgesetzt. Wegen der kurzen Zeit die für das Referat zur Verfügung steht, wird im folgenden nur noch auf die französischen und englischen Normen eingegangen.

CM66 • Präambel [Préambule]

• Nachweis der Sicherheit in den Konstruktionen [Justification de la sécurité dans les constructions]

• Materialarten [Nuances d’acier]

• Allgemeine Regeln zur Berechnung von Widerständen und Verformungen [Règles générales concernant les calculs de résistance et de déformation]

• Verbindungen [Assemblages]

• Spezielle Regeln für bestimmte Tragglieder [Règles spéciales à certains éléments]

• Belastungsproben [Épreuves des ouvrages]

• Anhänge [Annexes] 28 Kapitel mit Erläuterungen und zusätzlichen Hilfsmitteln, teilweise mit Lehrbuchcharakter. Neben einer Liste der verwendeten Bezeichnungen bis zu einer Darstellung der Ermittlung des Torsionsträgheitsmoments bei offenen Profilen, Knicklängenermittlung bis zum Momentenausgleich nach Kani.

Additif 80 Im wesentlichen die gleiche Gliederung wie bei CM 66, aber mit besonderen Bestimmungen für die plastische Bemessung.

BS 5950-1 • Allgemeines [General]

• Bemessung nach Grenzzuständen [Limit states design]

• Eigenschaften von Material und Querschnitten [Properties of materials and section properties]

• Nachweise von Traggliedern [Design of structural members]

• Statisch unbestimmte Tragwerke [Continuous structures]

• Verbindungen [Connections]

• Belastungsproben [Loading tests]

• Anhänge [Annexes] 9 Kapitel mit normativen Angaben zum Biegedrillknicken, Knicklängen, Stegbeulen

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BEANSPRUCHUNGEN

CM 66 In CM 66 und Additif 80 werden folgende Beanspruchungen unterschieden:

(Bezeichnung als Index der Spannung, z.B. σgt)

g Ständige Lasten [charges permanentes NF P06-004]

gt Temperatur

pe Verkehrslasten [charges d’exploitation NF P06-001]

pn Schnee [neige, Règles N84 (DTU P06-006)]

pv Wind [vent]

Die Lasten werden mit folgenden Sicherheitsbeiwerten [Coefficients de pondération] multipliziert:

Ständige Last g: 4/3 = 1,333 oder 1 (der ungünstigere Wert)

Eine veränderliche Last aus pe, pn, pv: 3/2 = 1,5

Zwei veränderliche Lasten aus pe, pn, pv: 17/12 = 1,4166

Alle drei veränderlichen Lasten pe, pn, pv: 4/3 = 1,333

Temperatur gt: 4/3 = 1,333

Alle möglichen Kombinationen je nach Wirkungsrichtung der Last sind zu untersuchen. In der Norm sind 18 Kombinationen explizit aufgeführt:

Erforderliche Überlagerungen nach CM 66 – Seite 32

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BS 5950

Lasten Der BS 5950 unterscheidet folgende Lasten:

(Es gibt weder abkürzende Bezeichnungen noch lastbezeichnende Indices!)

Ständige Last [dead load BS 6399-1] (hier im folgenden als G bezeichnet)

Verkehrslast [imposed load BS 6399-3] Dies sind sowohl Verkehrslasten wie Schnee! (Hier im folgenden als Q bezeichnet)

Windlasten [wind load BS 6399-2] (hier im folgenden als W bezeichnet)

Kranlasten [Loads from overhead travelling cranes BS 2573-1] auf diese Lasten wird im folgenden nicht weiter eingegangen.

Lasten aus Erddruck und Grundwasser [Earth and ground-water loading BS 8002] (hier im folgenden als E bezeichnet)

Temperaturbeanspruchung (hier im folgenden als T bezeichnet)

Grenzzustände Es wird zwischen dem Grenzzustand der Tragfähigkeit [ULS] und dem Grenzzustand der Gebrauchsfähigkeit [SLS] unterschieden.

