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Benner/Oelkers (Hrsg.)Historisches Wörterbuch der Pädagogik

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Historisches Wörterbuchder Pädagogik

Herausgegeben vonDietrich Benner und Jürgen Oelkers

Studienausgabe

Beltz Verlag · Weinheim und Basel

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Über die Herausgeber:

Dr. Dietrich Benner ist emeritierter Professor für Erziehungswissenschaft an der Humboldt-Universitätzu Berlin.

Dr. Jürgen Oelkers ist Professor für Allgemeine Pädagogik an der Universität Zürich.

Inhaltsgleiche Studienausgabe 2010 der gebundenen Originalausgabe.

Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Nutzung in anderen als den gesetzlich zuge-lassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne eine solche Einwilligung eingescanntund in ein Netzwerk eingestellt werden. Dies gilt auch für Intranets von Schulen und sonstigen Bildungsein-richtungen.

Lektorat: Peter E. Kalb

© 2004 Beltz Verlag · Weinheim und Baselwww.beltz.deTextverarbeitung: Gabi Plöger, BorchenUmschlaggestaltung: Federico Luci, Köln

ISBN 978-3-407-29112-7

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Vorwort der Herausgeber . . . . . . . . . . 7

Ästhetische Bildung(Michael Parmentier) . . . . . . . . . . . . . . 11

Anthropologie, pädagogische(Christoph Wulf) . . . . . . . . . . . . . . . . . 33

Arbeit(Philipp Gonon) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58

Aufklärung(Jürgen Oelkers) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75

Autonomie, pädagogische(Heinz-Elmar Tenorth) . . . . . . . . . . . . . 106

Autorität(Karl Helmer/Matthias Kemper) . . . . . 126

Begabung(Helmut Heid/Gabi Fink) . . . . . . . . . . 146

Berufsbildung(Klaus Harney) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153

Bildsamkeit/Bildung(Dietrich Benner/Friedhelm Brüggen) 174

Bürger/bürgerlich(Stephanie Hellekamps) . . . . . . . . . . . . 216

Demokratie/demokratische Erziehung(Micha Brumlik) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232

Didaktik(Lothar Wigger) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244

Emanzipation(Jörg Ruhloff) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279

Erwachsenenbildung(Christiane Schiersmann) . . . . . . . . . . 288

Erziehung(Jürgen Oelkers) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303

Erziehungswissenschaft(Heinz-Elmar Tenorth) . . . . . . . . . . . . 341

Familie(Jürgen Reyer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383

Form(Klaus Prange) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393

Generation(Jörg Zirfas/Christoph Wulf) . . . . . . . 409

Geschlecht(Juliane Jacobi) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422

Humanismus,humanistische Bildung(Jörg Ruhloff) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443

Individuum(Käte Meyer-Drawe) . . . . . . . . . . . . . . 455

Jugend(Jürgen Zinnecker) . . . . . . . . . . . . . . . . 482

Kind/Kindheit(Christa Berg) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497

Kindergarten(Jürgen Reyer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 518

Kultur(Karl Helmer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527

Lehrer(Ewald Terhart) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 548

Lehrplan(Andreas Dörpinghaus/Karl Helmer/Gaby Herchert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565

Inhaltsverzeichnis

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6 Inhaltsverzeichnis

Leiblichkeit(Käte Meyer-Drawe) . . . . . . . . . . . . . . 603

Lernen(Rudolf Künzli) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 620

Methode(Fritz Osterwalder) . . . . . . . . . . . . . . . . 638

Moralerziehung/Tugendbildung(Alfred Langewand) . . . . . . . . . . . . . . . 660

Mündigkeit(Dietrich Benner/Friedhelm Brüggen) 687

Mütterlichkeit(Sabina Larcher) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 700

Öffentlichkeit(Friedhelm Brüggen) . . . . . . . . . . . . . . 724

Pädagogik(Winfried Böhm) . . . . . . . . . . . . . . . . . 750

Reformpädagogik(Jürgen Oelkers) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 783

Religion/religiöse Erziehung(Karl Ernst Nipkow) . . . . . . . . . . . . . . . 807

Rhetorik(Karl Helmer/Andreas Dörpinghaus) . 824

Schule/Schulpädagogik(Herwart Kemper) . . . . . . . . . . . . . . . . 834

Sinnlichkeit/Sensualismus(Heinz Rhyn) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 866

Sonderpädagogik(Ursula Hofer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 887

Sozialpädagogik(Michael Winkler) . . . . . . . . . . . . . . . . 903

Spiel(Michael Parmentier) . . . . . . . . . . . . . . 929

Staatspädagogik/Erziehungsstaat(Dietrich Benner/Stephanie Hellekamps) . . . . . . . . . . . . 946

Subjektivität und Intersubjektivität(Hans Jürgen Gößling) . . . . . . . . . . . . 971

Technik und Bildung/technische Bildung(Friedhelm Schütte/Philipp Gonon) 988

Theorie und Praxis(Alfred Langewand) . . . . . . . . . . . . . . . 1016

Unterricht(Siegfried Protz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1031

Utopie(Hans-Christian Harten) . . . . . . . . . . . 1071

Vaterbild und Männlichkeit(Sabine Andresen) . . . . . . . . . . . . . . . . 1091

Vorbild und Beispiel(Karl Helmer/Gaby Herchert) . . . . . . . 1108

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1115

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Nicht nur die neuzeitliche Gesellschaft, auchdie neuzeitliche Wissenschaft ist zunehmendauf eine künstliche Mnemosyne angewiesen.Im normalen Wissenschaftsbetrieb zeigt sichdies von der Mathematik und Physik bis zurHistorie und Erziehungswissenschaft daran,dass forschende Disziplinen ihre eigenen Tra-ditionen nicht erinnernd mit tradieren. Wirddie Vergangenheit eines Faches bearbeitet, sogeschieht dies in der Regel in spezialisiertenSubdisziplinen. Nur in Fächern wie der Phi-losophie oder der Theologie bestimmt dieÜberlieferung der Tradition zuweilen nochdie Mitte der Disziplin.

Die Geschichtslosigkeit der neuzeitlichenWissenschaft hat erhebliche, nicht immererfreuliche Folgen. Nachwachsende Wissen-schaftlergenerationen können ohne Durch-gang durch die Geschichte und ohne Ausein-andersetzung mit den Grundbegriffen derDisziplin Mitglieder der scientific communitywerden. Für die einzelne Karriere mag diesdurchaus erfreulich sein; wird es jedoch zurRegel von Forscherkarrieren, geht der Reich-tum an Einsichten, Problemstellungen undReflexionen verloren, der die Theorie- undProblemgeschichte auszeichnet. Es bleibtdann eher dem Zufall als einer nachhaltigenReflexion überlassen, inwieweit die Traditionnoch Einfluss nimmt auf das, was im gegen-wärtigen Wissenschaftsbetrieb für bedeutsamgehalten wird.

Zur Fragwürdigkeit einer solchen Ent-wicklung gehört, dass selbst dort, wo grund-legende Wissensinnovationen erfolgen, aufdie Auseinandersetzung mit der Geschichteder Disziplinen nicht verzichtet werden kann.Das Tempo und die Differenziertheit derWissenserzeugung sind für sich genommenkein ausreichender Grund, um problemge-schichtliche Reflexionen und die Auseinan-dersetzung mit der eigenen Geschichte ausden Fächern zu verabschieden.

Eine tiefer gehende Auseinandersetzungmit der Theoriegeschichte pädagogischerKonzepte kann ohne spezialisierte Forschungnicht unternommen werden. Aufgabe dertheoriegeschichtlichen Forschung ist es, dieGeschichtslosigkeit der modernen Wissen-schaften bewusst zu machen und für diegegenwärtige Theorieentwicklung Möglich-keiten zu sichern, die ohne geschichtliche Ana-lyse und Reflexion nicht gegeben wären.

Während andere Disziplinen zuweilenstolz darauf sind, auf eine ebenso kurze wieerfolgreiche Wissenschaftsgeschichte zurück-zublicken, muss sich die theoretische Pädago-gik wie die Physik, die Psychologie, die Ethikund die Metaphysik auf eine mehr als 2000Jahre umfassende Geschichte einstellen. JedeGegenwart hat bisher – sei es in unreflektier-ter Übernahme oder in bewusster Abgren-zung – auf Theoriekonzepte zurückgegriffen,die in früheren Epochen entstanden sind.Eine gehaltvolle Reflexion von Erziehung undBildung ist darum ohne Wahrung histori-scher Bezüge weder möglich noch sinnvoll.

In Pädagogik und Erziehungswissenschaftsind begriffliche und semantische Traditio-nen wirksam, die bis auf die Antike zurück-gehen und zugleich auf eigentümliche Weisevergessen sind. Diese Paradoxie behindertzuweilen die Entwicklung des Faches, daskaum Kontrolle darüber hat, wann von Fort-schritten der Erkenntnis gesprochen werdenkann, wo schlicht Wiederholungen vorliegenoder Verluste früherer Einsichten zu verzeich-nen sind. Theorien und Begriffe sind gegen-über ihrer eigenen Geschichte keineswegs sofrei, wie es die heutige Forschung zuweilenanzunehmen scheint. Das zeigt sich nichtzuletzt daran, dass Rückgriffe auf historischeTheoriepositionen oft unkritisch, kontextfreiund in naiver Legitimationsabsicht erfolgen.

Das vorliegende Historische Wörterbuchder Pädagogik verfolgt das Anliegen, Grund-

Vorwort

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begriffe und Grundprobleme der Theorie-und Wissenschaftsgeschichte des pädagogi-schen Feldes mit den Mitteln der heutigenForschung so darzustellen, wie es den Bedürf-nissen einer umfassenden theoretischen undhistorischen Orientierung entspricht. Damitverbunden ist die weitere Absicht, die sichzuweilen als junge Disziplin (miss)verste-hende Erziehungswissenschaft mit den Refle-xionstraditionen der Pädagogik zu konfron-tieren. Auf diese Weise kann zumindest dieChance dafür verbessert werden, dass sich dieTheoriediskussion in Kenntnis der Theoriet-raditionen vollzieht. Daraus folgt keineswegs,dass die Tradition unmittelbar dazu herange-zogen werden könnte, um die Entwicklungder Disziplin produktiv voranzutreiben.Anders, als frühere Formen der Geschichts-schreibung angenommen haben, sind nachheutigen Vorstellungen die vielfältigen Strängeder kulturell mehrfach kodierten abendländi-schen Pädagogik nicht unmittelbar normativoder systembildend zu nutzen.

Der Anstoß, ein Historisches Wörterbuchder Pädagogik zu konzipieren, geht auf eineRezension von Ulrich Herrmann aus demJahre 1986 zurück, welche darauf aufmerk-sam machte, dass Wörterbücher anderer Dis-ziplinen, so erhellend sie im Einzelfall für dietheoretische Pädagogik und Erziehungswis-senschaft auch sein mögen, die Besonderheitpädagogischer Konzepte zuweilen nicht tref-fen.1 Wo in solchen Kompendien pädagogi-sche Stichworte oder Begriffe behandelt wer-den, unterschreiten sie vielfach den gegebe-nen Forschungsstand oder marginalisierendie Konzepte zugunsten semantischer Schwer-punkte in anderen Wissenschaften. Die Ar-beitsteilung zwischen den Disziplinen hatlängst dazu geführt, dass ein historischesWörterbuch offenbar nicht mehr alle ihmzugedachten Aufgaben disziplinübergreifenderfüllen kann.

Die Planungen für ein Historisches Wör-terbuch der Pädagogik wurden von den Her-ausgebern gemeinsam mit Ulrich Herrmannim Jahre 1987 aufgenommen. Die Koopera-tion konnte bis zur Verständigung über die

wichtigsten Begriffe vorangetrieben werden.Ulrich Herrmann schied dann auf eigenenWunsch aus der Herausgeberschaft aus, umsich Aufgaben im Gründungsbeirat der Uni-versität Potsdam sowie dem Neuaufbau derPädagogik an der Universität Ulm zu wid-men. Wie recht er in der Annahme hatte, dassdie Herausgabe eines solchen Wörterbuchslange Zeit in Anspruch nehmen und nichtgeringe Frustrationen abverlangen werde,zeigte sich daran, dass bis zum Erscheinendes Bandes mehr als fünfzehn Jahre vergehensollten. Dafür gab es viele Gründe, von denennur die verallgemeinerungsfähigen kurzgenannt seien.

Ein wesentlicher Grund für die Termin-probleme in der Fertigstellung des Bandesist darin zu sehen, dass die historische undspeziell die theoriegeschichtliche Forschungin der Erziehungswissenschaft margina-lisiert worden ist. Die damit verbundeneIgnoranz trug dazu bei, dass die Aufarbei-tung der Theoriegeschichte nicht kurzfristigund in einem Ruck gelingen konnte. Man-che Autoren, die für einzelne Artikel gewon-nen wurden, benötigten ein Mehrfaches anZeit, um die ihnen zugedachte Aufgabe zubewältigen. Einige sprangen ab, neue mus-sten gewonnen werden. Am Ende aberkamen – wenngleich unter Inkaufnahmelanger Verzögerungen und ungleicher Ab-gabetermine – bis auf die Artikel »Bildungs-reform« und »Vergleichende Erziehungswis-senschaft« alle von uns geplanten Beiträgezustande.

Schon ein erster Blick auf die Stichwortelässt erkennen, dass vorzugsweise solcheBegriffe aufgenommen wurden, die auf einelange Theorie- und Problemgeschichte zu-rückblicken, welche die klassischen europäi-schen Epochen der Antike, des Mittelalters,der Renaissance, der Aufklärung und Klassiksowie der Moderne umfasst. Zusätzlich zudiesen wurden jedoch auch Begriffe mit einervergleichsweise kurzen Geschichte berück-sichtigt. Sie behandeln Gegenstände undSachverhalte, durch die sich die Pädagogik imKreis der Wissenschaften als Erziehungswis-senschaft mit in sich gegliederten Subdiszipli-nen etabliert hat.

8 Vorwort

1 Vgl. Zeitschrift für Pädagogik 32 (1986), S. 45.

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Sowohl die epochenübergreifenden alsauch die neuzeitlichen Termini und die nurauf das 19. und 20. Jahrhundert hin ausgeleg-ten Artikel beziehen sich auf den europäi-schen Kulturraum, dessen Vorstellungswelten– anders als der asiatische oder islamischeKulturraum – von Antike und Christentummit geprägt sind. Die theoriegeschichtlichenAnalysen in den einzelnen Artikeln sind,soweit jeweils möglich, international aus-gerichtet, wobei naturgemäß deutsche Beson-derheiten wie die Unterscheidungen von»Pädagogik« und »Erziehungswissenschaft«oder »Erziehung« und »Bildung« zu berück-sichtigen waren. Viele Artikel beziehen sichzugleich auf aktuelle internationale Diskus-sionen und Forschungsliteraturen. Zugleichmuss jedoch gesagt werden, dass ein univer-selles Wörterbuch, das auch die nicht-euro-päischen bzw. nicht von Europa ausgegange-nen Traditionen berücksichtigte, von Anfangan nicht angestrebt wurde.

