Überkonfessionelles Christentum

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Überkonfessionelles Christentum Festschrift aus Anlass der Öffentlichen Festtage des Priesterseminars Hamburg Herausgegeben von Günther Dellbrügger und Andreas Laudert September 2002 Festschrift neu_Festschrift neu 07.12.13 17:19 Seite 1

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Überkonfessionelles Christentum

Festschrift aus Anlass der Öffentlichen Festtage

des Priesterseminars Hamburg

Herausgegeben von

Günther Dellbrügger und Andreas Laudert

September 2002

Festschrift neu_Festschrift neu 07.12.13 17:19 Seite 1

Lieber Leser, liebe Leserin,diese Festschrift erscheint anlässlich der „Öf-fentlichen Festtage“ des Priesterseminars Ham-burg vom 20.–22.September 2002. Sie soll diese begleiten und das Motiv der Tagung– „Überkonfessionelles Christentum“ – von ver-schiedenen Seiten beleuchten und vertiefen. Es geht uns dabei weniger darum, zu definieren,was „überkonfessionelles Christentum“ ist, als zufragen, was es sein könnte. Wo scheinen seine Im-pulse in der Geschichte, in der Natur, in Kunst undMusik, aber auch in den aktuellen theologischenund gesellschaftlichen Fragen auf?Die heutige Zeit ist von zwei Tendenzen geprägt,die sich auf den ersten Blick auszuschließenscheinen. Einerseits individualisieren sich dieMenschen in fast allen Lebensbereichen, ande-rerseits spielt das Soziale und Assoziative, dasSich-Vernetzen eine wachsende Rolle. Feste Struk-turen lösen sich auf – gleichzeitig suchen wirnach neuen, vielleicht freieren Formen, in denender Gegensatz zwischen Individualität und Ge-meinschaft auf einer höheren Ebene aufgehobenwird. In dieser Suche kommt ein Bedürfnis nachEchtheit und Unmittelbarkeit, nach situativer Kre-ativität zum Ausdruck, das in früheren Zeiten sonicht vorhanden war. Auch Religion will nichtmehr vorgeschrieben werden, sondern sich zwi-schen Menschen ereignen: was man gemeinsamerlebt, kann man auch gemeinsam bekennen.Zwischen scheinspirituellen Einheitsideen undtrennenden Fundamentalismen gilt es heute, ech-te, menschliche Mitte zu verwirklichen – alschristliche Tat, im Dialog.Die hier versammelten Beiträge stammen von Autoren, die zumeist Dozenten am Priestersemi-nar Hamburg sind. Teilweise handelt es sich umAuszüge neuerer Publikationen, teilweise ummündlich gehaltene Vorträge, wobei in der Fest-schrift der Vortragscharakter gewahrt blieb. Man-ches sind Originalbeiträge. Es versteht sich, dassjeder Autor seinen Beitrag selbst verantwortet.Es war uns ein Anliegen, den Blick auch nach Osten zu lenken. In den Darstellungen von VaterGeorgij Tschistjakov und Alexander Men tritt unsdie Spiritualität russischer Orthodoxie entgegen.

Alexander Mens „Christentum“ macht den An fang.Günther Dellbrüggers Darstellung von Leben undWerk Alexander Mens schließt daran an. Der Aufsatz von Jörg-Johannes Jäger über Hein-rich II. und dessen Vision einer „Ecclesia Catho-lica Non Romana“ schlägt eine Brücke zur Chris-tengemeinschaft. Ein Interviewauszug aus Gesprächen mit der Kom-ponistin Sofia Gubaidulina hebt das besondereVerhältnis hervor, in welchem Religiosität und Musik zueinander stehen.Wolfgang Schad und Wolfgang Held fragen nachden Beziehungen von Christentum und Naturwis-senschaft. Der Mediziner Volker Fintelmann versucht, „Die Zusammenarbeit von Arzt undPriester“ zu skizzieren, und in dem Beitrag„Menschheitliches Christentum“ von Udo Herr-mannstorfer wird schließlich auf die Notwendig-keit einer Verchristlichung und Gesundung des sozialen Lebens geblickt. Die Wandtafelzeichnungen Rudolf Steiners krei-sen um das Spannungsfeld von Wissenschaft, Religion und Kunst. Walter Kugler beschreibt sieals „Signaturen des Geistigen“.Frank Hörtreiters Betrachtung „Friede unter denReligionen – Brücke zwischen den Menschen“knüpft anhand Lessings Ringparabel indirekt aneinem Wort Martin Bubers an, das Rüdiger Sachauin seinem Gastbeitrag anführt: „Eine Zeit echterReligionsgespräche beginnt…“. Unsere Festschriftschließt mit einer kurzen Darstellung der Chris-tengemeinschaft durch Erhard Kröner.„Die Wände zwischen den Kirchen sind nicht sohoch, als dass sie bis zum Himmel reichten.“ Diese Überzeugung eines russisch-orthodoxenChristen drückt etwas aus, was in vielen Menschenheute als Sehnsucht lebt: dass sich die Mensch-heit nicht nur in Wirtschaft und Medien, sondernauch im Geistig-Religiösen als miteinander ver-bunden erfährt. Vielleicht regt diese Schrift dazu an, jenen Ort,wo die „Wände zwischen den Kirchen“ aufhörenund das echte Gespräch beginnt, gemeinsam zusuchen – und im Suchen zu verwirklichen.

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GÜNTHER DELLBRÜGGER / ANDREAS LAUDERT EDITORIAL

Auf

Glaube Liebe Hoffnung

ruht des Gottbegünstigten Menschen

Religion Kunst Wißenschaft

diese naehren und befriedigen

das Bedürfniß

anzubeten hervorzubringen zu schauen

alle drey sind eins

von Anfang und am Ende

wenn gleich in der Mitte getrennt.

Goethe, „Schematischer Text“, an C. E. Schubarth, 21.4.1819 (Inhaltsverzeichnis siehe Seite 94)

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Das Christentum war für viele philosophischeund religiöse Systeme eine Herausforderung,

erfüllte aber gleichzeitig auch die Erwartungen dermeisten von ihnen. Die Stärke der christlichen Gei-stigkeit ist nicht die Verneinung, sondern die Be-jahung, das Einbeziehen des Anderen, die Fülle.

Wenn der Buddhismus von dem leidenschaftlichenStreben nach Erlösung und Befreiung von dem Bö-sen durchdrungen war, (Buddha sagte, so wie dasMeerwasser vom Salz, sei seine Lehre – Dharma –von der Idee der Erlösung gespeist) so ist dieserDurst nach Erlösung und die Verheißung der Ret-tung auch dem Christentum, dem Neuen Testa-ment eigen.

Was im Islam die bedingungslose Hingabe desMenschen zu Gott, dem uneingeschränkten Herr-scher über den Kosmos und das Menschheits-schicksal, ist, finden wir auch im Christentum.

Wenn in der chinesischen Weltanschauung derMensch den Himmel – „Tjan“ – als Orientierungs-punkt für sein Handeln, ja für jede Kleinigkeit,ansieht, so gibt es das auch im Christentum.

Wenn sowohl die Brahmanen als auch die Hindu-isten von der vielfältigen Äußerung und Erschei-nung des Göttlichen sprechen, so tun das auchdie Christen.

Wenn, letztendlich, der Pantheismus behauptet,dass Gott in allem sei, dass Er wie eine geheim-nisvolle Kraft jeden Tropfen, jedes Atom des Welt-alls durchdringe, so ist das Christentum damit ein-verstanden, geht allerdings noch darüber hinaus,indem es Gottes Taten nicht nur auf diese pan-theistische Allgegenwart beschränkt.

Jedoch würden wir irren, wenn wir meinten, dasChristentum sei nur ein Eklektizismus aller vor-

angegangen Glaubensrichtungen. In ihm tritt eineungeheure Kraft von etwas Neuem auf; und die-ses Neue findet man weniger in seiner Doktrin,als in dem Durchbruch eines anderen Lebens inunserem alltäglichen Leben.

Grosse Lehrer der Menschheit – die Autoren derUpanischaden, Laotse, Konfuzius, Buddha, Mo-hammed, Sokrates, Platon u. a. – haben die Wahr-heit als einen Berggipfel empfunden, der nur mitgroßer Mühe zu besteigen ist. Das stimmt, denndie Wahrheit lässt sich nicht einfach mit den Hän-den greifen. Sie gleicht wirklich einem Berg, denman, schwer atmend, Stufe um Stufe besteigt,manchmal auf den schon bewältigten Weg zu-rückblickend und erahnend, dass noch ein stei-ler Aufstieg vor einem liegt. Ich werde nie diewunderbaren Worte des einfachen Sherpen Ten-zing, eines Teilnehmers der ersten Everest-Be-steigung, vergessen. Er sagte, den Bergen müsseman sich mit Ehrfurcht nähern. Das gilt auch fürGott. Tatsächlich fordern die Berge eine beson-dere Seelenstimmung, wenn man ihre Größe undSchönheit entdecken möchte. Die Wahrheit ver-schließt sich vor den Menschen, die sich ihr ohneEhrfurcht nähern, die nicht bereit sind, einen Wegvoller Gefahren und Abgründe zu gehen.

Aufsteigen – darin besteht doch die Mensch-heitsgeschichte. Sie werden mir widersprechen:Es gab aber viel mehr Stufen, die nach unten führ-ten. Sicherlich, auf den ersten Blick überwiegendiese Stufen, überwiegt die Zahl derer, die strau-chelten und in den Abgrund fielen. Aber für unsist wichtig, dass der Mensch trotzdem diese Gip-fel über den Wolken erklommen hat. Seine Grö-ße besteht doch gerade darin, dass er es vermag,zur „Nachbarschaft Gottes“, wie Puschkin es aus-drückt, aufzusteigen, zu den Gipfeln der gedank-lichen und geistigen Betrachtung.

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Die Begegnung mit ihm ist so möglich, wie einBund zwischen ähnlichen Wesen. Der ganze Sinnder Menschheit besteht in der erstaunlichen Ähn-lichkeit mit Dem, der die Welt erschaffen hat.Charles Darwin sagte einmal, dass er, obwohl erdie Welt als einen mechanischen Prozess auffas-ste, angesichts ihrer Kompliziertheit nie verste-hen konnte, wie blinder Zufall ihre Ursache seinkönne. Folge ihre Entwicklung nicht viel mehr ei-ner Vernunft, die der menschlichen ähnlich sei?Man könnte noch hinzufügen: Diese Vernunft istder unseren nicht nur ähnlich, sondern übertrifftsie bei weitem.

In der alttestamentarischen Religion (über die wirschon gesprochen haben), ist der Begriff vonGlaube und Vertrauen entstanden. Kein Glaubeaus theoretischer Überzeugung in philosophi-schen oder religiösen Sinne, sondern ein Glaube,der die todbringende, sinnlose Wirklichkeit durch-bricht, wenn der Mensch zu Gott spricht: „Ja, ichnehme an und vernehme“. So entstand der alteBund zwischen Gott und dem Menschen. Natür-lich konnte dieser Bund zwischen dem einfachen,alttestamentarischen Menschen und dem Göttli-chen nicht endgültig und vollkommen sein. Erdiente der Erziehung des Menschengeschlechts,in seiner Kindheit und Jugend. Im 7. Jahrhundertv. Chr. sagte der Prophet Jeremias: „So spricht derHerr: Ich will mit dem Volk ein Neues Testamentgründen, die „brit chadascha“, den neuen Bund,der nicht so sein wird wie der alte. Er wird in denHerzen geschrieben stehen.“

Siebenhundert Jahre nach dem Propheten Jere-mias versammeln sich des nachts zwölf Menschenin einem kleinen Raum. Sie vollziehen ein Opfer.Gewöhnlich wurden Blutopfer dargebracht. DasBlut galt als Symbol des Lebens, und das Lebengehörte Gott allein. Die Versammelten wurden mitdem Blut des Opfertieres besprengt. So war es vonAlters her bei allen Völkern Brauch. Und Moses,als er den Bund seines Volkes mit Gott schloss,besprengte alle mit dem Blut des Opferlammes.In dieser Nacht, über welche ich spreche, – eineNacht im Frühling des 30. Jahres unserer Zeiten-

rechnung – vollzieht Jesus von Nazareth in Mit-ten der Zwölf ein Sakrament der Erinnerung an dievon Gott gegebene Freiheit. Blut gibt es hiernicht, sondern einen Kelch mit Wein und Brot.Er bricht das Brot, teilt es aus und spricht: „Dasist mein Leib.“ – Wie das Opferlamm für die Men-schen. Und Er reicht den Kelch an seine Jüngerund spricht: „Das ist mein Blut, welches ich füreuch vergießen werde. Das ist der Neue Bund inmeinem Blut.“ So vereinigen sich Gott undMensch im heiligen Mahl nicht mehr durch dasphysische Blut, sondern durch – bildhaft ver-standen – das Blut der Erde. Denn der Trauben-saft ist das Blut der Erde, und das Brot ihr Leib,das ist die Natur, die uns ernährt, das ist Gott,der sich für die Menschen opfert.

Und Jesus von Nazareth bringt dieses Opfer. Seitjenem Augenblick, seit jener heiligen Nacht erhebtman den Kelch, vollzieht sich die Eucharistie. Beiallen christlichen Glaubensrichtungen, in allen Kir-chen, sogar in allen Sekten, ist sie zu finden.

Manchmal heißt es, Christus habe eine neue Mo-ral verkündet. Er selber sagte: „Ein neues Gebotbringe ich euch: liebet einander, wie ich euch ge-liebt habe.“ Auch früher gab es ein Gebot der Lie-be – die Worte Mose: „Liebe deinen Nächsten wiedich selbst.“ Aber Christus gab ihnen einen ganzneuen Klang: „… wie ich euch geliebt habe“,denn um Seiner Liebe zur Menschheit willen bliebEr bei und auf dieser dunklen, blutgetränkten,sündigen Erde. Das heißt, Seine Liebe wurde dieselbstaufopfernde Liebe, und deshalb spricht er:„Wer mir folgen will verleugne sich.“ Verleugnenicht seine Persönlichkeit, denn die Persönlich-keit ist heilig, sondern falsche Selbstbehauptungund Eigenliebe. „Jeder gebe sich auf“ – spricht er– „nehme sein Kreuz auf sich (also den Dienst inLeiden und Freude) und folge mir nach“. Christusruft den Menschen auf, das göttliche Ideal zu ver-wirklichen.

Nur kurzsichtige Menschen können behaupten,das Christentum habe schon im 13. oder 4. Jahr-hundert oder sonst irgendwann bestanden. Es hat

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Der Mensch entstammt zweier Welten, besitztzwei Heimaten. Die eine ist unsere Erde, der Ort,an dem er geboren und aufgewachsen ist; diezweite ist die verborgene Welt des Geistes, die dasAuge nicht sehen, das Ohr nicht hören kann, derwir aber unserem Wesen nach entstammen. Wirsind die Kinder dieser Erde, und gleichzeitig auchihre Gäste.

In seinem religiösen Streben verwirklicht derMensch viel mehr seine höhere Natur, als wenn erkämpft, pflügt, sät, baut. Termiten bauen auch,manche Arten säen sogar. Die Affen bekriegensich, wenn auch nicht so brutal wie die Menschen.Aber außer dem Menschen hat nie ein lebendigesWesen nach dem Sinn seines Lebens gefragt, ver-mag sich keines über seine natürlichen, physi-schen Bedürfnisse zu erheben. Kein Wesen, außerdem Menschen, ist bereit, sein Leben für dieWahr heit zu riskieren. So stellen die Tausende vonMärtyrern aller Völker und Zeiten ein einzigarti-ges Phänomen in der ganzen Geschichte unseresSonnensystems dar.

Wenn wir uns nun dem Evangelium zuwenden, ge-raten wir in eine andere Welt. Nicht in die Welteiner erregenden Suche, des Aufschwungs zu Gott,sondern in eine Welt, in der wir vor dem Geheim-nis einer Antwort stehen.

Fünfundzwanzig Jahre lebte Prinz Siddharta Gau-tama, der künftige Buddha, in vollständiger As-kese, um die Erleuchtung zu erlangen. Ebensomühten sich geistig, seelisch und psycho-physischdie Yogi, Philosophen und Asketen. Jesus Chris-tus aber kommt aus einem einfachen Dorf, wo erdas Leben eines gewöhnlichen Menschen führte.In ihm war alles bereit, und Er musste nicht auf-steigen – im Gegenteil: er stieg hinab zu derMenschheit. Jeder große Weise war sich seinerUnwissenheit bewusst. Sokrates sagte: „Ich weiß,dass ich nichts weiß.“ Die größten Heiligen allerZeiten und Völker empfanden ihre Sündhaftigkeitviel stärker als wir, weil sie sich näher am Lichtbefanden, und so die Flecken in Leben und Ge-wissen viel deutlicher sahen, als wir es in unse-

rem grauen Alltag vermögen. Christus war frei voneinem Bewusstsein der Sündhaftigkeit. Er kommtzu den Menschen nicht in dem Bewusstsein etwaserreicht zu haben, sondern bringt ihnen das, wasin Ihm lebt, schon immer gelebt hat.

Ich muss Sie gleich darauf aufmerksam machen,dass Jesus Christus das Christentum nicht als ir-gendeine Konzeption verkündete. Das, was Er denMenschen verkündete, nannte Er „Besora“, aufgriechisch „Evangelion“, was „Die frohe Bot-schaft“ bedeutet.

Woraus bestand diese frohe Botschaft?

Der Mensch hat das Recht, der Welt zu misstrau-en, sie als fremd und feindlich zu empfinden. Zeit-genössische Schriftsteller wie Albert Camus, JeanPaul Sartre u. a. sprachen oft über die erschre-ckende Sinnlosigkeit des Daseins. Uns umringt et-was Drohendes, Unmenschliches, Sinnloses, Ab-surdes, dem man unmöglich vertrauen kann. Einekalte, tote oder todbringende Welt. Hier muss ichFolgendes bemerken: Diese Schriftsteller, Roman-ciers, Dramatiker und Philosophen, die eineatheistische Weltanschauung vertraten (im FalleSartres und Camus’ den atheistischen Existenzia-lismus), haben ein Moment übersehen: Wenn siedavon sprechen, dass die Welt absurd und sinn-los sei, können sie das doch nur, weil sie eine Vor-stellung von ihrem Sinn haben. Wer den Sinnnicht kennt, wird nie verstehen, was sinnlos ist.Er wird sich nie über eine Sinnlosigkeit empören,sich nie gegen sie auflehnen – er wird in ihrschwimmen, wie ein Fisch im Wasser. Gerade dasssich der Mensch gegen die Absurdität, die Sinn-losigkeit des Lebens auflehnt, beweist doch, dassein Sinn existiert. Die alte biblische Botschaftsagt uns, dass, wenn wir innerlich umkehren unddas Leben bejahen, wenn wir uns ihm, obwohl esuns so entsetzlich und bedrohlich erscheint, an-vertrauen, durch eben dieses absurde, ungeheu-erliche Leben, das Auge Gottes durchleuchtenwird, wie die Sonne durch die Wolken. Das Augeeines Gottes, dessen Persönlichkeit sich in dermenschlichen Wesenheit widerspiegelt.

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diese ja weniger die literarische Begabung derApostel, bzw. der Evangelisten widerspiegelten,als vielmehr das Vorbild, welches sie vor sich sa-hen. Der Apostel Paulus ist nur ein Mensch, Chris-tus aber die Offenbarung Gottes.

Weshalb ist der Apostel Paulus für uns so wich-tig, warum gab ihm die Kirche im Neuen Testa-ment einen Platz direkt neben Christus? Warumist ein großer Teil der Briefe (insgesamt vierzehn)ausgerechnet von ihm geschrieben? Wieso bestehtder Löwenanteil der Apostelgeschichte aus seinerBiographie? Offensichtlich hat der Apostel PaulusJesus während dessen irdischen Lebens nie gese-hen. (Obwohl die Hypothese besteht, dass sie sichbegegnet sein könnten, da Paulus, geboren inKleinasien, in Jerusalem erzogen worden war, istes doch glaubhaft, dass er Jesus nie gesehenhat.) Ich glaube, dass Paulus deshalb die Kirchenso anzieht, denn auch wir haben Ihn nie gesehen.Aber Christus erschien Paulus mit solch einer in-neren Glaubwürdigkeit, die jede äußere Berührungbei weitem übertrifft.

Äußerlich haben Christus auch seine Feinde, dieSchriftgelehrten, die Pharisäer und Pilatus gese-hen, aber es hat ihnen nicht geholfen. Paulus warebenfalls ein Feind Christi, bevor Christus ihn aufdem Weg nach Damaskus aufhielt und als SeinenApostel berief. Dieses Ereignis veränderte nichtnur Paulus’ Schicksal, sondern auch das Schicksalder frühen Kirche, weil Paulus einer derer wurde,die das Evangelium, über die Grenzen Syriens undPalästinas hinaus, in die ganze Welt trugen. Mannannte ihn den Apostel der Völker oder den Apos-tel der Heiden.

Im Judentum erzogen, wusste Paulus sehr wohl,dass es unmöglich ist, eins mit Gott zu werden,und dass der östliche Mensch im Irrtum ist, wenner meint, sich durch Ekstase mit dem Absolutenvereinen zu können. Denn er vermag das Göttli-che nur zu berühren. Im Innern des Göttlichenaber brennt ein ewiges Feuer, das alles in sich ver-zehrt. Zwischen Schöpfer und Geschöpf, sowiezwischen dem Absoluten und dem Relativen liegt

ein Abgrund, den man weder logisch, noch exis-tenziell überwinden kann. Und doch gibt es eineBrücke über diesen Abgrund. Paulus erlebte die-se Brücke, weil er Christus geschaut, und sich in-nerlich mit Ihm vereint hat. Er fühlte sich in un-endlicher Liebe mit Ihm verbunden, sodass es ihmschien, die Wundmale Christi selber zu tragen, mitIhm am Kreuz gestorben und mit Ihm auferstan-den zu sein. Das sagt er auch: „Nicht ich lebe,sondern Christus lebt in mir. Mit Ihm gemeinsambin ich gestorben und auferstanden.“ Wenn manschon nicht mit Gott eins werden kann, so ist diesmit dem Gottesmenschen möglich, denn Er gehörtgleichzeitig zwei Welten an – unserer und der jen-seitigen. Darauf gründet der ganze Weg der Mys-tiker von Paulus bis heute: der Weg zum Vaterführt nur durch den Sohn. „Ich bin die Tür“, sagtChristus. „Ich bin die Tür und das Tor zum Him-mel.“

Die sich wiederholenden Gebete der christlichenAsketen kann man mit den östlich-indischen Man-tren vergleichen. Zwischen ihnen gibt es Ähn-lichkeiten und Parallelen. Ein Hauptgebet derchristlichen Asketen allerdings heißt das GebetJesu. In ihm wird ständig der Name des Gebore-nen, Lebendigen, Gekreuzigten und Auferstande-nen wiederholt. Dass hier Christus im Zentrumsteht, unterscheidet das Gebet entscheidend vonallen anderen Meditationen und Mantren. Dennhier vollzieht sich eine Begegnung – es ist keinebloße gedankliche Konzentration, keine Versen-kung in einen Ozean oder die Tiefen der Geistig-keit, sondern die Begegnung mit einer Persön-lichkeit, mit dem Antlitz Jesu Christi, der über derWelt und in der Welt steht.

Ich erinnere mich an ein Gedicht von Turgenjev:Er steht in einer Dorfkirche und spürt auf einmalChristus neben sich. Sich umschauend sieht er ei-nen gewöhnlichen Menschen. Kaum wieder um-gedreht, spürt er von Neuem Seine Anwesenheit.Das ist die Wahrheit, so verhält es sich. Die Kir-che Christi lebt und entwickelt sich, weil Er in ihrsteht. Er hat dem Christentum keine einzige ge-schriebene Zeile hinterlassen, wie z. B. Platon

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in der Geschichte nur die ersten, ich würde sagen,zaghaften Schritte getan. Viele Worte Christi sindfür uns bis heute unfassbar, weil der Pfeil desEvangeliums in die Ewigkeit zielt, und wir geistigund moralisch noch „Neandertaler“ sind. Die Ge-schichte des Christentums beginnt erst. Das, wasfrüher war, was wir jetzt die christliche Geschichtenennen, waren nur ungeschickte und misslunge-ne Versuche seiner Verwirklichung.

Sie werden sagen: Aber wir hatten doch groß -artige Meister, z. B. solche namenlosen Ikonen-maler wie Andrej Rubljov! Ja, natürlich gab esgroße Heilige, aber sie waren Vorboten, die aufeinem Meer von Blut, Schmutz und Tränen vor-wärts gingen. Offensichtlich ist genau dies dasWichtigste, was uns Tarkovski in seinem Film „An-drej Rubljov“ vermitteln wollte (oder unwillkür-lich vermittelte). Überlegen Sie doch mal, mitwelchem Hintergrund die zauberhafte, erhabeneVision der Dreifaltigkeit entstand! Was in demFilm gezeigt wird, war die Realität: Kriege, Folter,Verrat, Gewalt, Feuersbrünste, Verderben. Vor soeinem Hintergrund kann doch ein Mensch, wiez. B. Goya, der nicht um Gott weiß, nur die „Ca-priccios“ schaffen. Rubljov aber schuf eine gött-liche Vision. Das bedeutet doch, dass er sie nichtaus der ihn umgebenden Realität, sondern aus dergeistigen Welt entnahm.

Das Christentum ist keine neue Ethik, sondern einneues Leben, das den Menschen zu einer unmit-telbaren Berührung mit Gott führt. Das ist derNeue Bund, das Neue Testament. Wo liegt hier dasGeheimnis? Wie können wir das verstehen? Wa-rum fühlt sich die Menschheit von der Persön-lichkeit Jesu Christi wie von einem Magneten an-gezogen, obwohl er als ein Erniedrigter in die Weltkam, ohne das Geheimnisvolle der indischen Wei-sen oder die poetische Exotik der östlichen Phi-losophen? Alles, was Er sagte, war einfach undklar, selbst die Beispiele in seinen Gleichnissennahm er aus dem alltäglichen Leben. Dieses Ge-heimnis offenbart Er uns in kurzen Worten. Im Jo-hannes-Evangelium bittet Philippus: „Zeige unsden Vater.“ Der, den die Griechen Arche nannten,

den Urbeginn – wo ist Er? Und Jesus antwortete,wie kein Philosoph der Erde je geantwortet hat:„So lange bin ich bei euch, und du kennst michnicht Phillipus? Wer mich sieht, sieht auch denVater.“ Solche Worte hat Er mehr als einmal ge-sprochen, und viele Menschen wandten Ihm denRücken zu und gingen entrüstet davon, denn siewaren eine Herausforderung. Man musste das be-sondere Geheimnis verstehen.

Christus erklärte nie dieses Geheimnis. Er fragtedie Menschen nur: „Für wen hält man mich? Füreinen Propheten? Für den auferstandenen Jo-hannes den Täufer? Und ihr?“ – „Du bist der Ge-salbte, der König, der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes.“ Hier muss sich eine innereErfahrung auftun. Und Er fragt dies bis heute,fragt jeden, denn hier spricht durch einen Menschen Gott selber. Jesus Christus ist dasmenschliche Antlitz des Unendlichen, Unfassba-ren, Unermesslichen, Unergründlichen, Namen -losen. Laotse hatte recht, als er sagte, jederName, den wir aussprächen, könne nicht der Namedes Namenlosen und Unfassbaren sein. In JesusChristus wird Er plötzlich beim Namen genannt,trägt sogar einen menschlichen Namen. Er ist es,der mit uns die Last des Lebens trägt. Darin lie-gen Mittelpunkt und Achse des Christentums!

Wenn wir nun von den Evangelien zu der Apos-telgeschichte und den Briefen übergehen, solltenwir unsere Aufmerksamkeit auf die zweite Persön-lichkeit des Evangeliums lenken. Nach der Meinungeines französischen Wissenschaftlers, besteht dasNeue Testament aus zwei Biographien: der JesuChristi, und der seines Nachfolgers Saulus von Tar-sus, des Apostel Paulus. Beim Übergang von denEvangelien zu den Paulusbriefen, hat doch sicherjeder von Ihnen den Eindruck, vom Himmel auf dieErde zu fallen. Obwohl Paulus die Evangelisten umeiniges übertraf. Er war ein enorm talentierter, ge-bildeter Mensch von geistiger Stärke. DieserMensch hat ein von seiner Persönlichkeit gepräg-tes Werk geschaffen. Seine Briefe hat er mit sei-nem Herzblut geschrieben. Trotzdem ist es schwie-rig, sie mit den Evangelien zu vergleichen, weil

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Herzens für die Botschaft Jesu Christi ist das Ge-heimnis des Evangeliums. Denn jeder von Ihnenweiß, wie sehr der Mensch verwirrt und schwachist, wie viele Komplexe und Sünden sich bei ihmeingenistet haben. Aber es gibt eine Kraft, dieChristus uns auf der Erde als Geschenk hinterlas-sen hat: die Gnade. (Im Russischen bedeutet Gna-de: Das Heil, welches man sich nicht erarbeitet,sondern geschenkt bekommt.) Ja, wir sollen unsanstrengen, unsere Sünden bekämpfen, dieSelbstvervollkommnung anstreben, aber gleich-zeitig auch erinnern, dass wir uns nicht aus ei-gener Kraft an den Haaren aus dem Sumpf ziehenkönnen, dass all diese Arbeit nur Vorbereitung ist.Hier liegt der grundlegende Unterschied zwischenden Christen und einem Yogi, der davon ausgeht,der Mensch könne zu Gott gelangen, und auf ei-genen Wunsch bei ihm eindringen. Das Christen-tum sagt aber: Du kannst dich vervollkommnen,aber zu Gott kannst du nicht gelangen, so langeer nicht zu dir kommt. Und hier überflügelt dieGnade das Gesetz. Das Gesetz ist die erste Stufeder Religion. Das ist wie bei einem Kind: diesesist verboten, das erlaubt – bestimmte Regeln undNormen. Braucht man das? Natürlich, aber dannfolgt die Gnade – die Begegnung mit Gott durchinnere Erfahrung. Das ist wie Liebe, wie Frohlo-cken, wie ein Sieg, wie Sphärenmusik! Gnade istein neues Leben.

Der Apostel Paulus sagte: „So streiten die Men-schen untereinander: die einen wollen die alten,alttestamentarischen Bräuche aufrecht erhalten,die anderen sind dagegen. Aber weder das einenoch das andere ist wichtig. Wichtig sind nur dieneue Schöpfung, der neue Glaube, der durch dieLiebe eindringt.“ Das ist das echte Christentum,alles andere sind seine historischen Hüllen, seinRahmen, die kulturellen Begleiterscheinungen.Ich spreche zu ihnen über den innersten Kern deschristlichen Glaubens. Dies ist der unendlicheWert des menschlichen Wesens, der Sieg des Lich-tes über Tod und Verwesung, das Neue Testament,das wie der Baum aus einer kleinen Eichel wächst.Das Neue Testament bringt die Geschichte zur Gä-rung, wie die Hefe den Teig.