Für den SLS werden Grenzwerte der Verformung angegeben. (Tafel 8 S. 24)

Im ULS sind mehrere Grenzzustände zu untersuchen:

Der Grenzzustand der Festigkeit [Limit state of strenght] Hier sind bei Bauwerken ohne Kräne folgende Lastkombinationen zu untersuchen:

Load combination 1: G + Q (gravity loads: nur Lasten, die aus Schwerkraft verursacht werden)

Load combination 2: G + W

Load combination 3: G + Q + W

Die Lasten werden mit folgenden Sicherheitsbeiwerten [Partial factors �f] multipliziert:

Ständige Last g allein : 1,4

Ständige Last (mit Wind und imposed Loads) 1,2

Ständige Last (günstig wirkend) 1,0

Imposed Load allein: 1,6

Imposed Load (mit Wind): 1,2

Wind allein 1,4

Wind mit imposed load 1,2

Erddruck und Grundwasser 1,2 bei ungünstigsten Werten nach BS 8002

Erddruck und Grundwasser 1,4 bei nominalen Werten nach CP 2

Temperatur 1,2

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Es ergeben sich folgende Kombinationen:

1,4 G + 1,6 Q {+ 1,2 E + 1,2 T}

1,4 G + 1,4 W {+ 1,2 E + 1,2 T} alternativ 1,0 G + 1,4 W {+ 1,2 E + 1,2 T}

1,2 G + 1,2 Q + 1,2 W {+ 1,2 E + 1,2 T} alternativ 1,0 G + 1,2 Q + 1,2 W {+ 1,2 E + 1,2 T}

Weitere Grenzzustände, die zu untersuchen sind: Grenzzustand der Stabilität [Stability limit states]

Ermüdung [Fatigue]

Sprödbruch [Brittle fracture]

Tragwerks Integrität [Structural integrity]

Hierfür werden konstruktive Regeln zur Aussteifung von Gebäuden [Tying of buildings] wörtlich: „Binden“ angegeben. Am besten wird dies durch ein Bild aus der Norm verständlich.

Figure 1 – Example of tying the columns of a building Seite 21

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MATERIAL

CM 66 In der Norm sind keine Stahlarten genannt. Einzige Aussage zum Material:

„Die Norm gilt für alle Stahlarten mit einer Bruchdehnung von 20%“

Im Additif 80 werden die Stahlsorten E24, E26, E30 und E36 nach NF A 35-501 und E355 nach NF A 36-201 genannt. Hier wird als Anforderung an die Duktilität genannt, dass die Bruchdehnung das sechsfache der Dehnung an der Proportionalitätsgrenze sein muss.

Ein Teilsicherheitsbeiwert für das Material existiert nicht.

BS 5950 Die Norm gilt für die Stahlsorten S275, S355 und S460. Die Abstufung der Fließgrenzen [design strength py] nach den Materialstärken ist sehr eng. Diese Materialien sind in SOFiSTiK im Satz STAHL programmiert unter der Materialbezeichnung BS. Zu beachten ist auch, dass der E-Modul niedriger ist als nach deutscher Norm: E = 205000 N/mm²!

Ein Teilsicherheitsbeiwert für das Material �m wird zwar definiert, ist aber zu 1,0 gesetzt.

NACHWEISE

Nachweisformat

CM 66 [Méthode de justification] Der Nachweis wird über Spannungen [contrainte] geführt:

Zug [tension] und Druck [compression]: σ ≤ σe mit σe = Proportionalitätsgrenze [Limite d’élasticité]

Schub [cisaillement]: 1,54τ ≤ σe

Ein Materialsicherheitsbeiwert ist nicht definiert

Die Proportionalitätsgrenze kann durch verschiedene Kriterien festgelegt werden:

• Durch die Norm PN A 36-501,

• durch Garantie des Herstellers des Stahls,

• durch Versuche

Additif 80 Der Nachweis wird über Beanspruchungen [sollicitations] geführt, die den Widerständen [Résistances] ermittelt mit der Proportionalitätsgrenze σe, gegenübergestellt werden. In der Norm werden z.B. die Formeln für die Ermittlung der plastischen Widerstandsmomente, auch für den Rechteckquerschnitt, angegeben.

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BS 5950 [Design] Der Nachweis wird über Schnittkräfte aus „factored Loads“ geführt. Diese werden den mit der Fließgrenze [design strength py] ermittelten Widerständen gegenübergestellt.

Schub: Fv ≤ Pv = 0,6 py Av

Mit Fv = Querkraft [shear force]

Pv = Schubtragfähigkeit [shear capacity]

Av = Schubfläche, Formelangaben für verschiedene Querschnitte

Biegung: M ≤ Mc mit Mc = Moment capacity

Die Momententragfähigkeit Mc wird für die verschiedenen Querschnittsklassen und in Abhängigkeit von der Schubbeanspruchung definiert:

Für Fv ≤ 0,6 Pv:

Klassen 1 und 2: Mc = pyS mit S = plastisches statisches Moment

Klasse 3: Mc = pyZ mit Z = elastisches statisches Moment

Klasse 4: Mc = pyZeff mit Zeff= elastisches statisches Moment des reduzierten Querschnitts

Bei größerem Schub werden die statischen Momente in Abhängigkeit von der Schubbeanspruchung reduziert.