Auf die Disziplin- und Wissenschaftsge-schichte der Pädagogik ist zurückzuführen,dass es sowohl einen Artikel »Pädagogik« gibt,der die gesamte Theoriegeschichte umfasst, alsauch einen Artikel »Erziehungswissenschaft«,der sich auf die letzten ca. 200 Jahre konzen-triert. Die Unterscheidung zwischen Pädagogikund Erziehungswissenschaft will nicht als einemetatheoretische Bestimmung, sondern alseine theorie- und disziplingeschichtlich be-deutsame Unterscheidung verstanden werden.Mit ihr sind Vermittlungsprobleme verbunden,die bis in die pädagogischen Grundbegriffeund die ausdifferenzierten Teildisziplinen hin-einreichen. Zur Unterscheidung von Pädago-gik und Erziehungswissenschaft gehört, dassdie mit ihr verbundenen Fragen offengelegtund diskutiert, nicht aber durch einfacheSprachregelungen gelöst werden können.

Die im Wörterbuch versammelten Be-griffe sind sowohl Grundbegriffe der Tradi-tion als auch solche der jüngeren Erziehungs-wissenschaft, die ohne Rückgriff auf sie ihrFeld nur mit Problemverlusten bearbeitenkönnte. Bei den Teildisziplinen zeigt sich diesdaran, dass Begriffen wie »Didaktik«, »Schul-pädagogik« oder »Lehren«, die auf eine langeTradition zurückblicken, andere gegenüber-

stehen, die, wie »Erwachsenenbildung« oder»Sozialpädagogik«, eine wesentlich kürzereGeschichte aufweisen. Von der Sache her wärees zwar möglich gewesen, auch sie auf einenlängeren Zeitraum auszulegen. Darauf wurdejedoch verzichtet, da solche Sichtweisen unterden Fachvertretern heute als unüblich angese-hen werden und in der Sache selbst dazugeführt hätten, dass es über Gebühr zu Wie-derholungen und Überschneidungen mitanderen Artikeln gekommen wäre. Die Folgehiervon ist, dass grundlegende Sachverhalteund Problemstellungen, die in den Artikelnzu jüngeren Begriffen ausgespart oder füreinen nur relativ kurzen Zeitraum behandeltwerden, in Artikeln zu Begriffen mit einerweiter zurückreichenden Problemgeschichtenachzuschlagen sind.

Die Auswahl der Stichworte hatte die Tat-sache zu berücksichtigen, dass ein fest umris-sener und genau definierter Korpus »pädago-gischer« Begriffe nicht existiert. Die meistenBegriffe sind sowohl umgangssprachlicher alsauch theoretischer Natur, werden sowohl inder Erziehungsphilosophie als auch in öffent-licher Rede gebraucht und haben sinndeu-tende Funktionen sowohl in der empirischenForschung als auch in der historischen Refle-xion. Wir haben solche Stichworte ausge-wählt, die im spezifischen Feld der Pädagogikund Erziehungswissenschaft ständig ge-braucht wurden und werden. Sie konstitu-ieren das Feld in begrifflicher und semanti-scher Hinsicht, ohne es an den Ränderngeschlossen zu halten oder Querverbindun-gen zu anderen Fächern auszuschließen.Andere Vorentscheidungen hätten zweifelloszu anderen Zuordnungen geführt, so dassunvermeidlich manche Begriffe vermisst wer-den. Wir gehen aber davon aus, dass die vonuns ausgewählten Stichworte in jeder denkba-ren Liste für ein Historisches Wörterbuch derPädagogik berücksichtigt werden müssten. DasPersonenregister am Ende des Bandes kanngenutzt werden, um die Bedeutung der Begriffebei einzelnen Autoren nachzuschlagen.

Insgesamt umfassen die alphabetischgeordneten Artikel allgemeine anthropologi-sche, die Pädagogik mit anderen Disziplinenverbindende Artikel sowie enger der Erzie-

Vorwort 9

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hung zugeordnete Begriffe, von denen einigeauch Einzeldisziplinen der Erziehungswis-senschaft betreffen. Die allgemeinen Artikelbeziehen sich auf die Stichwörter »Anthro-pologie, pädagogische«, »Arbeit«, »Bürger/bürgerlich«, »Familie«, »Generation«, »Ge-schlecht«, »Humanismus, humanistische Bil-dung«, »Individuum«, »Kultur«, »Leiblich-keit«, »Öffentlichkeit«, »Rhetorik«, »Spiel«,»Sinnlichkeit/Sensualismus«, »Subjektivitätund Intersubjektivität« sowie »Utopie«.

Zu den im engeren Sinne pädagogischenBegriffen gehören »Begabung«, »Bildsamkeit/Bildung«, »Didaktik«, »Erziehung«, »Jugend«,»Kind/Kindheit«, »Lehrer«, »Lehrplan«, »Ler-nen«, »Mündigkeit«, »Mütterlichkeit«, »Schu-le«, »Unterricht«, »Vaterbild und Männlich-keit« sowie »Vorbild und Beispiel«. AndereArtikel bezeichnen Teildisziplinen der Pädago-gik und Erziehungswissenschaft und zuweilenauch pädagogisch bedeutsame Institutionen,wie z.B. »Ästhetische Bildung«, »Berufsbil-dung«, »Demokratie/demokratische Erzie-hung«, »Didaktik«, »Erwachsenenbildung«,»Kindergarten«, »Moralerziehung/Tugend-bildung«, »Reformpädagogik«, »Religion/religiöse Erziehung«, »Schule/Schulpädago-gik«, »Sonderpädagogik«, »Sozialpädagogik«,»Staatspädagogik/Erziehungsstaat«, »Technikund Bildung/technische Bildung«. Wieder an-dere beziehen sich auf Reflexionskategorien,denen eine spezifisch pädagogische, aber kei-neswegs auf pädagogische Sachverhalte be-grenzte Bedeutung zukommt. Hierzu gehörenArtikel wie »Aufklärung«, »Autonomie, päda-gogische«, »Autorität«, »Emanzipation«,»Form«, »Methode« sowie »Theorie undPraxis«.

Bei der Planung des Wörterbuchs war vonAnfang an klar, dass ein solches Werk nichtvon einem Autor und auch nicht von einerkleinen Gruppe von Autoren zu bewältigenwar. Es musste also eine größere Anzahl vonAutoren gefunden werden. Die Arbeit an ein-zelnen Artikeln noch einmal auf verschiedene

Autoren zu verteilen, erschien uns hingegennicht ratsam, da dies zu einer Auflösung derStichwörter in eine Vielzahl von unverbun-denen Beiträgen geführt hätte. Daher sindalle Artikel integral verfasst. Die Herausgeberhaben die Entscheidung für den metho-dischen Zugriff nicht vorgeben, sondern denAutoren überlassen. Aus diesem Grunde fin-den sich in den Artikeln klassisch herme-neutische, eher kontextualisierende, mehrtheoriegeschichtliche und mehr disziplin-geschichtliche Ansätze. Der Stand der For-schung erlaubte es nicht, von einem einheit-lichen Methodenverständnis auszugehen.Angesichts der Heterogenität der Stichwortemuss der differenzierte Zugang kein Nachteilsein.

Dass das Vorhaben zu Ende geführt wer-den konnte, ist zunächst und primär derArbeit der Autorinnen und Autoren zu dan-ken, die zum Teil erhebliche Verzögerungenbis zur Veröffentlichung der fertiggestelltenArtikel in Kauf nehmen mussten und gleich-wohl keinen einzigen abgegebenen Artikelzurückgezogen haben. Ohne dieses Entge-genkommen hätten die Krisen in der allmäh-lichen Fertigung des Werks nicht bewältigtwerden können. Die Herstellung des Wörter-buchs erfolgte im Institut für AllgemeineErziehungswissenschaft der Humboldt-Uni-versität. Annette Heprich-Schoener dankenwir für die Schlussredaktion sowie die sprach-liche Bearbeitung der Artikel und CosimaFanselow für die Einarbeitung der Korrektu-ren in die Datensätze. Rüdiger Herth hat dieKoordination der Herstellung des Bandes imVerlag besorgt. Besonderen Dank schuldenwir Peter Kalb, der im Beltz-Verlag die Arbeitan diesem Historischen Wörterbuch derPädagogik mehr als fünfzehn Jahre lang mitWohlwollen und Geduld gefördert hat.

Berlin und Zürich im September 2003

Dietrich Benner und Jürgen Oelkers

10 Vorwort

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Der Begriff der ästhetischen Bildung ent-stand im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhun-derts und enthält die moderne Antwort aufdie alte Frage nach der Wirkung, die dasSchöne im Allgemeinen und die Kunst imBesonderen auf den Menschen ausüben. Derneue Begriff war historisch möglich und not-wendig geworden, in einem Augenblick, indem Kant in der »Kritik der Urteilskraft«(1790) die Kunst von allen heteronomenZwecksetzungen der Moral und der begriffli-chen Erkenntnis freigesprochen und Goethein seinem Roman »Wilhelm Meisters Lehr-jahre« (1794) das anschauliche Paradigmafür einen durch künstlerische Erfahrungenbereicherten Selbstbildungsprozess vorgelegthatte. Von nun an musste über die Wirkungdes Schönen und der Kunst auf den Men-schen neu und gesondert nachgedacht wer-den. Und genau das geschah. Die ästhetischeBildung avancierte in den Jahren um 1800 zueinem Schlüsselthema der pädagogisch inter-essierten intellektuellen Diskurse und ist es –zumindest latent – bis heute geblieben.1

1. Schönheitsmetaphysik und dieInstrumentalisierung der Kunstin Antike und Mittelalter

Schon die antiken Autoren und ihre mittelal-terlichen Nachfolger haben sich mit der Fragenach der Wirkung des Schönen und der Kunstauf den Menschen beschäftigt. Die Lösungen,die sie präsentieren, fußen jedoch allesamt aufeinem objektivistischen Schönheitsbegriffund einer normativen Ästhetik und rechtfer-tigen am Ende die Instrumentalisierung derKunst für heteronome, meist moralisch-sittli-che und religiöse Zwecke.

Für die vormodernen Theoretiker ist dasSchöne eine Eigenschaft der materiellen Welt,der Dinge wie der menschlichen Handlungenund Körper. Schönheit ist ein objektiver Sach-verhalt und kein subjektives Reflexionsurteil.Über das Schöne entscheidet die harmonischeAnordnung der Teile, ihr ausgewogenesVerhältnis zueinander also, und die Angemes-senheit an die jeweilige Situation, d.h. daszweckmäßige Verhältnis eines Gegenstandesoder eines Vorganges zu seinem äußeren Kon-text. Entsprechend wird Schönheit seit denPythagoräern immer wieder definiert durchMerkmale wie Maß, Ordnung, Symmetrie,Proportion oder Größe. Platon etwa, der diepythagoräische Ästhetik aufgegriffen und anvielen versprengten Stellen seiner Schriftenweiterentwickelt hat, fordert im ›Philebos‹vom Schönen, dass es begrenzt und eben-mäßig sei und dass seine Teile in einemproportionierlichen Verhältnis zueinanderstünden (vgl. Platon: Philebos 25d-26b; Ti-maios 87c-e).2 In anderen Dialogen hat ersogar konkrete Beispiele für die richtigenMaßverhältnisse angegeben. Auch Aristotelesbleibt im Wesentlichen der pythagoräischen

Michael Parmentier

Ästhetische Bildung

1 Vgl. K. Mollenhauer: Ist ästhetische Bildung mög-lich? In: Zeitschrift für Pädagogik 34 (1988),S. 443-461; K. Mollenhauer: Zwischen Kritik undSelbstgewißheit. In: Zeitschrift für Pädagogik 36(1990), S. 481-494; D. Lenzen (Hrsg.): Kunst undPädagogik. Darmstadt 1990; M. Parmentier: Mög-lichkeitsräume. Unterwegs zu einer Theorie derästhetischen Bildung. In: Neue Sammlung 33(1993), S.303-314; F. Werschkull: Ästhetische Bil-dung und reflektierende Urteilskraft. Zur Dikus-sion ästhetischer Erfahrung bei Rousseau undihrer Weiterführung bei Kant. Weinheim 1994; K.Mollenhauer: Grundfragen ästhetischer Bildung.Weinheim 1996; zur musikalischen Bildung vgl. C.Dietrich: Wozu in Tönen denken. Historische undempirische Studien zur bildungstheoretischen Be-deutung musikalischer Autonomie. Kassel 1998.

2 Vgl. Platon: Werke in 8 Bänden, hrsg. v. G. Eigler.Darmstadt 2001.

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Tradition verpflichtet. Im 7. Kapitel seinerPoetik konstatiert er, das Schöne sei »beieinem Lebewesen und bei jedem Gegenstand,der aus etwas zusammengesetzt ist, nicht nurdadurch bedingt, dass die Teile in bestimmterWeise angeordnet sind; es muss vielmehr aucheine bestimmte Größe haben. Das Schöne be-ruht nämlich auf der Größe und der Anord-nung« (Aristoteles: Poetik, 7. Kapitel).3

Doch durch welche objektiven Merkmaleund welche objektiven Merkmalskonstella-tionen auch immer das Schöne bestimmtwird, schön sind die Dinge für Platon undAristoteles am Ende nur deshalb, weil sieeinen intelligiblen Grund haben. Platon fin-det diesen Grund in der Welt transzendenterWesenheiten, den sogenannten Ideen. Nachseiner Lehre ist jedes sichtbare Ding nur dieleibhafte Repräsentanz seines sinnlich nichtwahrnehmbaren Eidos. In ihm besitzen dieempirischen Sachverhalte den bestimmendenGrund, das Fundament ihres Seins. Das giltauch für die schönen Dinge. Sie sind schönnur, weil und insofern sie partizipieren an derjenseitigen Idee des Schönen. Das körperlichSchöne in der Welt ist nur Abbild seinesideellen Urbildes. Und weil dieses Urbild un-vergänglich sein soll, kann es nach Platondem Vergänglichen nicht innewohnen. Esmuss jenseits davon in einer überirdischenSphäre existieren. Von dort verhält es sich zuseinen gegenständlichen Abbildern wie dasHöhere zum Niederen, wie das bestimmendePrinzip zur bestimmbaren Materie. Auchunter den Ideen gibt es noch einmal höhereund niedere. Die niederen beziehen ihrbestimmtes Sein von den Ideen jeweils über-geordneter Art. So entsteht eine Stufenleiterdes Schönen. Auf der ersten Stufe steht dieleibliche Schönheit, auf der zweiten die seeli-sche und auf der dritten und vierten folgendie schönen Tätigkeiten und schönen Er-kenntnisse. All diese Schönheiten erhaltenihren Wert in der Ranghierarchie durch dieEntfernung zum höchsten Schönen, der ewi-gen Idee des Schönen selbst (vgl. Platon:Symposion 210-211e).