Schon heute kommt das Reich Gottes insgeheimunter die Menschen. Wenn Sie Gutes tun, wenn Sielieben, wenn Sie Schönheit betrachten, wenn Siedie Fülle des Lebens empfinden, hat Sie das ReichGottes schon zart berührt. Es wird nicht nur in fer-ner Zukunft sein, existiert nicht nur in futurolo-gischer Ansicht, es ist hier und jetzt. So lehrt esuns Jesus Christus. Das Reich wird kommen undist schon da. Das Weltengericht wird sein und hatschon begonnen. „Jetzt wird Gericht gehalten überdiese Welt.“ Spricht Christus. „Jetzt“ bedeutet da-mals, als Er das erste Mal das Evangelium verkün-dete. Das Gericht besteht aber darin, – sagt Chris-tus – dass „das Licht auf die Welt kam, und dieMenschen liebten die Finsternis mehr als dasLicht.“ Dieses Gericht begann, während er in Ga-liläa verkündete, in Jerusalem, auf Golgatha, imrömischen Imperium, in Mitteleuropa und in Russ-land; und heute in 20. Jahrhundert und im 25.Jahrhundert und in der ganzen Menschheitsge-schichte wird dieses Gericht weitergehen. Das istdie christliche Geschichte, in der die Welt nebendem Menschensohn vorangeht.

Und wenn wir uns von Neuem die Frage stellen,worin das Wesen des Christentums besteht, müs-sen wir antworten: das ist die Gottesmenschheit,die Vereinigung des begrenzten und zeitgebun-denen menschlichen Geistes mit dem unendlichenGöttlichen und die Heiligung des Leibes. Dennseit dem Augenblick, als der Menschensohn un-sere Schwäche und Krankheit, unsere Freude undunser Leiden, unsere Mühe, unsere Liebe und un-ser Schicksal annahm, seitdem ist die Natur, dieWelt und alles, wo Er geboren wurde und wan-delte, was er nicht verstoßen und erniedrigt, son-dern auf eine neue Stufe gehoben hat, geheiligt.Das Christentum ist die Heilung der Welt und derSieg über das Böse und die Finsternis. Er begannin der Nacht der Auferstehung und wird andau-ern, so lange die Welt besteht.

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seine „Dialogen“. Er hat uns keine Gesetzestafelngegeben, wie Moses; Er hat nicht wie Mohammedeinen Koran diktiert; Er gründete keinen Ordenwie Gautama Buddha. Aber Er hat uns gesagt:„Ich bleibe bei euch bis an das Ende aller Tage.“

Als die Jünger spürten, dass sie sich von ihm tren-nen würden, sprach er die prophetischen und ewi-gen Worte aus: „Ich werde euch nicht als Waisenzurücklassen, sondern komme wieder.“ Und diessetzt sich bis heute fort. Darauf gründet die tief-ste christliche Erfahrung. Alles andere stellt so-zusagen nur seine oberen Schichten dar. In allemanderen gleicht das Christentum den übrigen Re-ligionen. Die Religionen sind immer ein Teil derKultur. Sie wachsen gemeinsam mit der Sehnsuchtdes menschlichen Geistes nach Ewigkeit, nach denunvergänglichen Welten. Dagegen kommt hier derStrom aber von oben, vom Himmel, und deshalbhatte ein Theologe des 20. Jahrhunderts dasRecht zu sagen: „Das Christentum ist nicht eineReligion, sondern die Krisis aller Religionen.“ Eserhebt sich über alle anderen, denn, wie schonder Apostel Paulus sagte: „Niemand wird durchdie Taten des Gesetzes, sondern nur durch denGlauben an Jesus Christus erlöst.“

Abschließend möchte ich Ihnen diesen Schlüs-selsatz erklären. Was sind die „Taten des Geset-zes“? Sie sind ein System der religiösen Regelnund Sitten. Sind sie nötig? Ja, sie sind als Erzie-hungsmittel für die Menschen nötig. Manchmalentstehen sie aufgrund großer Erleuchtungen,manchmal einfach Kraft der Tradition, manchmaldurch Irrtümer; und manchmal kommen diese Ge-setze von der Offenbarung Gottes, wie im AltenTestament. Aber sie entstehen für bestimmte Pha-sen der geistigen und seelischen Entwicklung.

Was bedeutet Erlösung? Es bedeutet, unser ver-gängliches Leben mit der Ewigkeit zu vereinen,den Anschluss an das Göttliche zu finden. DerDurst nach diesem Anschluss lebt in jedem vonuns, in jedem Menschen. Er kann verborgen, zu-gedeckt, tief in unser Inneres verbannt sein, abertrotzdem existiert er in jedem Menschen. Der

Apostel sagt, das Gesetz sei heilig und von Gottgegeben, aber der Anschluss an das göttliche Le-ben ist nur durch den Glauben an Jesus Christusmöglich.

Was wiederum bedeutet „Glaube an Jesus Chris-tus“? Ist es der Glaube daran, dass dieser Menschauf der Erde gelebt hat? Das ist kein Glaube, son-dern Wissen. Seine Zeitgenossen bezeugten, dasser gelebt hat. Die Evangelisten hinterließen unsein glaubwürdiges Zeugnis. Die heutigen Histo-riker bestätigen Ihnen, dass es so war. Die Ver-suche diverser Propagandisten, Christus als einenMythos zu entlarven, sind schon seit langem zer-schlagen. Nur in unserem Land, einer Art Reser-vat aller möglichen Wunder, hat sich dieses Kon-zept erhalten.

Was bedeutet es nun an Ihn zu glauben? Ist esder Glaube, dass er aus anderen Welten kam? Dasstimmt zwar, ist aber trotzdem eine Theorie. Andieser Stelle sollten wir uns an den Glauben er-innern, der im Alten Testament ausgesprochenwird: Das Vertrauen in das Dasein. Als Abrahamzu Gott „Ja“ sagte, (bzw. wohl eher schweigendgehorchte), wurde der Glaube geboren. Im Althe-bräischen klingt Glaube wie „emunah“, was vondem hebräischen Wort für Treue abgeleitet ist. DerBegriff des Glaubens ist eng mit dem der Treueverwandt. Gott bleibt seinen Versprechen treu,und der Mensch, auch wenn er schwach und sün-dig ist, hält Gott die Treue. Aber welchem Gott?Einem verborgenen, furchterregenden Gott, wel-cher dem Menschen mitunter so fern ist, wie derOzean. Christus aber offenbart uns ein anderesAntlitz Gottes. Er spricht fast nie das Wort „Gott“aus, sondern nennt Ihn immer „Vater“. Währendseines irdischen Lebens gebraucht er das zärtli-che und liebkosende Wort, mit welchem die orien-talischen Kinder ihren Vater anreden: „Abba“.

Christus offenbart Gott als unseren himmlischenVater, und ernennt uns so zu Brüdern und Schwes-tern. Diese Brüder und Schwestern kann es nurdurch einen gemeinsamen Vater geben. So ist un-ser geistiger Vater Gott, und die Offenheit des

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Vater Alexander Men hat diesen Vortrag am 8. September1990 in einem Moskauer Kulturzentrum gehalten, einen Tagvor seiner Ermordung. Die Druckerlaubnis für diesen Beitraghat uns dankenswerterweise sein Bruder Pavel Men erteilt.

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schen Nägeln, alten Schuhen und Schlössern ei-nen Band von Wladimir Solowjow. Er nahm sichvor, Wissenschaft und Glauben zu versöhnen!Auch das westliche Christentum lernte er kennen.Im Selbststudium erarbeitete er sich systematischdie Stoffgebiete, die auf dem Theologischen Se-minar gelehrt wurden. Früh begann er selber zuschreiben: mit 12 Jahren einen Aufsatz über dieNatur und ein Theaterstück über Franz von Assi-si; drei Jahre später einen ersten theologischenAufsatz. Mit 18 Jahren hatte er das Programm desTheologischen Seminars im Selbststudium absol-viert und wollte an die Universität gehen. Dieswurde ihm wegen seiner jüdischen Abstammungverwehrt. So trat er ein in das Institut für Pelz-tierkunde in Moskau. Nebenbei studierte er nunim Selbststudium das Programm der Theologi-schen Akademie. In Irkutsk (Sibirien) setzt er dasStudium der Pelztierkunde drei Jahre lang fort,aber wegen seiner regelmäßigen Kontakte zur Kir-che wird ihm das Abschlussdiplom verweigert.

Zurück in Moskau empfing er mit 23 Jahren dieDiakon- und mit 25 Jahren die Priesterweihe. SeinArbeitsbeginn als Priester fiel in eine Zeit ver-stärkter Repressionen durch den Staat. Die Kircheprofitierte nicht vom „Tauwetter“ nach StalinsTod. Im Gegenteil: 1958 wurde eine neue antire-ligiöse Kampagne gestartet. In den folgendenJahren wurde die Hälfte aller Kirche geschlossen,bis zu 150 pro Tag. Die Inneneinrichtungen wur-den zerstört, Priester wurden zu Bettlern. Von den100 Klöstern, die es nach dem 2. Weltkrieg gab,blieben 16 übrig…

In dieser Situation arbeitete Alexander Men mit al-ler Kraft daran, das Gemeindeleben, das in der or-thodoxen Kirche nicht ausgeprägt ist, zu verstär-ken. Man geht zum Gottesdienst, aber es gibt kaumGemeindeleben außerhalb des Kultus. AlexanderMen war es ein Anliegen, dass eine wirkliche Gemeinschaft entstand, in der die Mitglieder sichgegenseitig helfen, gemeinsam das Evangeliumstudieren und sich untereinander stärker verbin-den. Darin lebte auch das Bemühen, den Impulsder urchristlichen Gemeinden wiederzubeleben. Die

Aufgabe des Pfarrers sah er darin, nicht nur denKultus zu zelebrieren, sondern Orientierung zu ge-ben, an die christlichen Gebote zu erinnern, denMenschen in ihren inneren Angelegenheiten zu hel-fen. Als Seelsorger wurde er wie eine Art innerer„Geburtshelfer“ erlebt, der „höher stand als wir undgleichzeitig an unserer Seite“.

Gefragt, wie er sein ungeheures Arbeitspensumschaffe, sprach er einmal von seinem „Vertrag mitGott“: „Also wir haben einen Vertrag. Ich gebe al-les, was ich habe; ich gebe meine ganze Zeit, unddann wird mir nach Maßgabe meiner Kräfte ge-schenkt, das zu tun, was ich zu tun habe“. Er hat-te die Fähigkeit, jede freie Minute zu „nutzen“,aber in dem Sinne, dass er immer das, was er tat.ganz tat, auch die Entspannung, das Loslassen.Das Ganze geschah zu einer Zeit, in der – wie mansagte – zwar die Kirche vom Staat, nicht aber derStaat von der Kirche getrennt war. Alexander Menbekam regelmäßig Drohbriefe, Anzeigen durchSpitzel, war absurden Verdächtigungen („KGB-Spitzel“) und tagelangen Verhören ausgesetzt.Immer wurde er überwacht wie Solschenizyn, Sacharow und andere, mit denen er in engem Kon-takt stand. Dagegen helfe nur geduldige, unab-lässige, tiefgehende Arbeit. Einmal wurde er gefragt, wie er angesichts all der Verleumdungenusw. sich innerlich aufrecht halten könne. Er ant-wortete, man dürfe nicht an den Beleidiger den-ken, sondern an Jesus Christus. Den Geist des Beleidigers dürfe man nicht sich einschleichenlassen in unseren Geist. Das Beste sei, die Situ-ation aus der Ruhe und Höhe der Sterne zu betrachten, „so als wären wir tot und würden un-ser Leben in einer anderen Welt leben…“

In der Sowjetunion bildete sich eine geistige Un-tergrundkultur der Dissidenten, die für das Rechtdes Einzelnen, anders zu denken, kämpften. Der„Samisdat“ druckte und verbreitete verbotene Bü-cher, der „Tamisdat“ importierte illegal russischeBücher aus dem Ausland, der „Magnitisdat“ ver-breitete verbotene politische Lieder. Dabei lebtein Alexander Men durch all die Jahre die Frage:was wird sein, wenn alles wieder erlaubt sein

LEBEN UND SCHICKSAL ALEXANDER MENS (1935–1990)

Am 9. September 1990 wurde der Priester Ale-xander Men in der Nähe von Moskau auf dem

Weg zur Kirche hinterhältig mit einem Beil getö-tet. Dieses Verbrechen ist bis heute nicht aufge-klärt. Mit dem Tode von Alexander Men ging nichtnur der russisch-orthodoxen Kirche, sondern dergesamten Christenheit des 20. Jahrhunderts ei-ner ihrer profiliertesten Vertreter verloren, der esvermochte, Tiefe des Glaubens, wissenschaftlicheStrenge, Dienst als Pfarrer in der Gemeinde, un-geheuren Fleiß in Publikationen und permanen-te Offenheit für die Menschen, die ihn – oft vonweither – aufsuchten, in seinem Leben zu verei-nigen. Seine Impulse leben weiter in vielen Men-schen, u. a. in der Alexander-Men-Universität inMoskau. Deren Rektor, Georgij Tschistjakov, hatdieser Festschrift einen Beitrag gewidmet.

Sowohl Alexander Mens Vater, von Beruf Textil-ingenieur, als auch seine Mutter waren jüdischerAbstammung. Die sehr religiöse Mutter konver-tierte nach längerer Vorbereitung zum Christen-tum und ließ sich im Herbst 1935 zusammen mitAlexander, der am 22. Januar, desselben Jahresgeboren war, taufen. Im Zuge der Kollektivierungder gesamten Gesellschaft und antireligiöser Kam-pagnen war die Kirche unter Stalin 1935 praktischaus der Gesellschaft getilgt. Das religiöse Lebenaber ging weiter – im Verborgenen. Der Unter-grund, die Katakomben des 20. Jahrhunderts wur-den Alexander Mens geistige Heimat. Der wis-sensdurstige Junge teilte sich schon früh seinenTag sehr genau ein. In der engen Wohnung, diemit mehreren anderen Familien geteilt werden

musste, lebte die fünfköpfige Familie in einemZimmer. Alexander verzog sich hinter einen Wand-schirm, ging regelmäßig um 21 Uhr zu Bett undstudierte früh am Morgen, während alle anderennoch schliefen; so las er z. B. mit 13 Jahren Kant.Zu seinen Mitschülern gehörten der Dichter Woz-nessenskij und der Filmregisseur Tarkovskij. (Indiesem Schulgebäude ist heute die größte Wal-dorfschule Moskaus untergebracht!)

Der sehr begabte Alexander war bei seinen Mit-schülern beliebt und hatte viele Freunde. Er in-teressierte sich für Literatur, Musik und Malerei,nahm Kurse in Malen und Zeichnen. Besonders be-geisterte ihn das Studium der Astronomie und derBiologie; er ging oft in den Zoo und zeichnete Tie-re. Später schrieb er rückblickend Sätze, die fürorthodoxe Religiosität revolutionär, wenn nichtketzerisch sind: „Seit meiner Kindheit war die Be-trachtung der Natur meine ‘theologia prima’ (mei-ne erste Theologie). Ich ging in den Wald oder inein paläontologisches Museum wie in eine Kirche.Und bis heute hat ein Zweig mit seinen Blätternoder ein Vogel in vollem Flug für mich mehr Be-deutung als Hunderte von Ikonen.“

Das naturwissenschaftliche Studium war für ihn„Teilhabe am göttlichen Mysterium“. Zwei Bücherhabe Gott uns gegeben: die Bibel und die Natur.Daraus erwuchs sein Lebensplan, in der Wissen-schaft oder in der Kunst Christentum zu verwirk-lichen. Alexander befasste sich auch intensiv mitden großen religiösen Denkern Russlands. Mit 15Jahren entdeckte er auf einem Flohmarkt zwi -

„Sich hingeben bis zum Ende, heißt das Evangelium erfüllen.

Nur auf diese Weise kann die Welt gerettet werden.“Leben und Schicksal Alexander Mens (1935–1990)

Günther Dellbrügger

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Einleitung

Eine Legende1 erzählt, dass Heinrich II. (973–1024) am Monte Gargano in Apulien/Süditaliendurch ein mitternächtliches Erlebnis eingeweihtworden ist. Als erster Mensch hat er es gewagt,des nachts allein und ohne Waffen in der dem Er-zengel Michael geweihten Kapellengrotte zu wei-len, um dem himmlischen Kultus, der dort von En-geln zelebriert wurde, beizuwohnen:

„Gebet fügte er an Gebet, und immer wiederbeugte er das Knie, indem er sich unter vielen Trä-nen der göttlichen Milde anvertraute und danachstrebte, in starker Hingabe seine Seele dem Er-zengel Michael zu verbinden. Und als der Weih-rauch des frommen Königs zu Gott hinaufstieg,gewährte der Gott Israels … ihm eine Vision. Ersah nämlich eine große Zahl von Engeln, leuch-tend wie die Sonne, in den heiligen Tempel ein-treten. Zwei dieser Engel schmückten feierlich denHauptaltar. Dann sah er andere unzählige Scha-ren himmlischer Wesen, die leuchteten wie zu-ckende Blitze. Und diese führten ihren Fürstenherbei, der im herrlichsten Glanze strahlte.

Kein Zweifel – dies muss der Bannerträger derhimmlischen Heerscharen gewesen sein. Zuletztdurfte er ihn selbst schauen, den König der En-gel, wie er in gewaltiger Macht und Kraft dahin-schritt, ihn, dem die ungezählten himmlischenHeerscharen untertan sind und mit dessen Glanzsich nichts vergleichen lässt, auf dessen Wink imHimmel und auf Erden alles gelenkt wird. Dannfeierte der Chor, der zum Preise des neuen Jeru-

salem in der Kirche versammelt war, den Gottes-dienst.

Nachdem dies geschehen war, überreichte einerder erhabensten Engel den heiligen Evangelien-text mit größter Ehrerbietung einem himmlischenWesen, das jenen Text küsste und dem Engel ge-bot, ihn dem Kaiser in seinem Winkel auch zumKusse hinabzubringen. Als der Engel seinen Auf-trag ausführte, begann jener gepriesene SchülerChristi bei der seltenen Schau einer so hohenMacht und eines solchen Glanzes sich im Geistezu fürchten und an allen Gliedern zu zittern …Als der Engel dies sah, berührte er sanft die Hüf-te des Kaisers und sprach: ‘Fürchte dich nicht, duAuserwählter Gottes, erhebe dich rasch und nimmdieses Zeichen des himmlischen Friedens, das dirdurch göttliche Fügung zuteil wird, mit Freudenauf.’ Der Kaiser verließ den Tempel, und sogleicherlahmte seine Hüfte – von da an hinkte er zeit-lebens.“2

In einem am 13.11.1921 gehaltenen Vortrag3 reg-te Rudolf Steiner dazu an, das religiöse Wirkendieses deutschen Kaisers neu ins Gedächtnis zurufen. Steiner vertrat die Auffassung, dass die ka-tholische Kirche eigentlich keine Veranlassunghabe, Heinrich II. „unter ihre Heiligen zu stellen,denn er war einer derjenigen, die aus heiligem ka-tholischen Feuereifer heraus gerade die römisch-katholische Kirche überwinden wollten…“.

Heinrich II. „wollte eine Ecclesia catholica nonRomana, denn die Ecclesia catholica Romana istgeworden ein weltliches Reich.“

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wird? „Wenn wir etwas zu sagen haben, dann wirdGott uns eine Plattform dafür geben“ Und so kames.

Der Beginn der kulturellen Liberalisierung durchdie Perestroika war die Erlaubnis des Filmes„Reue“. Dieser Film endet damit, dass eine alteFrau nach dem Weg zur Kirche fragt – nach 70Jahren antireligiöser Propaganda ein provozie-rendes Bild, das wie ein Signal zum Durchbruchwirkte.

Am 11. Mai 1988 durfte Alexander Men seinen er-sten öffentlichen Vortrag halten in einem Insti-tut für „Stahlkunde“(!). Seitdem hielt er in gutzwei Jahren 200 Vorträge über Religion, Chris-tentum und über den Dialog zwischen den Reli-gionen. Seine tiefste Überzeugung war, dass dasChristentum noch kaum begonnen habe und dasses sich der Wissenschaft stellen müsse. Die Chris-ten müssen fähig sein, auf die Herausforderungder Wissenschaft einzugehen. Alexander Men führ-te die moderne Bibelwissenschaft in seinem Lan-de ein. Sein letztes großes Werk war ein siebenBände umfassendes Lexikon der Bibelwissenschaft(unveröffentlicht). Das alles aber stand für ihn imDienst einer lebendigen Gemeinde, eines erneu-erten gesellschaftlich tätigen Christentums, indessen Zentrum für ihn in erster Linie nicht Leh-ren und Vorschriften, sondern vor allem JesusChristus selbst stand: als der „Menschensohn“ (Ti-tel seines ersten Buches), aber zugleich als „Got-tessohn“, der im großen Strom der Religionsge-schichte der Menschheit als Erfüllung und Voll-endung erscheint.

Seine Bücher mit einem Höchstmaß an Informa-tion und zugleich in einer allgemein verständli-chen Diktion sind heute in verschiedene Sprachenübersetzt und werden gern gelesen. Sein sechsBände umfassendes Hauptwerk über die Reli-gionsgeschichte der Menschheit trägt den be-zeichnenden Titel „Auf der Suche nach dem Weg,der Wahrheit und dem Leben“. Der erste Band stellt„Die Quellen der Religion“ dar, zeigt die Berechti-gung von Glaube und Wissenschaft, die in Wahr-

heit nicht nur vereinbar seien, sondern sich sogargegenseitig brauchen. „Magie und Monotheismus“schildert die Anfänge der Religion bis zur Er-scheinung des Volkes Israel. Die folgenden Bändesind der geistlichen „Revolution“ gewidmet, dieMitte des letzten vorchristlichen Jahrtausends gro-ße Propheten, Philosophen und religiöse Reformerhervorbrachte: „An den Toren des Schweigens“(Band 3) zur Spiritualität Chinas und Indiens,„Dionysios, der Logos, das Schicksal“ (Band 4) zurgriechischen Philosophie, „Die Botschafter desReiches Gottes“ (Band 5) zu den biblischen Pro-pheten. Der letzte Band führt dann bis an die„Schwelle des Neuen Testamentes“ heran.

Was zeichnet die Persönlichkeit Alexander Mensaus? Er vereint die geistigen Hauptkräfte unsererZeit: den Geist echter Wissenschaft mit tiefer Re-ligion, starker Gebetskraft, Liebe zur Liturgie mitFreude an Naturwissenschaft, ständige Verfügbar-keit für die Menschen mit vorbildlicher Beschei-denheit. „In Wahrheit sind es unser Versagen, dasGewicht unserer Verantwortung, die Mühen unddie Gefahr, die uns vor der Ichbezogenheit schüt-zen… Und Wissenschaft lehrt Bescheidenheit. Ichhabe manches gemacht… Was ist das alles im Ver-gleich zur unendlichen Größe der Aufgabe?“

Alexander Men lehnte es ab zu emigrieren; erst inden letzten zwei Jahren seines Lebens reiste erins Ausland, aber sehr bald zog es ihn wieder nachHause, zu seiner Gemeinde, zu den Menschen, dieihn brauchten, für die er da war. Das Beispiel sei-nes Lebens, seine Liebe zu Gott und zu den Men-schen hat vielen Menschen geholfen. Dankbar erinnern sie: „Wenn er in einem Raum erschien,verwandelte sich dieser in einen Raum der Freu-de“. Am Abend vor seiner Ermordung hielt er einenvermächtnishaften Vortrag (siehe Seite 5 ff.). Die-ser endete mit den hoffnungsvollen Worten: „DerSieg Gottes hat in der Nacht der Auferstehung be-gonnen und er wird fortdauern, so lange die Weltbesteht…“

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GÜNTHER DELLBRÜGGER LEBEN UND SCHICKSAL ALEXANDER MENS (1935–1990)

Kaiser Heinrich II. und die Ecclesia Catholica Non RomanaAus Anlass des 80. Geburtstages der Christengemeinschaft

und der 1000-Jahrfeier der Königskrönungen von Heinrich II. und Kunigunde, seiner Gemahlin

Jörg-Johannes Jäger

(Alle Zitate nach Ives Hamant; Alexander Men. Ein Zeuge fürChristus in unserer Zeit. München 2000)

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Was „durch das Christentum in die Welt gekom-men ist“, habe „eine Kirche für die ganze Mensch-heit“ werden wollen.

In diese Zeit – 1921/22 – fällt die Begründungder Christengemeinschaft als Bewegung für religi-öse Erneuerung. Rudolf Steiner hat den mit die-sem Impuls verbundenen Persönlichkeiten aus deranthroposophischen Geisteswissenschaft herausHilfestellung gegeben. Er hat bei den in diesemZusammenhang gehaltenen Kursen auf HeinrichII. hingewiesen, wie er in diesem Vortrag vom13.11.1921 sagte, und auch auf die Notwendig-keit, dessen Impuls auf zeitgemäße Weise in dieGegenwart „hineinleben“ zu lassen. Sollte Stei-ner eine Art Patenschaft Heinrichs II. für das Wir-ken der Christengemeinschaft angedeutet habenwollen, so könnte man fragen, ob nicht auch dieChristengemeinschaft jener „Kirche für die ganzeMenschheit“ dient und dieser – wie Heinrich undseine Gemahlin Kunigunde – den Weg bereitet –ohne sie exklusiv zu „sein“.

In diesem Beitrag soll der Versuch gemacht wer-den, anhand einiger Tatsachen aus dem Lebenund Wirken des deutschen Kaiserpaares sowie un-ter Berücksichtigung der von ihm gestiftetenKunstwerke, die wahrscheinlich nach seinen An-weisungen angefertigt wurden, Anhaltspunkte zufinden für die Entstehung einer solchen „Ecclesiacatholica non Romana“.

Aus dem Leben von Heinrich II. und Kunigunde

Wahrscheinlich wurde Heinrich II. am 6. Mai 973als Sohn des Bayernherzogs Heinrich des Zänkersin Abbach bei Regensburg geboren. Durch die Re-bellion seines Vaters gegen seinen Vetter KaiserOtto II. verlor Heinrich der Zänker 978 sein Her-zogtum und wurde nach Utrecht verbannt. Dashatte zur Folge, dass der fünfjährige Sohn Hein-rich der Obhut seiner Eltern entzogen wurde undin die berühmte Domschule zu Hildesheim zur Er-ziehung gegeben werden musste. So erhielt er

eine Ausbildung für den geistlichen Stand, lern-te Lesen und Schreiben, die lateinische Spracheund die Heilige Schrift sowie die feierliche Litur-gie kennen und schätzen – für einen späteren Kö-nig und Kaiser zu damaliger Zeit nichts Selbst-verständliches.

Mit zwölf Jahren durfte er wieder zu seinen Elternauf die Heinrichsburg in Abbach an der Donau zie-hen und zu dem von ihm sehr verehrten BischofWolfgang von Regensburg zur weiteren Erziehung.Außerdem erhielt er nun durch seinen inzwischenkönigstreuen Vater die Ausbildung im Kriegs-handwerk und wurde nach dessen Tod 995, also22-jährig, Herzog von Bayern, ohne Bayer zu sein,da er ja aus sächsischem Geschlecht stammte,d. h. aus dem Gebiet des heutigen Norddeutsch-land, einschließlich Westfalens und Ostfalens (Ge-biet bis zur Elbe bei Magdeburg).

Wesentlich für sein Leben und Wirken war die ehe-liche Verbindung mit Kunigunde, einer Tochter desGrafen Siegfried von Lützelburg (heutiges Luxem-burg). In der Wissenschaft rätselt man, warum ersich als Herzog eine Frau aus dem noch unbedeu-tenden Grafengeschlecht der Lützelburger gesuchthat. Des Rätsels Lösung ist wohl, dass es Heinrichbei der Erwählung von Kunigunde offenbar nichtum die Vergrößerung seines Reiches und größerenRuhm ging, sondern dass sich ganz einfach zweiIndividualitäten aus wahrer Liebe zur Lebensge-meinschaft zusammengefunden haben. Durch ihreKrönung zur Königin am 10. August 1002 in Pa-derborn wurde sie – gleichberechtigt – seine Mit-regentin und häufige Ratgeberin, wie die Urkun-den zweifelsfrei erkennen lassen.

Hier sollen nicht die zahllosen Feldzüge HeinrichsII. dargestellt werden, die von seinem Zeitge-nossen und Biografen Bischof Thietmar von Mer-seburg in seiner „Chronik“4 ausführlich beschrie-ben worden sind.

JÖRG-JOHANNES JÄGER

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KAISER HEINRICH II. UND DIE ECCLESIA CATHOLICA NON ROMANA

Abb. 1 Heinrich II. wird von Christus gekrönt. Aus dem Sakramentar Heinrichs II., Regensburg 1002/14(Fortsetzung auf Seite 33)

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KAISER HEINRICH II. UND DIE ECCLESIA CATHOLICA NON ROMANA

Abb. 3 Kaisermantel Kunigundes mit Christus, Ausschnitt. Bamberg 1014

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Abb. 2 Christus krönt Heinrich II. und Kunigunde. Aus dem Perikopenbuch Heinrichs II. Abtei Reichenau 1007/1012

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KAISER HEINRICH II. UND DIE ECCLESIA CATHOLICA NON ROMANA

Abb. 4Benediktus neben Christus und drei Erzengeln. Baseler Altar-Antependium 11. Jahrhundert.Musée de Cluny, Paris

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JÖRG-JOHANNES JÄGER

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KAISER HEINRICH II. UND DIE ECCLESIA CATHOLICA NON ROMANA

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JÖRG-JOHANNES JÄGER

Abb. 5 Kunigunde und Heinrich II. zu Füßen Christi. Ausschnitt von Bild 4

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KAISER HEINRICH II. UND DIE ECCLESIA CATHOLICA NON ROMANA

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JÖRG-JOHANNES JÄGER

Abb. 6Aachener Altar-Antependium,Pala d’oro, 11. Jahrhundert

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KAISER HEINRICH II. UND DIE ECCLESIA CATHOLICA NON ROMANA

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JÖRG-JOHANNES JÄGER

Abb. 7 Sternenmantel Heinrichs II. mit Christus. Bamberg 1014

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KAISER HEINRICH II. UND DIE ECCLESIA CATHOLICA NON ROMANA

Abb. 9 Maria mit Jesus nach dem Evangelisten Matthäus. Perikopenbuch Heinrichs II., 1007/1012

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JÖRG-JOHANNES JÄGER

Abb. 8 Maria, Joseph und Jesus nach dem Evangelisten Lukas. Perikopenbuch Heinrichs II., 1007/1012

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WANDTAFELZEICHNUNGEN

Abb. 14 GA 228 Tafel 4 Dornach, 29. Juli 1923

Abb. 13 GA 223 Tafel 3 Dornach, 1. April 1923

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RUDOLF STEINER

Abb. 12 GA 216 Tafel 6 Dornach, 29. September 1922

Abb. 11 GA 214 Tafel 6 Dornach, 30. Juli 1922

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Zusammenfassend kann gesagt werden, dass esHeinrich nicht wie seinem 21-jährig verstorbenenVetter Otto III. darauf ankam, die „Weltherr-schaft“, d. h. die „Renovatio regnum Romanorum“zu erstreben. Das führte dazu, dass die Ge-schichtswissenschaft Heinrich II. zuweilen alsschwächlichen Kaiser darstellt, weil er wenig fürdie Vergrößerung des Reiches getan hat. Stattdessen hat sich Heinrich zusammen mit seiner Ge-mahlin erfolgreich um die Konsolidierung des wer-denden Reiches der Deutschen bemüht. Dem Kai-serpaar kam es wesentlich darauf an, im ReichFrieden zu schaffen. Dazu wurde einerseits fest-gelegt, dass Fehden zwischen Stammesfürsten nurwährend ganz bestimmter Monate im Jahr aus-gefochten werden durften und nur an bestimm-ten Wochentagen. Andererseits haben sie dafürgesorgt, dass das Faustrecht in der Bevölkerungzugunsten der von ihm durchgeführten Rechts-prechung zur Lösung der anstehenden Problemeunter Strafe gestellt wurde.