Für Pfetten und Wandriegel werden allerdings empirische Formeln für ein erforderliches Widerstandsmoment und die erforderliche Querschnittshöhe und Breite in Abhängigkeit von der Gebrauchslast und der Stützweite angegeben.

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Stabilität

CM 66 Alle Nachweise für Stabilitätsfälle werden am Einzelstab geführt. Daher sind auch im Anhang zahlreiche Formeln zur Ermittlung der Knicklänge angegeben. In Ziffer 3,83 wird (indirekt) der Nachweis nach Theorie 2. Ordnung erlaubt:

«Lorsque exceptionnellement on a besoin d’une meilleure approximation, il est nécessaire de tenir compte de la présence des irrégularités de forme et de structure qui influent sur la position des points d’inflexion dans un système hyperstatique de barres réelles, comme elles influent sur la charge d’affaissement d’une barre bi-articulée. » „Wenn ausnahmsweise eine bessere Annäherung benötigt wird, müssen die Unregelmäßigkeiten der Form und der Struktur berücksichtigt werden, die die Lage der Wendepunkte in einem statisch unbestimmten System mit nicht perfekten Stäben beeinflussen ebenso wie sie die Knicklast eines beiderseits gelenkig gelagerten Stabes beeinflussen.“

Im Anhang 13.8 werden Formeln zur Ermittlung der Knicklängen unter Berücksichtigung von Imperfektionen angegeben.

Erst im Additif 80 wird in Kapitel 7 auf die Theorie 2. Ordnung eingegangen. Dort wird der Lastfaktor der Verzweigungslast αcr eingeführt. Für αcr > 5 genügt der Nachweis nach Theorie 1. Ordnung. Für αcr < 5 werden Lasterhöhungsfaktoren und Grenzen der Verdrehung der Stützen angegeben.

Für das Stabknicken werden Faktoren ähnlich der ω-Werte der DIN 4114 gegeben. Es werden sowohl eine Formel wie Tabellen in Abhängigkeit von l gegeben. Beim Biegeknicken ist ebenfalls ein Faktor in Abhängigkeit von der Geometrie des Querschnitts und der Beanspruchung zu ermitteln. Der Nachweis erfolgt in der Form:

k1 σ + kf σf ≤ σe (Index f von flexion = Biegung)

Es sind detaillierte Vorschriften auch für aufgelöste Querschnitte enthalten.

Ähnliche Formeln werden für das Biegedrillknicken [Déversement en flexion simple et flexion composée] angegeben.

BS 5950 Grenzzustand der Stabilität [Stability limit states]

Im Grenzzustand der Stabilität ist das Tragwerk mit fiktiven Horizontallasten [notional horizontal forces] zu belasten. Diese Lasten sind 0,5% = 1/200 der mit den Lastfaktoren vergrößerten vertikalen Lasten und greifen in der Höhe der jeweiligen vertikalen Lasten an.

Aus der Verformung � unter diesen Lasten wird mit der Stockwerkshöhe h ein kritischer Lastfaktor �cr [sway mode elastic critical load factor] ermittelt:

λcr = h/200δ

Für λcr ≥ 10 sind keine weiteren Nachweise erforderlich

Für 4 ≤ λcr ≤ 10 werden Faktoren zur Vergrößerung der Schnittkräfte angegeben

Für λcr ≤ 4 muss das Tragwerk nach Theorie 2. Ordnung gerechnet werden.

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Im Kapitel 5: Continuous structures steht unter Ziffer 5.1.1:

«Detailed recommendations for practical direct application of "second order" methods of global analysis (based on the final deformed geometry of the frame), including allowances for geometrical imperfections and residual stresses, strain hardening, the relationship between member stability and frame stability and appropriate failure criteria, are beyond the scope of this document. However, such use is not precluded provided that appropriate allowances are made for these considerations.» „Ausführliche Empfehlungen für die praktische unmittelbare Anwendung der Methoden zweiter Ordnung auf ein Gesamtsystem (beruhend auf der Verformungsfigur des Rahmens), einschließlich Berücksichtigung von geometrischen Imperfektionen und Eigenspannungen, der Abhängigkeit zwischen Stabilität des Einzelstabs und des Rahmens sowie geeigneten Versagenskriterien liegen außerhalb des Anwendungsbereichs dieses Dokuments. Jedoch ist ein solches Vorgehen nicht ausgeschlossen, vorausgesetzt dass für diese Erwägungen geeignete Annahmen getroffen werden.

Allerdings finden sich in der Norm keinerlei Hinweise, wo man „geeignete Annahmen“ finden könnte!