Für Platon ist die Idee des Schönen unzer-trennlich verbunden mit dem seinsmäßigHöchsten, zu dem die Vernunft aufsteigenkann, der »Idee des Guten« (vgl. Platon: Poli-teia 517b-d). Was schön ist, das Ebenmäßigeund Wohlproportionierte, soll auch mora-lisch richtig sein. Das entspricht durchausdem griechischen Denken jener Zeit. In ihmverschmilzt das Schöne und das Gute zuridealen Einheit der Kalokagathia. Platon hatdieses traditionelle Motiv nur aufgegriffenund in seiner Philosopie neu legitimiert (vgl.Platon: Symposion 212a; Timaios 87c; Phile-bos 64e). Für die Kunst war damit ein nor-mativer Bezugspunkt geschaffen. Sie sollOrdnung und Maß repräsentieren und dieMenschen zur Idee des Schönen und Gutenerheben. Für diesen Zweck stehen ihr im We-sentlichen zwei Verfahren zur Verfügung: dieHervorbringung schöner und nützlicherDinge und die Nachahmung. Entsprechendunterscheidet Platon die hervorbringendenvon den nachahmenden Künsten. Zu den ers-teren zählt er die verschiedenen Handwerke,die Architektur und auch Teile der Musik, zuden letzteren – vereinfacht gesagt – allesÜbrige: Schauspiel, Tanz, Dichtung, die bil-dende Kunst, Malerei, Plastik, und Teile derMusik.

Beide, die mimetischen Künste ebensowie die hervorbringenden Künste, dienen inerster Linie einem erzieherischen Zweck. Siesollen durch vorbildhafte Darbietung dieTugend befördern und dürfen deshalb nichtvon der Idee des Guten und des Schönen,vom richtigen Maß und der angemessenenOrdnung abweichen. In dem zentralen Werkseiner mittleren Jahre, der ›Politeia‹, hat Pla-ton neben der Gymnastik vor allem dieMusik als ein Mittel der moralischen Erzie-hung empfohlen, weil Zeitmaß und Wohl-klang am tiefsten in die Seele eindringen.Die kämpferischen Naturen unter den He-ranwachsenden sollen so vor der Verhärtungbewahrt und die etwas weichlichen Gemütermit Mut und Entschlossenheit erfüllt wer-den. Für besonders zuträglich hält er dabeidie dorischen und phrygischen Melodien.Sie erzeugen nach seiner Auffassung in derJugend die rechte »Stimmung« und stärken

12 Ästhetische Bildung

3 Zitiert nach Aristoteles: Poetik, übers. und hrsg.von M. Fuhrmann. Stuttgart 1994, S. 25.

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die Tugend der Tapferkeit (andreia) undBesonnenheit (sophrosyne) (vgl. Platon:Politeia 398c-403c).

Auch die Dichtung hat nach Platon dieAufgabe, den Menschen zu bessern. Doch ihrund ihren Wirkungen gegenüber scheint ihmäußerste Vorsicht geboten. Da die Gegen-stände, die von den nachahmenden Künstennachgeahmt werden, selber nur Nachahmun-gen der ewigen Ideen sind, befinden sich alleKunstwerke gleich zwei Seinsstufen unter denIdeen. Als Abbilder von Abbildern sind sienach Platons Lehre noch scheinhafter als alleErscheinungen und von einem uneinholba-ren Verlust an Substanz gegenüber den unver-änderlichen Ideen geschlagen, eigentlich nurSchatten von Schatten. Durch diese doppeltgebrochene Beziehung zu den wahren Urbil-dern sind die nachahmenden Künste immerin der Gefahr, die Unwahrheit zu sagen. Stattden Aufschwung der Seele zu den ewigenIdeen zu befördern, neigen sie dazu, sichquerzustellen und durch die Darstellung vonFiktionen und fragwürdigen Leidenschaftenden Charakter der Menschen zu verderben.

Dieser drohenden Gefahr sind nun ausder Sicht Platons die nachahmenden Künsteseiner Zeit, und unter ihnen vor allem dieDichtung, erlegen. Er wirft ihr vor, ein ver-zerrtes Bild von der Wirklichkeit zu geben.Sie sei eine Kunst der Irreführung, lehre diefalschen Götter und wende sich zudem, stattan die Seele insgesamt, nur an deren unver-nünftigen Teil, an die niederen Triebe undAffekte. Kurz, sie sei nicht imstande Men-schen zu bilden und habe deshalb in der Polisnichts zu suchen. Um die schädlichen Wir-kungen der Kunst auszuschließen, erfindetPlaton die Zensur. Er legt bis in die Einzelhei-ten fest, was zulässig ist und was nicht. Alles,was in der Kunst den erwünschten erzieheri-schen Wirkungen nicht entspricht, wird ver-boten: die despektierliche Darstellung derGötter bei Hesiod und Homer ebenso wie diewehleidigen und wilden Tonarten und Rhyth-men (vgl. Platon: Politeia 377c-398b; 602c-606b). Am Ende will Platon für die Erziehungin seinem Idealstaat nur Götterhymnen undPreislieder auf tüchtige Männer zulassen.»Platons politische Ideale dulden einzig eine

gereinigte, gesinnungsertüchtigende Zweck-poesie.«4 Lust und Wohlgefallen an der Kunsthält der Moralist Platon ohnehin für sekun-där. Sie sind für ihn nur eine willkommeneZugabe. Wo staatstragende Wirkungen er-wartet, Charakterbildung und die Erkenntnisdes Guten zum Kriterium erhoben werden,muss aus seiner Sicht Korrektheit herrschen,nicht das sinnliche Vergnügen.

Aristoteles hat die Akzente anders gesetzt.Er widerspricht der Ideenlehre seines Lehrersund verzichtet gleichwohl nicht auf die An-nahme eines intelligiblen Grundes für dieSchönheit der Dinge. Dieser Grund existiertbei ihm allerdings nicht mehr als jenseitigesUrbild für sich und getrennt von den empiri-schen Einzeldingen, sondern in ihnen. Aris-toteles macht aus der platonischen Idee eineimmaterielle Form, die als gestaltendes Prin-zip dem stofflichen Substrat jedes Einzeldingsinnewohnt und den Prozess seiner Differen-zierung und Organisation zu seinsmäßighöheren Gebilden in allen Phasen steuert.Mit dieser Neuerung überwindet er die Statikder platonischen Weltkonzeption. An dieStelle des raumzeitlichen Auseinander vonsinnlichem Ding und übersinnlicher Ideetritt bei ihm ein Form und Materie umfas-sendes Werden.

Natürlich schlägt diese philosophische Ge-samtkonstruktion durch auf das ästhetischeDenken des Aristoteles, das, anders als imFalle von Platon, in einer zusammenhängen-den, wenn auch spröden und nur fragmenta-risch erhaltenen Abhandlung, der Poetik,überliefert ist. Die poetologischen Konse-quenzen sind jedoch weniger spektakulär alsman zunächst glauben möchte. Im Vergleichzu Platon zeigen sie sich vor allem in einergrößeren Nähe zur Empirie. Während PlatonsEhrgeiz sich darauf konzentriert, eine Be-gründung für den Vorbildcharakter desSchönen und dessen erzieherisch-praktischeFunktion zu liefern, interessiert sich Aristote-les eher für die Untersuchung der künstleri-schen Formgesetze und ihrer seelischenWirkungen. Im Übrigen aber folgt er dem von

Ästhetische Bildung 13

4 M. Fuhrman: Dichtungstheorie der Antike. Aris-toteles-Horaz-›Longin‹. Darmstadt 1992, S. 92.

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Platon etablierten Typus einer normativenÄsthetik. Auch Aristoteles teilt die Künste inhervorbringende und nachahmende. Unterden nachahmenden unterscheidet er nocheinmal – in Vorwegnahme der horazschenMaxime »ut pictura poesis« – gleichrangig dieMalerei und Bildhauerei auf der einen Seitevon der Poiesis auf der anderen. Für die Zu-ordnung der verschiedenen Kunstgattungenzur Poiesis-Kategorie war dabei nicht, wieman nach heutigem Sprachgebrauch erwar-ten könnte, die metrisch geformte Rede ent-scheidend, sondern die Nachahmung vonhandelnden Menschen, Leidenschaften undCharakteren. Zur Poiesis zählt Aristoteles des-halb neben der Dithyrambendichtung unddem Schauspiel auch bestimmte Gattungender Prosaliteratur, den größten Teil der Flö-ten- und Kitharamusik und den Tanz.

Dass Nachahmung hier nicht einfachgleichbedeutend sein kann mit einem sklavi-schen Abklatsch der Wirklichkeit, liegt ange-sichts dieser Zusammenstellung auf derHand. Das Verhältnis der nachahmendenKünste zur Realität ist bei Aristoteles offenbarsymbolischer Natur. Nur unter dieser Voraus-setzung gewinnen diese Kunstgattungen, dieMalerei und Plastik ebenso wie die poieti-schen Künste, den Möglichkeitsraum, denAristoteles am Beispiel der Dichtung für sievindiziert. Nach Aristoteles ist es nämlich»nicht Aufgabe des Dichters mitzuteilen, waswirklich geschehen ist, sondern vielmehr, wasgeschehen könnte« (Aristoteles: Poietik, 9.Kapitel). Der nachahmende Künstler sollschöpferisch sein und die Potentiale derWirklichkeit zum Besseren wie zum Schlech-teren hin ausloten. Vor allem der Dichter hatdabei das Recht, von der Erfahrungswelt desAlltags idealisierend, wie in der Tragödie,oder karikierend, wie in der Komödie, ab-zuweichen. Durch diesen schöpferischenGestaltungsspielraum ist »Dichtung etwasPhilosophischeres und Ernsthafteres alsGeschichtsschreibung; denn die Dichtungteilt mehr das Allgemeine, die Geschichts-schreibung hingegen das Besondere mit«(Aristoteles: Poietik, 9. Kapitel). Die größereAllgemeinheit verleiht der Dichtung aucheinen höheren Rang. Sie liefert Modelle statt

Reportagen von der Wirklichkeit und kommtdadurch der Wahrheit näher.

Wie in der Konzeption von Platon so be-sitzt auch in der Konzeption von Aristotelesdie Kunst keine Autonomie. Aristoteles betontzwar deutlicher als sein Lehrer das sinnlicheund intellektuelle Vergnügen, das von denKünsten hervorgerufen wird, doch am Endeunterwirft auch er sie einem externen Zweck.Die Kunst sei – wie die Wissenschaften und diePhilosophie – eine edle Beschäftigung (dia-goge), die das Angenehme mit dem Nützli-chen verbinde und so der moralischen undgeistigen Vervollkommnung diene. In Bezugauf die moralisch-erzieherische Funktion derKunst waren sich Aristoteles und Platondurchaus einig. Doch während dieser voneiner direkten, linearen Wirkungsrichtungausging, nach der – im negativen Fall – dieDarstellung von schädlichen Leidenschaftendas Publikum ansteckt und verdirbt, setzt Aris-toteles auf eine eher indirekte, gegenläufigeWirkungsmechanik. Er erkennt, dass es im In-teresse des seelischen Gleichgewichts und dermoralischen Vervollkommnung manchmalbesser sein kann, Affekte auf eine kontrollierteWeise freizusetzen als zu unterdrücken.5 DenOrt für diese kontrollierte Form der Affektbe-freiung sieht er im Theater und das geeigneteMedium in der Tragödie. Denn die Kunst derTragödie scheint ihm wie keine andere in derLage, »Jammer« (eleos) und »Schrecken«(phobos) hervorzurufen,6 zwei heftige Affekte,die von physischen Reaktionen wie Tränen,Gänsehaut und Zähneklappern begleitet wer-den und mit Zetern und Wehgeschrei verbun-den sind, und die deshalb die Voraussetzungfür eine sehr tiefe und durchgreifende Seelen-hygiene der Zuschauer bieten (vgl. Aristoteles:Poietik. 6. Kapitel). Das Verfahren dieser See-lenhygiene hat Aristoteles »Katharsis« ge-nannt. Sie bildet den ebenso berühmten wievieldeutigen Schlüssel zu seiner Auffassungvon der erzieherischen Wirkung der Kunst.