So erlebte Deutschland unter seiner Regierungeine bisher nie dagewesene Friedenszeit, in derauch die Kunst aufblühen konnte. Bischof Bern-ward von Hildesheim schrieb schon 1007: „Über-all, wohin der weise Herrscher sein geheiligtesAntlitz wandte, stiftete er, wenn er etwa Zwie-tracht entdeckte, auf der Stelle Versöhnung.“ Dasoberste Ziel des Herrschers war zeitlebens, „Frie-den und Eintracht“ zu bewirken.5

Der Kontrapunkt zu den angedeuteten Elementen„Liebe“ und „Friede“ ist Heinrichs strenges Ein-greifen in das Klosterleben. Die damalige Jahr-tausendwende bescherte den Klöstern übergroßenReichtum vor allem an Grundbesitz durch dieAngst vieler Menschen, dass die Welt zu diesemZeitpunkt untergehen würde. Das führte zur Ver-wahrlosung des klösterlichen Lebens. Die mön-chischen Gelübde Armut, Keuschheit und Ge -horsam wurden missachtet, sodass der ehemalsbedeutende Beitrag der Klöster zum kulturellenLeben stark im Schwinden begriffen war.

Eine Wende wurde möglich durch die mindestensseit 1003 bestehende Freundschaft Heinrichs mitAbt Odilo von Cluny, der ihn in seinen Reform-bemühungen stets tatkräftig unterstützte.6 Die-se bezogen sich einerseits darauf, die Klöster vorden bischöflichen Eingriffen zu schützen7, undandererseits, ihnen bei jeder sich bietenden Gelegenheit neue, reformwillige Äbte zu geben.Dann strich er den Klöstern nach Vorlage der Ver-mögenslisten rigoros alle nicht unbedingt benö-tigten Einkünfte und stellte die Mönche vor dieWahl, entweder sich den cluniazensischen Refor-men zu unterwerfen oder das Kloster zu verlas-sen. Viele machten von diesem Anerbieten Ge-brauch, kehrten aber meist später doch wieder inihr Kloster zurück.8

Ähnlich verfuhr Heinrich mit den Bischöfen desReiches. Gegenüber dem „verlotterten Papsttum“9

beanspruchte und handhabte er als Laie die Ab-und Einsetzung der Bischöfe (Investitur) sehrsouverän und rettete somit durch reformwilligeBischöfe den Fortbestand der Kirche. Dabei wähl-te er einerseits ortsfremde aus und sorgte ande-rerseits für einen gewissen sozialen Ausgleichzwischen den Diözesen dadurch, dass er armen Di-özesen wie Paderborn und Merseburg wohlha-bende Bischöfe gab, dem reichen Lüttich hinge-gen einen weniger reichen Geistlichen aus niede-rem Stande.10

Während seiner Regierung hat Heinrich II. wohlüber 42 Bischöfe eingesetzt, eine im Verhältniszu seinem Vorgänger ungeheure Zahl.11 So konn-te die Erneuerung des Reiches in damaliger Zeitdurch die Erneuerung des klösterlichen und pries-terlichen Lebens erfolgen, aber unabhängig vonRom.

Die Souveränität Heinrichs gegenüber kirchlichenAngelegenheiten und gegenüber Papst BenediktVIII. zeigte sich in eklatantester Weise bei seinerund Kunigundes Kaiserkrönung in Rom im Jahre1014. Anlässlich dieses Besuches stellte er fest,dass es in der römischen Liturgie nicht üblich war,im Gottesdienst das Credo zu sprechen.

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JÖRG-JOHANNES JÄGER KAISER HEINRICH II. UND DIE ECCLESIA CATHOLICA NON ROMANA

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RUDOLF STEINER WANDTAFELZEICHNUNGEN

Abb. 16 GA 317 Tafel 12 Dornach, 5. Juli 1924

Abb. 15 GA 232 Tafel 11 Dornach, 7. Dezember 1923

(Fortsetzung von Seite 16)

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Ähnlich wie es das Krönungsbild Heinrichs II.zeigt, vollzieht sich die Priesterweihe in der Chris-tengemeinschaft im Bewusstsein des zu Weihen-den durch den Auferstandenen, der nicht wie inder Priesterweihe der katholischen Kirche aufGrund der Sukzession18 als anwesend empfundenwird, sondern ganz unmittelbar, geistes-gegen-wärtig.

Die Krönung durch den unmittelbar gegenwärtighandelnden Auferstandenen wird auch am Anfangdes Perikopenbuchs Heinrichs II.19 sichtbar, dasin der Abtei der Insel Reichenau entstanden ist(siehe Abb. 2). Es zeigt das Kaiserpaar Heinrichund Kunigunde, die am 14. Februar 1014 in Romdurch Papst Benedikt VIII. gekrönt worden sind,aber im Bild ist es der auf dem Thron sitzendeAuferstandene selbst, der mit seiner RechtenHeinrich und mit seiner Linken Kunigunde zugleicher Zeit krönt. Heinrich wird durch den hei-ligen Petrus und Kunigunde durch den heiligenPaulus zur Krönung geführt. So haben wir hier in-nerhalb einer Darstellung die drei einst von Schel-ling20 charakterisierten Stufen des werdendenChristentums vor uns: das petrinische Christen-tum der katholischen Kirche, das paulinischeChristentum der protestantischen Kirche und dasChristentum der Zukunft, das johanneische, dasdurch die unmittelbare Beziehung des Menschenzu Christus gekennzeichnet ist.

Die Stellung des Menschen zur geistigen Welt

869 wurde auf dem 8. ökumenischen Konzil inKonstantinopel dem Menschen die Trichotomie ab-gesprochen, d. h. dass dem Menschen zwar Leibund Seele zuerkannt wurden, aber kein eigen-ständig Geistiges. Das, was später Goethe die ewi-ge Entelechie des Menschen nennt, wurde demMenschen ausdrücklich aberkannt. Damit hat erohne Vermittlung der Kirche keinen Anteil an dergeistigen Welt. Der Mensch wäre dann also nichtin der Lage, ein eigenständiges Verhältnis zurgöttlichen Welt zu begründen.21

Als Heinrich König wurde, war dieses Diktum derKirche erst 133 Jahre alt. In seinen Geschenkenan die Dome in Form von Kunstwerken wird dem-gegenüber aber deutlich, dass er diesen von derKirche vorgezeichneten Weg nicht mitgeht. Indem Regensburger Krönungsbild (siehe Abb. 1)wächst Heinrich förmlich in die Mandorla Christihinein, sodass sein Haupt und fast sein ganzerOberkörper davon umschlossen wird. Man könn-te auch sagen, dass Heinrich die Christus-Sphärein sich hineinnimmt, dass er dem Christus in sichWohnung gibt. Hier zeigt sich im Bild nicht nurdas Segenswort der katholischen Messe: „Domi-nus vobiscum“ (der Herr sei mit Euch), sonderndas „Christus in Euch“ der Menschenweihehand-lung gemäß dem Pauluswort aus dem Galaterbrief:„Ich lebe, aber nicht mehr ich, sondern Christuslebt in mir“.22

Das Verhältnis des Menschen zur geistigen Weltkommt auch in einem anderen (siehe Abb. 4) Geschenk Heinrichs in markanter Weise zum Aus-druck: auf der goldenen Altartafel, dem soge-nannten Antependium des Basler Münsters.23

955 war das Münster von den Ungarn zerstörtworden. Nachdem Heinrich II. 1006 die Bi-schofsstadt Basel durch einen Erbvertrag mit König Rudolf III. von Burgund zu Eigen bekamund ins Reich eingegliedert hatte, sorgte er fürden Wiederaufbau. Am 11. Oktober 1019 wurdedas Münster im Beisein des Kaisers neu geweiht.

Wahrscheinlich haben Heinrich und Kunigunde zudieser Gelegenheit dem Münster diese große Al-tartafel aus purem Gold als Geschenk übergeben,die als „das zentrale Kultbild des Bistums“ galt.24

In ihrer Mitte sehen wir den Auferstandenen, dieWeltkugel tragend und die Menschheit segnend,zu seinen Füßen winzig klein das gekrönte Kai-serpaar, das die geöffneten Hände miteinanderzur Schale werden lässt, in die er sich hinein-senkt, wie es die unteren Falten seines Gewandeskundtun tun (siehe Abb. 5, Ausschnitt vonAbb. 4). Man muss sich vorstellen, dass diesesBild im Zentrum des Münsters und im Zentrum des

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KAISER HEINRICH II. UND DIE ECCLESIA CATHOLICA NON ROMANA

So ließ er das Credo bis heute verbindlich in dieMessliturgie einfügen.12 Wenn schon ungewöhn-lich ist, dass ein Nichtkleriker in die Messordnungeingreift, so ist noch erstaunlicher, dass seitdemneben dem Evangelium und der ebenfalls von Gottgeoffenbarten Messordnung das Menschenwort er-klingen darf; stammt doch das jahrhundertealteCredo (381) aus dem Bereich der Erwachsenent-aufe, durch die sich der zu Taufende zum Chris-tentum bekannte. Dieses Mitwirkendürfen desMenschenwortes – „Ich glaube an…“ – innerhalbder Messe ist ein untrügliches Zeichen für die Er-starkung der Persönlichkeit zur Zeit der erstenJahrtausendwende.

Dazu passt, dass diese Änderung des christlichenGottesdienstes nicht durch die römische Kircheerfolgt ist, sondern durch eine einzige Persön-lichkeit, die jedoch keine Priesterweihe empfan-gen hatte. Wahrscheinlich gibt es hierzu keine Pa-rallele in der Entwicklung der Messe mit Ausnah-me der 1921 durch die Vermittlung Rudolf Stei-ners in die Welt getretenen Menschenweihehand-lung der Christengemeinschaft.

Das Credo stammt zwar aus dem Bereich derfrühchristlichen Taufe, seine Wurzeln aber sindtief in der vorchristlichen Mysterientradition zusuchen. So war das Credo so etwas wie eine kon-zentrierte Zusammenfassung dessen, was der indie Mysterien eingeweihte Schüler während derEinweihung erlebt hatte, d. h. ein Bekenntnis zuden Geistesmächten, denen er begegnen durfte.Dass Heinrich II. das Credo in die Messe hat ein-fügen lassen, ist ein Zeichen dafür, dass der zuseinem Ich erwachte Einzelmensch eine unmit-telbare Verbindung zur geistigen Welt erhaltenkann ohne die Vermittlung der römisch-katholi-schen Kirche, worauf es ja 500 Jahre später auchMartin Luther im Besonderen ankam.

Es gab sicher nur sehr wenige Herrscher in denletzten 2000 Jahren, die eine solche Frömmigkeithatten wie Heinrich II.13 Aber er war nicht nurfromm im landläufigen Sinne, dass er ein inten-sives Gebetsleben pflegte und ein regelmäßiger

Gottesdienstbesucher war, sondern er suchte demgegenwärtigen Christus zu begegnen, dem Aufer-standenen, ohne dass sich die Kirche vermittelnddazwischen stellt. Das zeigen die Kunstwerke, dieer hat anfertigen lassen, um sie den Domen zuBamberg, Basel oder Aachen zu schenken.

Die Krönung zum deutschen König am 6./7. Juni100214 wurde äußerlich zwar von dem MainzerErzbischof Willigis vollzogen, aber das von Hein-rich benutzte Sakramentar15 zeigt, wie er aufrechtstehend nicht durch den Erzbischof, sondern un-mittelbar durch Christus gekrönt wird (sieheAbb. 1). Dabei werden seine beiden Arme von denHeiligen Ulrich und Emmeram gestützt, als Mit-handelnde, als Ministranten. In seine Linke be-kommt er durch einen Engel das Reichsschwertgereicht und in seine Rechte – ebenfalls durch ei-nen Engel – die heilige Lanze des Longinus, dieeinst von der Mutter Kaiser Konstantins, Helena,in Jerusalem gefunden worden war und zu denKrönungsinsignien des deutschen Kaisertums ge-hörte.16 Auf dem hier dargestellten Bild ist zu er-kennen, dass die Lanze in der Hand Heinrichs II.keine Waffe mehr ist, da sie auf ihrer Spitze dasKreuz des Gekreuzigten trägt.

So erscheint hier zu sehr früher Zeit die zweifa-che Christusdarstellung, zum einen als Gekreu-zigter und zum anderen als Auferstandener. Die-se Anordnung finden wir – ohne dass das über denchristlichen Altären üblich war – bei der Begrün-dung der Christengemeinschaft, als die erstenPriesterweihen am 16. September 1922 in Dor-nach vollzogen wurden. Dazu hatte Rudolf Stei-ner angeregt, nicht nur den Kruzifixus, sondernauch den Auferstandenen als Bild über dem Al-tar zu haben, um die Wahrheit von Tod und Auf-erstehung bildlich in Erscheinung treten zu las-sen, was seither in der Christengemeinschaft auchgeschieht.17

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„Seht, Maria gebar uns den Heiland.“„Thronend weist die Jungfrau ihr göttlichesKind, den Spross aus Jesses Wurzel, der Welt.“

Wie in den Abbildungen 8 und 9 klingt hier einRätsel an, das sich aus den unterschiedlichen Ge-burtsgeschichten der Evangelisten Matthäus undLukas ergibt. Die Möglichkeit einer Existenzzweier Jesusknaben ist ein esoterisches Geheim-nis, das erst durch die Anthroposophie RudolfSteiners besser verständlich werden kann und des-sen Spuren bis in die Bildende Kunst hineinrei-chen, wie auch die Studien von Hella Krause-Zim-mer belegen.31

Den blauen goldbestickten Sternenmantel (sieheAbb. 7) hat Heinrich wohl zur Kaiserkrönung 1014getragen. Seine lateinische umlaufende Inschriftbesteht aus zwei Hexametern und lautet aufdeutsch:„O Zierde Europas, Kaiser Heinrich,es beschenke dein Reich der König,der in Ewigkeit regiert.“

Diesen in Ewigkeit regierenden König finden wirebenfalls dargestellt zwischen den Schulterblät-tern des Kaisers, wenn er den Mantel trägt. Zu sei-ner Linken und seiner Rechten sind Alpha undOmega, die Zeichen für den Uranfang der Welt unddas Weltenziel, über ihm die personifizierten Ge-stirne Sonne und Mond, unter ihm Cherubim undSeraphim. Weiter unten finden wir Johannes undMaria als „stella maris inclita“, „hochgerühmterStern des Meeres“. Aus dem Johannesevangeliumkennen wir diese Gestalten als unter dem Kreuzestehend.32 An Stelle des Kreuzes finden wir hierden Auferstandenen. Er ist von einer angedeute-ten Lemniskate umgeben, die sich wiederum ineinem Quadrat befindet, dem Zeichen des Irdi-schen. Die Lemniskate weist auf das sich Neuver-binden von Himmel und Erde hin durch die TatChristi. Umgeben sind diese Medaillons von an-deren, die die Sternbilder des Tierkreises darstel-len und viele andere Sternbilder wie den kleinenund großen Bären, die vom Drachen umschlungensind, und von Herkules. Die Sterne waren damalswohl noch empfunden worden als Ausdruck geistig

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KAISER HEINRICH II. UND DIE ECCLESIA CATHOLICA NON ROMANA

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Altargeschehens, der Wandlung, die betendenMenschen anschaute und auf das Wesentliche hin-wies: dass der Auferstandene die Welt tragend undordnend im Herzen der Menschen Wohnung neh-men will dadurch, dass der Mensch, der Laie, die-se Handlung mitvollbringt. In der Menschenwei-hehandlung wird das Messopfer nicht wie in derkatholischen Messe „pro nobis“, „für uns“, son-dern „mit uns“ gebracht, wie wir es auf dieser Al-tartafel aus dem 11. Jahrhundert sehen.

So wird der Mensch durch die Einwohnung Chris-ti wieder Bürger der geistigen Welt, die hier nichtnur durch den Auferstandenen allein repräsentiertwird, sondern durch vier weitere Gestalten mitedelsteinbesetzten Heiligenscheinen, die demut-voll ihr Haupt zu Christus neigen: rechts nebendem Auferstandenen die Erzengel Gabriel und Ra-phael, links neben ihm der Erzengel Michael undeine flügellose Gestalt, der Mensch. Es ist abernicht der alltägliche Mensch, der so engelgleichist, sondern der Mensch, der sich durch intensi-ve innere Aktivität dem Christus Wohnung gebendzum Menschheitslehrer gewandelt hat: der Heili-ge Benediktus.

Auch die goldene Altartafel des Kaiserdoms zu Aachen, die pala d’oro, die von dem Kaiserpaargestiftet wurde, zeigt den Auferstandenen im Zen-trum zusammen mit dem Erzengel Michael unddem Menschen: Hier ist es Maria, die Repräsen-tantin der Menschenseele, die den Christus in sichgebären will, nachdem der Erzengel die Macht desWidersachers gedämpft hat (siehe Abb. 6).

So machen auch diese Kunstwerke deutlich, dassder Mensch Angehöriger der geistigen Welt wer-den kann. Das scheint die Antwort Heinrichs II.auf den Beschluss des 8. ökumenischen Konzilszu sein. Dem Menschen darf die Trichotomie nichtabgesprochen werden, um seine Entwicklung zuHöherem und um die Mission Christi, die Erde zugesunden, nicht zu gefährden.

Der Mensch als Handelnder in der Welt

Bamberg hat dem Kaiserpaar bis heute seine Be-deutung in spiritueller Hinsicht zu verdanken.Diese Stadt liebte Heinrich im besonderen undschenkte sie seiner Gemahlin als Morgengabe. Siesollte, wie es auf einer alten chinesischen Karteverzeichnet ist,25 als „die neue Hauptstadt desAbendlandes“ angesehen werden. So verdanktBamberg seinen Dom, das Michaelkloster und so-gar seinen Bischofssitz nicht dem Papst oder derKirche, sondern letztlich Heinrich II. und Kuni-gunde. Außerdem beschenkte das Kaiserpaar die-se Stadt wie keine andere, u. a. mit der auf derInsel Reichenau entstandenen „Bamberger Apo-kalypse“26 und mit dem oben angeführten Peri-kopenbuch Heinrichs II.

Bis heute werden im Diözesanmuseum zu Bam-berg u. a. zwei Kaisermäntel aufbewahrt, der sog.Sternenmantel Heinrichs II. (siehe Abb. 7) undder Große Kunigundenmantel (siehe Abb. 3). Essind die einzigen heute noch existierenden Mys-terienmäntel.27 Sicher wurden sie seinerzeit zuhohen Festtagen und bei anderen wichtigen Gelegenheiten, die mit den Staatsgeschäften zusammenhingen, getragen und sind somit deut-liche Zeichen dafür, aus welcher Gesinnung undspirituellen Kraft heraus diese Persönlichkeitenzu wirken bestrebt waren.

Wird der Mantel angelegt, so befindet sich beidem Großen Kunigundenmantel zwischen denSchulterblättern der Trägerin das Bild des leben-digen Christus, der aus dem Himmelstor heraus-tritt, und um ihn herum die personifizierten Weis-sagungen über das Erscheinen des Erlösers auf derErde. Diese sind kreuzförmig um ihn herum ange-ordnet, und unter sich sind sie miteinander kreis-förmig verbunden. Darunter finden sich die Dar-stellungen der beiden Marien, so wie es einerseitsbei dem Evangelisten Lukas beschrieben wird28

und andererseits bei Matthäus.29 Im Bilde ver-binden sich beide Strömungen künstlerisch durchdie miteinander verschlungenen Medaillons, diefolgende Inschriften tragen30:

Abb. 10Bamberger Reiter nahe dem Grabmal des Kaiserpaares im Dom zu Bamberg

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wirksamer kosmischer Kräfte, da sie in gleicherWeise dargestellt wurden wie die Cherubim undSeraphim. Der den Mantel Tragende konnte sichkosmisch beschenkt fühlen für alles, was er aufder Erde aus diesem Bewusstsein heraus voll-bringt, im besonderen durch den Auferstandenen,den er zwischen seinen Schulterblättern33 als sei-ne spirituelle Mitte empfinden konnte.

Aus diesem Empfinden heraus nannte er sichmanchmal „Vicarius Christi“.

So geben uns die Bamberger Kaisermäntel Hin-weise einerseits auf den Wiederkommenden undandererseits auf den aus dem Kosmischen wir-kenden, allgegenwärtigen Auferstandenen, der inden Handlungen der Menschen – auch und gera-de in den Weihehandlungen – wirksam sein will,um die Erde – auch durch die Mitwirkung des Men-schen – immer mehr zum Leib Christi werden zulassen und um die Macht der Widersacher von ihrund dem Menschen zu nehmen.

Schluss

Am 13. Juli 1024 starb Heinrich II. im Alter von51 Jahren in der Pfalz Grona, heute ein Vorort vonGöttingen. Kunigunde starb am 3. März 1033 inOberkaufungen bei Kassel, nachdem sie ein Klos-ter gegründet und zur großen Verwunderung ih-rer Zeitgenossen nach dem Tod ihres Gemahls nurals einfache Nonne dort gelebt hatte. Beider Ge-beine wurden dann nach Bamberg überführt undim Dom beigesetzt. Tilman Riemenschneider34 hatihnen zwischen 1499 und 1510 ein würdiges,

künstlerisch anspruchsvolles Grabmal mit Reliefsaus dem Leben beider geschaffen. In seiner un-mittelbaren Nähe findet sich der sog. BambergerReiter (siehe Abb. 10), von dem man nicht weiß,wen er darstellt und wer ihn geschaffen hat.35

In königlicher Haltung richtet er seinen wachenBlick zu dem früheren Standort des kaiserlichenGrabmals in der Dommitte und weiter zum Kreuz-altar, d. h. dem Ort der Wandlung und Auferste-hung. So könnte er empfunden werden als sicht-barer Ausdruck der Intentionen Heinrichs II. imZusammenhang mit dem Zukunftswort des Apo-kalyptikers Johannes: „Er hat uns zu Königen undPriestern gemacht.“36

Die von Heinrich und Kunigunde gestiftetenKunstwerke belegen, dass es ihnen um eine Kir-che ging, die nicht die irdische Macht erstrebt undStaat sein will wie andere weltliche Staaten. Siewollten durch die irdische Institution Kirche derunsichtbaren Kirche dienen, der die Zukunft ge-hört. Somit hatte das von Luther geforderte„Priestertum aller Gläubigen“ schon lange vor ihmim Ansatz begonnen.

So mag plausibel werden, warum Rudolf Steinerder in Gründung befindlichen Christengemein-schaft vom Hereinleben der Persönlichkeit Hein-richs II. in die Gegenwart spricht. Heinrich undKunigunde können von ihr als helfende Paten imVerwirklichen dessen empfunden werden, was ihrals Aufgabe gegeben worden ist: die dringendnotwendige Erneuerung des religiösen Lebens inheutiger Zeit durch die Schaffung einer Ecclesiacatholica non Romana.

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KAISER HEINRICH II. UND DIE ECCLESIA CATHOLICA NON ROMANA

1 Legenden sollte man nicht als Wundermären abtun; siemachen „innerlich anschaulich. In der Legende schimmertdie eigentliche Wahrheit durch… Wenn wir versuchen, dieLegende in diesem Sinn zu verstehen, durch sie hindurchdas zu sehen, was im tieferen Sinn des Erkennens dahin -tersteht, dann werden wir ein wenig von der Kraft ahnen,durch die der Heilige wirkt.“ Erna und Hans Melchers, DieHeiligen, Geschichte und Legende, Augsburg 1980, S. 4.

2 Johannes W. Schneider, Michael und seine Verehrung imAbendland, Dornach/Schweiz 1981, S. 48 f. und dort angegebene Quellen auf S. 174.

3 Rudolf Steiner, Vortrag vom 13.11.1921 gehalten in Dornach, in: Anthroposophie als Kosmosophie, Teil II, Gesamtausgabe (zukünftig abgekürzt durch „GA“) 208,S. 208–210, Ausg. Dornach/Schweiz 1972.

4 Thietmar von Merseburg, Chronik, Berlin 19615 Klaus Guth, Die Heiligen Heinrich und Kunigunde, Leben,

Legende, Kult und Kunst, Bamberg 1986, S. 486 Hanns Leo Mikoletzky, Kaiser Heinrich II. und die Kirche,

Wien 1946, S. 287 ebenda, S. 11 und 268 ebenda, S. 449 ebenda, S. 4110 ebenda, S. 32 und 3711 ebenda, S. 41 12 ebenda, S. 22 und Adolf Müller/Arnold Suckau, Werde -

stufen des christlichen Bekenntnisses, Stuttgart 1974,S. 76 f. und 87

13 In dem gerade erschienenen Begleitband zur BayrischenLandesausstellung in Bamberg (im folgenden zitiert als„Begleitband“) „Kaiser Heinrich II. 1002–1024“, Stuttgart2002, S. 30 ist zu lesen, dass er sogar „einen Höhepunktim Ordnungsgefüge sakraler Herrschaft“ markiert.

14 ebenda, S. 2415 Clm 4456, Blatt 11 r, Regensburg 1002/14, vgl. auch

Guth, S. 2 und 11216 Was die heilige Lanze damals bedeutete, kann man sich

heute kaum vorstellen, aber es war ja die Zeit, die spätervon Wolfram von Eschenbach und Richard Wagner im Par-zifal beschrieben wurde. Die Mysterien des Grals waren be-sonders im deutschen Kaisertum sehr lebendig und gegen-wärtig.

17 Damals war es die Karlsruher Kreuzigung von Matthias Grü-newald und der Redentore eines unbekannten Meisters ausder Brera in Mailand. Vgl. auch Vortrag von Rudolf Steiner,Dornach 27.3.1921 in Dornach/Schweiz, in: Der Mensch inseinem Zusammenhang mit dem Kosmos, GA 203, S. 284–290.

18 Successio apostolica, die auf die Apostel, im bes. auf Petrus zurückgehende, ununterbrochene Weitergabe der bischöflichen Gewalt.

19 Clm 4452, „Zierde für ewige Zeit“, Das PerikopenbuchHeinrichs II., München 1994, Tafel 3

20 Vgl. Robert Goebel, Schelling – Künder einer neuen Epoche des Christentums, Verlag Urachhaus Stuttgart,ISBN 3 87838 1954, ohne Jahresangabe, S. 55 ff.

21 vgl. Rudolf Steiner, Vortrag vom 3.4.1917 in Berlin, in:Bausteine zu einer Erkenntnis des Mysteriums von Golga-tha, GA 175, S. 183 und 196 (Ausg. 1961)

22 Brief des Paulus an die Galater, 2,2023 Seit 1854 wird das Antependium im Musée de Cluny in

Paris aufbewahrt.24 Maße: H.120, B. 177,5, T. 13 cm. Vgl. Begleitband, a.a.O.,

S. 8625 vgl. Rolf Rosenbohm, in: Kaufunger Hefte 2, Beiträge zur

Heimatkunde, Kaufungen 1979, S. 4 und 1526 Ernst Harnischfeger, Die Bamberger Apokalypse, Stuttgart

198127 Vgl. Robert Eisler, Weltenmantel und Himmelszelt,

München 191028 Lukas, 2,16 (Empfang der Hirten an der Krippe der

Felsengrotte)29 Matthäus, 2,11 (königlicher Empfang der Könige im Hause

Davids)30 Sigmund Freiherr von Pölnitz, Die Bamberger Kaisermän-

tel, Weißenhorn 1975, S. 2531 Hella Krause-Zimmer, Die zwei Jesusknaben in der bilden-

den Kunst, 2. Aufl. Stuttgart 1977. Leider sind die dortaufgeführten Bildzeugnisse viel jünger als diejenigen imPerikopenbuch Heinrichs II., a.a.O., Tafeln 11 und 15 (siehe Abb. 8 und 9).

32 Johannesevangelium, 19, 26 f.33 Im Nibelungenlied heißt es ja, dass Siegfried zwischen

den Schulterblättern verwundbar war, weil er dort nichtdurch das ihn hörnende Drachenblut benetzt werden konnte wegen eines herabgefallenen dort befindlichenBlattes. Hier war er verletzlich, was ihm dann durch Hagens Speer auch den Tod brachte.

34 Vgl. Kurt Gerstenberg, Tilman Riemenschneider, Wien1943.

35 Die Rekonstruktion seiner Bemalung ergab, dass der Reiterauf einem Apfelschimmel saß, dessen Geschirr vergoldetwar. Er trug ein gelbes Gewand, der Mantel hatte eineorangerote bzw. dunkelrote Musterung. Die Säume von Gewand und Mantel waren vergoldet, ebenso die Krone,der Gürtel und die Fußriemen. Vgl. Begleitband, S. 403.

36 Die Offenbarung des Johannes, 1.6

Abb. 1: Klaus Guth, die Heiligen Heinrich und Kunigunde, St. Otto Verlag, Bamberg 1986.

Abb. 2, 8 und 9: Fillitz/Kahsnitz/Kunder, Zierde für die ewige Zeit, S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 1994.

Abb. 3 und 7: Sigmund Freiherr von Pölnitz, Die Bamberger Kaiser -mäntel, Konrad Verlag, Weißenhorn, 1973.

Abb. 4, 5 und 6: Frederic V. Grunfeld, Die deutschen Fürsten, Christian Verlag, München 1984.

Abb. 10: Foto J. J. Jäger, Hamburg.

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ZU DEN WANDTAFEL ZEICHNUNGEN RUDOLF STEINERS (ABB. S. 30–32)

Es schien uns problematisch, den komplexen In-halt der zu den abgebildeten Wandtafeln ge-

hörigen Vorträge angemessen zusammenzufassen.Andererseits wollen wir dem interessierten Lesereine kleine Brücke zu den Abbildungen bauen, diedas „offene Rätsel“ dieser Darstellungen abernicht auflösen möchten.

So haben wir zu den hier abgebildeten Wandta-felzeichnungen Rudolf Steiners Zitate aus den zu-gehörigen Vorträgen zusammengstellt. Diese Zi-taten-Auswahl ist an den Vorträgen so geprüft,dass die Auswahl u. E. die Aussagen Rudolf Steiners nicht verkürzt oder verfälscht. Die aus-gesuchten Zitate mögen – neben dem grundsätz-lichen Beitrag von Walter Kugler zu den Wandta-feln (s. S. 76) – einerseits die Bilder erschließenhelfen, andererseits als aus dem Vortragszusam-menhang genommene Essenzen zu vertieftem Betrachten anregen. (Die genauen Quellenanga-ben der Vorträge sind unter den Abbildungen zufinden.)

Zu Abb. 11:„… Diejenigen allein … durften das Ich aus-sprechen, in die der göttliche Vater eingezogenwar. Aber jetzt waren Menschen da in der Mitteder Erdenentwickelungszeit, die anfingen, zu sichIch zu sagen, die das Ich ins Bewusstsein herauferhoben. In einem solchen Menschen, der da warder Jesus von Nazareth, zog jetzt dasjenige Prin-zip ein, welches das Sohnesprinzip ist, das Chris-tus-Prinzip. Diese Christus-Prinzip trat … ein indas Ich.“

Zu Abb. 12:„Wenn Sie manche Mysterienszene … der ägypti-schen Entwickelung … hätten belauschen kön-nen, dann würden Sie das Folgende erfahren haben. Der lehrende Mysterienpriester … würdegesagt haben: Schauet die Erde an; so, wie sie derWohnplatz der Menschen ist, ist sie eigentlich einSpiegel, ein Reflex des ganzen Kosmos.“

„… Aber eine Zeit wird kommen, in der alles, wasan Stoffen heute die Mineralien, die Pflanzen, dieTiere, die Wolken ausfüllt, was da wirkt in Windund Wetter, fort sein wird … Aber was an ele-mentaren geistigen Wesenheiten in die Sphäre derKultushandlungen gerufen worden ist, das wirddarinnenstecken, das wird, wenn diese Erde ihrerVollendung zugeht, in vollkommener Ausbildungebenso innerhalb der Erde sein, wie im Herbst derPflanzenkeim des nächsten Jahres verborgen inder Pflanze steckt …“.