ROTATIONSKAPAZITÄT UND LOKALES BEULEN

CM 66 / Additif 80 In der Vorschrift CM 66 sind keinerlei Vorschriften über Mindeststärken der Querschnittsteile enthalten. Erst in Additif 80 für die plastische Bemessung sind in Kapitel 5 Grenzen für das b/t – Verhältnis von Flansch und Steg enthalten.

Der Nachweis wird über ein spannungsabhängiges b/t-Verhältnis, ähnlich der DIN 18800, geführt.

BS 5950 Die Querschnitte werden in 4 Klassen eingeteilt. Die Grenzen werden über das b/t – Verhältnis definiert. Dazu sind detaillierte Angaben für die Klassen 1 bis 3 enthalten. Was darüber hinausgeht, wird in Klasse 4 eingestuft. Für die Klasse 4 sind Angaben zur Reduktion der Querschnitte über nicht mitwirkende Bereiche (ähnlich wie in der DASt-Richtlinie 016) vorhanden.

Die Klassen bedeuten:

Klasse 1: „plastic“ Der Querschnitt kann ein plastisches Gelenk ausbilden

Klasse 2: „compact“ Der Querschnitt kann das volle plastische Moment aufnehmen

Klasse 3: „semi-compact“ Der Querschnitt kann an der äußersten Faser die Fließgrenze erreichen, ist aber nicht fähig, das plastische Moment aufzunehmen, also voll durchzuplastizieren.

Klasse 4: „slender“ Beim Querschnitt müssen lokale Beuleffekte berücksichtigt werden.

In englischen Profiltabellen sind im allgemeinen die Klassen für ein Profil in Abhängigkeit von der Stahlsorte angegeben.

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GEBRAUCHSFÄHIGKEITSNACHWEISE Während in DIN 18800 zwar auf die Gebrauchsfähigkeit hingewiesen wird, aber keine Zahlenwerte für zulässige Durchbiegungen enthalten sind, geben CM66 und BS5950 Zahlenwerte an.

CM 66 Es werden Formeln zur Ermittlung der Verformung von Biegeblaken für verschiedene Belastungen und auch für die Schubverformung angegeben. (Lehrbuchcharakter der Norm!)

Im Kapitel 5 (Spezielle Regeln für bestimmte Tragglieder) werden folgende Grenzen der Verformung angegeben:

Balken zur Abfangung tragender Stützen, unter Trennwänden und Mauerwerk: f ≤ L/500

Geschossdecken unter Wohnungen und Büros: f ≤ L/300

Verformung unter schnell veränderlichen Lasten allein: f ≤ L/500

BS 5950 Neben Angaben, welche Lastkombinationen zu verwenden sind werden auch Zahlenwerte für zulässige Verformungen unter Gebrauchslasten angegeben.

Table 8 — Suggested limits for calculated deflections

a) Vertical deflection of beams due to imposed load

Cantilevers Length/180

Beams carrying plaster or other brittle finish Span/360

Other beams (except purlins and sheeting rails) Span/200

Purlins and sheeting rails See 4.12.2

b) Horizontal deflection of columns due to imposed load and wind load

Tops of columns in single-storey buildings, except portal frames Height/300

Columns in portal frame buildings, not supporting crane runways To suit cladding

Columns supporting crane runways To suit crane runway

In each storey of a building with more than one storey Height of that storey/300

c) Crane girders

Vertical deflection due to static vertical wheel loads from overhead travelling cranes

Span/600

Horizontal deflection (calculated on the top flange properties alone) due to horizontal crane loads

Span/500

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SCHLUSS Der kurze Überblick zeigt, dass britische und deutsche Norm zwar auf den ersten Blick sehr ähnlich sind, während die französische Norm eher der Normengeneration in Deutschland vor 1981 entspricht.

Allerdings kennt die französische Norm bereits geteilte Sicherheitsbeiwerte auf der Lastseite.

Britische und französische Norm führen Stabilitätsnachweise durchgehend am Ersatzstab. Die Nachweise nach Theorie II. Ordnung sind zwar erlaubt, allerdings fehlen Hinweise zu den erforderlichen Annahmen für Imperfektionen.

Die britische Norm gibt konstruktive Hinweise, die französische ist eine reines Regelbuch für die Berechnung mit vielen Formeln und Rechenhilfen. Die deutsche Norm steht irgendwo dazwischen, allerdings ist sie weniger Schulbuch als die französische und setzt mehr „Wissenschaft“ voraus als die britische Norm.

Gute Stahlbauten kann man mit allen drei Normen bauen – wie die Praxis zeigt.