Die Unklarheit des aristotelischen Kathar-sisbegriffs hat bis in die Gegenwart eine Un-

14 Ästhetische Bildung

5 Vgl. M. Fuhrmann: Dichtungstheorie der Antike.A.a.O., S. 91.

6 Vgl. ebd., S. 92ff.

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zahl von divergierenden Auslegungen provo-ziert. Im Kern geht es dabei aber immer umdie Frage, ob Aristoteles mit seinem Kathar-sis-Programm die Reinigung der Gefühleoder die Reinigung von den Gefühlen ange-strebt hat. Ging es ihm um Sublimierungoder um Entladung? Erhoffte er sich die Ver-edelung oder die Beseitigung der Affekte?7

Gotthold Ephrahim Lessing, ein Anhängerder ersten Version, versteht Katharsis als»Verwandlung der Leidenschaften in tugend-hafte Fertigkeiten«.8 Nach seiner Inter-pretation der aristotelischen Poetik soll dieTragödie die extremen Affektspitzen beimZuschauer, das jeweilige Zuviel oder Zuwenigan Mitleid und Furcht, auf ein mittleres, derTugend zuträgliches Niveau transformieren.Für Lessing ist – wie für alle Anhänger dieserDeutungsrichtung – die Kultivierung der Af-fekte das Ziel der Katharsis: Die Reinigunggilt ihnen. Das ist in der zweiten Deutungs-richtung anders. Sie gewinnt im 19. Jahrhun-dert allmählich die Oberhand und verstehtKartharsis eher in einem fast stofflichenSinne als Abfuhr oder Entladung. Die Affektebilden hier nicht mehr das Ziel, sondern denAnlass der Reinigung: Sie sind der Dreck, denes wegzuschaffen gilt. Bernay, ein früher Ver-treter dieser Position, sieht dann auch in derKatharsis weniger einen erzieherischen alseinen therapeutischen Vorgang.9 Die Tragö-die soll seelisch beklemmende Zustände undBewegungen nicht verwandeln, sondern auf-regen, hervortreiben und dann durch AbfuhrErleichterung bewirken. Sie sei dazu da,den Zuschauer über die Erregung von Mit-leid und Furcht von seinen emotionalenSchlacken zu befreien und ihm so sein inne-res Gleichgewicht zurückzugeben.10 So hat esauch Wolfgang Schadewaldt gesehen. Derkathartische Effekt bestehe in der Erleichte-

rung und der Befreiung von den zuvor erreg-ten und wieder weggeschafften Affekten desSchreckens und der Rührung.11

Auch der »orgiastischen« Musik, die demErholungsbedürfnis der arbeitenden Bevöl-kerung Rechnung trägt, hat Aristoteles im 8.Buch der Politeia eine kathartische Wirkungzugebilligt. Doch im Unterschied zu der Kath-arsis, die von der Tragödie ausgelöst wird, hälter die der »orgiastischen« Musik in sittlicherund erzieherischer Hinsicht für völlig wert-los. Sie verschaffe nur dem gewöhnlichenVolk, den kleinen Leuten und Tagelöhnern,die ihren Lebensunterhalt selbst verdienenmüssen, eine lustvolle Erleichterung vomDruck der Arbeit. Für das sich in Mußeerfüllende Leben der Freien und Gebildetenunter den Zuhörern sei diese Musik so un-geeignet wie für die Jugendbildung. Ganzanders die Tragödie. »Sie ›reinigt‹ den Zu-schauer, indem sie ihm die Grenzen und dieGefährdung seiner menschlicher Existenz vorAugen führt und ihn auf diese Weise zurSelbsterkenntnis nötigt.«12

Die Bedeutung, die der Kunst für das ra-tionale Geschäft der Erziehung zuerkanntwurde, führte dazu, dass im Laufe der Zeitdie vorplatonische Auffassung, nach der derKünstler, insbesondere der Dichter, bei derHervorbringung seines Werkes auf unver-fügbare, irrationale Kräfte von außen, auf In-spiration durch die Musen und Götterangewiesen sei und sich deshalb in einem Zu-stand der Entrückung, der Ekstase und desEnthusiasmus befinden müsse, allmählich anGewicht verlor. Platon hatte sich diese Auffas-sung vom Dichter als einem Medium göttli-cher Kräfte zwar partiell noch einmal zu eigengemacht, und im ›Ion‹ die Dichter als Dol-metscher der Götter bezeichnet (vgl. Platon:

Ästhetische Bildung 15

7 Vgl. W. Tatarkiewiczs: Geschichte der Ästhetik.Band 1: Die Ästhetik der Antike (1969). Basel/Stuttgart 1979, S. 179.

8 G.E. Lessing: Hamburgische Dramaturgie. 78.Stück.

9 Vgl. J. Bernays: Grundzüge der verlorenen Ab-handlung des Aristoteles über Wirkung derTragödie (1857). Hildesheim/New York 1979.

10 Vgl. M. Fuhrmann: Dichtungstheorie der Antike.A.a.O., S. 102.

11 Vgl. W. Schadewaldt: Furcht und Mitleid? In:Ders.: Hellas und Hesperien 1. Zürich 1970,S. 224; vgl auch H. Flashar: Die medizinischenGrundlagen der Lehre von den Wirkungen derDichtung in der griechischen Poetik. In: Ders.: Ei-dola. Ausgewählte kleine Schriften. Amsterdam1989, S. 109-145.

12 M. Fuhrmann A.a.O., S. 110; vgl. Chr. Wagner:›Katharsis‹ in der aristotelischen Tragödiendefini-tion. Grazer Beiträge 11 (1984), S. 73; vgl. St. Hal-liwell: Aristotle’s Poetics. London 1986, S. 190ff.

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Ion 534e). Auch im ›Phaidros‹ spricht er vonder Dichtung als einer ›erhabenen Raserei‹(mania) (vgl. Platon: Phaidros 245a). Aberschon Aristoteles konnte mit der Enthusias-mustheorie nichts mehr anfangen. Die gottge-sandte Mania schrumpft bei ihm zumangeborenen Talent. Für Aristoteles ist dasKunstwerk ein handwerkliches Erzeugnis, Re-sultat einer techne, die auf Regeln beruht undlehr- und lernbar ist. Diese Techne-Doktrinder künstlerischen Produktion wurde ka-nonisch und blieb bis tief in die Neuzeitunangefochten in Geltung. Das zeigen die un-zähligen Traktate mit technischen Vorschrif-ten und handwerklichen Tips, von denPoetiken des Horaz und des »Longin« bis zuden Konstruktionslehren Piero della Frances-cas und Dürers. Sie alle spiegeln die Überzeu-gung von der technischen Machbarkeit derKunstwerke und ihrer kalkulierbaren Verwen-dung zur sittlichen und religiösen Erziehung.

Das Mittelalter übernimmt das ästhetischeDenken der Antike und wiederholt es – kaumverändert – unter christlichen Vorzeichen.Dabei gibt es Varianten: mal dominiert dasplatonische, mal das aristotelische Erbe.Doch sonst bleibt alles mehr oder wenigerbeim Alten. Auch die mittelalterlichen Auto-ren operieren mit einem objektivistischenSchönheitsbegriff. Schönheit gilt als eine Ei-genschaft der Dinge und zeigt sich – wieschon bei den Pythagoräern – vor allem inOrdnung, Maß und Zahl. Dazu kommenFarbe und Licht.13 Als Thomas von Aquin aufdem Gipfel der Hochscholastik die Quintes-senz des mittelalterlichen Schönheitsbegriffsformuliert, befindet er sich noch ganz imBannkreis der antiken Vorlagen. Die dreiMerkmale, die aus seiner Sicht zur Schönheiterforderlich sind, hätte – vielleicht mit Aus-nahme der claritas – auch ein antiker Autoranführen können: »Ad pulchritudinem triarequiruntur. Primo quidem integritas siveperfectio: quae enim diminuta sunt, hoc ipsoturpia sunt. Et debita proportio sive conso-

nantia. Et iterum claritas: unde quae habentcolorem nitidum, pulchra esse dicuntur.« –»Zur Schönheit sind drei Dinge erforderlich.Erstens die Unversehrtheit oder Vollendung;die Dinge nämlich, die verstümmelt sind,sind schon deshalb hässlich. Ferner dasgebührende Maßverhältnis oder die Überein-stimmung. Und schließlich die Klarheit: Des-halb werden Dinge, die eine strahlende Farbehaben, schön genannt.«14

Und wie in der Antike gelten die Dingeauch im Mittelalter nur deshalb als schön,weil sie etwas Übersinnliches repräsentieren.Die antike Trennung des sinnlichen Phäno-mens von seiner an sich seienden Idee wie-derholt sich in christlichem Gewande. AllesSchöne in der Welt wird nun betrachtet als»imago Dei«. Es verweist auf Gott, der selbstnicht nur die ewige Wahrheit, sondern auchdie ewige Schönheit ist: »Pulchritudo semperantiqua et semper nova.«15 Als Schöpfer allerSchönheit der Welt hat Gott gleichsam sichselbst über das Geschaffene ausgegossen.Kurz: »Wenn man an den Dingen das Schönewahrnimmt, so ist es nicht deren eigeneSchönheit, sondern der Widerschein dereinen und einzigen Schönheit Gottes.«16

Die Aufgabe der Künstler ist es, in ihrenWerken auf diese Schönheit hinzuweisen. Siesollen das Unsichtbare sichtbar machen unddie Schönheit Gottes vergegenwärtigen. Undweil diese höchste Schönheit aufs Engste ver-bunden ist mit der absoluten Wahrheit, ob-liegt es den Künstlern, auch diese nochdarzustellen. Ihre Arbeit bezweckt beides: Re-präsentation Gottes und Verkündigung sei-ner Botschaft. Sie soll die Menschen sowohlzur Anbetung und Lobpreisung Gottes anlei-ten als auch durch das Zeugnis der Wahrheitim Glauben festigen. Für beide Funktionenist die mittelalterliche Kunst auf Symbole an-gewiesen, auf anschauliche Bilder, auf Chiff-ren und Metaphern. Nur symbolisch kanndie jenseitige Wirklichkeit vergegenwärtigt

16 Ästhetische Bildung

13 Vgl. E. Zwick: Man nennt das Bild des Teufels»schön«. Bemerkungen zur Eigenstruktur mittel-alterlicher Ästhetik. In: G. Biewer/P. Reinhartz(Hrsg.): Pädagogik des Ästhetischen. Bad Heil-brunn 1997, S. 43.

14 Thomas von Aquin: Summa Theologica I, 39, 8.Zitiert nach E. Zwick: Man nennt das Bild desTeufels »schön«. A.a.O., S. 43.

15 Augustinus, Confessiones X, 27. Zitiert nachZwick. Ebd.

16 Ebd., S. 42.

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und die Wahrheit des christlichen Glaubensverkündet werden. Der Goldgrund der Bildersymbolisiert das Jenseits und das Bildpro-gramm im Kirchenportal die Heilsgeschichte.

Aus dieser Verwiesenheit auf symbolischeVermittlungen erwächst im 8. und 9. Jahr-hundert ein theologisch-dogmatisches Prob-lem, das zu schweren z.T. kriegerischen undgewalttätigen Auseinandersetzungen führtund unter dem Stichwort Bilderstreit dieChristenheit des Mittelalters immer wiederbeschäftigt. Die eine Partei wollte die Bilderals Symbole verstehen, die auf Gott verweisenund insofern auch als relativer Gegenstandverehrungswürdig sind. Sie hielt den Ge-brauch solcher Bilder zur Darstellung Gottesund zur Verkündigung des Heilsgeschehenim religiösen Kult für gerechtfertigt. Die an-dere Partei dagegen fürchtete die Gleichset-zung des Abbildes mit dem Urbild (Idolatrie)und damit ein Abgleiten in den Götzen-dienst. Sie argwöhnte, dass sich die Bilderverselbständigen könnten gegenüber dem,worauf sie verweisen, und in dieser Autono-mie selbst zum Gegenstand der Anbetungwürden. Deshalb verurteilte sie aufs schärfstedie Verwendung von Bildern und betrieb z.T.unter blutigen Verfolgungen deren Zer-störung (Ikonoklasmus).17

2. Die moderne Theorie der ÄsthetischenBildung: Kants Ästhetik und Schillers»Briefe«

In der Argumentation der Bilderfeinde vonPlaton bis zu den Ikonoklasten des Mittel-alters hat auch die Vormoderne vielleichtschon etwas geahnt von der Unverfügbarkeitder Kunst und ihren unbotmäßigen Wirkun-gen. Doch die Verpflichtung gegenüber einerzweitausendjährigen Schönheitsmetaphysikhat diese Ahnung tabuisiert und ihren

Durchbruch zur Erkenntnis dessen, was wirheute die Autonomie der Kunst nennen,lange verhindert. Zur Überwindung derantik-christlichen Schönheitslehre kommt eserst im Verlaufe der Neuzeit. In einem lang-gestreckten historischen Prozess, der mit derRenaissance beginnt, lösen sich die Künstleraus den heteronomen Ordnungen des Zunft-systems und der Bevormundung durch staat-liche und kirchliche Autoritäten und befreiendie Kunst von jeglicher Instrumentalisierung.Die Emanzipation wird begleitet und unter-stützt von einem Denken, das den Ursprungder Schönheit nicht mehr im Jenseits sucht,sondern in einer subjektiven Empfindung,dem Geschmack. Der Begriff beherrschtdie Poetik und Kunstkritik des 17. und 18.Jahrhunderts von La Rochefoucauld bisGottsched und bedeutet in all seinen sen-sualistischen und rationalistischen Variantenden Abschied von einer objektivistischenSchönheitslehre. Am deutlichsten hat dieswohl Spinoza zum Ausdruck gebracht. Ineinem Brief vom September 1674 schreibt er:»Die Schönheit, verehrter Herr, ist nicht sosehr eine Qualität des betrachteten Gegen-standes (objecti) als vielmehr eine Wirkung(effectus) in dem Menschen, der den Gegen-stand betrachtet.«18 Das kam einer Revolu-tion gleich. Das neue Schönheitsdenken stelltdie vormodernen Konzeptionen vom Kopfauf die Füße und kulminiert schließlich inder Unabhängigkeitserklärung der Kunst vonallen äußeren Zwecksetzungen.

Zum endgültigen Durchbruch gelangtdieses Denken in Kants »Kritik der Urteils-kraft«. Sie bringt die kopernikanische Wendeim ästhetischen Diskurs und ist das wohlbedeutendste Ereignis in diesem Feld seitden antiken Theorien. Für Kant sind dieDinge schön nicht mehr auf Grund vonobjektiven – wie immer metaphysisch veran-kerten – Eigenschaften, sondern auf Grunddes eigentümlichen, von allen anderen Artenunterschiedenen Gefühls der Lust, das sie

Ästhetische Bildung 17

17 Vgl. H. Bredekamp: Kunst als Medium sozialerKonflikte. Bilderkämpfe von der Spätantike biszur Hussitenrevolution. Frankfurt a.M. 1975; A.Bryer/J. Herrin (Hrsg.): Iconoclasm. Birmingham1977; H. Belting: Bild und Kult. Eine Geschichtedes Bildes vor dem Zeitalter der Kunst. München1990.

18 B. Spinoza: Brief LVIII an H. Boxel (1674). Zitiertnach W. Tatarkiewiczs: Geschichte der Ästhetik. 3Bände. Die Ästhetik der Neuzeit (1967). Basel/Stuttgart 1987, S. 383.

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auslösen. Wer einen Gegenstand als schönbeschreibt, fällt deshalb ein Urteil, dessenBestimmungsgrund »nicht anders als subjek-tiv sein kann«.19 Mit dieser Schlussfolgerungüberwindet Kant die Tradition des objektivis-tischen Schönheitsbegriffs und mit ihr dieAuffassung, die das ästhetische Urteil alsErkenntnisurteil missversteht.