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Zu den Wandtafel zeichnungen Rudolf Steiners zum Thema

„Wissenschaft – Kunst – Religion“ (Abb. S. 30–32)

Günther Dellbrügger, Andreas Laudert

Zu Abb. 13:„Ostergedanke: Er ist ins Grab gelegt, er ist er-standen. – Michael-Festgedanke: Er ist erstandenund kann beruhigt ins Grab gelegt werden. Der er-ste Gedanke, der Ostergedanke, bezieht sich aufden Christus, der zweite Gedanke bezieht sich aufden Menschen … , der gerade die Kraft des Os-tergedankens begreift: wie durch Geist-Erkennt-nis … seine Seele auferstehen kann.“

Zu Abb. 14:„Wir würden gar keinen Wahrheitsbegriff haben,wenn wir nicht die Einrichtung des Schlafens hät-ten … Wir müssen, um uns der Wahrheit der Dinge hinzugeben, mit den Dingen auch unser Dasein in einer gewissen Zeit verbringen. Die Dinge sagen uns von sich nur dadurch etwas, dasswir während des Schlafens mit unserer Seele beiihnen sind … Hätten wir nicht die Möglichkeit zuträumen und die Fortsetzung dieser Traumeskraftin unserem Inneren, so hätten wir keine Schön-heit. Daß wir überhaupt Anlagen für die Schön-heit haben, das beruht darauf, dass wir träumenkönnen … Von Güte können wir erst sprechen,wenn der Unterschied da ist zwischen Innen- undAußenwelt, so dass das Gute der geistigen Weltfolgen kann oder nicht folgen kann … Wollen wirdie Idee der Wahrheit haben, dann müssen wiruns an den Schlafzustand wenden, wollen wir dieIdee der Schönheit haben, dann müssen uns anden Traumzustand wenden, wollen wir die Ideeder Güte haben, dann müssen wir uns an denWachzustand wenden.“

Zu Abb. 15:„… Und es sagte die eine Bildsäule: Ich bin die Erkenntnis. Aber was ich bin, ist kein Sein. Und jetzt bekam der Schüler dieses … Gefühl: Was man an Ideen hat, ist ja alles eben nurIdee, da ist kein Sein darinnen … Und die andere Bildsäule … sagte: Ich bin die Phantasie. Aber was ich bin, hat keine Wahrheit … Und nachdem er dieses durchgemacht hatte,wurde er durch den Ausgang des Tempels zurückgeführt … Der eine Priester, der das Christusbild ihm vorwies, sprach zu ihm: Nimm das Wort und die Kraft dieses Wesens In dein Herz auf.Und der andere Priester sprach:Und von ihm empfange,Was dir die beiden Gestalten geben wollten:Wissenschaft und Kunst.“

Zu Abb. 16:„… dass Sie sich am Abend einleben in das Be-wusstsein: In mir ist Gott … , und am Morgen so,dass das hineinstrahlt in den ganzen Tag: Ich binin Gott … Das ist eines und dasselbe, die obereund untere Figur … Sie müssen verstehen, dassein Kreis ein Punkt, ein Punkt eine Kreis ist, undmüssen das ganz innerlich verstehen.“

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des Mythos“, für dessen unzensierte Herausgabeer in ein stalinistisches Konzentrationslager kam,wo er erblindete. „Nur betend können wir zu Gottaufsteigen, und wer nicht betet, kennt keinenGott.“

Die Gegenwart betreffend muss bemerkt werden,dass die geistige Situation sehr schwierig ist, weilin der sowjetischen Zeit nur wenige Gläubigeübrig geblieben sind, vor allem sehr wenige auf-geklärte Gläubige, die den Inhalt des Glaubens,seine Tiefe und den Sinn der orthodoxen Geistig-keit verstanden haben. Und sogar jetzt gibt es ei-gentlich nur sehr wenige solcher Menschen, weildie meisten von uns die Religion nur als ein Sys-tem zur Verteidigung gegen böse Kräfte, Krank-heiten, den „Bösen Blick“ usw. ansehen.

Drei Entdeckungen der russischen Orthodoxie

Die erste der drei Entdeckungen unserer Traditionist das unaufhörliche Gebet und die Lehre vom sogenannten Jesusgebet, welches nur aus wenigenWorten besteht: „Herr Jesus Christus, Sohn Got-tes, erbarme dich meiner, des Sünders.“ DieseWorte sind einigen Stellen des Evangeliums ent-nommen: dem Ausruf des blinden Bartimäus (Mk10,47), und dem Gebet des Zöllners im Lukase-vangelium (18,13). Dabei vereint dieses Gebet,wie die Starzen herausgefunden haben, in seinerKürze und obwohl es gar nicht besonders scheint,auf wunderbare Weise den Menschen mit Christus.Dieser Vereinigung ist das Buch „Die aufrichtigenErzählungen eines Pilgers für seinen geistigen Va-ter“, welches in der Mitte des 19. Jahrhundertsgeschrieben wurde, gewidmet.

Das Buch ist von keinem Heiligen oder Mönch,sondern von einem einfachen Bauern geschriebenworden, wurde aber in alle europäischen Sprachenübersetzt und beeindruckte den amerikanischenSchriftsteller J. D. Salinger außerordentlich, so-dass er ihm bemerkenswerte Seiten in zwei sei-ner Erzählungen widmete.

Salinger sagt, dass dieses Buch dem Leser „an in-credible method of praying“ zeige, oder ihn leh-re „how to pray in this special way“. Für den Men-schen, der zur geistigen Kultur des christlichenWestens gehört, ist die Methode des Pilgers wirk-lich „incredible“, denn der Pilger beschreibt miterstaunlichem Scharfsinn, wie Salinger betont,dass der Betende gar nicht an das, was er tutglauben, sondern nur darüber nachdenken muss.

Wenn du das Gebet immer von Neuem wiederholst– und wenn auch anfangs nur mit den Lippen –so wird am Ende das Gebet von sich aus wirksam.Die bemerkenswerte Beobachtung von Salinger istdie, dass das Gebet „becomes self-acting“, d. h.es wird selbstständig, beginnt in den Tiefen desBetenden zu leben und seine Persönlichkeit wievon innen zu verwandeln.

Die zweite Entdeckung unserer Geistigkeit (dieehrlich gesagt viele für Ketzerei halten), hängtdamit zusammen, dass Christus schon in SeinemNamen anwesend ist, welcher dadurch nicht nurzu einem Heiligtum wird, wie der Name „Jahwe“(worauf die ganze jüdische Mystik aufbaut), son-dern zu der lebendigen Anwesenheit des Gottes-sohnes wird, und in Seinem Antlitz erscheint Gottselbst, in der Mitte der Menschen.

Diesem Phänomen ist das Buch „Auf den Bergendes Kaukasus“ gewidmet (erschienen am Über-gang von 19. in das 20. Jhdt.). Der Autor, MönchHillarion, war ebenfalls ein gänzlich ungelehrterMensch. Er lebte hoch oben im Kaukasus und hin-terließ eine Schule, deren Mönche „Imjaslawatzj“(russ.: „Die den Namen Preisenden“) hießen, dasie den Namen Gottes priesen. Der Mönch Hilla-rion schrieb im o. g. Folgendes: „Im Erschaffen des Verstandes-Herzens-Jesus-gebetes, das ständig in der reuevollen Seele ge-schaffen wird, kann das Herz fühlen und hören,dass der Name Jesu Christi Er Selber ist: unsergöttlicher Erlöser, der Herr Jesus Christus, SeinName und Seine Persönlichkeit sind eins.“

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Einleitung

Die Orthodoxie ist nicht nur ein System von Ge-meinden und Klöstern, besteht nicht nur aus ih-ren Bischöfen, Priestern und Laien, sie ist nichtnur eine kirchliche Tradition in Russland, Grie-chenland und einigen anderen Ländern, nicht nurdie Patriarchate von Moskau und Konstantinopeloder eine andere Organisation, sie ist vor allemeine geistige Tradition; eine ganz besondere gei-stige Tradition, die uns, wenn man es so ausdrü-cken darf, eine ganz besondere Seite des Chris-tentums eröffnet, die von den Katholiken und Pro-testanten nicht bemerkt worden, bzw. ihnen ver-loren gegangen ist.

Es gab Zeiten (sowohl im alten, wie auch im so-wjetischen Russland) in denen der orthodoxeGlaube durch Einzelne bewahrt wurde, die der Re-pression entkommen waren. Dabei existierte dieOrthodoxie nicht wie eine allgemeine Kraft, son-dern als die geistige Wahrheit über Gott, den Men-schen und Christus, der unsichtbar aber real „anallen Tagen, bis ans Ende der Zeiten“ mit uns ist.Die Erfahrung dieses geheimen Christentums, desKatakombenlebens in Christe und des geheimenGottesdienstes, die Erfahrung eines geistigen Le-bens in den stalinistischen Konzentrationslagernund, vor allem, auf den Solovkij-Inseln, wurde inunserer Zeit der kostbarste Beitrag der Orthodo-xie für die Weltgeistigkeit.

Dabei muss man wissen, dass die Orthodoxie , be-sonders in Russland, zu uns in einer schwer ver-ständlichen Sprache spricht. Im alten Russlandwurde sie sehr lange überhaupt nicht artikuliert.Es war die Welt der Ikonen und stummen Gebe-te. E. Trubetzkoj, Zeitgenosse und Freund von Wla-dimir Solovjov, sagte es so: „Die russischen Iko-

nenmaler verwirklichten mit erstaunlicher Klar-heit in Bild und Farbe das, was ihre Seelen ganzerfüllte: die Erscheinung mancher Lebenswahrheitund Weltsinns.“ Des Weiteren fährt Trubetzkoj imselben Aufsatz („Spekulation in Farben“) fort:„Sowie ich versuche das Wesen ihrer Antwortenin Worte zu fassen, erkenne ich, dass keine Wor-te in der Lage sind, die Schönheit und Macht die-ser einzigartigen Sprache der religiösen Sinnbil-der weiterzugeben.“

Die Starzen und Heiligen des mittelalterlichenRusslands übergaben ihr Wissen mündlich von Ge-neration zu Generation und hinterließen außer-dem keine Bücher, wie es im Westen üblich war.Deshalb gibt es bei uns keine „Nachfolge Chris-ti“ von Thomas von Kempen, keine „Blümchen“des Heiligen Franziskus, keine „Summa Theolo-gica“ von Thomas von Aquin. Die ersten Bücherüber Askese erschienen bei uns erst im 19. Jahr-hundert (in Griechenland selbstverständlich schonfrüher). Die Christen von Byzanz und des NahenOstens betrifft das nur teilweise, weil ihre kirch-lichen Schriftsteller keine Philosophen und The-ologen im westlichen Sinne waren, sondern Poe-ten. Sie hinterließen vor allem Gebete und Textemit poetischen und asketischen Inhalten, aus de-nen der zeitgenössische Theologe seine Thesenziehen kann.

Da gibt es z. B. den „Großen bußfertigen Kanon“des Heiligen Andreas und die Kanones des Jo-hannes von Damaskus und seiner Zeitgenossen.Dabei muss man unbedingt wissen, was für unsOrthodoxe das Wichtigste ist: nicht theologischeSysteme, sondern das Gebet. „Die Kommunikationmit Gott im Sinne einer Gotterkenntnis ist nur imGebet möglich“ schrieb der große Orthodoxe Den-ker Alexej Lossev in seinem Buch „Die Dialektik

CHRISTUS HEUTE UND DIE ORTHODOXE TRADITION

Christus heute und die orthodoxe Tradition

Vater Georgij Tschistjakov, Moskau

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sich mit jemandem befreundet, der sehr feinfüh-lig, sehr verwundbar und sehr schüchtern ist.“

Das Gefühl für Gott in der russischen Orthodoxie

„Die aufrichtigen Erzählungen eines Pilgers“ ge-ben auf erstaunliche Weise die Möglichkeit, Gottwahrzunehmen, Ihm im Gebet zu begegnen und,um die Worte des Metropoliten Antonij aufzu-greifen, sich mit Ihm anzufreunden. Genau dar-über spricht auch Lossev, wenn er sagt, dass manGott nur im Gebet erkennen kann. An andererStelle verbindet Lossev die Religion mit der kon-kreten Persönlichkeit des konkreten Menschen.Mit anderen Worten: Er verbindet die Religionnicht mit dem, was sich in der Begegnung mit anderen ansammelt, sondern mit dem, was in jedem von uns von innen heraus entsteht. Nichtvon ungefähr spricht der russische (1921 von denKommunisten erschossene) Dichter N. Gumiljov,der sehr genau spürte „wie unsere Seele schreit“und wie „der Leib, den sechsten Sinn gebärend, erschöpft“ ist, in seiner Novelle „Die fröhlichenBrüder“, von einer Körperlichkeit der religiösenEmpfindung.

„…dem Tiere“, spricht der Held dieser Novelle,„sind drei räumliche Dimensionen offenbar. Z. B.steht ein Pferd auf einer schmalen Brücke, dieüber einen Graben führt. Es sieht, dass der Gra-ben tief ist, fürchtet die Brücke sei zu schmal,es geht vorsichtig und wenn es dem Ufer näherkommt, geht es schneller. D. h. es spürt Länge,Breite und Tiefe. Aber dem Menschen steht auchdas Innenleben, die Innerlichkeit zu Verfügung. Erkann mit dem geistigen Auge grenzenlos in sichhineinschauen, wie in eine irdische Dimension.Das ist die vierte Dimension, bzw. besser gesagt,die erste eines höheren Grades, die auch Gott ist.“

Mit rein künstlerischen Mitteln beschreibt hier Gu-miljov die Hauptpostulate jener Lehre, die Gottin den Tiefen des eigenen Ichs sucht. Sie wurdeetwas später auch von Edith Stein, einer Schüle-

rin von E. Husserl, entwickelt. Sie wurde in einerGaskammer umgebracht, weil sie gebürtige Jü-din war. Papst Johannes Paul II. sprach sie spä-ter heilig. Man muss wissen, dass jeder, der dieInnigkeit oder Gott in der Tiefe der eigenen See-le entdeckt hat, ihn überall zu entdecken beginnt– im Kinderweinen wie im Sonnenstrahl. „Die Voll-kommenheit des Menschen“, heißt es in einemsufistischen Text, „zeigt sich dann, wenn er Gottin allem sieht, worauf sein Blick fällt.“

Darüber spricht auch Gumiljov durch seinen lite-rarischen Helden, wenn der ausruft: „Wenn Du dasGras ansiehst, die Wolken, ein Mädchen oder dichselber, dann siehst du, dass alles immer eins warund sein wird, weil Gott gelächelt hat.“ „Das Lä-cheln Gottes“ (sofort erinnert einen das an dieWorte von Fjodor Tutschev: „Auf allem ruht einLächeln, das Leben ist in allem“, womit der Dich-ter seine Wahrnehmung der Natur charakterisiert)ist als Terminus aus der Heiligen Schrift bekannt.In den Sprüchen Salomos im Alten Testament(8,29–30) spricht die verkörperte Weisheit Got-tes selbst darüber, dass „als Er (Gott) die Grund-festen der Erde legte, da war ich bei Ihm als eineKünstlerin und war Ihm Freude jeden Tag undfreute mich vor Seinem Angesicht in allen Zeiten.“

Gerade diese Freude und dieses Lächeln, „Lo risodella sapienza“ („Das Lächeln der Allweisheit“) indem sich, wie Dante in seinem Traktat „Das Mahl“ausführt, das „innere Licht“ das Allweisheit zeigt,wird für den gläubigen Menschen zu jener wun-dervollen, unsichtbaren Kraft, die auf unglaub -liche Weise das Leben verwandelt und mit Sinnerfüllt. Das Licht (gemeint ist „inneres Licht“,„mildes Licht“ – aus einem Gebet des orthodoxenAbendgottesdienstes) und das Lächeln oderLeuchten („Lo riso della sapienza“, nicht ein homerisches Lachen der Götter auf dem Olymp,sondern ein leises, fast unmerkliches Lächeln derNatur, welches Franziskus von Assisi so gut wahr-nehmen konnte) – dies sind zwei Hauptbestand-teile dessen, woraus die menschliche Religiositäterwächst. Und man braucht hier keine Angst zuhaben, in Sentimentalität zu verfallen.

VATER GEORGIJ TSCHISTJAKOV, MOSKAU

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In den Sowjetischen Zeiten wurde die Traditionder „Imjaslawatzj“ von dem gelehrten Geheim-mönch Alexej Lossev (†1988) fortgesetzt. SeineAussage über das Jesusgebet habe ich oben zi-tiert. Ab Anfang der 70-er Jahre war ich regel-mäßig bei ihm zu Hause und wurde von seiner Pa-ten- und Ziehtochter Asa Tacho-Godij in Grie-chisch und Literatur unterrichtet. Lossev war einVorbild in Unbeugsamkeit und jener Kraft Gottes,die durch Ohnmacht erlangt werden kann. Derblinde 90-jährige Greis setzte seine Arbeit fort,indem er uns seine Aufsätze und Bücher diktier-te, wodurch er sein großes Werk „Die Befreiungdes Denkens des „sowjetischen“ Menschen vomMarxismus“ vollenden konnte.

Die dritte Entdeckung der russischen Geistigkeitim 20. Jahrhundert ist die Lehre des Starzen Si-luan, der auf dem Berg Athos lebte. Er erzählteseinen Schülern, was ein Gebet für die ganzeWelt, für alle Gläubigen und Ungläubigen, was derSchmerz für die ganze Menschheit, und noch wei-ter gedacht, für die ganze Natur, für die Welt alsganzes, bedeuten kann. „Für die Menschen betenist Blut vergießen.“ Sprach der Starez Siluan. Mitseiner Lehre hängt zusammen, dass die christli-che Geistigkeit in Russland über die Kirchenmau-ern hinaustrat. – Gott lebt nicht nur in der Kircheund unter den Gläubigen, sondern Er ist überall,seine Gnade ruht über allem und alles bedarf Sei-ner, auch wenn das nicht immer gewusst wird. DerStarez Siluan entwickelte im Kern eine neue Les-art des Evangeliums.

Ein Ausspruch Siluans, in dem es um den HeiligenGeist und seinen Einfluss auf den Menschen geht,darf nicht übergangen werden: „Der Heilige Geistgleicht einer liebevollen, leiblichen Mutter. EineMutter liebt ihr Kind und schont es – so auch derHeilige Geist: Er schont uns, verzeiht, heilt, be-lehrt und erfreut. Erfahrbar ist der Heilige Geistin demütigem Gebet.“ Diese ungewöhnliche und,vom Gesichtspunkt der Rechtskundigen her, wahr-scheinlich auch unzulässige Bemerkung des Star-zen erinnert daran, dass im Hebräischen das Wort„Ruach“ (Geist) nicht männlich (wie im Lateini-

schen und Altkirchenslawischen) und nicht säch-lich (wie im Griechischen) sondern weiblich ist.Das betrifft auch die Erscheinung des HeiligenGeistes „in den Wolken“, wie es im Evangeliumund in der christlichen Tradition heißt, die Über-sinnliches immer in sinnlichen Bildern ausdrü-cken: Die Wolke ist sowohl im Griechischen („Pe-ristera“), als auch im Lateinischen („colomba“)weiblich.

Selbstverständlich hat der Starez als einfacherBauer nichts davon gewusst, und umso mehrnahm er es instinktiv wahr. Er fing als erster inder Orthodoxen Tradition an, davon zu sprechen,dass die Wesenheit Gottes, die mehr ein männli-ches Ich zu haben scheint, zweifelsohne auchWeibliches in sich birgt. Verstand er doch auch,dass der Heilige Geist, welcher während der Epi-klese zu den Menschen herunterkommt, eine Mut-ter ist, die jeden von uns schont, heilt, belehrt,erfreut und ihm verzeiht.

„Wir leben auf der Erde, und den unsichtbarenGott können wir nicht sehen. Aber wenn der Hei-lige Geist in unsere Seele einzieht, werden wirGott erblicken, wie Ihn einst der Heilige Stepha-nus geschaut hat,“ sagt der Starez Siluan an an-derer Stelle, in Bezug auf die berühmte Stelle inder Apostelgeschichte (6,8–12), in der es heißt,Gott könne man nicht mit den Augen, nur mitdem Herzen schauen. Das ist der berühmte Haupt-gedanke vieler östlicher und westlicher Mystiker,den der Starez Siluan nicht nur vollkommen ver-tritt, sondern über den er auch ständig spricht.

Die Paradoxie Gottes besteht darin, dass er nichtnur allmächtig, sondern auch unendlich ver-wundbar ist.

Der Metropolit Antonij (Blum), einer der ältestenBischöfe der russisch-orthodoxen Kirche, der seitlangem in London lebt, setzt das Werk des Star-zen Siluan fort. Er sagt in einem seiner Bücher:„Wenn Sie sich mit Gott befreunden wollen, las-sen Sie sich vom Fuchs (aus dem „Kleinen Prin-zen“ von A. de Saint-Exupéry) belehren, wie man

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Liturgie – Darbringung „über alles und für alle“

Im Prinzip unterscheidet sich die byzantinischeLiturgie, die selbstverständlich auch heute nochin Russland zelebriert wird, nicht von der römi-schen Messe und besteht aus den gleichen Teilen,wie: Epistel, Singen eines Verses aus den Psalmenund Evangelienlesung, dann das Credo, danachfolgen die Worte: „Erhebet eure Herzen“, was demlateinischen „Sursum corda“ entspricht, dann fol-gen Anaphora und Erhebung. Die Präphasie fängtwie in der römischen Messe mit den Worten„Wahrhaftig, würdig und gerecht…“ an, es wirddas „Sanctus, Sanctus, Sanctus“ gesungen, unddas Gebet zur Erinnerung an das Abendmahl unddie Worte Jesu; „Nehmet hin, dies ist mein Leib,der für euch gebrochen wird…“ gesprochen, usw.Dann, unmittelbar nach den Worten: „Trinkt, dasist das Blut des neuen Testaments, das für euchund viele vergossen wird.“, hebt der Priester oderder ihm dienende Diakon die Patene und denKelch mit den heiligen Gaben empor.

Dies erinnert an den entsprechenden Augenblickin der römischen Messe, wenn mit den Worten„Per Christo, con Christo et in Christo“, der Pries-ter die heiligen Gaben über dem Altar erhebt.Aber in der orthodoxen Liturgie werden in diesemAugenblick ganz andere Worte gesprochen: „DasDeine wird Dir von den Deinen dargebracht für alleund für alles“, was bedeutet „Deines aus dem, wasDir gehört, bringen wir Dir jetzt dar für alle undfür alles.“

Im Unterschied zur römischen Messe, wo dieseWorte die Darbringung beenden, sind jene in derbyzantinischen Liturgie gerade der Höhepunkt –die Epiklese oder das Herabrufen des HeiligenGeistes: der Priester wird in den griechischen the-ologischen Büchern als „Mystikos“ bezeichnet, alsob er betend ein Geheimnis berühren würde.

„Wir bringen Dir noch dar diese Wortopfer unddieses blutlose Opfer und bitten und beten underflehen: Schicke Deinen Heiligen Geist auf unsherab und auf die hier liegenden Gaben undwandle dieses Brot in den verehrten Leib DeinesChristus, indem Du sie mit Deinem Geist be-rührst.“ Mit dem dreifachen Amen antwortet aufdieses Gebet des Priesters der Diakon. Und so sindauf dem Altar nicht mehr nur Brot und Wein, son-dern Christus selber anwesend. Danach wird dasVater Unser gesungen und die Liturgie ähnlich derrömischen Messe fortgesetzt. Die westlichen Li-turgiker zeigen schon seit Jahrhunderten in ihrenArbeiten, dass die Epiklese, zwar nicht wie in dergriechischen und slawischen Liturgie, aber dochauch in der römischen Messe zu finden ist. Mankann damit einverstanden sein, aber es ist wirk-lich zu betonen, dass für die byzantinische Litur-gie eine gut durchdachte, sehr gut formulierteund wahrnehmbare Epiklese bezeichnend ist.

Die Epiklese ist die Herbeirufung des HeiligenGeistes, auf dass er nicht nur in Brot und Weinder Eucharistie einziehe, sondern in die Betendenselber und in alles, was uns umgibt. Wenn wirglauben, dass die Epiklese von Gott gehört wird,dann folgt auf sie wirklich, dass der Heilige Geistauf Brot und Wein, auf die Betenden und auf dieganze Welt kommt (wie in dem Gebet des StarzenSiluan). So zeigt sich, dass die Liturgie eine mys-tische Vereinigung der Gläubigen nicht nur mitdem Sakrament des Abendmahls, sondern auchmit dem Augenblick, in dem der Heilige Geist her-ab kommt, ist, der im ersten Kapitel der Apos-telgeschichte beschrieben wird. Folglich ist mitder Epiklese auch die Verehrung der Gnade desHeiligen Geistes verbunden, die er ohne Ausnah-me auf alles sendet, was auf dieser Welt erschaf-fen ist. So wird das Sakrament der Eucharistie zueinem Ereignis, welches sich nicht nur den be-wusst Teilnehmenden offenbart, sondern eskommt „Auf alle und alles“, wie es auch ganzdeutlich im byzantinischen Ritual und folglichauch in der russischen Liturgie ausgesprochenwird.

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Glaube kann mutig sein, er gibt dem Menschendie Kraft, Tod, Folter und Leiden nicht zu fürch-ten, er fußt immer auf dem Lächeln in dermenschlichen Seele, welches durch einen Blick aufdie Lilien des Feldes, oder auf die kleinen Vögel,die für zwei Assarien verkauft werden (worüberauch Jesus spricht), verursacht werden kann. Mandarf dabei nicht vergessen, dass „Lo riso della Sa-pienza“ sowohl in der Natur, als auch in der Tie-fe der Menschenseele zu finden ist.

Darüber schrieb auch der Mönch Hillarion in demBuch „Auf den Bergen des Kaukasus“: „Die blen-denden Strahlen der Sonne verhindern, indem siesich mit dem Weiß des Schnees vermischen, denBlick auf die Berge. Sie verwandeln sich in einMeer von Licht, Glanz und unerträglichen Schein.Ein wunderbarer und erhabener Anblick! Wenn vonerschaffenem Licht ein solch erhabenes Leuchtenausgeht, wie wird dann das unerschaffene Lichtsein? Das unfassbare Licht, das ursprünglicheLicht der Gottheit?“

Mystizismus und die apophatische Theologie

Erich Fromm schrieb darüber, dass der Mystiker„den Versuch ablehnt, Gott rationell zu erkennen.Stattdessen strebt er die Vereinigung mit Gott an.Dabei bleibt weder Raum noch Notwendigkeit fürdas kognitive Erkennen Gottes.“ Dies vertritt auchder Mönch Hillarion. Die Hauptsache besteht nichtdarin, dass wir etwas über Gott wissen, sondernGott selber kennen.

Fromm spricht, indem er sich auf die Maimonidenbezieht, des weiteren darüber, dass, wenn in einersolchen Religiosität noch etwas von kognitivemErkennen Gottes übrig bleibt, es genau das ist,was Gott nicht ist. Diese Tatsache war eigentlich,trotz vieler dogmatischer Auseinandersetzungen,die oft Kriege zur Folge hatten, für die Gläubigenvon den ersten christlichen Jahrhunderten an offensichtlich.

So gibt es z. B. ganz am Anfang der Liturgie nachJohannes Chrysostomos ein Gebet, in dem Gottviermal durch die griechische Vorsilbe „a“ (Ver-neinung) bezeichnet wird: Die Macht Gottes: aneikaston, seine Glorie: akataleptos, seine Gna-de: ametreton und seine Menschenliebe: aphatos.Man kann also Seine Macht nicht darstellen, sei-ne Glorie nicht erkennen, seine Gnade nicht mes-sen und seine Menschenliebe nicht mit Wortenbeschreiben.

Es geht also nicht darum, dass Gott so allmäch-tig ist, dass man sich ihn nicht vorstellen kann,sondern darum, dass alle Darstellungsmittel, seienes nun Bilder, Verstandeskonstruktionen, Zahlenoder Worte, unzureichend sind, wenn es um Gottgeht. „Non valet lingua dicere, nec littera expri-mere“, (d. h.: „Die Zunge kann nicht erzählen, derBuchstabe ist machtlos darzustellen.“), wie Ber-nard von Chairvaux im christlichen Westen sagte.Darüber schreibt am Beginn des 20. Jahrhundertsauch Nikolai Gumiljov, kein Philosoph oder The-ologe, sondern ein einfacher Poet: „…kann manGott mit der Chemie beweisen? Mit dem Herzenmuss man Ihn fühlen…“.

Aus diesem absolut irrationalen Empfinden ent-steht ein Gefühl für Gott, das später nur durch dieeine oder andere Weltanschauung befestigt wird.Allerdings muss man im Auge behalten, dass Re-ligiosität ohne dieses persönliche, in den Tiefendes Ichs eines konkreten menschlichen Individu-ums begründete Gefühl, das B. Spinoza „De Deosentire“ nannte, weder sein noch entstehen kann.Ohne dieses Gefühl kann man nur von irgendei-nem Selbstbetrug, einer Imitation der Religiosi-tät sprechen, welche den Menschen in die Fesselndes Ritualismus und der Gesetzesgeberei führenmüssen. Aber gerade diesem Gefühl widmet Chris-tus sein ganzes Evangelium.

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In dem Stück, das ich „Sieben Worte“ genannthabe, erweist sich als Metaphher für das Kreuzdie Überschneidung eines offenen Tones einerSaite mit einem Ton der benachbarten Saite, derglissando gespielt wird. Das ist wie eine Kreuzi-gung der Saite. Zuerst wird die Saite A über-schnitten, dann D, G und schließlich, wenn dieReihe an die Saite C gekommen ist, befindet sichin der Rolle des zu überschneidenden Gegenstan-des die Stütze, sodass die Saite und die Stützeein Kreuz bilden. Der Bogen bewegt sich immermehr zur Stütze hin. Der Ton wird immer ge-spannter und unheilvoller. Direkt an der Stütze istes der Schrei eines fürchterlichen Schmerzes.Pause…

Und dann ist der Bogen schon auf jener Seite derStütze. Eigentlich ist er schon jenseits der Gren-zen des Instruments, jenseits der Grenzen des Da-seins. Der Wohlklang des tremolo spielenden Bo-gens hinter der Stütze ist zärtlichstes pianissimo.

Die Sache verhielt sich folgendermaßen: WladimirToncha erarbeitete für ein Konzert in Kasan einProgramm, das aus Werken für Violoncello und Or-gel zusammengestellt sein sollte. Er bat mich, einStück für eine solche Zusammensetzung zuschreiben. Natürlich war der Ausgangspunkt dieGegenüberstellung zweier solcher außergewöhn-licher „Personen“. Die Orgel stellte ich mir in dergegebenen Kombination als mächtigen Geist vor,der manchmal auf die Erde herabsteigt, um sei-nen Zorn auszubreiten. Das Cello wiederum mitseinen nervösen Saiten entspricht gänzlich dermenschlichen Seele. Der Kontrast zwischen denbeiden entgegengesetzten Naturen löste sichspontan im Symbol des Kreuzes.

Dafür hatte ich zur Verfügung: erstens die Durch-kreuzung der Register (die Orgel führt die untereLinie, das Cello die obere), zweitens die Ge -genüberstellung des hellen, heiteren Klangs dereinfachen Flageoletts als Glissando und des Aus-drucks der Chromatik. Der helle Klang am Beginndes Stückes wird von der Orgel übernommen. DieLinie geht von oben nach unten. Das Cello ist aufdie expressive Chromatik konzentriert, die vonunten nach oben führt. Am Ende des Stücks tauschen die Instrumente die Rollen: das Celloerreicht die hellen Flageolettöne im oberen Re-gister. Die Orgel dagegen steigt hinab in die Un-terwelt des tiefsten Klasters.

Ich bin mir sehr bewusst, dass mein musikali-scher Weg eher in die archaische als in die klas-sische Welt gerichtet ist, und möglicherweiseliegt der Grund hierfür in meiner Herkunft, mei-ner Nationalität.

Das Symbol ist ein lebendiges Phänomen undzieht sich, wie jeder Organismus, durch verschie-dene Lebensphasen: es wird geboren, wird älterund stirbt. Was ist ein Symbol? Meiner Meinungnach die maximale Konzentration von Bedeutun-gen, die Verdichtung von Bedeutungen. Und derMoment, in dem das Symbol in die Welt tritt, dasist der Moment des Aufblitzens der Existenz, des-sen vielfältiger Ursprung sich auf jener Seite desmenschlichen Bewusstseins befindet. In der rea-len Welt können Symbole sich in einer einzigenGeste äußern.

Die Erfahrung der Heiligkeit ist die Erfahrung ei-nes mystischen Verstehens von Gottes Wille durchein bestimmtes Volk. Sie bestimmt die Geschich-te vorher, wie sie auch den Kern des Daseinsformt – das religiöse Bewusstsein des Volkes. Indiesem Sinne kann man von einer außerge-schichtlichen Erfahrung der heiligen Asketen

Während die byzantinische Liturgie zelebriertwird, ist der Priester kein Vicarius Christi, voll-bringt also die Handlung nicht selber, sondernbittet Gott den Vater, die Gnade des Heiligen Geis-tes auf Brot und Wein herabzusenden, und sie inLeib und Blut „Deines Christus“ zu verwandeln.Ich betone das Wort „Deines“, um zu zeigen, dassdie ganze Epiklese von Anfang an zu Gott Vatergewendet ist, dem wir mit dem Gebet unsere Ta-ten wie eine Gabe darbringen „für alle und alles“,also „um alles Willen und mit der Dankbarkeit füralles“. Die Gabe, die der Mensch auf den erstenBibelseiten von Gott dem Schöpfer mit den Wor-ten: „Ich gebe euch alles Gras, das Keim hervor-bringt…dies wird euch zur Speise“ (Gen.1,29 )empfangen hat, geben wir jedes Mal im Laufe derLiturgie andächtig an Gott zurück.

Wenn wir das o. g. Genesis-Zitat aufmerksam be-trachten und mit den Worten Jesu während desAbendmahles, wenn er das Brot mit den Worten„nehmt und esst“ gibt, vergleichen, werden wirentdecken, dass dies inhaltlich dieselben Wortesind, nur anders formuliert. Die Liturgie ist alsonicht nur eine Erinnerung des Abendmahls, son-dern auch ein mystisches Zurückgehen zu dem Au-genblick, als Gott den Kosmos, eben erschaffen,erglänzend in frischen Farben und in all seinerSchönheit in die Hände des Menschen gab. Dar-über spricht auch der Mönch Hillarion, indem ereine Nacht im Kaukasus beschreibt. „Die Natur“,sagt er, „dient einfach ihrem Schöpfer.Ohne Wor-te preist sie Seine Vollkommenheit.“

Die Epiklese ist unser Gebet für die ganze Welt.Außer den oben zitierten Worten aus der Ana-phora der Liturgie „für alle und für alles“, gibtes noch eine sehr bedeutende Stelle. Die Litur-gie beginnt mir dem Gebet: „Frieden für die gan-ze Welt… und Vereinigung aller“, gerade aller:Christen und Nichtchristen, Gläubige und Un-gläubige usw., die Vereinigung der ganzenMenschheit… „Die Welt“ schrieb Vater Alexan-der Men, (der am 9.9.1990 auf dem Weg zur Mes-se ermordet worden ist) „sucht ihre menschlichenWege zur Wahrheit, Freiheit und Einheit. Aber jemehr sie sich in Selbstverherrlichung verschließt,desto tiefer versinkt sie in Lüge, Sklaverei undHass. Nur die mächtige Kraft des Glaubens, in derLiebe verwirklicht, die im Evangelium beschrie-ben wird, kann das geben, was der Mensch ver-geblich in seinen Götzenbildern sucht.“ Es ist ver-ständlich, dass mit „Götzenbildern“ nicht die Got-tesstatuen der Antike gemeint sind, sondern dieVorlieben (wie Kino, Fußball, Politik usw.), dieheutzutage den Menschen an sich fesseln und ihnzu ihrem Sklaven machen.

Deshalb ist die Tatsache außerordentlich wichtig,dass wir besonders heute, wo wir von der Verei-nigung der Völker in einheitlichen Strukturen re-den, immer wieder den geistigen Aspekt der ganz-menschheitlichen Einheit vergessen. Aber geradedaran erinnert uns die orthodoxe Liturgie, die tag-täglich überall zelebriert wird und die uns nichtunter das „Zeichen“ der Orthodoxie stellt, sondernuns aufruft, für alle Menschen, die Welt, und al-les was in ihr geschieht, zu beten.

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VATER GEORGIJ TSCHISTJAKOV, MOSKAU CHRISTUS HEUTE UND DIE ORTHODOXE TRADITION

Die Verwandlung der ZeitSofia Gubaidulina

(Übersetzung aus dem Russischen: Elisabeth Hörtreiter)

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Und in dem Moment, in dem das Brot gebrochenwird, ist er sich Christi Tod tatsächlich so bewusstwie seines eigenen Todes, um danach die wahr-haftige Auferstehung zu erleben, die Verwand-lung seines menschlichen Wesens. Und diese Ver-wandlung ist im Grunde die Unsterblichkeit sei-ner Seele, diese unsagbare Freude, die absolutunmöglich ist, wenn es nur um die Erinnerungoder um die Verehrung eines großartigen Ereig-nisses geht. Der russische Gläubige erlebt denProzess der Erneuerung als einen wahrhaftigenAkt, der sich in der Wirklichkeit vollzogen hat.Deshalb ist es für ihn so wichtig, nicht nur dieFreude der Gnade, sondern auch den Schmerz aufdem Weg zu dieser Freude zu erleben.

Ich habe Ihnen nicht zufällig vom Schmerz undder Freude des orthodoxen Menschen erzählt. Zu-sammen mit einer unendlichen Geduld hatten sieenorme historische Folgen für das russische Volk.Sie wissen, dass unser Volk geduldig ist, es nimmtschwierige Bedingungen als gegeben hin, indemes vom religiösen Gefühl durchdrungen ist. Wahr-scheinlich erlaubte gerade diese positive, mankann sagen heilige Eigenschaft, eben dieses Volkso unbarmherzig für das Böse zu missbrauchen,zu betrügen, auszurotten und ehrgeizigen Politi-kern als Opfer auszuliefern.

Wenn man sich einen glücklicheren Staat undeine produktivere Gesellschaft vorstellt, dannwürden sich religiöse Ideen unter diesen Um-ständen natürlich zu entwickeln beginnen. DerProzess der Transformation, der die Leidensener-gie in Energie des Lichts und der Güte verwan-delt, ist in der Geschichte unseres Volkes verwur-zelt. Hat denn der Schmerz das besondere religi-öse Gefühl in Russland begründet? Oder hat, um-gekehrt, das besondere religiöse Gefühl dem Volkdie Kraft gegeben, den Schmerz zu überwinden?Ich bin vom zweiten überzeugt. Aber wenn dieheutigen furchtbaren Zustände noch lange an-dauern, dann wird die geistige Basis des russi-schen Volkes zugrunde gehen.

Um diese religiöse Erfahrung zu verwirklichen,von der ich gesprochen habe, sind physischeKräfte vonnöten. Die armen alten Frauen, die ge-stern in der Kirche beteten, können sich auf demWeg ihrer Geistigkeit nicht mehr weiter fortbe-wegen. Sie haben gesehen: sie sind bereits anihre Grenzen gegangen.

Aber die jungen Gläubigen halten weniger aus alsdie alte Generation. Das wird Ihnen seltsam er-scheinen, aber es ist eine Tatsache. Es bedeutetfür die Zukunft der Kirche: ein niedrigeres Niveauin der Intensität des Erlebens. Das ist sehr be-dauerlich, denn hier liegen ja die Wurzeln unse-res Daseins.

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DIE VERWANDLUNG DER ZEIT

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sprechen oder von einer Übergeschichtlichkeit. Inder Kunst tritt die Erfahrung der Heiligkeit in ge-wissem Sinne durch das Hören des göttlichen Wil-lens mit Hilfe eines Symbols zu Tage – das Ver-stehen der höheren Realitäten in den Bildern derniederen Welt, der materiellen Welt. Der mehrdi-mensionale, vielfältige Sinn wird zur einzigen Ge-ste des Tanzes, des Reims eines Gedichtes oderder Form eines musikalischen Werkes. Die Erfah-rung der heiligen Väter ist nicht nur die Erfahrungdes Verstehens des göttlichen Willens, sondernauch die Verwirklichung der Liebesbezeugung zuGott. Und dies ist der zentrale Moment der Gött-lichen Liturgie, der Eucharistie: gemeinsam mitChristus sterben und auferstehen, das heißt dieabsolute Identifikation mit den Leiden Christi amKreuz erreichen, sich selbst und Christus mit ei-nem unzerreißbaren Band verbinden, das Legatoverwirklichen.

Dieser Terminus ist rein musikalisch. Re-ligio –die Wiederherstellung des Bundes, Legato – Wie-derherstellung der Verbindung des Irdischen unddes Himmlischen, des Materiellen und des Geist-lichen. Und diese Wiederherstellung des Legatoist im Grunde genommen der Sinn der Form eineskünstlerischen Werkes.

Für mich ist die musikalische Form ein Geist, dain ihr die Verwandlung der musikalischen Materiein ein Symbol vonstatten geht. Das Symbol ist dieOffenbarung der höheren Realität – die Projek-tion der mehrdimensionalen Bedeutung auf einenRaum mit einer geringeren Anzahl an Dimensio-nen. Die Vielzahl wird zur Einheit. Um diese Ein-heit zu erreichen, muss man jedoch die Vertikaleder mehrdimensionalen göttlichen Bedeutung mitder Horizontale der Zeit kreuzigen. Die Idee ist imGrunde tragisch. Deshalb kommt mir ein künstle-risches Werk immer wie eine Art Kreuzigung vor.

Der Sinn der Kunst ist im Grunde religiös, obwohldie Religiosität den Autoren gar nicht bewusstsein muss. Die Sache ist die, dass die Eigenschaftder Wechselbeziehung und der tiefen Abhängig-keit von allem im natürlichen, physischen Wesen

der Welt verankert ist. Das ist eines der allge-meinen Gesetzte der Existenz – das Gravitations-gesetz. Die entsprechende kosmische Eigenschaftwurzelt in einer tiefen Notwendigkeit: zu verbin-den, den Schöpfer und seine Schöpfung zu ver-einigen. Und die verbindende, integrierende Rol-le der Form der Kunst ist quasi die Metapher fürdieses Gesetz. Natürlich will ich damit nicht sa-gen, dass die religiöse und künstlerische Tätig-keit von Menschen identisch ist. Religion undKunst stehen in dem Verhältnis zueinander wiedas Natürliche und das Künstliche im Leben dermenschlichen Gesellschaft überhaupt: die Reli-gion ist unser natürliches geistiges Leben, unddie Kunst ist unser künstliches geistiges Leben,das heißt von Menschenhand geschaffen, unseremenschliche geistige Aktivität, unsere Antwortauf die Liebe des Schöpfers.

Religion ist das, was uns gegeben ist, Kunst das,was uns aufgegeben wurde. Wenn auch beide Ar-ten der Tätigkeit nicht identisch sind, so habensie dennoch ein gemeinsames Ziel.

Schmerz ist die Realität der russischen Geschich-te. Der russische Mensch ist sich dieser Realitätseit alten Zeiten besonders tief bewusst. Die Not-wendigkeit, den Schmerz zu überwinden, hat sichauch im Charakter des Glaubens widergespiegelt.Schmerz ist das Maß des Glaubens, die Fähigkeitder maximalen Annäherung an die Leiden Christi.

Wenn in der katholischen und evangelischen Kir-che der Gläubige das Ritual vollzieht als Erinne-rung an den sakralen Akt, dann ruft der Gläubigein der orthodoxen Kirche den heiligen Geist tat-sächlich herbei, herunterzukommen zu Brot undWein, damit es sich in Blut und Leib Christi ver-wandele. Er erlebt tatsächlich die Begegnung mitdem Christus, mit dem lebendigen Sohn Gottes,wenn der Priester verkündet: „Chistus ist unteruns“.

SOFIA GUBAIDULINA

Wir danken Sofia Gubaidulina, Enzo Restagno und Valentina Cholopowa für die freundliche Genehmigung, einige Text passagen aus einem Interview zu veröffentlichen,das die Beziehung von Religiosität und Musik aus der Sichtder Künstlerin beleuchtet. Die Auswahl der Texte traf Michael Kurtz.

(Literatur:Michael Kurtz, Sofia Gubaidulina, eine Biografie, Verlag Urachhaus, Stuttgart 2001)

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Was vor zehn Jahren kaum ein Forscher gewagthätte, ist plötzlich wieder „modern“, seitdem dergerade neubelebte amerikanische Konservatismusmit geringer zeitlicher Verzögerung nach Westeu-ropa herüberrollt. Wir haben es in den USA seitEnde der siebziger Jahre mit einem starken Zu-strom zu allen Arten von Sicherheit vermitteln-den Weltanschauungen zu tun. Die zahllosen dor-tigen sektenhaften Splittergruppen christlicherKirchen haben seitdem in den allgemeinbilden-den Schulen die gleichwertige Vermittlung derSchöpfungslehre parallel zur neodarwinistischenEvolutionslehre verlangt und vor Gericht erzwun-gen, dass z. B. in Kentucky den Schülern vom Bi-ologielehrer beide Anschauungen gleicherweiseanzubieten sind. Die Empiriker beschlossen, ihrebesten Waffen ins Gefecht zu werfen: die Fundo-riginale fossiler Menschen, die in einer einmali-gen Ausstellung im American Museum of NaturalHistory in New York von April bis September 1984zu sehen waren. Die Glaubensvertreter sind seit-dem – zumindest in der wissenschaftlichen Dis-kussion – wieder auf dem Rückzug, weil sie außerihrer berechtigten Kritik an der Zufallstheorie derPositivisten inhaltlich nichts Produktives oderBesseres vorzubringen hatten. Die Chance aberzur geistigen Aufarbeitung der vierhundertjähri-gen Kulturspaltung ist von beiden Seiten wiedernicht genutzt worden.

Grundlagen der Naturerkenntnis

Der geistig gesunde Ausgangsboden verständnis-voller Naturerkenntnis ist, weil sie ja niemand an-deres als der Mensch macht, dass sich der ein-zelne Mensch selbst zuerst in den Blick nimmt.Die Qualität der Selbstaufklärung entscheidetdoch letztlich allein über die Qualität der An-wendung des eigenen Denkens auf die uns umge-bende Welt. Es sei dazu nur der erste anfängli-che Schritt der Selbsterkenntnis behandelt. Schondie Qualität der ersten Stufe ist von lohnenderFruchtbarkeit. Man muss sich nur einmal klarma-chen, dass im heutigen hochdifferenzierten Wis-senschaftsbetrieb die verschiedenen Disziplinen

sich längst nicht mehr auf ein gemeinsames Ver-ständnis von Wissenschaft einigen können. EinChemiker hat ein prinzipiell anderes Verständnisvon dem, was er als wissenschaftlich akzeptie-ren würde, als ein Kunsthistoriker, ein Mathema-tiker ein anderes als ein Geschichtler, ein Wirt-schaftswissenschaftler ein anderes als ein Theo-loge. Wobei doch alle eines gemeinsam haben:dass alle auf Verständnis aus sind und alle in er-ster Linie doch wohl Menschen sind.

Was also ist das Allgemein-Menschliche von Wis-senschaftsfindung? Sicher nicht nur eine auchnoch so weitgehende Ansammlung und Weiterga-be von schon vorher vorhandenem Wissen. Wiewird, ist zu fragen, – gleich in welchem Gebiet –Sinnhaftigkeit gefunden? Durch Einsicht, Erken-nen, Verstehen, Denken. Worauf aber beruht diegemeinte Einsichtnahme? Merkwürdigerweise legtgerade dieses Wort den Vollzug von Hineinsehen,von Wahrnehmung nahe. Selbst noch das Wort„Idee“ rührt von gr. „idein“, lat. „videre“ = sehenund ist sprachverwandt mit dem deutschen „wis-sen“. Aber die Etymologie regt nur das historischeBewusstsein an, nicht die eigene Selbstaufklä-rung. Sie beginnt mit der Entdeckung des Gegen-teils. Unbefangene Wahrnehmungen, gerade wennsie nicht von früheren Wahrnehmungen und Deutungen per Erinnerungsvorstellung abgedecktwerden können, rufen im eigenen Bewusstseinprimär Verunsicherung hervor. Solange wir das Ge-sehene oder Gehörte nicht begreifen, solange derBegriff dazu aus eigenem Zutun nicht möglich ist,sind pure Wahrnehmungen nur Befremdliches. Allebloße Sinneswahrnehmung erscheint uns heuteals sinnleer, wesensfremd, ja auf Dauer nicht aus-haltbar. Durch die Sinneswahrnehmungen alleinfühlt sich der neuzeitliche Mensch ausschließlichals Fremdling in der Sinneswelt, vorausgesetzt, erkennt sie nicht schon durch seine Bildung und Gewohnheit als mehr oder weniger begriffsbe-setzte, also gewohnte Umgebung. Die Weltent-fremdung beginnt eben gewöhnlich selbst schonmit jener Weltzuwendung, die eine nur sinnes-mäßige ist.

CHRISTENTUM UND NATURWISSENSCHAFT

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Der neuzeitliche Bruch zwischen Theologieund Naturwissenschaft

Christentum und Naturwissenschaft scheinen sichnie recht vereinigt zu haben. Versuche gab es Le-gionen. Doch seit Giordano Bruno und Koperni-kus, Galilei und Kepler gab es den Widerstreit zwi-schen den Konfessionen und unabhängiger For-schung. Kepler hatte größte Mühe, seinen Einflussbeim Kaiser geltend zu machen, um seine greiseMutter vor der Hexenverbrennung zu retten.Giordano Bruno hat man verbrannt, weil er dieGrenzenlosigkeit des Sternenhimmels ausgespro-chen hatte.

Ketzervernichtung gab es schon vorher, aber nichtaufgrund von Naturanschauungen. EineinhalbJahrtausende hatte die christliche Kultur die Na-turbegegnung in ihren Bereich einbezogen, ohnesie anstößig zu empfinden.

Noch im 15. Jahrhundert hat ein Cusanus ver-sucht, die aufziehende Naturwissenschaft in ih-rem Beitrag zur christlichen Kultur anzunehmen.Wie der große Aquinate 200 Jahre vorher die Errungenschaften der bedeutendsten antiken Den-ker in die kirchliche Theologie einbeziehen konn-te, so versuchte Cusanus das gleiche mit der erwachenden neuzeitlichen Mathematik, Astro-nomie und Physik. Aber mit dem Versuch einer inneren Reformation des Klerus drang er nichtdurch. Beide Seiten fielen auseinander und wur-den zu Parteien. Daran hat auch die protestanti-sche Reformation nichts geändert. Weder Luther,Zwingli noch Calvin sahen die geistige Bedeutungeiner Naturwissenschaft, die dem christlichenMysterium verbunden geblieben wäre. Die Kirchenversuchten den Glauben zu retten abseits der na-turwissenschaftlichen Entwicklung, die Naturwis-senschaften bekamen durch die Verweigerungenbeider Konfessionen genügend Feindbilder, um

sich mehr oder weniger erleichtert von jedem re-ligiösen Bezug loszusagen. Sich geistig einigeln-der Klerikalismus und der geistig allein gelasseneMaterialismus steigerten sich gegenseitig perma-nent seit 400 Jahren, ja bedingen sich bei nähe-rem Hinsehen gegenseitig: was der eine nicht bie-tet, holt sich die menschliche Seele jeweils vonder anderen Seite. Für den klaren Kopf das eine,für die Seelentiefen das andere.

Der Fundamentalismus beider Seiten: Dogmen-oder Buchstabenglaube auf der einen, das Sinn-losigkeitskonzept zufälliger Ökonomisierung desEnergiehaushaltes als Naturprinzip auf der ande-ren Seite, steigert sich weiterhin. Er hat sich alsooffensichtlich nicht nur in den anderen Weltreli-gionen neuerdings verstärkt, sondern auch imChristentum, um der öden Seelenlosigkeit hoch-technologisierter Langeweile zu entgehen.

Ein aktuelles Beispiel ist der neuerlich genau nach100 Jahren wieder frisch aufgebrochene Streitzwischen Darwinismus und Schöpfungsglauben,oder wie sie sich heute nennen: zwischen Gradu-alismus und Kreationismus. Seit 1979 erscheintin einem evangelischen Verlag eine Broschüren-reihe „Wort und Wissen“, die mit vielen kleinenBändchen versucht, die Entwicklungslehre derneuzeitlichen Biologie abzuschaffen. Evolutionwird als „theoretisch unmöglich und von keinerTatsache gestützt“ bestritten.1 Die durchaus vor-handenen Schwachstellen überzogener neodarwi-nistischer und aktualistischer Interpretationen imBereich der Paläontologie werden allerdings nichtdurch eine bessere wissenschaftliche Erklärungdem Gegenwartsverständnis näher gebracht, son-dern sie werden nur argumentativ benutzt, umden buchstabentreuen Schöpfungsmythos an dieStelle von Fragen, Denken und Erkennen zu set-zen.

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Als Menschen kennen wir zwei Rettungsmöglich-keiten aus dieser Befremdung. Die eine ist derAufbau einer die Wahrnehmungen verständlichmachenden Begrifflichkeit. Sie wird uns von kleinauf von unseren Mitmenschen angeboten: aufjede Frage hin, die wir von Kindesbeinen an stel-len, durch jeden Unterricht, den uns Schule, Be-rufsbildung und Weiterbildung angedeihen lassen,wird uns eine begriffliche Antwort zuteil. Aber je-der Mensch kennt auch, dass er nicht allein dar-auf angewiesen war, sondern sich immer wiederselbst zu helfen wusste: durch eigenes findigesDenken, durch eigene Intuitionsmöglichkeit, sichauf das Befragenswerte der Welt, und was wäredas nicht? – selbst auch sinnvolle Antworten ge-ben zu können. Mit jedem Begriff, jeder Idee, sosie eigene Einfälle sind, ist das Erlebnis der Auf-lichtung der sonst dunklen Erscheinungswelt ge-geben. Die bisher nur mittels unserer Sinne er-fahrene Sache wird für sich selbst durchsichtiger,als es die leibliche Wahrnehmung zu geben ver-mag. Wir bemerken, dass es sowohl eine sinnes-gebundene als auch eine „ideenfindige“ Erfahrunggibt. Beide erfassen zwei Seiten derselben Welt-gegebenheit. Wer die beiden Erfahrungen zu un-terscheiden vermag, kann auch sagen, „dass dieErfahrung nur die Hälfte der Erfahrung ist,“ (Goe-the, Maximen und Reflexionen). Ihr zugrundeliegt in der Welt jedoch nicht eine gespalteneWirklichkeit; äußere Existenz und ihr Sinngehaltsind in der Welt immer vereint. Zugrunde liegteine Spaltung der menschlichen Auffassungsor-ganisation. Ihr fällt die Wirklichkeit in die der Er-scheinung und der Sinnhaftigkeit zeitlich aus-einander. Das ist in unserer heutigen Konstitutiondes Menschseins das Normale, muss es aber nichtauf Dauer sein.

Es gibt ebenso Augenblicke, wo Begegnung undVerstehen zusammengehen und eins sind. Sie stel-len sich nur ein, wenn wir aus dem schon vor-weg Gewussten und Gedeuteten, also aus demEinerlei des Gewohnten heraustreten. Oft ist eserst eine Reise in ein bisher unbekanntes Land,die uns deutlich verstärkt solches erleben lässt;wo man ergriffen der Einheit von Erscheinung und

Wesen inne wird. Dieses „Ja-so-ist-es“ liegt im er-sten Auftreten noch außerhalb des begrifflich-sprachlich Wiedergebbaren, was aber keinen Ab-strich an Realitätsbezug darstellt. Im Gegenteil:Für wirklich Neues muss die sprachliche Um- undBeschreibung immer erst nachträglich noch ge-funden werden.

Jenes Neue: in der gesteigerten und dann trans-parent erlebten Sinneswahrnehmung selbst schonihren immanenten Sinngehalt erfasst zu haben,braucht nicht erst als Ausnahme in unbekannten,fremden Ländern, sondern kann am schlichtenGrashalm neben dem eigenen Hauseingang er-fahren werden. Erschüttert wird das lebendigeSprießen bemerkt, das gegen das Gesetz derSchwere dem Licht entgegenzuwachsen vermagund das die geformte Gestalt bei aller strömen-den Beweglichkeit in den einzelnen Anteilen,doch, wenn auch wandelbar, aufrechterhaltenkann. In einem solchen Moment spricht sich dieErfahrung nicht mehr dunkel, sondern, durch sichselbst aufgehellt, wortlos aus.

Dieses Einswerden von Sinneswahrnehmung undWesensberührung gelingt uns heute am ehestenin der mitmenschlichen Begegnung. Worauf derBlick aber heute eigens zu lenken ist, sind dieUmstände, dass eine ähnliche Qualität der au-ßermenschlichen Begegnung viel schwerer abzu-gewinnen ist. Dort am leichtesten wohl noch inder Kunst, ist sie doch als echte Kunst immer vomVersuch eines konkreten Menschen gekennzeich-net. Gerade die Großen in der Kunst erkennt mandaran, dass sie ihre Inspiration auch nur als ei-nen Versuch gelten lassen wollten und sie sich niezufrieden gaben, und dem kann der Beschauerselbst entsprechen.

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Entfremdung gegenüber der Natur

Wie aber ergeht es uns mit Technik und Natur?Jene ist die vom Menschen angewandte und da -mit sichtbar gemachte Naturgesetzlichkeit. Häu-ser halten, weil sie statisch gegenüber der Gravi -tation gebaut sind, Autokarosserien sind dienlichin ihrer aerodynamischen Windschnittigkeit ge-baut, Brückenbögen oder Brücken-Hängeseilefüh ren Parabelgesetze vor. Hier hat die wissen-schaftlich gefundene Begrifflichkeit das sinnlicheMaterial in die vorgegebene Form gezwungen. Istdem auch so in der vom Menschen unberührtenNatur? Ist sie eine Künstlerin oder Technikerin?Die phänomenal erscheinende Qualität ist nocheine andere. Wer sich einmal allein längere Zeit,vielleicht nicht nur Stunden, sondern einen Tag,Tage oder gar Wochen unberührter Natur ausge-setzt hat und dann wieder Menschenwerk oderleibhaftigen Menschen begegnet, erlebt elemen-tar den gewaltigen Erlebnissprung: In jedem Men-schen begegnet uns etwas wie tiefe Heimatlich-keit. Die Natur bietet uns zumeist viel mehrFremdartiges, ja zahllosen Menschen solch einAusmaß an Befremdlichkeit, dass sie, um der Emp-findung, sich ihrer erwehren zu müssen, nachzu-kommen, die Kulturtätigkeit gegen sie einsetzen.Den Wald zu roden, wurde der Beginn dieser Artvon Kultur. Und bei näherem Hinsehen ist die auftechnische Anwendung ausgerichtete Naturwis-senschaft inhaltlich letztlich gar nichts anderes:Nicht erkennende Zuwendung zur Natur um ihrerselbst willen wird intendiert – das bleibt heuteallein die etwaige Privatmotivation des einzelnenNaturwissenschaftlers –, sondern eine permanen-te, schon im denkenden Bewusstsein sich voll-ziehende „Rodung“, um an die Stelle gewachse-ner Natur die gemachte Natur, die Technik zu set-zen. Jede Selbstbeobachtung ergibt hierin nichtsanderes als eine, gegen die nicht ausgehalteneSinneswahrnehmung gerichtete, psychologischmilitarisierte Strategie, die als prinzipiell fremderlebte Natur aushaltbar zu machen.

Hat man diesen innerseelischen Zusammenhangin sich und seinen Mitmenschen einmal be-wusstseinsmäßig aufgedeckt, so wird immanentebenso deutlich, dass darin der existentielle Zu-sammenhang zwischen solcher objektivierenderNaturwissenschaft und der heutigen Umweltkat-astrophe besteht. Die vollständige Gefährdung dergesamten Biosphäre der Erde ist die nur physischgewordene Folge der „geistigen Rodung“, die diepositivistischen Naturwissenschaften erkenntnis-theoretisch schon vorher als Konzept eingeführthaben. Sie beschreiben nämlich nur, was die Sin-nesbeobachtung durch quantifizierende und dannmessende, also die Ganzheit trennende Analysean mathematischer Berechenbarkeit unter vorhe-rigem Ausschluss jeder immanenten Geistigkeitergibt: Eine Pflanze ist dann nur eine chemischeMaschine mit Photonen-Absorptionseinrichtun-gen und einem Schauapparat zur visuellen Rei-zung von Insekten, um per Bestäubung die Über-lebenschance durch Anreicherung genetischerVielfalt zu begünstigen usf. Ein Tier ist nichts vielanderes; ob es außerdem eine seelische Dimen-sion hat, steht nicht zur Debatte, sondern gehörtzum Privatglauben, genügt es doch, es als Reiz-Reaktions-Mechanismus zu interpretieren. Da derMensch bei systemimmanenter Elimination ande-rer Fähigkeiten auch nicht mehr, als eine fasthaarlose Primatengattung unter anderen ist, be-steht Wissenschaft, sich selbst produzierend, auchnur noch aus vorgegebenen Anreizen, um durchAdaptation an Prüfungsvorgaben in Schule, Hoch-schule und Forschung diejenigen Reaktionen alsWissenschaftsergebnisse zu erbringen, die denMen schen wissenschaftstheoretisch allein zuge-standen werden. Das ist der leblose, seelenloseund geistleere Materialismus im wörtlichen Sin-ne, der die Naturwissenschaften heute landläufigausmacht. Nur was den Erhaltungssätzen von Mas-se und Energie unterliegt, kann noch Gegenstanddieser Naturforschung sein. Die Erzeugung zahl-loser Pflanzenkrankheiten durch ungewollte Re-sistenzzüchtung von Viren, die gnadenlos qual-volle Massentierhaltung und der Sozialdarwinis-mus betonkalter Zivilisation sind die logischen Er-gebnisse davon.