Erkenntnisurteile sind bestimmende Ur-teile. Sie verfügen schon über den allgemei-nen Begriff, unter den sie die gegebeneVorstellung subsumieren. Ästhetische Urteiledagegen sind reflexive Urteile. Sie müssenden allgemeinen Begriff auf dem Wege desVergleichs erst noch finden. Doch im Unter-schied zur gewöhnlichen Reflexion vergleichtdie Urteilskraft in der ästhetischen Reflexionnicht eine gegebene Vorstellung mit eineranderen Vorstellung, sondern »mit ihremVermögen, Anschauungen auf Begriffe zu be-ziehen« (I. Kant: Kritik der Urteilskraft, VII,S. 100). Anders gesagt: in der ästhetischen Re-flexion ist die Urteilskraft »sich selbst, subjek-tiv, Gegenstand sowohl als Gesetz« (ebd., §36, S. 219). Sie vergleicht anlässlich einer ge-gebenen Vorstellung reflexiv ihre beiden ei-genen Erkenntnisvermögen miteinander,die Einbildungskraft als Vermögen der An-schauungen a priori und den Verstand alsVermögen der Begriffe. Wenn »in dieser Ver-gleichung« die beiden Erkenntnisvermögen»durch eine gegebene Vorstellung unabsicht-lich in Einstimmung versetzt« werden (ebd.,VII, S. 100), kommt es zu einer ästhetischenErfahrung. Sie besteht Kant zufolge in demfreien und harmonischen Spiel von Einbil-dungskraft und Verstand und ist durchkeinen praktischen Zweck und kein theoreti-sches Interesse »auf eine besondere Erkennt-nisregel einschränkt« (ebd., § 9, S. 132). Weiles sich dabei allein um das Spiel der beidenVermögen, und nicht um das Spiel einer ge-gebenen Anschauung mit einem bestimmtenBegriff handelt, kann die ästhetische Erfah-rung kein irgendwie gearteter Modus von Er-kenntnis sein. Die ästhetische Erfahrung, d.h.

das Zusammenspiel von Einbildungskraftund Verstand, führt zu keinen neuen Ein-sichten über die Welt und liefert auchkeine Regeln für das richtige Verhalten in ihr.Wie kann sie dann aber überhaupt bewusstwerden?

Kants Antwort auf diese Frage ist einfachund naheliegend: Die ästhetische Erfahrungund damit das freie Zusammenspiel der Er-kenntnisvermögen kann sich »nur durchEmpfindung kenntlich machen« (ebd., § 9,S. 133). Und die Empfindung, durch die sichdie ästhetische Erfahrung kenntlich macht,nennt Kant »interesseloses Wohlgefallen«.Interesselos ist dieses Wohlgefallen, weil esnicht mit dem Begehren des Gegenstandesverbunden ist, weder aus Neigung noch ausVernunft. Das ästhetische Vergnügen aneinem Gegenstand ist unabhängig von sei-nem Besitz und seiner moralischen Qualität.Deshalb können wir ja auch, nach der altenEinsicht des Aristoteles, im Theater Dinge»mit Freude« betrachten, »die wir in derWirklichkeit nur ungern erblicken« (Aristo-teles: Poetik, 4. Kapitel). Das Merkmal der In-teresselosigkeit unterscheidet die ästhetischeLust strukturell von allen anderen Arten desWohlgefallens. Sowohl das Wohlgefallen amAngenehmen, das sinnliche Wohlgefallen, wieauch das Wohlgefallen am Guten, das morali-sche Wohlgefallen, haben eine Beziehung zuunserem Begehrungsvermögen. Nur dasästhetische Wohlgefallen ist uninteressiertund frei. Es bildet das subjektiv spürbareKorrelat zu dem freien Spiel der Erkenntnis-vermögen und ist deshalb der einzige empi-risch vorhandene Bestimmungsgrund für dasästhetische Urteil. Daraus folgt nach Kant,dass nur die Gegenstände oder Ereignisseschön genannt werden können, die im Sub-jekt jene eigentümliche Art von interesseloserLust erregen.

Bezeichnenderweise erhebt Kant für jedesästhetische Urteil dieser Art den Anspruchauf allgemeine Gültigkeit. Das ist ziemlichkühn. Denn um diesen Anspruch rechtferti-gen zu können, muss er nachweisen, dass dassubjektive Gefühl der Lust, das einer ange-sichts eines schönen Gegenstandes empfindetund das die Grundlage seines ästhetischen

18 Ästhetische Bildung

19 I. Kant.: Kritik der Urteilskraft. Werkausgabe.Band 10, hrsg. v. W. Weischedel. Frankfurt a.M.1974, § 1, S. 115.

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Urteils bildet, kein Privatgefühl, sondern eingemeinschaftliches Gefühl, ein »Gemeinsinn«(I. Kant: Kritik der Urteilskraft, a.a.O., § 20,S. 157) sei und deshalb der Möglichkeit nach»allgemein mitgeteilt« (ebd., § 9, S. 131), d.h.von allen anderen geteilt werden könne. Kantglaubt diesen Nachweis mit dem formalenCharakter des freien Spiels der Erkenntnis-vermögen führen zu können. Er erkenntnämlich in dem harmonischen Zusammen-spiel von Einbildungskraft und Verstand diegemeinsame Form aller inhaltlich bestimm-ten Erkenntnis wieder, d.h. die subjektiveBedingung, der alle Erkenntnisurteile unab-hängig von ihrem Inhalt als Erkenntnisurteilegenügen müssen. Als subjektive Bedingungvon Erkenntnis überhaupt soll das Zusam-menstimmen der Erkenntnisvermögen unddas ihnen korrespondierende Gefühl des in-teresselosen Wohlgefallens nun genau der-jenige Gemütszustand sein, der von allenSubjekten, die zur Erkenntnis fähig sind, ge-teilt werden kann. Er liefert Kant die Recht-fertigung dafür, dass wir »in allen Urteilen,wodurch wir etwas für schön erklären, kei-nem verstatten, anderer Meinung zu sein«,obwohl wir diese Urteile nicht auf Begriffe,»sondern nur auf unser Gefühl gründen«(ebd., § 22, S. 158/159).

Die Gefühlsgrundlage des ästhetischenUrteils lässt es allerdings nicht zu, dass seinAnspruch auf allgemeine Anerkennung be-grifflich erzwungen wird. »Ob ein Kleid, einHaus, eine Blume schön sei: dazu lässt mansich sein Urteil durch keine Gründe oderGrundsätze aufschwatzen« (ebd., § 8, S. 130).Im Unterschied zu praktischen und theoreti-schen Urteilen erwartet das Urteil über dasSchöne die Bestätigung seiner Richtigkeitdann auch nicht durch Argumente, sondernallein durch Zustimmung »ohne Vermittlungder Begriffe« (ebd., § 8, S. 130). Die subjek-tive Allgemeinheit des ästhetischen Urteilsverträgt keine Beweisführung. Die Zustim-mung zu ihm kann jedermann nur »angeson-nen« werden (ebd., § 8, S. 130).

Mit diesen Überlegungen zur Analytik desSchönen, denen er in der »Kritik der ästheti-schen Urteilskraft« auch noch eine Theorieder künstlerischen Produktion hinzufügt, ist

Kant zum Begründer der modernen Autono-mieästhetik geworden und hat den Diskursüber die »Natur der ästhetischen Wirkung«20

bis heute maßgeblich beeinflusst. Aus der Ver-knüpfung seiner Autonomieästhetik mit dembildungstheoretischen Denken seit Rousseauist im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhundertsdie moderne Theorie der ästhetischen Bildunghervorgegangen. Sie kündigte sich schon an inden Schriften Herders, den Romanen Goethesund den Salonkritiken Diderots, aber erst inSchillers Briefen »Über die ästhetische Erzie-hung des Menschen« (1795)21 wurde sie ineiner metaphernreichen Sprache zum erstenMal systematisch entfaltet.

Für Schiller, wie für manchen anderen sei-ner Zeitgenossen, ist die historische Situationin der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ge-kennzeichnet durch einen hohen Grad derEntfremdung oder Entzweiung von Vernunftund Sinnlichkeit, von Ratio und Gefühl, vonKalkül und Einbildungskraft. Der Zwiespaltdurchzieht nach seiner Diagnose das einzelneIndividuum ebenso wie die Gesellschaft. Umdiese historische Situation der Entzweiungder Menschen von sich selbst und voneinan-der zu überwinden, stehen aus der SichtSchillers zwei Wege zur Auswahl: die Verbes-serung des Staates und die Erziehung. Schil-lers Position ist eindeutig. Die unmittelbareVerbesserung des Staates hält er, angesichtsder Folgen, die die Französische Revolutiongezeitigt hat, für hoffnungslos. Nach seinerAuffassung »muss man jeden Versuch einersolchen Staatsveränderung solange für unzei-tig und jede darauf gegründete Hoffnung so-lange für schimärisch erklären, bis dieTrennung in dem inneren Menschen wiederaufgehoben und seine Natur vollständiggenug entwickelt ist«.22 Das aber geht nurüber Erziehung. Sie ist nach Schiller der ein-

Ästhetische Bildung 19

20 Vgl. J. König: Die Natur der ästhetischen Wir-kung. In: Ders.: Vorträge und Aufsätze, hrsg.v. G.Patzig. Freiburg 1987.

21 Vgl. F. Schiller: Über die ästhetische Erziehungdes Menschen in einer Reihe von Briefen (1795).Stuttgart 1965.

22 F. Schiller: Über die ästhetische Erziehung desMenschen in einer Reihe von Briefen (1795).Stuttgart 1965, 7. Brief.

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zig noch offene Weg zur Überwindung derZersplitterung und zur Herbeiführung desVernunftstaates.

Doch nicht jede Form der Erziehung istgleich gut geeignet für diesen großen Zweck.Weder der auf Wissensvermittlung und Ver-standesaufklärung bezogene Unterricht nochder Versuch, durch Zucht und Disziplin »dieMacht der Begierden zu brechen« (ebd., 13.Brief), sind in ihrer Einseitigkeit geeignet, dieZersplitterung des Individuums zu überwin-den. In dem einen Fall werden die Ansprücheder inneren Natur, des Gemüts ignoriert, indem anderen Fall werden sie unterdrückt. Inbeiden Formen der Erziehung kommt es zukeiner Versöhnung von Vernunft und Sinn-lichkeit. Diese Versöhnung kann nun nachSchiller allein die ästhetische Bildung – oderwie er selbst sagt: Ästhetische Erziehung – be-wirken. »Es gibt keinen anderen Weg, densinnlichen Menschen vernünftig zu machen,als dass man denselben zuvor ästhetischmacht« (ebd., 23. Brief). Die ästhetische Bil-dung allein ist Schiller zufolge in der Lage,den Einzelnen aus dem Zustand der Zerris-senheit und Entfremdung herauszuführenund »die Trennung in dem inneren Men-schen« (ebd., 7. Brief) aufzuheben. »DieSchönheit verknüpft die zwei entgegengesetz-ten Zustände des Empfindens und des Den-kens« (ebd., 18. Brief). Durch sie »wird dersinnliche Mensch zur Form und zum Denkengeleitet« und »der geistige Mensch zur Mate-rie zurückgeführt und der Sinnenwelt wie-dergegeben« (ebd., 18. Brief). Damit ist auchdie Voraussetzung geschaffen für die Wieder-herstellung der harmonischen Totalität vonSubjekt und Gesellschaft. Die ästhetische Er-ziehung wird zum entscheidenden Vehikelbei der »Verbesserung im Politischen« (ebd.,9. Brief). Denn es ist, wie Schiller sagt, dieSchönheit, »durch welche man zur Freiheitwandert« (ebd., 2. Brief).

Das entscheidende »Werkzeug« der ästhe-tischen Bildung ist für Schiller die »schöneKunst« (ebd., 9. Brief). Sie hat »zugleich eineauflösende und eine anspannende Wirkung«(ebd., 16. Brief). Deshalb spricht Schiller auchvon der »schmelzenden Schönheit« (ebd., 16.Brief) und von der »energischen Schönheit«

(ebd., 16. Brief). Während die »energischeSchönheit« den Menschen aus der »gleichför-migen Erschlaffung seiner sinnlichen und geis-tigen Kräfte« (ebd., 17. Brief) befreit, sorgtdie »schmelzende Schönheit« für den Abbauvon Verklemmungen und Verspannungen, dieverantwortlich sind für die Einseitigkeiten imDenken und Fühlen. »Der von Gefühlen ein-seitig beherrschte oder sinnlich angespannteMensch wird also aufgelöst und in Freiheit ge-setzt durch Form; der von Gesetzen einseitigbeherrschte oder geistig angespannte Menschwird aufgelöst und in Freiheit gesetzt durchMaterie« (ebd., 17. Brief). Doch welche Vari-ante auch gewählt wird, die Wirkung derSchönheit ist immer von der gleichen Art.Durch sie wird »in dem angespannten Men-schen die Harmonie« und »in dem abge-spannten die Energie« wieder hergestellt, und»auf diese Art« der Mensch »zu einem in sichselbst vollendeten Ganzen« (ebd., 17. Brief)gemacht.

Das Subjekt gerät bei diesem Geschehen ineine eigentümliche »mittlere Stimmung, inwelcher das Gemüt weder physisch noch mo-ralisch genötigt« ist (ebd., 20. Brief). Schillernennt diese Stimmung auch den »ästheti-schen Zustand« (ebd., 20. Brief). In ihm sind»Sinnlichkeit und Vernunft zugleich tätig«und heben dadurch »ihre bestimmende Ge-walt gegenseitig auf« (ebd., 20. Brief). In die-sem ästhetischen Zustand gibt es keineSchranken mehr, weil er alle Realität vereinigt.Hier ist die Entzweiung von Ratio und Ge-fühl, von Denken und Empfinden, von Form-und Stofftrieb überwunden und jede Einsei-tigkeit neutralisiert. »Daher muss man denje-nigen vollkommen Recht geben, welche dasSchöne und die Stimmung, in die es unserGemüt versetzt, in Rücksicht auf Erkenntnisund Gesinnung für völlig indifferent und un-fruchtbar erklären. Sie haben vollkommenRecht, denn die Schönheit gibt schlechter-dings kein einzelnes Resultat weder für denVerstand noch für den Willen, sie führt keineneinzelnen, weder intellektuellen noch morali-schen Zweck aus, sie findet keine einzigeWahrheit, hilft uns keine einzige Pflicht erfül-len und ist, mit einem Worte, gleich unge-schickt, den Charakter zu gründen und den

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Kopf aufzuklären. Durch die ästhetische Kul-tur bleibt also der persönliche Wert einesMenschen oder seine Würde, insofern diesenur von ihm selbst abhängen kann, noch völ-lig unbestimmt, und es ist weiter nichts er-reicht, als dass es ihm nunmehr von Naturwegen möglich gemacht wird, aus sich selbstzu machen, was er will – dass ihm die Freiheitzu sein, was er sein soll, vollkommen zurück-gegeben ist« (ebd., 21. Brief). Das scheintwenig und doch ist damit, wie Schiller sagt,»etwas Unendliches« (ebd., 21. Brief) gewon-nen. Denn mit der Freiheit zu sein, was er seinsoll, ist dem Menschen im ästhetischen Zu-stand das Höchste geschenkt worden, das erhaben kann: das »Vermögen« (ebd., 21. Brief)zur Selbstbestimmung. Schiller scheut sichdeshalb nicht, die Schönheit »unsere zweiteSchöpferin« (ebd., 21. Brief ) zu nennen.»Denn ob sie uns gleich die Menschheit bloßmöglich macht und es im übrigen unsermfreien Willen anheim stellt, inwieweit wir siewirklich machen wollen, so hat sie dieses jamit unsrer ursprünglichen Schöpferin, derNatur, gemein, die uns gleichfalls nichts wei-ter als das Vermögen zur Menschheit erteilte,den Gebrauch desselben aber auf unsere ei-gene Willensbestimmung ankommen lässt«(ebd., 21. Brief).