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den Kalkgebilden hier eine Burg, dort einenBaumkuchen oder da einen Eisbären zu „sehen“.Erst nachdem er diese automatischen Remini-szenzen an die Tageswelt los geworden war, kames zur Naturbegegnung: „Schwarze Marmormas-sen aufgelöst, zu weißen kristallinischen Säulenund Flächen wiederhergestellt, deuteten mir aufdas fortwebende Leben der Natur. Freilich ver-schwanden vor dem ruhigen Blick alle die Wun-derbilder, die sich eine düster wirkende Einbil-dungskraft so gern aus formlosen Gedanken er-schaffen mag; dafür blieb aber auch das Eigene,Wahre desto reiner zurück, und ich fühlte michdadurch gar schön bereichert.“6

Hier lohnt es, das wie im Nebenbei nur verborgenAngedeutete aufzuspüren. Es ist „der ruhigeBlick“, der sich nicht von „Wunderbildern“ derEinbildungskraft ablenken lässt, denn sie wirkennur „düster“, verdüstern die Hingabe an die Er-scheinungen. Das „Eigene, Wahre“ ist das dem Na-turgebilde ebenso wie ihm Eigene – es bleibt imBetrachter desto reiner zurück, je mehr er seineAssoziationen weglässt. Erst dadurch fühlt er sich„bereichert“. Und was war es denn, was Goethe dabereicherte? Schwarzes Gestein durch die natür-liche Auflösung nicht nur zur Bewegung verflüs-sigt, sondern dann zu weiß geläuterter kristalli-ner und doch wie fließender Ordnung wiederher-gestellt, wird ihm zum ergreifenden Vorbild deseigensten innerseelischen Anliegens zur Selbst-erziehung: das vorgegebene harte Schwarze durchAuflösung gereinigt neu zu schaffen. „Was hießewohl die Natur ergründen? Gott ebenso außen alsinnen zu finden.“

Goethe ist hier realiter der umgekehrte Plato. Be-schreibt dieser die Ideenwelt als den im Innerender denkenden Seele aufzusuchenden Geistgehalt,so empfindet Goethe, dass ihm der Geistgehalt inder recht vollzogenen Sinneswahrnehmung jetztvon außen entgegentritt.

Und er weiß um das kulturhistorische Ausmaß sei-nes Vermögens, wenn er zur Farbenlehre anmerkt:Im eigenen Auge schaue mit Lust, Was Plato von Anbeginn gewusst; Denn das ist der Natur Gehalt, dass außen gilt, was innen galt.

„Der Natur Gehalt“ ist ihm nicht direkt ein Glei-ches, aber sehr wohl doch ein der sittlichen WeltÄhnliches. Die Farben erfährt er monistisch insinnlich-sittlicher Wirkung. Auf den Bindestrichkommt es dann jedem an, der den Dualismus auf-zulösen beginnt. Was geschieht aber damit? Ech-te Naturwissenschaft ist im Sinne Goethes nichtvon der Religiosität zu trennen. Spüren wir ihrWesen in seinen wie Selbstgespräche wirkendenNotizen auf:„‘Die Natur verbirgt Gott!’ Aber nicht jedem!“„Wer die Natur als göttliches Organ leugnenwill, der leugne nur gleich alle Offenbarung.“„‘Ich glaube einen Gott!’ dies ist ein schönes,löbliches Wort, aber Gott anerkennen, wo undwie er sich offenbare, das ist eigentlich die Se-ligkeit auf Erden.“„Möge die Idee des Reinen, die sich bis auf denBissen erstreckt, den ich in den Mund nehme,immer lichter in mir werden.“„Ich lasse mir nur alles entgegenkommen undzwinge mich nicht, dies oder jenes in dem Ge-genstand zu finden.“„Ich will die Augen auftun, bescheiden sehenund erwarten, was sich mir in der Seele bildet.“„Jeder neue Gegenstand wohl beschaut,schließt ein neues Organ in uns auf.“„Je mehr ich mich selbst verleugnen muss, jemehr freut es mich.“„Ich habe endlich das Ziel meiner Wünsche er-reicht und lebe hier mit einer Klarheit undRuhe, von der ich lange kein Gefühl hatte. Mei-ne Übung, alle Dinge, wie sie sind, zu sehenund abzulesen, meine Treue, das Auge licht seinzu lassen, meine völlige Entäußerung von allerPrätention kommen mir einmal wieder recht zu-statten und machen mich im stillen höchstglücklich.“

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Interessant ist nun, dass im fortgeschrittenen Al-ter eine Reihe bedeutender Vertreter dieser land-läufigen Art von Wissenschaft ihr gegenüberdurchgängig bedenklich geworden sind. Von MaxPlanck, Niels Bohr und Max von Laue bis WernerHeisenberg, Carl Friedrich von Weizsäcker undKonrad Lorenz haben sie um ihre oder bald nachihrer Emeritierung das Ungenügen des positivis-tischen Wissenschaftsansatzes und die Notwen-digkeit seiner Erweiterung herausgestellt. Als Hei-senberg vor zwanzig Jahren in Weimar in seinerRede über Goethes Naturwissenschaft anerken-nend schloss: „Hoffen wir, dass dies der Zukunftbesser gelingt, als es unserer Zeit, als es meinerGeneration gelungen ist“2, haben diese Worte aufdie weitere Entwicklung der Physik – im Gegen-satz zu seiner Formulierung der Quantenmecha-nik 1925 in einer stillen Nacht auf Helgoland –keinen Einfluss genommen. Nicht anders ist es mitder Wirkung Erich Fromms auf die Naturwissen-schaften.3 Er beschrieb zuletzt zwar treffend diepsychologische Fehlentwicklung des „modernen“Menschen zu Autismus und Nekrophilie: zur be-wusstseinsmäßigen Weltentfremdung und Ein-kapselung und zum zwanghaften Hang, alles ap-parativ zu erklären und nennt als den Repräsen-tanten der gegenteiligen Haltung Goethe als den„großen Biophilen“, aber die Anwendung eben aufdie reduktionistische Physiologie in der heutigenBiologie sah auch er nicht.

Goethes Haltung zur Natur

Es ist heute inopportun, als eine der Hilfen zu je-ner Überwindung der bezeichneten Spaltung inSehen und Erkennen, in Glauben und Wissen, inReligion und Wissenschaft, in Subjekt und ObjektGoethes Welthaltung zu nennen. Von keinem be-deutenden Menschen wissen wir von Tag zu Tagüber große Strecken seines Lebens mehr als vonihm4, aber kaum einer ist bei aller philologischen,theologischen und wissenschaftsgeschichtlichenAkribie in weitestem Ausmaße so unbekannt ge-blieben wie er. Schon zu seinen Lebzeiten fühlteer den Verständnisabstand zu den ihn nur eu-phorisch oder abfällig Missverstehenden. Er hatsich wohl auch zu wenig polemisch mit seinerUmwelt auseinandergesetzt. Auf Schillers Auffor-derung gestand er selbstironisch: „Der Fehler, denSie mit Recht bemerken, kommt aus meiner in-nersten Natur, aus einem gewissen realistischenTic, durch den ich meine Existenz, meine Hand-lungen meine Schriften den Menschen aus denAugen zu rücken behaglich finde.“5

Das Thema verlangt, dass auf eine Seite Goethesaufmerksam gemacht wird, die sein eigentümli-ches Verhältnis zur Sinneswahrnehmung im spe-ziellen betrifft. Sie ist bei ihm schon von Kin-desbeinen eine besondere und erfährt darüberhinaus eine biographische Entwicklung. Der Be-ginn von Goethes eingehenden Naturinteressenliegt in Erlebnissen des schon Achtundzwanzig-jährigen auf der ersten Harzreise. Unter der Erdein einem Bergwerk in akute Todesgefahr geratenund zwei Tage später als erster Mensch im Winterauf dem beschneiten und besonnten Gipfel deshöchsten Harzberges (Brocken) stehend, wird derNaturforscher in ihm frei. Der Abstieg in der feen-haften Abendbeleuchtung legt den Keim für diespätere Farbenlehre. In der Tropfsteinhöhle beiRübeland brachte er kurz vorher fast zwei Tage zu.Die wenigen überkommenen Notizen deuten an,warum so lange. Abgeschnitten von der Oberweltvoller bekannter Gegenständlichkeit, hatte er da-mit zu tun, eben jene gegenstandsgebundenenVorstellungsvergleiche sich abzugewöhnen und in

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so rein darzustellen. Jede Art fratzenhafter Ver-zerrung, wodurch sich dünkelhafte Menschen nacheigener Sinnesweise an dem Gegenstand versün-digen, war mir von jeher zuwider.“8

In jener seltenen Situation beschreibt Goethe,wiederum fast unmerklich verdeckt, seine Reli-giosität. Denn merkwürdigerweise spricht er in ei-nem Zuge mit dem Thema Religion von dem „kla-ren unschuldigen Blick, alle Zustände zu beach-ten“. Sie möchte sich nicht „nach eigener Sin-nesweise“ an den Weltinhalten „versündigen“. Sieliegt – horribile dictu – in der Art seiner Sinnes-zuwendung an die Welt; nicht in der Abwendungvon ihr um eines Höheren willen.

Sinneszuwendung und christliche Religion

Jede geistige Schulung hat mit dem Problemfeldzu tun, dass die sinnliche Anbindung an die ma-terielle Welt die Wege nach innen verdunkelt, jaweitgehend verlegt. Der innere Weg einer Schu-lung des Bewusstseins ist deshalb, sich von derSinnlichkeit frei zu machen, um an die höherenBereiche zu rühren. Eine ebensolche Aufgabe aberist es, in der Annahme der Sinneswelt die dadurchdrohende geistige Verdunkelungsgefahr erst rechtzu bestehen. Es gilt, den geistigen Tod nicht zusterben, sondern ihn zu meistern. Ein solches Ver-mögen ist wohl kaum einfach gegeben. So klingtin dem häufigen Pantheismus-Vorwurf beides mit:das begründete Wissen um die Gefahr der Sinn-lichkeit und ebenso die Angst vor eben dieser Ge-fahr. Die hilflose Gefahrenflucht überwiegt ge-genüber ihrer Bemeisterung. Die Erdenflüchtig-keit ist leichter als die Spiritualisierung der Erde.

Welchen Umfang lebt hier Goethe? „Ich für michkann, bei den mannigfaltigen Richtungen meinesWesens, nicht an einer Denkweise genug haben;als Dichter und Künstler bin ich Polytheist, Pan-theist hingegen als Naturforscher, und eins soentschieden wie das andere. Bedarf ich eines Got-tes für meine Persönlichkeit, als sittlicher Mensch,so ist dafür auch schon gesorgt.“

Und noch einmal unter den Maximen und Refle-xionen:„Wir sind naturforschend Pantheisten, dichtendPolytheisten, sittlich Monotheisten.“

Jede Enge wird hier aufgeweitet, weil alles an sei-nen Weltenort kommt. Aber noch mehr: Es lebenalle diese Weltenorte aufgehoben im Christentumselber. Es lebt der Monotheismus im Hohepries-terlichen Gebet des Gründonnerstags, wenn esheißt: „Ich und der Vater sind eins.“ Der Poly-theismus ist da in der Anschauung der Engel-Hier-archien und noch zentraler in dem Ernstnehmender trinitarischen Würde der Gottheit. Und das eu-charistische Mysterium des Abendmahls ist in derTranssubstantiation der Vollzug der Wesenseini-gung der Gotteskraft mit der irdischen Stofflich-keit. Ist nicht die Leibwerdung Christi selbst derBeginn der Transsubstantiation hin zum Aufer-stehungsleib? Nicht die Flucht vor der Leibwer-dung, hinweg in die bloße Transzendenz wie etwaim Buddhismus, sondern die Annahme der Erdeals eine zu vergeistigende, gehört zum innerstenNerv des Christentums. Dann ist die HimmelfahrtChristi im Auferstehungsleibe auch nicht das Auf-gehen in eine die Erde und Menschheit hinter sichlassende Transzendenz, sondern ihre gesamthaf-te Annahme: „Ich bin bei euch alle Tage bis ansEnde der Welt“. Das ist nicht Pantheismus im Sin-ne der geisttötenden Gefährlichkeit des bloß ma-teriellen Diesseits, sondern es ist das Mysteriumeines Pantheismus im Sinne der Durchchristungdes Diesseits.

Die Diskrepanz unserer tiefen Ambivalenz zur Erdewie zu uns selbst hat menschheitliches Ausmaß.Dass die Sinneserfahrung zur geistigen Gefähr-dung der menschlichen Existenz überhaupt wer-den konnte, geht auf einen schweren Bruch in derfrühen Entwicklung der Menschheit zurück. Er ge-schah durch die verfrühte Verselbstung des Men-schen, verführt durch jene Macht, die, weil siesich selbst vom göttlichen Weltengrund losgesagthatte, auch dem Menschen das eigengespiegelteIchbewusstsein brachte: der „Bringer des Lichtes“des Selbstbewusstseins: Luzi-fer.

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„Unser ganzes Kunststück besteht darin, dasswir unsere Existenz aufgeben, um zu existie-ren.“„Wie glücklich mich meine Art, die Welt anzu-sehen, macht, ist unsäglich, und was ich täg-lich lerne! … Es spricht eben alles zu mir undzeigt sich mir an.“„Summa summarum, es ist die Prätention allerPrätentionen, keine zu haben.“7

Nur das kann die Maßnahme sein, der Weltbege-gnung gewollt keine vorgefassten Annahmen ent-gegenzuhalten. Die sittliche Qualität der eigenenaktiven Zurücknahme, um dem anderen moralischgerecht zu werden, sie wurde schon immer demMitmenschen gegenüber genannt, gefordert undgeübt. Können wir Ähnliches nun aber auch deraußermenschlichen Sinneswelt gegenüber auf-bringen? Das wohl gewöhnlich nicht, bestenfallsgelegentlich. Dies aber erübte sich Goethe, bis esihm von der Mitte seines Lebens an, insbeson-dere seit seiner Reise in das ihm erst so fremdeund dann vertraute, für die Sinne gesteigerte Ita-lien immer mehr gelang. Sprechen wir es einfachaus: Es ist eine christliche Nächstenliebe, die sichin den andern, in alles andere wie in sich selbstversetzen kann.

Goethe war sich hierbei in intimer Erfahrung, erwürde sagen „zarter Empirie“, bewusst, dass dasmenschliche Ich dazu wie aus sich heraustritt unddurch eine Art von Selbst-Spaltung mit dem einswerden kann, von dem es sich sonst nur getrenntund fremd erfahren hätte.„Teilen kann ich nicht das Leben, nicht das In-nen, noch das Außen. Allen muss das Ganze ge-ben, um mit euch und mir zu hausen. Immerhab ich nur geschrieben, wie ichs fühle, wieichs meine, und so spalt ich mich, ihr Lieben,und bin immerfort der Eine.“

In der Natur begegnet er diesem Rätsel offenenAuges, als er die halbgespaltenen, dichotom ge-lappten Blätter eines damals frisch von China ein-geführten Baumes, des Ginkgo biloba, zu Gesichtbekommt:„Ist es Ein lebendig Wesen,Das sich in sich selbst getrennt? Sind es zwei, die sich erlesen, Dass man sie als Eines nennt? Solche Frage zu erwidern,Fand ich wohl den rechten Sinn:Fühlst du nicht an meinen Liedern, Dass ich Eins und doppelt bin?“

In Poesie verschleiert, vergeheimnisst, versteckt,lässt er doch in Andeutungen merken, dass er ei-nes der tiefsten Geheimnisse des menschlichenIches entdeckt hat. Wenn es seine Selbstbezo-genheit aufbricht, erfahrt es in der Selbstlosig-keit paradoxerweise das Geheimnis der Stärkungdes Selbstes. Das Ich gewinnt dadurch, dass esseine erste Vordergründigkeit entdeckt, hintersich lässt und dann Weltinteresse wird. Gerade da-durch fühlt es sich wider Erwarten „bereichert“.Der Weltverlust hingegen führt zum Ichverlust,wie die Tiefen des Ich erst die Welt verstehbarmachen.

Deutlich wird daran das Umgekehrte: Indem derverkrampfte Selbstbezug das Verhalten zur Naturbeherrscht, geht die Natur uns ebenso verloren,wie wir uns vorher schon selbst verloren gegan-gen sind.

Um so erstaunlicher sind die Schwierigkeiten, diebeide Kirchen mit der Rezeption des GoetheschenKulturansatzes hatten und haben. Als Goethe ein-mal gefragt wurde, ob er denn katholisch sei, er-fuhr er, dass ein Geistlicher die versammelte Run-de vor ihm gewarnt habe: „Ich wisse mich sofromm zu stellen, dass man mich für religiös, jakatholisch halten könne. Geben Sie mir zu, ver-ehrte Freundin, rief ich aus, ich stelle mich nichtfromm, ich bin es am rechten Orte; mir fällt nichtschwer, mit einem klaren unschuldigen Blick, alleZustände zu beachten und sie wieder auch eben-

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In Goethe erscheint uns die für das Überleben allesLebens auf der Erde notwendig gewordene Fähig-keit: die Geisterfahrung im Irdischen selbst gewin -nen. In ihm begegnen wir einem Menschen mitschon geheilten Sinnen. Dass das auch Christen-tum ist, war sich Goethe in seinem Innersten sicher. So entschlüpfte ihm achtzigjährig das Wort:„Wer ist denn noch heutzutage ein Christ, wieChristus ihn haben wollte? Ich allein vielleicht,ob ihr mich gleich für einen Heiden haltet“. 10

So deutlich Rudolf Steiner auch Heidnisches inder Vielseitigkeit Goethes feststellte, so war eraber auch wohl der erste, der diese christliche Di-mension der Goetheschen Weltbegegnung ent-deckte:„Und die Philister und die Zeloten mögen Goe-the, mögen Goethes Christentum noch so sehrbekämpfen, er durfte doch sagen, dass er einerder allerchristlichsten Menschen ist, weil er inden Tiefen seines Wesens christlich dachte,selbst bis in diese Formel hinein: Die Sinne trü-gen nicht, aber das Urteil trügt Die Seele istschuld, dass das, was sie sieht, nicht in derWahrheit, sondern als Maja erscheint.“11

Die Anthroposophie verfolgt in der Evolution derMenschwerdung die geistige Gefährdung der Sin-nesfähigkeiten. Dabei entdeckt sie, dass demMenschenvorfahren drohte, in seinen Wahrneh-mungen, bloß an die Außenreize gebunden, nurin heftigen Lustbegierden oder Ekelerregungenpolar hin und her gerissen zu werden. Wir habengenügend theromorphe Vormenschenfunde, umauch anthropologisch zu wissen, dass das sekun-däre Abrutschen in den völligen Tierzustand mehr-fach anstand.12 Die weitere echte Menschwerdunghing nun damit zusammen, dass die Sinnesemp-findungen „gemäßigt“ wurden, Mitte halten konn-ten, sodass in der Weltwahrnehmung der Menschsich in der Empfindung besonnen der Welt öffnenund sie dadurch ihn dann auch seelisch-geistigvon der Selbstbezogenheit, dem Autismus be-freien konnte. Rudolf Steiner spricht die Bedeu-tung dieses Wissens für den Menschen einmal soaus: „Und vor uns erblicken wir perspektivisch

eine Zeit, in der die Naturbetrachtung, der Na-turgenuss durchchristet sein wird, wo die Men-schen fühlen werden, sich sagen werden, wennsie hinausgehen und sich erlaben an dem herrli-chen Frühling, an den Schönheiten des Sommersoder an sonstigen Herrlichkeiten der Natur: In-dem wir das alles aufnehmen können, was Herr-liches die Natur um uns ausbreitet, müssen wiruns bewusst sein: Nicht wir, der Christus in un-seren Sinnen ist es, der uns geeignet macht, alsodie herrliche Natur zu empfinden.“13

Der Streit um die Evolutionslehre

Hinter allen gegenwärtig offenbar werdenden so-zialen und technischen Katastrophen steht einstatisches, unverrückbares, abgeschlossenes Weltbild. Erst die Wandlungsfähigkeit eröffnetwieder heilsames Leben. So gehört zu den be-deutsamsten Ideenbildungen der letzten Jahr-hunderte die Entwicklungslehre. Sie taucht zuerstim religionsgeschichtlichen Bereich – in der letz-ten Schrift Lessings – auf, findet durch Kielmey-er und Goethe, Lamarck und Darwin Eingang indas naturwissenschaftliche Denken und bestimmtseitdem das Natur- und Geschichtsverständnis desmodernen Menschen.14 Rudolf Steiner ist nun dererste, der das Werden, die Evolution nicht nur aufdie außermenschliche Natur und die menschlicheGeschichte, sondern auf die geistige Welt selbstbezieht. In seinem Sinne ist die naturhistorischeund humanhistorische Evolution symptomatolo-gisch Ausdruck der Werde-Vorgänge der geistigenWelten selber. Sie selbst sind das Werden kat’ -exochen, denn nur Geistiges ist im Gegensatz zurpassiven Materie Quell alles Schöpfertums. Im Evo-lutionsstreit vor genau hundert Jahren stellte sichSteiner eindeutig auf die Seite aller Evolutionis-ten, wenn er auch die materialistische Deutungderselben ablehnen musste. Ihm war aber eingeistvoller Materialist wie Haeckel lieber als diegeistlichen Vertreter einer statischen, dogmatischgesicherten Weltauffassung, weil nicht das ver-bale Vokabular von Gott und Geist, sondern dergeistreale Vollzug entscheidend ist.

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In der Bildersprache der mosaischen Überliefe-rung ist es die Verführung durch die Schlange,vom noch nicht zustehenden Baume der Erkennt-nis zu essen. Die ganze menschliche Organisationist von dieser Aussonderung aus der gesamthaf-ten paradiesischen Geborgenheit, vom Sündenfallund der Austreibung gezeichnet.

So auch seine verbleibende Sinnesorganisation.Dadurch erscheinen ja dem Menschen seine Wahr-nehmungen ihm selbst fremd, weil sich seitdemdas Ich von ihnen distanzieren kann. Er macht siezu isolierten Gegenständen, zu Objekten, weil erselbst verfrüht ein Subjekt geworden ist. Die Kluftzwischen „sinnloser“ Wahrnehmung und „selbst-überzeugter“ Begrifflichkeit ist die Wirkung desBösen im Paradies. Wäre sie nicht geschehen, sowürde, wie es die Anthroposophie schildert, demMenschen noch heute mit jedem Blick in die Weltzugleich auch schon ihr Geistgehalt, ihre Ver-stehbarkeit aufleuchten. In der Sinnlichkeit lebtedann monistisch zugleich in ihr ihre Sinnhaftig-keit. Die Spaltung zwischen Sinneswahrnehmungund Begriffssuche wäre dann nicht aufgetreten.

Die Anthroposophie legt wie alles christliche Den-ken ein Verständnis des Christentums nahe, dasdessen heilende Wirksamkeit in der Ausheilungder luziferischen Spaltung des Menschen sieht. Sowirkt die Heilkraft der Tat Christi auf Golgathaauch in der Heilung der menschlichen Sinne unddes menschlichen Denkens. Das Schließen derSpaltung zwischen Subjektivität und Objektivität,zwischen Selbstgenuss und Außenweltkälte istdann ihr Anzeichen. Der Mensch entdeckt an-fänglich in sich, was er mit der Welt gemeinsamhat, und er entdeckt in der Welt selbst eine see-lisch-geistige, moralisch-sittliche Realität, dieman sonst nur im unsichtbaren eigenen Innerenerstrebte. Das eine ist die Heilung des selbstbe-zogenen Denkens, das andere ist die Heilung derim Registrieren von Fakten und Zeichen erkalte-ten Sinnesbeobachtung.

Darin liegt ein Neuverständnis, ja, wie wir mei-nen, überhaupt erst ein Verständnis jener, in sei-nen selbstgewussten Wesenszügen so unbekanntgebliebenen Geistesart Goethes. Nun wird erstdeutlich, dass Goethe darin seine so gut ver-steckte Mission still für sich entdeckt hatte: inder Suche nach dem, worin der Mensch und dieihn umgebende Welt ungetrennt eins sind, ohnezu verkennen, wo sie es nicht sind. Es war einweitläufig mit ihm verwandter, junger Medizin-student, Christian Heinrich Schlosser, dem er imAlter ein solches Credo verriet:„Und da wir nun einmal immer im Aufklärensind jener Differenzen, die uns nicht entzweienmüssen, so will ich mein allgemeines Glau-bensbekenntnis hierher setzen.a. In der Natur ist alles was Subjekt ist. y. und etwas drüber.b. Im Subjekt ist alles was in der Natur ist. z. und etwas drüber.b kann a erkennen, aber y nur durch z geahntwerden. Hieraus entsteht das Gleichgewicht derWelt und unser Lebenskreis, in den wir gewie-sen sind. Das Wesen, das in höchster Klarheitalle viere zusammenfasste, haben alle Völkervon jeher Gott genannt.“9

Diese im gekennzeichneten Sinne christliche Welt-haltung wird teilt Goethe hier in einer für ihn äu-ßerst ungewöhnlichen Form mit. Er, dem sichleicht alles poetisierte, greift hier zu den von ihmsonst so gemiedenen abstrakten Kürzeln. SeineSensibilität allen Euphemismen gerade im religi-ösen Bereich gegenüber, lässt ihn sein Glaubens-bekenntnis in einer Sprache abfassen, die Höl-derlin wohl auch als „heilig-nüchtern“ gekenn-zeichnet hätte. Was Goethe darin inhaltlich darstellt, machte ihn aber einsam und allein gelassen, sowohl von der Seite der rationalisti-schen Aufklärer, als auch von Seiten der konfes-sionell Gebundenen. Beide sich sonst so be-kämpfenden Seiten waren sich eben doch zumeistdarin einig, dass der Mensch so viel wie möglichseine Erkenntnisgrenzen und damit seine prinzi-pielle Weltfremdheit betonen solle.

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zu untersuchen, was denn die Kluft zwischen dercartesianischen res extensa und der res cogitanstatsächlich überbrückt. Man landet bei einem Vi-talismus, der Zielhaftigkeit voraussetzt.

Vom erkenntnistheoretischen Aspekt aus allein istallerdings gar nicht auszumachen, warum der Kau-salnexus mehr Glaubwürdigkeit haben soll als derFinalnexus; ebenso gilt natürlich auch das Umge-kehrte. Im einen Falle werden die bestimmendenBedingungen in der Vergangenheit, im andereneben in der Zukunft gesucht. Die bloße Entschei-dung für das eine oder andere ohne weitere Be-gründung ist metaphysisch, und das sowohl imKausalismus wie Finalismus, wie auch Löw ganzrichtig sagt. Beiden Denkbewegungen – so dia-metral sie sich gegenüberstehen und sich oft ge-nug bekämpft haben – ist doch gemeinsam, dasssie den begegnungsfähigen Weltgehalt nicht aufihn selbst, sondern auf ein anderes zurückführen:auf in der Vergangenheit liegende Faktoren oderin die Zukunft gesetzte Zwecke. In beiden Fällenwird alles Phänomenale als zeitlich fremdbe-stimmt gesetzt. Damit wird aber auch deutlich,dass beidesmal der Sachverhalt nicht im Kern in-teressiert, sondern nur das, was ihn fremdbe-stimmt. Der Verlust an aktueller Weltbegegnungist jedesmal die Folge: einmal durch den Fatalis-mus – Gott hat alles in weiser Voraussicht schonzu Ende geplant –, das andere Mal durch den De-terminismus: hier plant niemand, alles ist eineSinnlosigkeitsmaschine.

Was beidesmal nicht bemerkt wird, ist, dass still-schweigend die Linearität in der Abfolge von Ver-gangenheit, Gegenwart und Zukunft vorausgesetztwird. Damit ist aber bei näherer Untersuchung nureine reduktionistische Abstraktion und nicht dieWirklichkeit gelebter und vollzogener Zeit erfasst.

Die zentrale Bedeutung des Zeitbegriffes fürein Verständnis des Lebendigen

Es gehört zu den geistig aktuellsten Themen, dassdie verbindliche Frage nach dem, was Zeit über-haupt ist, derzeit erneut virulent geworden ist.17

Eine Korrektur des Zeitbegriffes ist der biogra-phische Ausgangspunkt der Anthroposophie selbstim Leben Rudolf Steiners gewesen.18 Erst wennman hier ansetzt, heben sich die angeschnitte-nen Streitfragen auf ein Behandlungsniveau, dasdie Gegensätze plötzlich fruchtbar macht und siean der Stelle vorfindet, wo sie ihren Wahrheits-anteil haben und sich wirklichkeitsaufschließendergänzen können. Das eine ist die Entdeckung,dass in der Dreistufigkeit der linear aufgefasstenZeit noch einer dritten Bezüglichkeit ein Aufklä-rungswert zukommen kann. Wenn schon dem Ver-gangenheitsbezug und dem Zukunftsbezug ein Er-klärungswert zugesprochen wird, warum dannnicht auch der Gegenwart? Denken wir diesen An-satz erfahrungsnah durch, so ist der resignativeEinwand zwar rasch da, dass dann das Ganze aufeine Tautologie hinausläuft: die Gegenwärtigkeitwird mit ihrer Gegenwart erklärt. Die Resignationbesteht aber nur darin, dass die Fremdbestim-mung nicht aufgegeben werden will. Sie dort, woes sich als sinnvoll erweist, aufzugeben, bringtaber einen ganz neuen Erkenntnisgewinn, näm-lich den nicht mehr abbrechenden Realitätsbezug.

Welche der drei Zeitstufen hat die vollste Reali-tät? Die Vergangenheit wohl nicht, denn sie istnicht mehr vorzufinden, sondern bestenfalls alseine zweite abgeschattete Art von Wirklichkeitnur noch zu erinnern; die Zukunft noch weniger,denn sie ist das prinzipiell Unsichere, weil nochnicht voll Vorhandene. Die Gegenwart aber, wennsie nicht nur auf ein unendlich kleines Nichts spe-kulativ reduziert wird, verlässt uns nie. In ihr ver-schmelzen Sein und Wer den. Wenn sie, in jedemAugenblick ganzheitlich gleichzeitige Ordnungschaffend, sich selbst bedingt, haben wir es mitder Eigentümlichkeit des Lebendigen zu tun.19 Eswird gerade in der beschriebenen erhöhten Wahr-nehmung, die zugleich Bedeutungswahrnehmung

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Damals ist dieser Dissens zwischen den Fort-schritten der Naturwissenschaft und den Kirchennicht fruchtbar ausgekämpft worden. Die Folgeist, dass nun nach genau hundert Jahren der glei-che Streit in unveränderter Auflage wieder auf-tritt. Neuerlich wird der Buchstabenglaube an denmosaischen Schöpfungsbericht als rettender psy-chologischer Halt in der entwurzelnden Not dertotalen Säkularisierung kurzschlussartig akzep-tiert. Beck, Gilt und Scheven thematisieren in derschon genannten Buchreihe diese Polarisierungmit einem weitgehenden naturwissenschaftlichenWirklichkeitsverlust. So leicht ist aber an den na-turwissenschaftlichen Fakten nun doch nicht zurütteln. Mit der Aufdeckung einiger Interpreta-tionsschwächen ist die Entwicklungslehre nichtabzuschaffen. Doch scheint die Ablehnung derEvolutionsidee auf allen Gebieten das einzige Mit-tel kirchlicher Fundamentalisten zu sein, um einaltes, unveränderbares Weltbild retten zu können.

Die katholische Diskussion hat inzwischen eben-falls das Thema aufgegriffen, neuerdings aber sehrviel differenzierter. Zu nennen sind die Beiträgevon Reinhard Löw.15 Seine Kritik der Sinnlosig-keitstheorie zufälliger Mutationen und automa-tischer Selektionen bzw. Isolationen ist sachlichso scharf wie begrüßenswert. Noch bedeutsamerist, dass er nicht den Evolutionsgedanken ab-lehnt, sondern allein den mechanistischen Evo-lutionismus. Er macht darauf aufmerksam, dasssich schon bei Augustinus wie bei Thomas vonAquino die Ansätze zu einer Entwicklungsauffas-sung der Schöpfung finden und die großen christ-lichen Denker vor Beginn der Neuzeit sich nie ge-gen eine solche gestellt haben. Dabei handelt essich bei Löw, ebenso wie bei Spaemann und Kos-lowski nicht um Außenseiterpositionen.