Die Versöhnung von Vernunft und Sinn-lichkeit, die Aufhebung der Entzweiung desMenschen mit sich selbst, die Erfahrung derFreiheit, all das gelingt nur in der Welt desSpiels oder – wie Schiller auch sagt – in der»Welt des Scheins«. Der Mensch besitzt das»menschliche Herrscherrecht«, seine Souverä-nität und Freiheit schlechterdings nur hier, »indem wesenlosen Reich der Einbildungskraft«(ebd., 26. Brief). Für Schiller ist das »Interesseam Schein«, das seine erste Ausprägung findetin der »Neigung zum Putz« und dessen erstesAufkommen den »Eintritt des Wilden in dieMenschheit verkündet«, »eine wahre Erweite-rung der Menschheit und ein entschiedenerSchritt zur Kultur«. Den »ästhetischen Schein«verachten, »heißt alle schöne Kunst überhauptverachten, deren Wesen der Schein ist« (ebd.,26. Brief). Voraussetzung für diese »Welt desScheins« oder – wie man auch sagen könnte –für diese Welt des ästhetischen Spiels, in der

Verstand und Sinnlichkeit nicht mehr entzweitsind, ist ihre völlige Abgrenzung von der Rea-lität, d.h. ihre Autonomie. »Nur soweit er auf-richtig ist (sich von allem Anspruch aufRealität ausdrücklich lossagt), und nur soweiter selbstständig ist (allen Beistand der Realitätentbehrt), ist der Schein ästhetisch« (ebd., 26.Brief). Die ästhetische Sphäre, diese Welt desScheins und des Spiels muss frei sei von den»Einflüssen einer barbarischen Staatsverfas-sung« (ebd., 9. Brief) und sich lossprechen vonallen »menschlichen Konventionen« (ebd., 9.Brief). Nur so kann sie sich dem »Geist desZeitalters« (ebd., 9. Brief) widersetzen undjenen Zustand bewirken, indem der Menschsich in seiner Menschheit spürt und äußert.»Jeder ander Zustand, in den wir kommenkönnen, weist uns auf einen vorhergehendenzurück und bedarf zu seiner Auflösung einesfolgenden; nur der ästhetische ist ein Ganzesin sich selbst, da er alle Bedingungen seinesUrsprungs und seiner Fortdauer in sich verei-nigt. Hier allein fühlen wir uns wie aus derZeit gerissen; und unsere Menschheit äußertsich mit einer Reinheit und Integrität, als hättesie von der Einwirkung äußerer Kräfte nochkeinen Abbruch erfahren« (ebd., 22. Brief).

Durch seine Autonomie und »absoluteImmunität« (ebd., 9. Brief) gegenüber derRealität, der Welt der Arbeitsteilung undZweck-Mittel-Relationen, bleibt der ästheti-sche Zustand und die für ihn charakteristischeBildungsbewegung von der dort herrschendenEntfremdung verschont und scheint die vonihm erhoffte geschichtsphilosophisch legiti-mierte Aufgabe, die Herbeiführung der Frei-heit, erfüllen zu können. So jedenfalls wollte esSchiller zunächst sehen. Er betrachtete das au-tonome »Reich der Schönheit« als Zwischen-stufe zur realgeschichtlichen Versöhnung, weiles – selbst unberührt von der allgegenwärtigenZerrissenheit – die Erinnerung an die Mög-lichkeit der Versöhnung wach hält. Die Kunstist für Schiller, wie später für Adorno, eine ArtFlaschenpost. »Die Menschheit hat ihre Würdeverloren, aber die Kunst hat sie gerettet undaufbewahrt« (ebd., 9. Brief). Sie kann »dieFreiheit des Geistes beweisen« (ebd., 26. Brief)und dient so als Glücksversprechen und alsAnsporn.

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Doch in der Konstruktion eines autono-men »Reichs der Schönheit«, jener »Weltdes Scheins« und des Spiels steckt eine tiefeAmbivalenz. Die »absolute Immunität« die-ses »Reichs« ermöglicht zwar seine Funktionals Erinnerungszeichen und Mahnmal desGlücks, als Flaschenpost also, aber sie verhin-dert zugleich den Übergang in die Realitätund sabotiert damit die ihr zugewiesenegeschichtsphilosophische Aufgabe. Schillerhat diese Aporie bei der Niederschrift seinerBriefe offenbar immer deutlicher gespürtund zu korrigieren versucht. Das Resultatwaren Risse und Ungereimtheiten in der Ar-gumentation.23 Die Briefe verwandelten sichunter der Hand, wie Schiller erkennen muss-te, in eine wahres »Labyrinth der Ästhetik«(ebd., 18. Brief).

Heute liegen die Probleme der schiller-schen Konzeption offen zutage. Sie lassen un-gewiss erscheinen, ob der autonomen Sphäreder Kunst und ihren eigentümlich losgelöstenWirkungen überhaupt noch irgendeine Artvon gesellschaftlicher Funktion zukommt.Nicht nur die von Schiller der Kunst zunächstavisierte Rolle eines Vehikels zur »Verbes-serung im Politischen« ist fragwürdig ge-worden, auch ihr Dasein als »Flaschenpost«will nicht mehr so recht überzeugen. DerZweifel an der gesellschaftlichen Brauchbar-keit ästhetischer Ereignisse hat sich nach überzweihundert Jahren Autonomieästhetik in-tensiviert und verbreitert. Inzwischen tan-giert er auch die Prämissen einer Pädagogik,die seit Beginn der Moderne ihre Aufgabedarin sieht, die heranwachsende Jugend soauszubilden, dass sie, nach Schleiermachersprogrammatischer Formel, »tüchtig werde indie sich darbietenden Verbesserungen mitKraft einzutreten«.24 Zur Ausbildung der hiergeforderten Tüchtigkeit können die ästheti-

schen Wirkungen offensichtlich nicht vielbeitragen. Sie scheinen, wie MollenhauerAnfang der 90er-Jahre konstatierte, »Sperrgutin einem Projekt von Pädagogik, das seineFluchtpunkte in klaren Verstandesbegriffenund zuverlässigen ethischen Handlungs-orientierungen sucht«.25

3. Die schwankende Praxis derKunstausbildung und schulischenKunsterziehung

Aber die ästhetischen Wirkungen scheinennicht nur unbrauchbar in einem pädagogi-schen Projekt, das für die Zukunft qualifizie-ren will, sie lassen sich mit den spezifischenMitteln dieses Projekts nicht einmal hervor-rufen. Wo die ästhetischen Erfahrungen zumInhalt eines Curriculums gemacht und mitdidaktischen Arrangements »vermittelt« wer-den sollen, kommt es deshalb immer wiederzu notwendigen Verkürzungen und Zerstü-ckelungen. Unter den institutionellen Bedin-gungen formalisierter Instruktion droht dasfreie Spiel der Verstandes- und Gemütskräfte,das Schiller zum Zentrum der ästhetischenBildungsbewegung erklärt hatte, in seine Be-standteile auseinanderzufallen. Der ästheti-sche Zustand, diese experimentelle Form derspürenden Ich-Selbst-Beziehung, verträgt sicheinfach nicht mit den Anforderungen einerzweckrationalen Unterrichtung. Was der Un-terricht leisten kann, beschränkt sich auf Vor-bereitung und Hinführung. Aber selbst unterdieser Prämisse zeigt die Lehrpraxis auf denAkademien und in den Schulen durch diegesamte Moderne hindurch ein auffälligesSchwanken zwischen einseitiger Gemütsbil-dung und einseitigem Verstandestraining.

Das Dilemma wurde schon sichtbar mitBeginn der werkstattunabhängigen Ausbil-dung der Künstler auf den Akademien. Die»Académie Royale de Peinture et de Sculp-ture« z.B., die 1648 ausdrücklich zum Schutzdes wahren Künstlers vor den Ansprüchen

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23 Vgl. R. Grimminger: Die ästhetische Versöhnung.Ideologiekritische Aspekte zum Autonomiebe-griff am Beispiel Schiller. In: J. Bolten (Hrsg.):Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung desMenschen. Frankfurt a.M. 1984.

24 F. Schleiermacher: Vorlesungen aus dem Jahre1826. In: Ders.: Pädagogische Schriften, hrsg. vonWeiniger/Schulze. Düsseldorf/München 1957,S. 31.

25 K. Mollenhauer: Ästhetische Bildung zwischenKritik und Selbstgewißheit. In: Zeitschrift fürPädagogik 36 (1990), S. 484.

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der Zunft gegründet worden war, sichertesich ihr Monopol vor allem durch denschnellen und zielstrebigen Ausbau einesausgefeilten Lehrsystems. Schon zu Beginndes 18. Jahrhunderts erfolgt der Unterrichtdurchweg nach einheitlichen Regeln.26 Indiesem frühen Akademie-Kontext entstehtauch der berühmte Traktat Le Bruns über dieDarstellung von Affekten («Conférence surl’expression génerale et particulière des passi-ons«). Die Abbildungen, die Le Brun diesemTraktat beifügte, zeigen – ganz in der Tradi-tion der Musterbücher – eine Kollektion vonschematisierten Beispielköpfen, von denenjeder eine andere Art von Leidenschaft zumAusdruck bringt: Schmerz, Trauer, Wut,Sehnsucht usw. Über einige dieser Beispiel-köpfe sind horizontale Hilfslinien gelegt, diekonstante Gesichtspositionen miteinanderverbinden und dadurch die Verschiebungenzwischen den jeweiligen Ausdrucksgestaltenquantitativ erfassbar erscheinen lassen.Außerdem erlauben diese Hilfslinien, Profil-und Frontansicht zu vergleichen und das einein das andere zu übertragen. Auf diese Weisehat Le Brun die bildnerische Darstellung vonGemütsbewegungen lehrbar gemacht. Daringründet sein Ruhm. Seine Köpfe sind heißbegehrt. Sie werden in Lehrbüchern und Zei-chenvorlagen über ganz Europa verbreitetund lassen sich sogar in den Gemälden vonGreuze und David nachweisen. Doch für denoffenbaren Erfolg seiner Lehrmethode be-zahlte Le Brun einen hohen Preis. Er bestehtin der Vertreibung der Einbildungskraft ausder künstlerischen Produktion. Um den Aus-druck der Leidenschaften, die »expression despassions« in das Curriculum der Akademieeinfügen zu können, musste er ihn von derinneren Bewegung des tätigen Subjekts ab-spalten und in ein äußerlich auferlegtesRaster zwingen.27 Wohin diese curricular be-dingte Mechanisierung der künstlerischenAusbildung führen kann, das zeigt dann im

Jahrhundert darauf die vorherrschende Pra-xis des schulischen Zeichenunterrichts.28

Hier spielte das Gemüt und die Phantasienun endgültig keine Rolle mehr. Das Kopie-ren von zwei- und dreidimensionalen Vorla-gen ist zur bloßen Fingerübung oder, wie esein Historiker in der Terminologie der Ele-mentargymnastik nannte, zum »Zeichentur-nen« verkommen.29

An derartige Konsequenzen werden diefrühen innerakademischen Kritiker der LeBrunschen Methode der Affektdarstellung si-cher noch nicht gedacht haben. Aber in derTendenz ist ihre Argumentation durchausschon gegen diese Verfallsformen gerichtet.Sie monieren von Anfang an das Starre undSchematische an Le Bruns Vorschlag, durchdas all die feinen individuellen Differenzenim Ausdruck der Leidenschaften notwendigverloren gehen. Doch die Kritik an dem LeBrunschen Verfahren der Affektbehandlunggeht weiter als die üblichen Vorbehalte ge-genüber dem Akademismus. Sie reicht biszum prinzipiellen Zweifel an der Möglich-keit, den Bereich der Darstellung von Leiden-schaften überhaupt zu unterrichten. Félibienetwa hält die Kunst, auf den Gesichtszügender Figuren die Leidenschaften der Seele invollkommener Weise zum Ausdruck zu brin-gen, für ein solches Geheimnis, dass selbstdiejenigen, die diese Kunst beherrschten, esnicht hätten sagen und nicht weitergebenkönnen. Wie sollte man sich sonst erklären,dass die Schüler Raphaels, denen der Meisterdoch sonst nichts vorenthielt, niemals ihrenFiguren die schönen Ausdrucksformen ver-liehen haben, die seine Bilder so bedeutendmachten?30 Nein, der Ausdruck der Seele, dasist nicht lehrbar. Dafür braucht man mehr alsgute Vorlagen und technische Fertigkeiten.Man braucht: Einfühlung und Imagination.

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26 Vgl. Th. Kirchner: L’expression des passions. Aus-druck als Darstellungsproblem in der Französi-schen Kunst und Kunsttheorie des 17. und 18.Jahrhunderts. Berliner Schriften zur Kunst, Band1. Mainz 1991, S. 10ff.

27 Vgl. ebd., S. 33-37.

28 Vgl. W. Kemp: »... einen wahrhaft bildenden Zei-chenunterricht überall einzuführen«. Frankfurta.M. 1979.

29 Vgl. G. Selle: Kultur der Sinne und ästhetische Er-ziehung. Alltag, Sozialisation, Kunstunterricht inDeutschland vom Kaiserreich zur Bundesrepub-lik. Köln 1981.

30 Vgl. Th. Kirchner: L’expression des passions.A.a.O., S. 40-42.

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Derjenige, der diesen Schluss am radikals-ten zieht, ist Le Piles, der große Gegenspielervon Le Brun. Er hält nichts von schemati-schen Lehrmethoden. Stattdessen plädierter – modern gesprochen – für Empathie undSelbsterfahrung. Der Maler soll alle Gefühleund Leidenschaften in sich selbst erzeugenund aufmerksam studieren. Nur so könne ersich in die jeweiligen Figuren hineinversetzenund den richtigen Ausdruck der Affekte tref-fen. Das Resultat werde umso überzeugenderund d.h. hier um so wirkungsvoller sein, jemehr es dem Maler gelingt, in demselbenGemütszustand zu sein, wie diejenigen, die erdarstellen will. Im Interesse seiner Kunst habeer zunächst sein eigenes Innenleben zu er-kunden und zu formen.31

Über die Risiken dieses Vorschlags sindsich Le Piles und seine Anhänger durchausim Klaren. Sie schließen jedenfalls nicht aus,dass der Künstler durch eine Art narzissti-scher Versenkung in die eigene Gefühlsweltdie Kontrolle über sich verliert und damitauch die reflexive Distanz, die er braucht, umseine Selbsterfahrungen für die künstlerischeArbeit zu nutzen. Um dieser Gefahr einer un-produktiven Selbstverliebtheit zu begegnen,haben Le Piles und seine Mitstreiter als Kor-rektiv die Verwendung äußerer Hilfsmittelempfohlen, darunter auch einen Spiegel, indem der junge Maler an seiner eigenen Per-son die Veränderungen der Gesichtsmuskula-tur bei einer Gemütsbewegung verfolgensollte, um sie anschließend auf dem Umwegüber ein Gipsmodell in eine plastische Ton-form zu übertragen. Auf diese Weise würde esmöglich, eine Sammlung von unterschiedli-chen Ausdrucksköpfen anzulegen und nachihrem Muster jede gewünschte Leidenschaftzu reproduzieren.32

Hier schließt sich der Kreis. Le Piles, derdem eigenen Empfinden des Künstlers ge-genüber dem akademischen Schematismusder Le Brunschen Kopiermethode zu ihremRecht verhelfen wollte, endet nun selbst beieinem objektivierbaren, wenn auch raffiniert

ausgeklügelten Kopierverfahren. Man kanndies als Beleg nehmen für die anfänglichgeäußerte Behauptung, dass mit der Verle-gung in werkstattunabhängige Einrichtun-gen die künstlerische Ausbildung ihre bisdahin vorhandene Eindeutigkeit und Sicher-heit verliert und anfängt, unruhig hin- undherzuschwanken zwischen Gemütsbildungund Kognitionstraining.

Die gleiche prekäre Konstellation lässt sichauch in der Bauhauspädagogik wiederfin-den,33 und zwar in Gestalt eines Zwiespaltesin der Lehre von Johannes Itten. Dessen Den-ken und Schaffen bewegt sich nach Wick »ineinem Spannungsfeld zwischen Rationalitätund Irrationalität«.34 Am deutlichsten zeigtsich das in den zwei klar unterschiedenen Va-rianten seines Unterrichts: in den sogenann-ten Strukturanalysen und den sogenanntenEmpfindungsanalysen.

Strukturanalyse nennt Wick das Verfahren,mit dem Itten versucht, an ausgewähltenKunstwerken der Menschheitsgeschichtegrundlegende und interkulturell gültige Ge-staltgesetzlichkeiten und Formelemente wieetwa Kompositionsprinzipien, Proportions-regeln, Hell-Dunkel-Schemata oder Rich-tungskontraste aufzudecken. Das Ziel dieserAnstrengung war die Erforschung des forma-len Vokabulars der künstlerischen Sprache.Itten ist überzeugt davon, dass man dieseSprache kennen müsse, wenn man Kunst-werke richtig verstehen will. Diese Überzeu-gung teilt er mit seinen BauhauskollegenKandinsky und Klee. Wie diese verfolgt auchItten ein den volkserzieherischen Traditionender Moderne verpflichtetes visuelles »Alpha-betisierungsprojekt«.35 Doch dieses Projekt

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31 Vgl. Th. Kirchner: L’expression des passions.A.a.O., S. 55-57.

32 Vgl. ebd., S. 58, 242-243.

33 Vgl. R.K. Wick: Bauhaus-Pädagogik. Köln 41994;K. Wünsche: Bauhaus: Versuch das Leben zu ord-nen. Berlin 1989.

34 R.K. Wick (Hrsg.): Johannes Itten. Bildanalysen.Ravensburg 1988, S.12.

35 K. Mollenhauer: Ästhetische Bildung als Kritik,oder: Hatte das ›Bauhaus‹ eine Bildungstheorie?In: H. Röhrs/H. Scheuerl (Hrsg.): Richtungs-streit in der Erziehungswissenschaft und pä-dagogische Verständigung. Wilhelm Flitner zurVollendung seines 100. Lebensjahres am 20. Au-gust 1989 gewidmet. Frankfurt a.M. u.a. 1989,S. 292.

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birgt ein Risiko. Die Suche nach dem visuellenAlphabet droht bei Itten, wie schon bei Kan-dinsky und Klee, in einem Katalog von defi-nierten Form- und Farbbedeutungen zuerstarren. Den Grundformen Quadrat, Kreisund Dreieck zum Beispiel ordnet Itten jeweilseine eindeutige und dauerhafte Symbolik zu.Das Quadrat repräsentiert danach die »mate-rielle Welt der Schwere, des Festen«, der Kreisdie »spirituelle Welt der Gefühle, der Beweg-lichkeit, des Ätherischen und – in der Ablei-tung – des Wässrigen« und das Dreieck die»intellektuelle Welt der Logik, der Konzen-tration, des Lichts, des Feuers«.36 So etwas istnatürlich lehr- und lernbar. Aber der Preis fürdiese semantische Festschreibung ist hoch.Er besteht nicht nur in der Ausblendungbedeutungsstiftender und bedeutungsmodi-fizierender Kontexte, sondern auch in der Ver-nachlässigung der für ein Verständnis derkünstlerischen Sprache unverzichtbaren Ge-mütskräfte. Ist das visuelle Vokabular erst ein-mal in die Form eines Lexikons gebracht, wirdnur noch der Verstand gefordert. Es geht umWissen oder Nichtwissen. Alles andere bleibtunberücksichtigt.

Um nun auch dieses Andere der ästheti-schen Erfahrung, die inneren Bewegungenund Gemütszustände, in den Unterricht ein-zubeziehen, hat Itten die von ihm selbst sogenannten »Empfindungsstudien« einge-führt. Im Unterschied zu den intellektuell se-zierenden »Strukturanalysen« kommt es beidiesen »Empfindungsstudien« darauf an, denFormausdruck eines Gemäldes gefühlsmäßigzu erfassen. Die Formensprache soll nichtüber den Verstand, sondern über die zu-gehörige Empfindung gelernt werden. FürItten ist das sogar der Königsweg. Er istdavon überzeugt, dass nur der eine künstleri-sche Form wirklich verstehen kann, der dieBewegung, aus der sie hervorging, noch ein-mal wiederholt. Deshalb fordert er seineSchüler auf, die Formverläufe ausgewählterKunstwerke mit- und nachzuzeichnen. Siesollen, wie es im Tagebuch von 1917/1918heißt, »die Bewegung der Meister in die ei-

gene Hand bekommen«.37 Die Emotionenoder Gefühlsbewegungen, die dabei als in-neres Äquivalent der äußeren Reproduk-tionstätigkeit induziert werden, betrachtet erals eine entscheidende Voraussetzung für dieAneignung des künstlerischen Vokabulars.

Doch auch diese spontane und begriffsloseForm der Alphabetisierung ist nicht gefeitgegen Fehlentwicklungen. Sie treten unver-meidlich in dem Augenblick auf, in dem dasVerfahren der Empfindungsstudien von sei-ner strengen Bindung an Kunstwerke gelöstwird. Itten hat diesen zweifelhaften Schritt ge-legentlich riskiert. Um, wie er sagt, »denMenschen in seiner Gesamtheit als schöpferi-sches Wesen aufzubauen«, ist er vor kunstfer-nen Gymnastikübungen und therapeutischenLockerungsritualen nicht zurückgeschreckt.Sein Kollege Paul Klee hat diese Praxis miteinem deutlich ironischen Unterton wie folgtbeschrieben: »Nachdem Itten einige Gängegemacht hat, steuert er auf eine Staffelei zu,auf der ein Reißbrett mit einer Lage Schmier-papier steht. Er ergreift eine Kohle, sein Kör-per sammelt sich, als ob er sich mit Energieladete und geht dann plötzlich zweimal nach-einander los. Man sieht die Form zweier ener-gischer Striche, senkrecht und parallel || aufdem ersten Schmierbogen, die Schüler wer-den aufgefordert, das nachzuahmen. DerMeister kontrolliert die Haltung. Dann kom-mandiert er’s im Takt – dann lässt er alle das-selbe Exercitium stehend ausüben. Es scheinteine Art Körpermassage damit gemeint zusein, um die Maschine auf das gefühlsmäßigeFunktionieren hin zu schulen.«38

Körpermassage und gefühlsmäßiges Funk-tionieren auf der einen Seite und rationaleStrukturanalyse auf der anderen, das sind diePole, in die Ittens Lehrverfahren auseinander-fällt. Es ist wieder das gleiche Dilemma wie zuBeginn der modernen Künstlerausbildung.Entweder werden die Gemütskräfte oder dieVerstandeskräfte in Bewegung gesetzt. Ihrwechselseitiges Verhältnis zueinander aberbleibt außer Betracht und ungeklärt.

Ästhetische Bildung 25

36 Zitiert nach R.K. Wick: Johannes Itten. A.a.O.,S. 136.

37 Zitiert nach R.K. Wick, ebd., S. 33.38 Zitiert nach R.K. Wick, ebd., S. 38.

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Daran ändert sich auch nichts, wenn mannun als drittes Beispiel die Geschichte desschulischen Kunstunterrichts heranzieht.Auch hier wieder das bekannte Schwanken.Am besten lässt sich das wohl studieren andem großen Konflikt, der in den 60er-Jahrenin Westdeutschland zur Ablösung des bisdahin dominierenden Modells der musischenErziehung geführt hat.

Dieses Modell lebt von dem Glauben, dievon den technokratischen Engführungen derModerne verletzte Seele heilen und so den vonsich selbst entfremdeten Menschen wieder indie Harmonie mit sich und der Gemeinschaftzurückführen zu können. Die Rechtfertigungfür diesen Glauben erblickten die Anhängerdes Modells in dem sogenannten »musischenPrinzip«, das sie als wirksames Therapeutikumgegen die pathologischen Folgen der ge-sellschaftlichen Beschleunigung, der Arbeits-teilung und Zweckrationalität empfehlen. OttoHaase, einem der Chefideologen dieser Rich-tung, erscheint das Musische dann auch alsspezifisches Mittel »von lösender, reinigenderund heilender Kraft«.39 Aber das ist nicht alles.Vom Prinzip des Musischen wird nicht nur er-wartet, dass es den an der eigenen Zivilisationerkrankten Menschen der Gegenwart gesun-den lasse; es soll darüber hinaus auch alspädagogisches Instrument der Charakter- undGesinnungsbildung dienen. Seidenfaden hatnoch 1962 erklärt: Die musische Erziehung»ist nicht auf die Vermittlung technischenKönnens gerichtet, auch nicht auf die Errich-tung eines festen Weltbildes, sondern auf dieFormung einer charakterlichen Haltung, einerGesinnung. Sie steht als dem Ekstatischen, Ir-rationalen verhaftet in einem Gegensatz zurWelt des Sachdenkens, der Zweckhaftigkeit,des Werktags. Sie hebt den an ihr Teilhabendenin eine höhere Lebenssphäre, aus der er einegrößere Lebenspotenz gewinnt, die dann wie-der auf den Alltag ordnend ausstrahlt«.40 Esliegt auf der Hand, dass sich diese Form ästhe-tischer Erziehung nicht in die Grenzen eines

etablierten Unterrichtsfachs bringen lässt. Mu-sische Erziehung verlangt als »Organ derLebenshilfe« fächerübergreifende Geltung undist deshalb auch nur schwer wissenschaftlichzu kontrollieren und zu evaluieren. In dermusischen Erziehung ist der bestimmte Bezugzur Sache aufgegeben worden zugunsten einesunbestimmten »Systems der Seelenpflege«.41

Das haben die Kritiker in den 60er-Jahrendann auch energisch moniert. Sie haben dermusischen Erziehung in scharfer Form Ge-fühlsschwelgerei, Realitätsverlust und leereBetriebsamkeit vorgeworfen.42 Die künstleri-sche Selbsttätigkeit sei in dem machtgeschütz-ten Refugium der musischen Gemeinschaft zueiner Ersatzhandlung verkommen, zur be-langlosen Spielerei und zu stimmungsvollemGeklimper. An die Stelle von solch objektlo-sem und wertblindem Erlebnisnarzissmussolle nun wieder die Beschäftigung mit derKunst treten. Didaktiker wie Gunter Ottogaben das fächerübergreifende Prinzip desMusischen ohne Zögern auf und plädiertenentschieden für die Einrichtung eines klar de-finierten Unterrichtsfachs »Kunst«.43 DiesesUnterrichtsfach, das von nun an Kunstunter-richt heißt, solle, wie jedes andere Leistungs-fach auch, rational geplant werden undüberprüfbaren Lernziel- und Erfolgskontrol-len unterworfen sein. Was dabei herauskam,lässt sich denken. Die Kunst wird curricularsolange traktiert und zugerichtet, bis nichtsmehr von ihr übrig bleibt, nur das Unwichtigs-te, das, was an ihr lehr- und lernbar ist: Verfah-renstechniken und Wissensbestände. Diekonstitutive Rolle der Gemütskräfte im Pro-zess der ästhetischen Bildung und das freieSpiel mit ihnen kommt erst gar nicht in denBlick. Dafür gab es ja auch keine Noten.

Die Vertreibung der Gemütskräfte ausdem Prozess der ästhetischen Bildung hatdann kurz darauf in dem Konzept der »Visu-ellen Kommunikation« ihren Höhepunkt er-

26 Ästhetische Bildung

39 O. Haase: Musisches Leben. Hannover 1951, S. 8.40 F. Seidenfaden: Die musische Erziehung in der

Gegenwart und ihre geschichtlichen Quellen undVoraussetzungen. Düsseldorf 1962, S. 16f.

41 Vgl. ebd.42 Vgl. Th.W. Adorno: Kritik des Musikanten. In:

Ders.: Dissonanzen. Musik in der verwaltetenWelt. Göttingen 1956, S. 62-101.

43 Vgl. G. Otto: Kunst als Prozess im Unterricht.Braunschweig 1964; G. Otto: Didaktik der ästhe-tischen Erziehung. Braunschweig 1974.