Sieht man sich bei ihnen danach um, was an Stel-le der kausalanalytischen, faktoriellen Deutungder Evolution als Verstehensalternative angebo-ten wird, so ist es expressis verbis allerdings einereine Teleologie, die auf eine bewusstseinsmä-ßig vorgegebene Zweckhaftigkeit zielt und als Eigenschaft Gottes verstanden wird. Gott habe die

Welt in weiser Voraussicht fertig bis zu Ende ge-plant. Damit ist der Streit zwischen Kausalismusund Finalismus trotz mancher sprachlicher Ver-feinerungen inhaltlich nicht über den Stand vonvor hundert Jahren hinausgekommen; so als obseit damals kein Erkenntnisfortschritt stattge-funden hätte. Der kausalistische Anspruch ist al-lerdings glänzend widerlegt: Wenn der Menschkeine individuelle Leistung erbringen kann, son-dern nur das totale Ergebnis seiner „egoistischenGene“ ist, so ist diese Aussage von Dawson in-haltlich genommen ja selbst nur das Ergebnis ei-ner zwanghaften, deterministischen Überlebens-strategie eben seiner eigenen Genausstattung,also ohne Möglichkeit des Wahrheitsansprucheseben dieser Aussage. Und wenn Lorenz, Riedl undVollmer16 als „evolutionäre Erkenntnistheoreti-ker“ auch ihre eigenen Gedanken nicht im Dien-ste der Wirklichkeitsbeschreibung, sondern derÜberlebenstauglichkeit tatsächlich auffassen, soist nach dem Vorteil zu fragen, den eine solcheAussage ihnen in ihren ökologischen (akademi-schen) Nischen wohl bringt. Wissenschaftlichglaubwürdig ist sie damit per se logischerweisenicht mehr, sondern nur als opportunistischeAdaptation in ihre derzeitige Einnischung geltendzu machen. Womit die Argumentation zusam-menfällt. Das ist nicht schwer einzusehen für den,bei dem nicht vorwissenschaftlich fixierte Prä-gungen auf das vorliegende Gedankenmusterethologischerweise schon vorliegen.

Um nun den vorherigen Faden wiederaufzuneh-men: Bringt das teleologische Konzept mehr? Es-kaliert es durch seinen begleitenden Verständ-nisverzicht nicht doch nur in Bälde wieder das an-dere Lager? Ist denn damit geholfen, anstelle dereruierbaren Materie-Eigenschaften die uneruier-bare Gottheit zu setzen, die diesmal zur Ab-wechslung nicht zurück in die Vergangenheit zuden Ursachen, sondern vorausblickend zum vor-gesetzten Ziel, geradeso wie ein Mensch die Welt„geplant“ und „hergestellt“ haben soll? Indem an-stelle der anorganischen Natur zumindest seeli-sche Qualitäten in Anspruch genommen werden,wird ebenso wie bei der anderen Seite versäumt

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und Wandelns, von Entwicklung und Metamorp-hose, von Einzel- und Gesamtevolution geschieht,wenn nur einmal die Fragestellung nach dem er-wacht ist, was über causa und finis hinausreicht.Natürlich lassen sich letztlich alle biologischenErscheinungen, wenn sie als lebendige erfasstwerden, dafür einsetzen.

Ein zweiter Lösungsbereich der Evolutionsfrage,nun in einem erweiterten Ausmaße, liegt im tä-tigen Vollzug von Freiheit durch den Menschenselbst. Er ist kein vorgegeben freies Wesen, aberer kann sich immer wieder aufs neue Freiheitschaffen. Aber nicht nur im Denken hat er an derBefreiung von vorheriger blinder AbhängigkeitAnteil, sondern auch als biologisches Wesen. Stei-ner selbst forderte, dass nach seiner „Philosophieder Freiheit“ es zu einer „Physiologie der Freiheit“kommen möge.21 Manche Ansätze dazu findensich bei anthroposophischen, neuerdings auch beinichtanthroposophischen Naturwissenschaft-lern.22 Wenn dem so ist, so reicht ein teleologi-sches Evolutionskonzept genausowenig wie einkausalistisches aus. Denn wenn das Ziel derSchöpfung schon in irgendeiner Weise von ir-gendwoher vorgegeben ist, so kann es in ihr kei-ne Freiheit mehr geben. Die Erfahrung von Frei-heit setzt die kausalistische ebenso wie die tele-ologische und auch die rein biologische Evolu-tionsauffassung außer Kraft. Was dann vorliegt,ist die Erfahrung „gesteigerter Zeit“, in der dieStufung von Vergangenheits-, Gegenwarts- undZukunftsbezug in eins verschränkt erlebt wer-den.23 Rudolf Steiner schildert diesen Befrei-ungsvorgang aus dem Vollzug der Selbsterkennt-nis im Menschen. Die lineare Zeit ist in der Gleich-zeitigkeit aller drei Zeiten aufgehoben. Goethehatte intime Erfahrung davon. Da wenig gekannt,seien die folgenden Äußerungen zitiert:„…Man bedient sich als Symbol der Ewigkeit derSchlange, die sich in einen Reif abschließt. Ichbetrachte dies hingegen gern als Gleichnis einerglücklichen Zeitlichkeit.“24

Im Goetheschen „Märchen“ drückt sich diese Ein-sicht darin aus, dass in dem Moment, in dem derJüngling zu Boden sinkt, sich die grüne Schlan-ge um ihn herum legt und das Ende ihres Schwan-zes mit den Zähnen fasst. Dadurch verwest derJüngling nicht. Er ist der linearen Zeit entrissen.Hier ist poetisch versteckt, was die geistesge-genwärtige Erfahrung erfüllter Zeit kennzeichnet.Ähnliches findet sich bei Rilke25, Jean Gebser26,Georg Picht, Klaus Müller27: Die Feinstruktur je-des Zeitmomentes enthält bei näherer Beachtungimmer schon Vergangenheit und Zukunft in sich.Der Astrophysiker Erich Jantsch ist im Anschlussan Ilya Prigogine bereit, diese „Zeitbindung“nicht nur der menschlichen Bewusstseinssphäre,sondern ebenso der außermenschlichen Welt zu-zusprechen. Der Autor hat bei der Be hand lungeinzelner Evolutionsfragen der Paläobiologie diegleiche Zeitbindung belegen können.28 Von einersolchen Korrektur des Zeitbegriffes hängt einwirklichkeitsnäheres Verständnis der Evolution ab,als es die Gradualisten mit der ausschließlich li-nearen Zeit auffassen und die Kreationisten miteiner zeitlosen Ewigkeitsidee geboten haben undbieten können.

Trinitarisches Weltverständnis in der Naturwissenschaft

Die Waldorfschule in ihrem wissenschaftlichen Un-terricht versteht sich als das schon vorhandeneKeimbeet dringend benötigter Denkweisen gera-de auf dem Gebiet der Lebenswissenschaften.Ohne die gekennzeichneten Klarstellungen undweltoffeneren methodischen Ansätze werden dieBewusstseinsanforderungen in einer von Ökokri-sen geschüttelten Umwelt im nächsten Jahrhun-dert nicht mehr zu bewältigen sein. Ihre künfti-ge Fruchtbarkeit für die Verlebendigung der Wis-senschaftsmethoden selber beruht aber nicht aufeinem bloßen auf Anwendbarkeit ausgerichtetenPragmatismus, sondern auf einer zutiefst christ-lichen Weltbegegnung.

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wird, erfasst. – Die Anthroposophie bezeichnetdiesen damit charakterisierten Weltbereich als dasÄtherische. Wo es sich im Einzelorganismus au-tonomisiert, spricht sie von seinem Ätherleib oderZeitleib, denn er ist kein Raumgebilde, sondernsich ordnende Zeit selber. Alle holistischen Er-klärungsversuche in der Biologie haben darin ih-ren Wirklichkeitsboden.

Dadurch ordnet sich die Mehrbödigkeit und Viel-schichtigkeit der Natur und des Menschen er-kenntniswissenschaftlich, und zwar an den Gege-benheiten ablesbar so, dass der toten Welt, dieaus unbelebten, quantifizierbaren Stoffen undEnergien besteht, die Kausalität eignet. Sie sindimmer durch ihre vorherige Vergangenheit fort-rollend bestimmt. Seelische Erscheinungen sindaber, wie schon Franz Brentano beschrieb, immerintentional.20 Sie zielen auf etwas, was sie selbstnicht sind, sondern erst erwarten. Sie sind durchihren eigenen Zeitcharakter immer zukunftsbezo-gen und deshalb teleologisch sinnvoll gut zu in-terpretieren. Wie aber beide Weltbereiche mit-einander kommunizieren können, die Frage, diesich im philosophischen Dauerthema des „Leib-Seele-Problems“ ausdrückt, bleibt so lange dun-kel, wie nicht der Eigenbereich des Ätherischenerfasst wird. Es ist wie das Seelische übersinnlich(da nicht räumlich, sondern zeitlich) und es istwie das Stoffliche seiner selbst unbewusst (dasubjektlos). Das Physische lässt sich objektivie-ren, alles Seelische geht immer von Subjektenaus. Das Ätherisch-Lebendige aber ist weder ob-jektiv noch subjektiv, sondern eben die Überwin-dung dieser Kluft und damit die Brücke von Leib-lichem und Seelischem; wir bemerken es nur des-halb nicht, weil wir es äußerlich nicht sehen undinnerlich nicht fühlen, eben unbewusst besitzen,obwohl es doch unsere naturgegebene Lebensfä-higkeit ausmacht. Die Erforschung des Ätheri-schen ist deswegen die einzige einsehbare Lösungdes Evolutionsproblems in der organischen Welt.Physikalisch-chemischer Kausalismus und psy-chologisierender Finalismus haben nur als Vor-laufuntersuchungen Wert und reichen dafür sach -gegeben letztlich nicht hin. Deswegen ist der

neue-alte Streit zwischen Gradualismus und Kreationismus nur die historisch unveränderteStandpunktkennzeichnung ohne Aussicht aufFruchtbarkeit.

Das ist nun angesichts der hoch gefahrvollen Ent-wicklung der Biotechnik in Gen- und Fortpflan-zungsmanipulation von Pflanze, Tier und Menschund besonders für deren gemeinsamen Modus vi-vendi in der ökologischen Frage nicht mehr einunverbindliches Gedankenspiel, sondern von le-bensbestimmender Dimension. Hier geht es auchnicht um die landläufige Technikflucht, sondernum eine technische Gesinnung, die sich nicht alsAusbeutung, sondern als Therapie versteht.

Der naturwissenschaftliche Unterricht in denWaldorfschulen

In den Naturwissenschaften der Waldorfschulenlebt dieser Erkenntnisumkreis. Für die 11. Klasseempfiehlt einmal Steiner: „Teleologie auf ein ver-nünftiges Maß bringen: Wechselursachen-Ver-hältnis, nicht rein kausale Verhältnisse.“ Darinsind alle drei Denkbewegungen angesprochen unddas Spezifische des Lebendigen als „Wechselur-sachen-Verhältnis“ umschrieben. Nicht dass aufdie anderen verzichtet würde, aber sie werden je-weils dort geübt, wo sie weltgegeben passen undhingehören. Die Reduktion der Lebenserschei-nungen auf die materielle Schicht und die Über-höhung derselben zur seelischen Innenwelt wi-dersprechen dem prüfenden Wahrheitsgefühl. Amunmittelbarsten tritt das Rein-Lebendige uns inder Pflanzenwelt entgegen. Aller Gestalt- undFunktionswandel in ihr ist deshalb eine Domänedes Waldorf-Biologieunterrichtes insbesondere deroberen Klassen. Und woran ließe er sich augen-fälliger demonstrieren als an den Blattmeta-morphosen von Blütenpflanzen? Der Goethesche„Versuch, die Metamorphose der Pflanzen zu er-klären“ wird deshalb nicht bloß wegen der ent-deckten „Homologie aller Sprossanhänge“ (= Blät-ter) behandelt, sondern weil hierin die unmittel-barste Einführung in die Zeitgestalt des Werdens

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Was wir als die dreifache Möglichkeit der Welt-bestimmung – von der Vergangenheit, der Zukunftund der Gegenwart her – für die Naturwissen-schaften dargestellt haben, ist ja – einmal daraufaufmerksam geworden – das trinitarische Weltver-ständnis selber. In der Bezeichnung Gottes als Va-ter lebt die Anerkennung der gewachsenen Schöp-fung; all dessen, was die gesamte Welt bisher ge-wesen und geworden ist. Das Sohnesprinzip Got-tes ist das fortwährend Neue, durch den Tod Ver-jüngte.

In ihm wird das immer im Werden Lebende derGottheit anerkannt: der in Ewigkeit geboreneSohn. Der Heilige Geist ist das Heilende, was dieerst kommende Zukunft im Jetzt schon heran-führt. Bis in die Namensgebung ist im Aufblickzur Dreieinigkeit das Dreifaltige als das Zeitge-heimnis der Ewigkeit und zugleich als Eins erkanntworden. Wenn sich daran wissenschaftliches Den-ken aus sich selbst heraus orientieren kann, wer-den Christentum und Naturwissenschaft nichtmehr im Dissens leben müssen. Eine Durchchris-tung, gerade auch der fundamentalen Aufgaben-stellungen moderner und künftiger Naturwissen-schaft, ist das Anliegen der mit Hilfe der Anthro-posophie methodisch erneuerten Wissenschaftenin der Schule und – wo es möglich ist – in derHochschule. Das jedoch um so mehr, je weniger

es bloß verbalisiert wird und je mehr es inhalt-lich getan wird. So liegt das Christentum nichtneben den Naturwissenschaften in einer ver-schanzten „Nachbarburg“, sondern im Selbstver-ständnis der Naturwissenschaften mittendarin.Damit wird eben auch ernst gemacht, dass das Er-eignis des Christentums den wesentlichsten Ein-schnitt in der ganzen Menschheitsgeschichte auchfür das denkende Verhältnis des Menschen zur Na-tur darstellt. Das Neue Testament ist nicht ein-fach das fortgeschriebene Alte Testament. „Hierist mehr denn Moses“ und „Siehe, hier ist allesneu“ gilt gerade auch für das dadurch erneuerteVerhältnis des Menschen zur Erde. Wenn es nochim mosaischen Schöpfungsbericht von ihr heißt:„Machet sie Euch untertan und herrschet…“, soist dieses eine vorchristliche Haltung. Wieviel wirddamit in der ökologischen Diskussion heute nochals moralisch rechtens erklärt! Im Neuen Testa-ment aber lebt eine ganz andere „Stimmung“. Hierfindet sich das Pauluswort: „Denn das ängstlicheHarren der Kreatur wartet auf das Offenbarwerdender Söhne Gottes.“29 Die Spiritualisierung allerNatur, ja der Erde als ganzes, ist die christlicheAufgabe, nicht die Flucht von ihr. Die Spirituali-sierung der Naturwissenschaft, und in diesem Sin-ne versteht sich die anthroposophische Geistes-wissenschaft, ist dafür eine einzulösende Voraus-setzung.

WOLFGANG SCHAD

1 Reihe „Wort und Wissen“, Hänssler-Verlag Nenhausen-Stuttgart; mit Publikationen von H. W. Beck, E. Blechschmidt, W. Gilt, H. Hörnicke, J. Scheven u. a.

2 Werner Heisenberg: Goethes Naturbild und die technischeWelt. Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft, N.F. 29, S. 27 ff.Weimar 1967.

3 Erich Fromm: Anatomie der Destruktivität, Stuttgart 1974.Robert Jungk: Ein Gespräch mit Erich Fromm. Bild der Wissenschaft, Oktober 1974, S. 59 ff.

4 Robert Steiger: Goethes Leben von Tag zu Tag. Bd. I–VII.Artemis 1982 ff.

5 Brief an Schiller, 9.7.1796.6 Kampagne in Frankreich, Duisburg November 1792.7 W. Schad (Hrsg.): Würde der Dinge – Freiheit des

Menschen. Goethe Texte. Stuttgart 1983.8 Kampagne in Frankreich (Münster, November 1792).9 Brief vom 19.2.1815.10 Zu Kanzler von Müller, 7.5.1830.11 Rudolf Steiner: Die Bhagavad-Gita und die Paulusbriefe.

5. Vortrag vom 1.1.1913. GA 142, Dornach 1982.12 W. Schad: Gestaltmotive der fossilen Menschenformen.

Goetheanistische Naturwissenschaft, Bd. 4: Anthropologie.Stuttgart 1985.

13 Rudolf Steiner: Vorstufen zum Mysterium von Golgatha.Vortrag vom 1.6.1914. GA 152, Dornach 1980.

14 W. Schad: Die Vorgeburtlichkeit des Menschen, der Ent-wicklungsgedanke in der Embryologie. Stuttgart 1982.

15 Reinhard Low: Zur Interpretation evolutionärer Entwick-lungen bei Augustinus und Thomas von Aquin. In: Spae-mann, R. Löw, R. und P. Koslowski (Hrsg.): Evolutionismusund Christentum. Civitas-Resultate Bd. 9. Weinheim 1986.

16 Konrad Lorenz: Die Rückseite des Spiegels. Versuch einerNaturgeschichte menschlichen Erkennens. München 1973.– Rupert Riedl: Biologie und Erkenntnis. Berlin/Hamburg1980. – Gerhard Vollmer: Evolutionäre Erkenntnistheorie.Stuttgart 1987.

17 Erich Jantsch: Die Selbstorganisation des Universums,S. 316: Die Feinstruktur der Zeit. München 1982.– A. Peisl und A. Mohler (Hrsg.): Die Zeit. Schriften derC. Fr. v. Siemens-Stiftung, Bd. 6. München/Wien 1983.– W. Schad: Die Vorgeburtlichkeit des Menschen, der Entwicklungsgedanke in der Embryologie, a. a. O., letztesKapitel; sowie: „Wandlungen des Zeitbewusstseins…“ DieDrei, Jg. 56, H. 2, S. 86–107. Stuttgart 1986.

18 Hella Wiesberger: Rudolf Steiners Lebenswerk in Wirklich-keit ist sein Lebensgang. Die drei Jahre 1879–1882 als eigentliche Geburtszeit der anthroposophischen Geistes-wissenschaft. In: Beiträge zur Rudolf-Steiner-Gesamtaus-gabe Nr. 49/50. Dornach 1975.

19 W. Schad: Biologisches Denken. Goetheanistische Natur-wissenschaft, Bd. 1: Allgemeine Biologie. Stuttgart 1982.– Das Denken in der Naturwissenschaft als ein Weg zumÄtherischen. In: J. Bockemühl (Hrsg.): Erscheinungsfor-men des Ätherischen. Stuttgart 1985.

20 Franz Brentano: Von der Klassifikation der psychischenPhänomene. S. 122. Leipzig 1911. Sowie: Psychologie vomempirischen Standpunkte. Bd. 1, S. 115 ff. Leipzig 1874.

21 Rudolf Steiner: Entsprechungen zwischen Mikrokosmos undMakrokosmos. 10. Vortrag vom 1.5.1920. GA 201, Dornach1959.

22 Bernhard Hassenstein: Aspekte der „Freiheit“ im Verhaltenvon Tieren. Universitas, Jg. 24, H. 12, S. 1325 ff., 1969.– Herbert Hensel: Anpassung in der Physiologie des Men-schen – Erkenntnisse medizinischer Forschung. Universi-tas, Jg. 27, H. 11, S. 1163 ff., 1972. – Hans Jonas: Orga-nismus und Freiheit. Ansätze zu einer philosophischen Bi-ologie. Göttingen 1973. – Friedrich Kipp: Arterhaltung undIndividualisierung in der Tierreihe. Goetheanistische Na-turwissenschaft, Bd. 3: Zoologie. Stuttgart 1983. – ErichLange: Ein Beitrag zur Frage „Was ist Höherentwicklung?“Biologische Rundschau, Bd. 14, H. 4, S. 206 ff. Jena1976. – W. Schad: Säugetiere und Mensch. Kapitel: ZurUmweltgestalt. Stuttgart 1971. – ders.: Der Entwicklungs-gang zur organischen Eigenwärme. Goetheanistische Na-turwissenschaft, Bd. 1. Stuttgart 1982. – ders.: Erziehungist Kunst. Kapitel: Das Kind im Sog der Zivilisation. Fi-scher tb, Frankfurt 1986. – Francisco Varela: Die Biologieder Freiheit. Psychologie heute, S. 82, September 1982.

23 W. Schad: siehe Anm. 14.24 An F. W. von Trebra, 5.1.1814.25 9. Duineser Elegie.26 Jean Gebser: Der unsichtbare Ursprung. Freiburg i.Br.

1970.27 Siehe bei Jantsch, Anm. 17.28 W. Schad: Archaeopteryx lithographica – eine Mosaikform?

Goetheanistische Naturwissenschaft, Bd. 1. Stuttgart1982.

29 Römer 8,19.

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(aus: Christentum, Anthroposophie, Waldorfschule, mit Beiträgen von Hans-Werner Schroeder …,2. Auflage, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 1987)

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mer und überall – infrage stellt, und dazu gibtes gute Gründe, im selben Moment fällt die Ur-knalltheorie wie ein Kartenhaus zusammen.

Selbstverständlich reicht es nicht, die bestehen-den kosmologischen Theorien in Zweifel zu ziehen. Es müssen zugleich spirituelle Anschau-ungsformen gebildet werden. Im Sinne von Goethes Beschreibung der Natur als „offenbaremGeheimnis“ soll nun die Betrachtung zweier elementarer astronomischer Phänomene zeigen,wie Anschauungsformen über die Natur gewonnenwerden können, die eine religiöse Vertiefung desLebens nicht korrumpieren sondern unterstützen,ja impulsieren.

Ein elementarer zahlenmäßiger Vergleich des Pla-neten Merkur mit der Erde zeigt eine erstaunlicheTatsache. Mit 4 878 km Durchmesser nimmt dersonnennächste Planet im Vergleich zur Erde(12 756km) eine Größe von 38 % ein. Seine Dis-tanz zur Sonne ist mit 57 Mio km im Gegensatzzur Entfernung der Erde zur Sonne (149 Mio km)ebenfalls 38 %! Sowohl in Größe als auch in Dis-tanz zur Sonne stellt sich Merkur in das gleicheVerhältnis zur Erde nämlich von 38 %. Nun ist die-ses Maß kein beliebiges. Es ist das Verhältnis desGoldenen Schnittes, das hier erscheint. Jenes

Maßverhältnis, bei dem eine Strecke (hier: Erde-Sonne) so geteilt wird, dass ein kleineres Stück(Sonne-Merkur) sich zum größeren (Merkur-Erde),wie das größere zum Ganzen verhält. In wohl fastallen Formgestaltungen der Natur tritt diesesEbenmaß angenähert auf, beispielsweise bei der

menschlichen Körpertemperatur, nimmt man dieGrenzen des flüssigen Aggregats von 0° und 100°als Begrenzung. Man wird einwenden, dass wireine Temperatur von 37° und nicht von 38° be-sitzen. Das ist richtig und zugleich als allgemeinmenschlicher Zug aufschlussreich: Wer die eigeneBefindlichkeit bei leichtem Fieber von 38° be-obachtet und dabei von den sonstigen Behinde-rungen der das Fieber auslösenden Krankheit ab-sieht, wird bemerken, dass bei 38° eine wohligeHarmonie zur Außenwelt besteht. Man ist leiblichwohl-temperiert mit dem Preis, dass bei dieser er-höhten Temperatur das Denken beeinträchtigtwird. Es fehlt sprichwörtlich der kühle Kopf odergenauer: bei 37° wird bezüglich des Idealmaßesphysisch etwas an Wärme zurückgehalten, damitsie als seelisch-geistige Wärme, als Anteilnahme,Begeisterung und Möglichkeit, einem GedankenGewicht zu geben, hervorgebracht werden kann.

Doch nicht nur Merkur steht im gleichen Größen-wie Entfernungsverhältnis zur Erde. Neben demsonnennächsten Planeten gilt dies ebenfalls fürden sonnenfernsten der sichtbaren Planeten. Sa-turn ist mit einer Größe von 60 286km 9,5 mal sogroß und mit einer Distanz von 1.42 Milliarden km9,5 mal so weit weg von der Sonne wie die Erde.Wieder das gleiche Maß in Größe und Entfernung.

Wer sich an den Strahlensatz der Geometrie erin-nert, wird einsehen, dass vom Standpunkt derSonne aus, Merkur, Erde und Saturn deshalb gleichgroß erscheinen. Merkur und Saturn bilden ge-wissermaßen einen Rahmen für die Erde. Sie sindauf die Erde hin orientiert. Man mag dies als Zufall

WAS IST CHRISTLICHE ASTRONOMIE?

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Jetzt weiß ich, warum ich hier bin. Nicht umden Mond aus größerer Nähe zu sehen, sondernum zurückzuschauen auf unser Heim, die Erde.

Alfred Worden, Astronaut von Apollo 15.

Im Frühjahr dieses Jahres ereignete sich eineüberaus seltene und zugleich eindrückliche Kon-stellation der Planeten. Alle sichtbaren Wandlerstanden in Form einer Leiter am abendlichenFrühlingshimmel. Wohl niemand, der auf dieseplanetarische Versammlung aufmerksam wurde,konnte sich dem Zauber dieser Himmelerschei-nung der Osterzeit entziehen. Die Selbstbeob-achtung zeigte in diesem, wie auch in vergleich-bar anderen Fällen, dass es nicht viel braucht, umvon dem unbefangenen Staunen über die Großar-tigkeit eines solchen Naturschauspiels, über die-se sich mit Merkur vom Horizont bis zu Jupiter imZenit spannenden Lichtreihe zu skeptisch-ängst-lichen Gefühlen zu wechseln. Es sind die heuti-gen astronomischen und astrophysikalischen Vor-stellungen eines unendlich großen Weltalls, indem die Erde eine verschwindende Winzigkeit dar-stellt, die dann in der Seele aufsteigen und derUnbefangenheit ein Ende setzen. Die Empfindung,in einem Himmelsdom zu stehen, das Gefühl derstillen Feierlichkeit, sodass jedes Gespräch ver-haltener wird, wie es bei astronomischen Füh-rungen zu beobachten ist, wechselt angesichtsdieser Vorstellungsbilder von Galaxien und Gala-xienhaufen und von Licht, das Millionen Jahrebrauchte, um zur Erde zu gelangen, zu der Emp-findung des Verlorenseins.

In solchen Momenten tritt ins Bewusstsein, wasgewöhnlich, durch die täglichen irdischen und all-zu irdischen Belange überlagert wird: die Vor-stellung der Erde als ein Staubkorn im Weltall. DieBedeutung dieses Bildes darf dabei nicht unter-schätzt werden. Allem, dem wir durch innere An-strengung in der Seele Bedeutung verleihen wol-

len, wirft dieser Gedanke Bedeutungslosigkeitentgegen. Wo wir die Gültigkeit eines Absolutensuchen, vermischen die astrophysikalischen im-posanten Ideen mit dem, was wir finden, einenfeinen Relativismus.

Moderne Religiosität muss deshalb bei der Be-wusstmachung und Verwandlung dieser naturwis-senschaftlichen Vorstellungsbildungen, die in un-seren heutigen Seelen leben, ansetzen. Dies giltfür die Welt im Großen, deren Theorien Beliebig-keit vermitteln, wie auch für die Welt im klein-sten, deren klassischen Theorien genau entge-gengesetzt wirken und determinierte Unbedingt-heit vermitteln. Es gehört deshalb zu den groß-artigen Befreiungserlebnissen, wenn man denTheorien der Physiker des 20. Jahrhunderts folgtund dadurch verstehen lernt, dass Atome nicht alswinzig feste Dinge zu denken sind, die wie Bil-lardkugeln vorausberechenbar mechanischen Ge-setzen folgen, sondern vielmehr als unscharfeSchattenwürfe geistiger Kräfte.

Gleichermaßen mag die von dem englischen Bio-logen Rupert Sheldrake vor zehn Jahren geäußerteFeststellung über die Urknalltheorie erleichtern.Die gesamte Vorstellung, wonach die Welt durcheine gewaltige Explosion und anschließender ewigwährender Expansion entstanden ist, steht aufzwei tönernen Füßen. Nur solange zwei Annah-men gültig sind, ist diese Theorie plausibel. Dieeine Voraussetzung ist, dass unsere bekanntenNaturgesetze überall im Kosmos genauso geltenmüssen. So, wie in meiner Kaffeetasse sich derZucker auflöst, muss dies in fernsten Galaxienebenfalls möglich sein. Die zweite Bedingung ist,dass die Gesetze nicht nur überall, sondern auchimmer gültig waren und sein werden. Wie sich derZucker auflöst, muss bereits vor dem angenom-menen Urknall festgestanden haben. Sobald mandiese beiden Annahmen – Naturgesetze gelten im-

Entfernungs- und Größenverhältnisse von Saturn, Erde und Merkur

Was ist christliche Astronomie?Wolfgang Held

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Ein sehr spezifischer Anteil einer durch An-throposophie ergänzten Medizin ist die von

Rudolf Steiner 1924 inaugurierte „neue“ Pasto-ralmedizin. In ihr begegnen sich zwei Berufs-gruppen, die zentrale Aufgaben für die Entwick-lung des Menschen haben. Der Arzt wirkt dabeivor allem durch das Medikament, der Priesterdurch das Sakrament.

Für den Menschenbildeprozess sind besonders dieersten beiden (Lebens-)Jahrzehnte wesentlich,doch ist der Mensch sein Leben lang ein sich Ent-wickelnder, wobei Evolution und Devolution, Auf-bau und Abbau, Geburt und Tod das ganze Lebendurchziehen. So endet weder für den Arzt nochfür den Priester je die Aufgabe, den Menschen inseinem Werdeprozess Begleiter und Helfer zu sein.Ist die Seelsorge der ureigentliche Auftrag für denPriester, so müsste derjenige des Arztes mit demungewohnten Begriff der Leibsorge beschriebenwerden. Das setzt ein Menschenbild voraus, inwelchem Leib und Seele reale Anschauungsfel-der und nicht abstrakte Begriffe sind.

Der Leib wird durch die Anthroposophie als vier-gliedrig erkannt. Der stofflich-physische Bereichist als Morphologie (Wissenschaft der Gewebe) derheutigen Medizin bis in ultrastrukturelle Bereichbekannt. Er bildet Formen und liefert die unend-liche Fülle der Befunde. Ein ihm zu- und überge-ordneter Bereich ist lebendig-funktionell, hat sei-ne eigene Gesetzmäßigkeit und ist Träger unsererBefindlichkeit. Er ist nur mittelbar erfahrbar, daübersinnlicher Natur („Leben“). In ihm nehmenalle therapeutischen Maßnahmen ihren Ursprungund wirken von dort bis in die geistige Ebene derPersönlichkeit, in das Bewusstsein.

Diesen beiden leiblichen Seinsbereichen, die imengeren Sinne Leib sind, steht eine leiblich-see-lische (psychosomatische) Struktur gegenüber, dieTräger beispielsweise unseres Immunsystems oderaller endokrin-hormonalen Tätigkeiten ist, aus derauch alle Regulation stammt oder unsere (seeli-sche) Gestimmtheit. Steiner nannte dieses Lei-besglied mit einem alten Begriff „Astralleib“. Inihm ist – ihm wiederum übergeordnet – eine Ich-Organisation tätig, welche den Leib bis in die ein-zelne Zelle individualisiert und eigen macht.