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reicht. Das puritanische Ziel dieser bislangletzten Form von Bilderstürmerei war die in-tellektuelle Kritik der optischen Kultur. Ihrfiel selbst die bildende Kunst zum Opfer. Siegalt »als Instrument von Herrschaft«44 undwurde schließlich nur noch als »Anlass für re-levante Aufklärung«45 akzeptiert. Was an derKunst interessierte, war ihr Verwertungszu-sammenhang, ihr gesellschaftlicher Stellen-wert, nicht ihre eigentümliche Wirkung undauch nicht ihr Erfahrungsgehalt, ihr, wieGottfried Boehm sagt, »sinnlich organisierterSinn«.46 Im Grunde waren die Kunstwerkebloß noch Lehrstoff für einen sozialwissen-schaftlich orientierten Unterricht. Ihre Be-sonderheit gegenüber den Massenproduktender Kulturindustrie von den Comics über dieWerbung bis zur Popmusik jedenfalls wurdeignoriert.

Auch die Betrachtung der jüngeren Schul-geschichte offenbart also wieder das schonbekannte Dilemma. Wie die Akademieausbil-dung und die Bauhauslehre, so zeigt auch dieTheorie und Praxis des schulischen Kunstun-terrichts das irritierende Hin und Her zwi-schen musischer Seelenpflege und kognitiverWissensvermittlung, zwischen Gefühlskulturund Verstandeskontrolle, zwischen kreativerSchwärmerei und intellektueller Analyse.

Dieses ständige Schwanken zwischenihren beiden entgegengesetzten und komple-mentären Schwundstufen, dem die ästheti-sche Bildung in der pädagogischen Praxis seitBeginn der Moderne ausgesetzt ist, sprichtdafür, dass der ästhetische Zustand, jenesfreie Spiel der Verstandes- und Gemütskräfte,in welchem nach Schiller dem Subjekt »dasVermögen zur Menschheit« (F. Schiller, a.a.O.,22. Brief), d.h. das Vermögen zur Selbstbe-stimmung, zurückgegeben wird, durch her-kömmliche pädagogische Maßnahmen kaumherbeigeführt werden kann. Die ästhetische

Erfahrung, dieser Augenblick der Selbst-begegnung, lässt sich weder durch die Ver-mittlung von Wissen und Fertigkeiten nochdurch Gefühlspflege erzwingen. Sie passt tat-sächlich, wie Klaus Mollenhauer Anfang der90er-Jahre polemisch notierte, nicht in die»pädagogische Kiste«.47

4. Der Augenblick des Gelingensund seine entwicklungslogischenVoraussetzungen

Wer ästhetische Erfahrungen machen will, hatjetzt, wie der Held in Prousts Roman,48 imGrunde nur noch zwei Möglichkeiten: Entwe-der verlässt er sich auf die »mémoire involon-taire« oder er sucht den Weg über dieproduktiv oder rezeptiv tätige Versenkung inein autonomes künstlerisches Ereignis. Imersten Fall kommt die ästhetische Erfahrungunverhofft, bei zufälligen und unvorhersehba-ren Anlässen wie der taktilen Wahrnehmungeines Höhenunterschiedes zwischen zwei Bo-denplatten etwa oder dem Geschmack einesin Tee getunkten Gebäcks. Im zweiten Fallwird sie mit Hilfe der Kunst angestrebt. DieKunst dient dann als Werkzeug. Sie ist das Ve-hikel, die »Gemütserregungsmaschine«,49 diedem interessierten Subjekt helfen soll, denästhetischen Zustand willkürlich herbeizu-führen, den die »mémoire involontaire« nurunwillkürlich entstehen ließ.

Die richtige Handhabung dieses Werkzeu-ges, d.h. die Herstellung und das Verständnisvon Kunst, kosten in der Regel Zeit undMühe, schon deshalb, weil es keine eindeuti-gen Gebrauchsanweisungen gibt. In der Pro-duktion wie in der Rezeption von Kunst kann

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44 H.R. Möller: Gegen den Kunstunterricht. Ravens-burg 1971, S. 23.

45 H. Giffhorn: Politische Bildung durch Kunst. In:Westermanns Pädagogische Beiträge 10 (1972),S. 75.

46 G. Boehm: Bildsinn und Sinnesorgane. In: neuehefte für philosophie 18/19. Göttingen 1980,S. 119.

47 K. Mollenhauer: Ästhetische Bildung zwischenKritik und Selbstgewißheit. In: Zeitschrift fürPädagogik 36 (1990), S. 482.

48 Vgl. M. Proust: Auf der Suche nach der verlore-nen Zeit, übers. v. E. Rechel-Mertens. Werkaus-gabe Band 1-13. Frankfurt a.M. 1964.

49 In Anlehnung an Novalis lapidare Definition der»Poesie« als »Gemütserregungskunst« vgl. Nova-lis: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich vonHardenbergs., hrsg. v. H.-J. Mähl und R. Samuel.Band 2: Fragmente und Studien. München 1978,S. 801.

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der ästhetische Zustand nur auf experimen-tellem Wege erreicht werden, durch vorsichti-ges Herantasten und mit viel Gespür. AufSeiten des Subjekts verlangt diese Vorgehens-weise ein subtiles Wechselspiel von Entwurfund Reflexion, Hypothese und Korrektur. Dasverstehende wie das produzierende Ich müs-sen sich ständig beobachten und überprüfen.Jeder neue Schritt verändert die Ausgangslageund zwingt zu neuen Konsequenzen. Erst imHin und Her von Entwurf und Reflexion, vonSpontaneität und Rezeptivität entsteht all-mählich die Gewissheit darüber, welche derverwendeten Elemente zusammengehörenund welche nicht, wie sie sich wechselseitigtragen, hemmen oder abstoßen.

Wenn dann der neue Zusammenhang sichschließlich einstellt, sieht plötzlich alles andersaus. Im Augenblick des Gelingens fallen diebisherigen im Alltag verfestigten Relevanzord-nungen, die vertrauten Wahrnehmungs- undEmpfindungsstrukturen zusammen und dasIch findet in den gerade entdeckten Konturenund Kontrasten, den Rhythmen und Interval-len, Farben und Figuren die Spuren seines un-gelebten Lebens wieder, die »impressionsvraies«, wie sie in der Erinnerungspoetik vonProust immer wieder genannt werden. Dastätige Subjekt erlebt diesen Augenblick wieeine Offenbarung: überwältigt bis zur Auflö-sung und zutiefst bewegt. Friedrich Nietzsche,der sich auskannte, beschreibt die Wirkung so:»Man hört, man sucht nicht; man fragt nicht,wer da giebt; wie ein Blitz leuchtet ein Ge-danke auf, mit Nothwendigkeit, in der Formohne Zögern, – ich habe nie eine Wahl gehabt.Eine Entzückung, deren ungeheure Spannungsich mitunter in einen Thränenstrom auslöst,bei der der Schritt unwillkürlich bald stürmt,bald langsam wird; ein vollkommnes Außer-sich-sein mit dem distinktesten Bewußtseineiner Unzahl feiner Schauder und Überriese-lungen bis in die Fußzehen; eine Glückstiefe,in der das Schmerzlichste und Düsterste nichtals Gegensatz wirkt. Alles geschieht im höchs-ten Grade unfreiwillig.«50

Was Nietzsche hier mitteilt, ist sicher nichtso exeptionell, wie er selbst glaubt. Von derAntike bis in die Gegenwart sind ästhetischeÜberwältigungserfahrungen dieser Art immerwieder vorgetragen worden.51 NietzschesNiederschrift hat jedoch den Vorteil, die cha-rakteristischen Merkmale der ästhetischenWirkung besonders deutlich hervortreten zulassen: die Leibgebundenheit, die starke innereBewegung und das Gefühl der eigenen Passi-vität und Entmächtigung. Im ästhetischen Zu-stand widerfährt dem Subjekt offenbar etwas,das es weder vorhersehen noch steuern kann.Es scheint bloß noch Medium des Geschehenzu sein, nicht mehr der Bestimmer. FürAdorno reduziert sich das Subjekt der ästheti-schen Erfahrung dann auch auf kaum mehrals einen »Grenzwert«,52 ein Minimales, des-sen die ästhetische Wirkung bedarf, um sichüberhaupt realisieren zu können. Im Grundeläuft das auf ein Verschwinden des Subjektshinaus. Im Augenblick der ästhetischen Er-fahrung scheinen sich die gehärteten undgepanzerten Konturen der Alltagsidentitätaufzulösen. Die lebensgeschichtlich unterMühen und unter Schmerzen etablierten Ich-abgrenzungen und damit die Leistungen desgesamten Bildungsprozesses schmelzen dahin.Das bisherige Ich »erlischt«. Seine Rollen, seineCharaktermasken, ja seine Persönlichkeit,diese »oberste Rationalisierung«53 werdennicht mehr gebraucht. »Es ist ein grandiosesAbwerfen«, wie Hugo von Hofmannsthal no-tierte.54 Die Konsequenz dieser »Selbstauslö-schung«,55 dieser Abdankung des »principiiindividuationis« hat Schiller schon in seinenBriefen aufgezeigt. »Im ästhetischen Zustand«,

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50 F. Nietzsche: Ecce homo. Wie man wird, wasman ist (1888). In: KSA Band 6. 1980, S. 255-374,hier 339f.

51 Breton hat die Quintessenz dieser Tradition vonWirkungsbeschreibungen vielleicht am pointier-testen zusammengefasst: »Die Schönheit wird wieein Beben sein, oder sie wird nicht sein.« A. Bre-ton: Nadja. Frankfurt a.M. 1999, S. 125.

52 Vgl. Th.W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frank-furt a.M. 1973, S. 250.

53 Th.W. Adorno: Minima Moralia. Frankfurt a.M.1969, S. 76.

54 H. v. Hofmannsthal: Augenblicke in Griechen-land. In: Ders.: Gesammelte Werke, hrsg. v. H.Steiner. Prosa III, Frankfurt a.M. 1952, S. 40.

55 Th.W. Adorno: Noten zur Literatur II. Frankfurta.M. 1965, S. 76.

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so resümiert er, »ist der Mensch also Null«(F. Schiller, a.a.O., 21. Brief).

Was bleibt, ist diese innere Bewegung, dieKörper und Seele durchzieht, jenes freie Spielvon Verstandes- und Gemütskräften, vondem Kant und Schiller schon gesprochenhaben. Das Subjekt dieser Bewegung hat mitdem alten fragmentierten Rollen-Ich desAlltags nicht mehr viel zu tun. Während die-ses mit all seinen Plänen und Bedürfnissengefangen bleibt in den Zwängen der Selbst-erhaltung, besitzt das neue, das ästhetischeSubjekt die Freiheit, aus sich zu machen, wases will. Es ist keinen Zwecken und keinenmoralischen Maximen mehr verpflichtet undunterliegt auch keinen physischen Einschrän-kungen. Das ästhetische Subjekt ist von allenBestimmungen frei, schrankenlose Potentia-lität. Dem entspricht eine Gemütsstimmung,in welcher der Mensch so sehr wie niemalssonst mit sich selbst in Berührung kommt.Das Glück, das ihm dabei widerfährt, wirktals ob es schlechterdings da sein müsste.»Endlich wirklich!« lautet deshalb auch derKommentar von Peter Handke.56

Natürlich ist dieses ästhetische Ich eineüberaus zerbrechliche Konstellation. Aber fürdie kurze Dauer seines Bestehens besitzt esUnsterblichkeit und erlebt, wie Hofmannsthalin unerreichter Präzision methaphorisch for-mulierte, die Beglückung »sicher zu schwebenim Sturze des Daseins«.57 Was von dieser Er-fahrung mit hinübergenommen werden kannin die »sogenannt wirkliche Welt«,58 lässt sichschwer sagen. Vielleicht ist es wirklich nur dieErinnerung an einen Augenblick des ›wahrenLebens‹59, die nicht gleich verloren geht undweiterwirkt in der »Tendenz auf Freisein zuanderem Leben und Spüren«.60

Von welchem Alter an Kinder oder He-ranwachsende in der Lage sind, ästhetischeErfahrungen dieser Art zu machen und Kul-turerzeugnisse wie ein Gemälde Dubuffets,ein Klavierstück Schumanns oder eine Vi-deoinstallation Bill Violas angemessen zurezipieren, ist nicht genau bekannt. Die ent-wicklungslogischen Voraussetzungen desKunstverstehens und damit der ästhetischenBildung im Sinne Kants und Schillers sindtrotz vielfältiger Forschungsanstrengungenweithin noch terra incognita. Die zahlreichvorliegenden Studien, insbesondere aus demBereich der ästhetischen Wirkungsforschung,ergeben jedenfalls kein klares Bild. Dochmanches spricht dafür, dass Kinder im Vor-schul- und wohl auch im Grundschulalter zuästhetischen Erfahrungen im strengen Sinnenicht fähig sind. Zumindest ihre Präferenzenlegen das nahe.

Im Bereich der bildenden Kunst z.B. ent-scheiden sich die Kinder, wenn sie die Wahlhaben, meist für szenische und detailreicheVorlagen und gegen abstrakte Kompositio-nen. Diese Vorliebe für die gegenständlicheDarstellungsart verweist auf das überragendeInteresse der Kinder am Thema oder Inhaltder Bilder. Darüber lässt die einschlägige For-schung seit Jahrzehnten keinen Zweifel auf-kommen. Schon die Erhebung von BettyLark-Horovitz aus dem Jahre 1937 doku-mentiert den entscheidenden Einfluss derBildthematik auf das Präferenzurteil der jün-geren Kinder.61 Daran hat sich bis heutenichts geändert. Was für die Kleinen zählt, istdas Thema oder der dargestellte Stoff. For-male Qualitäten spielen dagegen, wenn über-haupt, nur eine geringe Rolle. Sie werden vonden Kindern meist erst gar nicht wahrge-nommen, geschweige denn gewichtet. DieAufmerksamkeit für formale Merkmale wieHarmonie oder Kontrast beispielsweise istbei ihnen ebenso unentwickelt wie ihre Stil-Sensitivität und ihr Verständnis für emotio-nale Ausdrucksdimensionen.

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56 P. Handke: Phantasien der Wiederholung. Frank-furt a.M. 1983, S. 67.

57 H. v. Hofmannsthal: Der Dichter und seine Zeit(1907). In: Ausgewählte Werke in Bänden. Band2. Frankfurt a.M. 1957, S. 464.

58 U. Pothast: Philosophisches Buch. Schrift unterder aus der Entfernung leitenden Frage, was esheißt, auf menschliche Weise lebendig zu sein.Frankfurt a.M. 1988, S. 456.

59 Vgl. M. Proust: Auf der Suche nach der verlore-nen Zeit. Band 13. A.a.O., S. 308.

60 U. Pothast: Philosophisches Buch. A.a.O., S. 435.

61 Vgl. B. Lark-Horovitz: On art appreciation ofchildren: Preference for picture subjects in gene-ral. In: Journal of Educational Research 31 (1937).S. 118-137.