Es ist heute eine wissenschaftliche nicht mehr be-streitbare Tatsache, dass jeder Mensch sein urei-genes Immunsystem hat, von dem es „keine Ko-pie gibt“. Wäre es anders, wie sollte es dann Fremdvon Selbst unterscheiden können? Auch hat dieTransplantationsmedizin erwiesen, dass jedes Ge-webe von der Persönlichkeit geprägt, eigen undoffensichtlich mit keinem Gewebe eines anderenMenschen identisch ist. Diese Ich-Organisationals „verlängerter Arm“ unserer Person („Ich“)wirkt über die Wärme, ist Ausgang aller Steuerungund bildet Präsenz oder Geistesgegenwart im Leib.

Mit diesem Leib befasst sich der Arzt, ihn in sei-ner hohen Differenziertheit, seinen Funktionen,Regulationen und Steuerungen, auch in seinenGegensätzlichkeiten erfassend. Im Idealfall sorgtder Arzt mit dem einzelnen Menschen für dessenspezifische Gesundheit (Salutogenese), oder erhilft, Ursachen und Entstehung von Krankheiten(Ätiologie und Pathogenese) zu entdecken undeine daraus begründbare, rationale und je indi-viduelle Therapie zu gestalten. Diese wird – demmenschlichen Leib entsprechend – immer mehr-dimensional sein.

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WOLFGANG HELD WAS IST CHRISTLICHE ASTRONOMIE?

Das Zusammenwirken von Arzt und Priester

Volker Fintelmann

abtun. Doch es lassen sich weitere Phänomeneaufzeigen, die dazu führen, dass die leicht vor-gebrachte Schutzbehauptung des Zufalls, die oftdeshalb ausgesprochen wird, damit uns die Na-turerkenntnisse und damit die Natur selbst nichtzu nahe kommen, immer leiser ausgesprochenwird. Zur räumlichen Betrachtung über Merkur undSaturn mag deshalb nun noch eine zeitliche hin-zutreten in Bezug auf Venus.

Im Rhythmus von 584 Tagen, das ist genau 1 3/5Jahr, begegnet dieser hellste Planet der Erde undsteht dann zwischen Sonne und Erde. Diesem Zeit-maß entspricht räumlich, dass die Begegnungenmit der Erde entsprechend 3/5 im Tierkreis vor-anschreiten. Da Venus sich in 243 Tagen rückwärtsum ihre eigene Achse rotiert, hat sie während die-ses Begegnungsrhythmus mit der Erde sich2,40 mal gedreht (584:243 = 2,40). Nun lässt sich2,40 auch als 2 2/5 schreiben. Venus hat von ei-ner Erdbegegnung bis zur nächsten 2 mal und 2/5mal sich rückwärts gedreht. Die nebenstehendeAbbildung mag helfen, die Konsequenz dieses Be-wegungsverhältnisses zu verstehen.

Da sie im Tierkreis bei der nächsten Erdnähe 3/5weiter steht, bewirkt eine Rotation um 2/5, dasssie der Erde wieder die gleiche Seite zuwendet.Berücksichtigt man, dass die Eigenrotation einesPlaneten keinem äußeren Gesetz folgt, wie diesfür den Umlauf der Planeten um die Sonne gilt,sondern gewissermaßen die Privatsache eines Pla-neten darstellt, wächst das Erstaunen über dieseeindeutige Hinwendung der Venus zur Erde. Wäh-rend die Wanderung um die Sonne dem gesamtenOrganismus des Planetensystems unterworfen ist,äußert sich in der Eigenrotation das Individuelleeines Planeten. Deshalb ist die Rotation auchnicht berechenbar, sondern nur durch Beobach-tung zu erfahren. Gerade die individuelle Bewe-gungsform opfert Venus, die sonst, wenn man anihre überschwengliche Leuchtkraft denkt, ihr ei-genes hervorhebt, zugunsten einer Orientierungzur Erde.

Eine Astronomie, die zeigen kann, dass nicht Zu-fall und Beliebigkeit das Planetensystem regiert,sondern in vielerlei Phänomenen eine Zuwendungzur Erde – vielleicht muss man mutiger sein: eineLiebe zur Erde sich äußert, wird Erkenntnisse ge-winnen, die uns wieder dazu führen, von der Weltals einer Schöpfung zu sprechen, den Ruf nachgeistig-physischer Teilnahme an der Schöpfung zuhören. Eine solche Astronomie wird Hand in Handarbeiten mit derjenigen Religion, welche die Lie-be zur Erde gleichermaßen in ihrem Kern besitztund die diese in eine Verwandlung der Erde zusteigern vermag.

Venus rotiert von einer Begegnung mit der Erde bis zur näch-sten 2 2/5 mal, sodass sie der Erde wieder die gleiche Seitezeigt.

Erste Begegnung

Zweite Begegnung nach 584 Tagen

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Ein wirklich gesunder Mensch hat einen gesundenLeib und eine gesunde Seele. Der geistige Kern,das Ich, ist urgesund und unser Quell, aus demalle Krankheit überwunden werden kann. Es ist je-doch eine solcherart alles umfassende Gesundheitnur ein Ideal. Schon durch die „Sonderung“ desMenschen auf seinem evolutionären Weg zur per-sönlichen Freiheit („Sündenfall“) ist eine Verän-derung in dem Gleichmaß von Leibes- und See-lengliedern geschehen, die die Menschen seithergrundsätzlich zu Krankheiten disponiert und dieauch das Sterben und den Tod bewirkt hat.

Die heutige wissenschaftliche Vorstellung gene-tischer Bedingungen für Gesundheit, Krankheit,Alter und Tod ist nicht grundsätzlich falsch, nurmuss der Standpunkt der zwingenden Notwen-digkeit genetischer Voraussetzungen aufgegebenwerden. Das menschliche Genom ist ein Feld vonMöglichkeiten (Dispositionen), welches unser Ichals Instrument nutzt, die eigene Lebensmelodiezu komponieren. In dieser Sichtweise wird auchverständlich, warum nur Anteile der gesamtenvorhandenen Gene in einem Leben in Anspruchgenommen werden.

Arzt und Priester leisten gemeinsam die Aufgabe,das individuell-gesunde Zusammenwirken vonleiblicher Disposition (Erbmäßigkeit) und see-lisch-geistiger, freier Gestaltung auf den Lebens-wegen wachsam zu begleiten und der Individua-lität zu helfen, den eigenen Lebensplan, der sichin der Biographie eines jeden Menschen Ausdruckverschafft, zu verwirklichen. Denn jeder Menschgeht als ein „beschriebenes Blatt“ in sein Leben,mit Zielen einer individuellen Entwicklung. In dieser wird auch ein schicksalsmäßiger Ausgleichangestrebt für Zeiten, die dem aktuellen Lebenvorausgegangen sind.

Wiederverkörperung durch lange Zeiträume ist einzentraler Gedanke der Anthroposophie, ohne denviele Ereignisse im Leben, mitgebrachte Fähig-keiten, Erschwernisse, auch Behinderungen undKrankheit, nicht sinnhaft verstehbar würden. Unddass sich die Geschehnisse ihre Ausgleiche undAntworten suchen, hat Rudolf Steiner als Schick-salsgesetz („Karma“), als das geistige Ursachen-gesetz beschrieben. Diesem zuzuarbeiten und esmit jedem einzelnen Menschen verstehen und esannehmen zu lernen, sind Aufgaben einer Pasto-ralmedizin, die zukünftig gerichtet wirken will,auch wenn sie die Wurzeln alles Geschehens imVergangenen weiß. Sie lebt Gegenwart aus derVerbindung von Vergangenem und Zukünftigem,sie ist Helfer der gewaltigen Aufgabe, den Gei-stesmenschen im Erdenmenschen zu verwirkli-

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DAS ZUSAMMENWIRKEN VON ARZT UND PRIESTER

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Das Medikament ist das ganz spezielle Instrumentdes Arztes, aber auch leibliche, seelische und gei-stige Diätetik, das Gespräch, die Vermittlung vonPflege-Behandlung und Therapie durch Kunst ge-hören zu den ärztlichen Aufgaben.

Die Seele verbindet sich mit dem Leib, jedoch inrhythmisch-bewegter Weise, sich in der Einat-mung mehr dem Leibe zuwendend, sich in derAusatmung wieder von ihm lösend. Die Atmungist viel umfassender als meistens gedacht, sie be-trifft alle Organe, jeden leiblichen Ort. Wir kön-nen auch von Ein- und Ausscheidungen sprechen;auch Zellatmung ist ein wissenschaftlich ge-brauchter Begriff. Die Seele gliedert sich in Emp-findungs-, Verstandes-, Gemüts- und Selbstbe-wusstseinsfelder, die wiederum von eigenen Ge-setzmäßigkeiten beherrscht werden und sich ge-genseitig abgrenzen. Die Anthroposophie sprichtvon Empfindungs-, Verstandes- und Gemüts- so-wie Bewusstseinsseele.

Nur die Empfindungsseele (Träger aller Emotion)verbindet sich direkt mit einer leiblichen Struk-tur (Empfindungs- oder Seelenleib), die anderenSeelenglieder tun dies in der Atmungsbewegungund sind inner- und außerleiblich. Wie ein Kerndurchgreift unser geistiges Wesen, unser Ich, dieSeele, den Leib nur mittelbar berührend.

Diese Seele ist nun Aufgabenbereich des Priesters.Er trägt Sorge, dass auch die Seele sich gesundentwickelt, dass sie in Situationen seelischenKrankseins oder auch Abirrungen des eigenenSeins wieder gesundet und in sich Ordnung undZiel findet. Seine wichtigsten Instrumente sindder Kultus und die Sakramente. Diese wirken ge-genläufig zum Medikament vom Bewusstsein indas Leben. Die Taufe ist u. a. ein Geschehen,durch welches Seele und Ich Stärkung finden, sichmit dem ihnen noch ungewohnten und aus demErbstrom der Eltern stammenden Leib in richtigerWeise zu verbinden, ihn anzunehmen und gestal-tend, individualisierend zu verwandeln. Der Erb-oder Modell-Leib wird so zum Individualleib.

In der Konfirmation wird dieses Miteinander „ge-festigt“, immer mehr übernimmt die Individuali-tät, das Ich, die Führung des Zusammenwirkensvon Leib, Seele und Geist und bildet die GanzheitMensch. Die Kommunion erfrischt und erneuertdieses gesunde Zusammenwirken immer wiederkontinuierlich durch das ganze Leben, sie ist einegeistige Arznei. Wesentlich ist der Zusammen hangder Sakramente mit dem Kultus, um auch das Be-wusstsein so wach zu bekommen, es so rein zuma chen, dass durch das Sakrament aus dem Be-wusstsein in die Lebenssphäre gewirkt werdenkann, aus welcher letztlich alle Gesundung oderHeilung stammt. Rudolf Steiner beschreibt diesenVorgang so: „Das Geistig-Wesenhafte geschiehtim Kultus auf sinnenfällige Art“.

VOLKER FINTELMANN

Literaturhinweise:Rudolf Steiner: Das Zusammenwirken von Ärzten und

Seelsorgern. Pastoral-Medizinischer Kurs. Rudolf SteinerVerlag GA 318 (1994, 4. Auflage).

Volker Fintelmann: Intuitive Medizin. Einführung in eine anthroposophisch ergänzte Medizin. Hippokrates VerlagStuttgart (2000, 4. Auflage).

Festschrift neu_Festschrift neu 07.12.13 17:19 Seite 72

Willens sind, ist es möglich, ein individuellesSelbstverständnis zu entwickeln das mehr ist alssubjektive Einbildung und persönliche Überhe-bung. Dieses Individualitätsverständnis sprichtjedem Menschen eine ihm eingeschriebene Ein-zigartigkeit zu, die er aber durch eigene Anstren-gung erst nach und nach zur realen Erscheinungbringen muss. Damit wird eine gesellschaftlicheEbene der Gemeinsamkeit geschaffen, die jenseitsaller trennenden Unterschiede liegt, wie sie denbisherigen volks- oder bekenntnishaften Gemein-schaften zugrunde lagen.

Die Anerkennung der werdenden Individualität desjeweils anderen ist der tiefere Grund unserer zu-nehmend erwachenden Anteilnahme am Schick-sal anderer Menschen, dem einzelnen gegenüber– wie in der Heilpädagogik – oder gegenüber derganzen Menschheit, wie es in der Globalisierungerforderlich ist. Die tätige Verantwortungsüber-nahme für andere Menschen, den Nächsten, be-deutet wirksames Christentum, dessen Ausstrah-lung auch durch Mängel, Missgriffe, Unverständ-nis usw. nicht gänzlich verdunkelt werden kann.Welche Antwort aber jeweils benötigt wird, wasalso sozial geleistet werden muss, das ergibt sichallein aus dem konkreten Verständnis von Men-schen und ihrem Werdegang. Allerdings wird die-ses Begreifen erst lebensvoll, wenn man denselbstbewussten Menschen nicht nur als natürli-ches Ergebnis der Schöpfung ansieht und auchin ihm nicht nur auf den aus dem Himmel ver-bannten Sünder blickt, sondern sein Er den -schicksal zum Ausgangspunkt einer inneren gei-stigen Entwicklung macht: Naturwissenschaftmuss sich durch Geisteswissenschaft erweitern.

Die bisher nur dem Glauben zugängigen Inhalteder Religion müssen auch dem denkenden Be-wusstsein erfahrbar gemacht werden. In diesemSinne muss das Christentum nicht aus den sozia-len Einrichtungen herausgelöst werden, sondernmuss im Gegenteil tiefer hineindringen. Geschiehtdas nicht, so werden eben immer weniger Men-schen im Christentum die Quelle der Antwortenauf ihre Lebensfragen sehen.

Jeder erwachsene Mensch kann und muss gegen-wärtig seine Art, die Welt anzuschauen und zuverstehen, Religion zu haben und auszuübenebenso individuell bestimmen, wie er es auch mitseinen individuellen und sozialen Handlungen tut.Dies führt zur geistigen Ausdifferenzierung. Einedemokratische Mehrheit kann und darf diese ent-stehenden geistigen Differenzen per Beschlussnicht beseitigen. Die einzig mögliche Konsequenzder Gesellschaft wäre deshalb gerade nicht dieAusschließung des Christentums aus den Leitbil-dern sozialer Einrichtungen, sondern gerade um-gekehrt die bewusste Freigabe solcher Einrich-tungen von staatlichen Bestimmungen. Nicht be-stehende soziale Gemeinschaften suchen nachnicht mehr vorhandenen Gemeinsamkeiten, son-dern im Gegenteil, Gemeinschaften bilden sichanhand von Aufgaben durch diejenigen Menschen,die sie für berechtigt halten. Wo Menschen initi-ativ zusammenkommen wollen, erübrigt sich dieabstrakte Frage, welche Werte man der gemein-samen Arbeit zugrunde legen will; diese wirkenvielmehr bereits konstitutiv bei der Gemein-schaftsbildung mit. Das Anerkennen dieses neu-en Gemeinschaftsbildeprinzips in unserer Öffent-lichkeit wäre ein Schritt modernen gelebten Chris-tentums jenseits der Konfessionen.

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MENSCHHEITLICHES CHRISTENTUM

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Die Globalisierung wirft viele grundsätzlicheFragen auf. Die fast alltägliche Begegnung mit

der Fülle der vorhandenen Kulturströmungen inallen Stadien der Entwicklung erfordert einerseitsein verstärktes Selbstbewusstsein, um in dieserVielfalt nicht orientierungslos unterzugehen. Undandererseits muss der eigene Standpunkt ständigverlassen werden, wenn Verständigung und nichtMacht das weltweite Zusammenleben regeln soll.Konnte man sich bisher zumindest im Heimatlandmit ähnlich empfindenden und denkenden Men-schen umgeben, so hat die umfangreiche Migra-tion mit ihrer innerstaatlichen kulturellen Durch-mischung auch diese Rückzugsposition erschüt-tert.

Die folgende Haltung ist nicht untypisch. 1997erschien in der Schweiz in der SchweizerischenZeitschrift für Heilpädagogik ein Leitartikel unterder Überschrift „Christliche Heilpädagogik“. Nach-dem dem Christentum seine fragwürdige morali-sche Vergangenheit vorgehalten und auf den ge-sellschaftlichen Werteschwund und zunehmendenWertepluralismus hingewiesen wird, macht der Ar-tikel auf die Menge der aus anderen Kulturkreisenstammenden Klienten aufmerksam, denen „nichtnur Gewissens- und Glaubensfreiheit sowie Schutzvor Diskriminierung zustehe, sondern auch dasRecht auf Bewahrung und Pflege ihrer Sprache,Kultur und Religion.“ Daraus zieht der Verfasserdas Resumée: „In unserer heterogenen, pluralis-tischen Gesellschaft stellt sich zunehmend dieFrage, ob in Verfassungen und Schulgesetzen,aber auch in Leitbildern öffentlicher Einrichtun-gen der Heilpädagogik eine bestimmte weltan-schaulich-religiöse Ausrichtung festgeschriebenwerden darf. Die störanfällige Kulturleistung heil-pädagogischer Arbeit sollte immer wieder neueine Gemeinschaftsaufgabe aller Individuen undder ganzen Gesellschaft sein und bleiben.“

Dieser flammende Appell an die bedingungsloseund voraussetzungslose Mitmenschlichkeit jen-seits der „Überbleibsel eines chauvinistischen,abendländisch-eurozentrischen Weltbildes, wo-nach die übrigen Erdteile und Bekenntnisse alsweniger human, sozial und bildungsinteressierteingestuft werden“, zeigt das Dilemma der sozi-alen Gegenwart: Einerseits ist es ja gerade diechristlich-abendländische Entwicklung, die unszur weltweiten Begegnung der Kulturen geführtund dem auf die Anerkennung der individuellenMenschenrechte gestützten Pluralismus die ge-sellschaftliche Grundlage verschafft hat. Insofernist der Artikel selbst Ausdruck christlicher Werte.Andererseits aber soll das bekennende Christen-tum aus Gründen der Toleranz und menschlichenGleichberechtigung aus den sozialen Wirkens-stätten ausgeklammert werden, da es darinnenunsozial zu wirken scheint. Gesellschaftliche Ver-einbarung (Das Was bestimmt die Gesellschaft –Kernsatz des New Public Management) muss dannersetzen, was bisher religiöse Ethik leistete. Undso wird folgerichtig versucht, an die Stelle der je-weils nur für einzelne Religionen geltenden spe-ziellen Gebote eine allgemeine Weltethik zu set-zen, deren Grundsätze als gemeinsame ethischeSubstanz aus den Weltreligionen herausdestilliertund damit ihrer religiösen Einbettung entkleidetwerden.

Zweifellos weisen solche Auseinandersetzungendarauf hin, dass sich etwas verwandeln, erneuernmuss, soll nicht traditionelles Kirchenchristentumin Konflikt geraten mit der gegenwärtigen sozia-len Aufgabenstellung. Als zentrales Problem er-weist sich dabei die Frage nach der menschlichenund damit auch der kosmischen Entwicklung, diedem Nebeneinander der Kulturen auch ein Nach-einander und Füreinander zumisst. Erst durch diefür die ganze Menschheit vollbrachte Tat Christiund ihre Wirksamkeit für alle, die eines guten

Menschheitliches ChristentumUdo Herrmannstorfer

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Hat man den Tafelreigen hinter sich gelassen,dann ist nichts mehr so, wie es einmal war. ObKunst oder Nicht-Kunst, das steht gar nicht zurDebatte. Die Tafeln haben etwas bewegt, das istes und nur das.

Für die Sinnhaftigkeit von Kontrasten und ihremEntwicklungspotential an Goethes Metamorpho-sebegriff erwacht, geschult an Fichtes (Wissen-schafts-)Lehre vom Ich und Nicht-lch und anNietzsches Versuch der Versöhnung des Lebensmit sich selbst, aber auch an Haeckels monisti-scher Artenlehre und darüber hinaus mit einernach allen Richtungen hin oszillierenden Intui-tionsgabe ausgestattet, greift Steiner um dieJahrhundertwende in die Artikulationsversuchedes noch unschuldigen 20. Jahrhunderts ein –ebenso engagiert auf den Spuren des Zeitgeistessich bewegend wie gegen ihn agierend. Seine Vor-träge wurden zum Kulturereignis: in Berlin, inMünchen, Helsinki und Prag. Kafka und Max Brodhaben ihn gehört, Kandinsky, Tucholsky und RosaLuxemburg, und dann noch all die vielen, von denChronisten unerwähnt Gebliebenen, aber nichts-destominder den Zeitverlauf Prägenden: Ärzte undPfarrer, Arbeiter und Studenten, Lehrer und Land-wirte.

Kunst, Wissenschaft und Religion

Ein immer wiederkehrendes Motiv in SteinersSchriften und Vorträgen ist das Verstehen desSinnzusammenhanges von Mensch und Kosmos,von Geist und Materie und schließlich das Ver-stehen der Einheit von Kunst, Wissenschaft undReligion, die im Zuge der Atomisierung der Le-bensverhältnisse wie auch des Wissens immermehr in Auflösung begriffen ist.

Den inneren Zusammenhang von Wissenschaft,Kunst und Religion, der im Grunde genommen fürjede Zeit neu entdeckt, neu formuliert werdenmuss, schilderte Rudolf Steiner wohl am ein-drucksvollsten im Rahmen seiner Vorträge überden Einweihungsvorgang in den Mysterien vonHybernia2, mit denen sich übrigens auch JosephBeuys, dessen Bibliothek an die 100 Steiner-Titelaufweist, intensiv befasst hat. So taucht bei ihmverschiedentlich das Begriffspaar plastisch-elas-tisch3 auf, über das Steiner in jenen Vorträgenausführlich spricht. Nach Steiners Schilderungsollten die in die Mysteriengeheimnisse Einzu-weihenden, indem sie zwei Bildsäulen gegenü-bergestellt wurden und diese zu berühren hatten– die eine war elastisch, die andere plastisch –,die großen Weltgeheimnisse entziffern. Hat derSchüler so die ersten Schritte auf dem Weg zurInitiation getan und in sich nach und nach Emp-findungen entwickelt, dass er sich wie von inne-rem Feuer verzehrt, wie innerlich vernichtet fühlt,dann, so Steiners Darstellung, erlebt er, wie dieBildsäulen zu tönen beginnen. Und die eine Bild-säule tönt: „Ich bin die Erkenntnis. Aber was ichbin, ist kein Sein.“ Und die andere: „Ich bin diePhantasie. Aber was ich bin, hat keine Wahrheit.“Und nachdem ein Priester die Einzuweihendenaufgefordert hat, auf ein Bildnis Christi zu blickenund die Worte gesprochen hatte: „Nimm das Wortund die Kraft dieses Wesens in dein Herz auf“,fügte ein anderer Priester hinzu: „Und von ihmempfange, was dir die beiden Gestalten gebenwollten: Wissenschaft und Kunst.“ Hier zeigt sichdeutlich: es ist das Unvollkommene, es ist derMangel, der alles in Bewegung hält, der keinenStillstand zulässt. Erst das Erlebnis des Mangelsgibt den Blick frei nach oben und führt zur Frei-setzung dessen, was gefangen ist in sich selbst.

SIGNATUREN DES GEISTIGEN – DIE WANDTAFELZEICHNUNGEN VON RUDOLF STEINER

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Denk-Bilder

Ob die Umrisse eines Kristalls, einer Pflanze, ei-nes Bienenstocks oder übereinander gelagerte ver-schiedenfarbige Kreise und Flächen oder Begrif-fe wie Natrium und Blei, Ware und Arbeit, Saturnoder Imagination: auf Steiners Tafeln bekommtjeder Begriff, jedes Wort, jedes Zeichen seinenPlatz, mit äußerster Konzentration und erregen-der Stimmigkeit. Auf diese Weise entsteht Auf-merksamkeit, bilden sich Verhältnislinien zwi-schen Bild und Betrachter, die Berührungen undBetroffenheiten stattfinden lassen. Die Botschaftder wie aus der Unendlichkeit auftauchenden Li-nien, Spiralen und Kreise, der weite Räume öff-nenden oder verschließenden Farbflächen, aberauch der sich immer wieder zu neuen Sinngebun-gen vernetzenden Worte, ist unüberhörbar, triffttief in den Sehnerv ein, hakt sich fest im visuel-len Gedächtnis. Da war ein Archäologe der Ge-danken, ein Enzyklopädist des außergewöhnlichenWortes, auf jeden Fall ein Meister der Linie undein Meister der Farbe am Werk. Da gibt es keinenZufall, keine Notwendigkeit. Die Dinge sind ein-fach da, besetzen die Netzhaut, bewegen alles,was vorher schon erstarrt, verkrustet schien: „Einschwebender poetischer Kunstgenuss, der nichtselten an Cy Twombly denken lässt“1, wie GünterMetken in seinem Erstaunt- und Berührtsein an-lässlich der Tafel-Ausstellung im Frankfurter Por-tikus notierte.

Bisweilen wie in das Schwarz hineingestreut, malwie aus dem dunklen Untergrund herausgegraben,erscheint vor dem Betrachter dieser Denk-Bilderdas ganze Universum, ersteht das Woher und Wo-hin menschlichen Seins und Sinns in immer wech-selnden Konfigurationen. Ein weißer Knäuel mar-kiert da den Niedergang von Ephesus, ein Punktund ein Kreis zitieren das zu allen Zeiten span-nungsreiche Gefüge zwischen Gott und Mensch.Zahlenkolonnen entschlüsseln die Geheimnisseder menschlichen Entwicklung oder veranschauli-chen Verhältnisse, die sich die Menschheit überJahrtausende geschaffen hat, oder sie verweisenauf das, was zwischen Himmel und Erde, oben undunten an Berechenbarem und Unerklärlichem hin-und hermutiert.

Dass mehr als 1 000 Tafel-Bilder erhalten geblie-ben sind, ist der Initiative einer Zuhörerin vonSteiners Vorträgen, Emma Stolle, zu verdanken,auf deren Veranlassung hin man etwa ab 1916 damit begonnen hatte, die Tafeln mit schwarzemPapier zu bespannen. Vielfach standen dem Red-ner zwei oder gar drei auf diese Weise präparier-te Tafeln zur Verfügung. War die Rede beendet,wurden die mit weißer oder farbiger Kreide aus-geführten Zeichnungen auf dem Papier fixiert, datiert und aufbewahrt.

Auf den Steiner-Tafeln wird der Globus gleichsamneu justiert. Was bis dahin als „wissenschaftlich“gesichert oder im Alltagsleben als unverrückbargalt, erhält hier einen Bewegungsschub ohne-gleichen und beunruhigend Ungesichertes kommtzur Ruhe, wird gerade im Stillstand zum Aus-gangspunkt einer Reise in allerinnerste, unbe-kannte Tiefen.

Signaturen des GeistigenDie Wandtafelzeichnungen von Rudolf Steiner (s. S. 30–32)

Walter Kugler

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Der, welcher andern Göttern dient, der dient im höhern Sinn mir auch,wenn er es ganz von Herzen tut, weicht er auch ab vom richt’gen Brauch1

Hamburg wurde 1771/72 von einem erbittertenKirchenstreit zwischen den beiden lutherischenGeistlichen von St. Katharinen, Pastor Alberti undHauptpastor Goeze, erschüttert. Von jedem Pfar-rer war nämlich gefordert, im Bußtagsgebet Psalm79,6 zu sprechen: „Schütte Deinen Grimm auf die Heiden, dieDich nicht kennen, und auf die Königreiche, dieDeinen Namen nicht anrufen!“

Goeze hat dies mit harter Sicherheit bejaht, undAlberti predigte ganz entgegengesetzt über „die Einträchtigkeit mit denen, welche in der Re-ligion von uns verschieden denken“.

Claudius schreibt daraufhin in kalkulierter Harm-losigkeit „Spekulations am Neujahrstage“:„n’ fröhlichs Neujahr, n’ fröhliches Neujahr fürmein liebes Vaterland, das Land der alten Red-lichkeit und Treue! n’ fröhlichs Neujahr fürFreunde und Feinde, Christen und Türken, Hot-tentotten und Kannibalen! für alle Menschen,über die Gott seine Sonne aufgehen und reg-nen lässt! s’ist ein gar herrlicher Tag, der Neu-jahrstag… und s’ist mir an dem Tage, als wennwir alle Brüder wären und Einer unser Vater imHimmel ist…“ 2

Wie eine Antwort auf Claudius klingt aus der En-zyklika „Lumen gentium“: „Wer nämlich das Evangelium Christi und sei-ner Kirche ohne Schuld nicht kennt, Gott aberaus ehrlichem Herzen sucht, seinen im Anrufdes Gewissens erkannten Willen unter dem Ein-

fluss der Gnade zu erfüllen trachtet, kann dasewige Heil erlangen!“

Die Christengemeinschaft kann sich einem Friedenzwischen den Religionen mit umso größererLeichtigkeit verpflichtet fühlen, da sie ihre Iden-tität nicht auf Lehrbesonderheiten, sondern imorganischen Miteinander ihrer Sakramente findet.Die Sakramente werden in ihrer Wirksamkeit un-mittelbar erfahren. In ihnen kann der lebendigeChristus erlebt werden. Durch die Anthroposophiewurden die Sakramente vermittelt, aber dann tratdie Anthroposophie zurück. Sie ist nicht Bedin-gung für den Empfang der Sakramente. Allerdingsist die Christengemeinschaft – auch in ihrer The-ologie – ohne die Anthroposophie nicht zu den-ken. Anthroposophie ist aber keine Religion undfür alle Religionen offen. Artikel 4 der „Statutender Anthroposophischen Gesellschaft“ lautet:„Die Anthroposophische Gesellschaft ist keine Ge-heimgesellschaft, sondern eine durchaus öffent-liche. Ihr Mitglied kann jedermann ohne Unter-schied der Nation, des Standes, der Religion, derwissenschaftlichen oder künstlerischen Überzeu-gung werden, der in dem Bestand einer solchenInstitution, wie sie das Goetheanum in Dornachals Freie Hochschule für Geisteswissenschaft ist,etwas Berechtigtes sieht.“ 4

Wie das Christentum in der Gestalt, die es in derChristengemeinschaft gefunden hat, zu den ande-ren Weltreligionen steht, kann also nicht ohne dieAnthroposophie angeschaut werden.

Für die Antwort ist es hilfreich, Denkmodelle desVerhältnisses der Weltreligionen zueinander zu be-trachten und dann aus dem Blickwinkel des Pries-ters der Christengemeinschaft (und des Anthro-posophen) anzuwenden.

Zwischen Rationalität und Mythos

„Rationalität und Mystik sind die Pole unsererZeit“, notierte Robert Musil in sein Tagebuch underinnerte damit an die seit eh und je bekanntenEckdaten jener Wegstrecke, auf der jeder ein Wissender und Unwissender, jeder ein Fremder un-ter Vertrauten ist. Zugleich manifestiert sich indiesen Worten jenes spannungsreiche Gefüge zwischen Selbstverständnis und Unbehagen, zwischen Nützlichkeits-Parametern und kryptisch-kreativer Eigenschaftslosigkeit, das sich in derWissenschaft und im Alltag, aber auch in derKunst als Motor und Katalysator zugleich artiku-liert und offenbart hat. Wie wohl keiner nebenund nach ihm, hat Rudolf Steiner diese Pole derZeit in sich vereinigt, vor allem aber ausgehaltenund in Wort und Schrift, Bild und Architektur sei-ner Zeit entgegengehalten. Deshalb war er vielenschon damals unbequem und ist es heute noch.

Bei Steiner gibt es eigentlich nie einen Stillstand.Die von ihm immer wieder neu und ganz gezieltkomponierten Kontrastierungen in Wort und Bilderzeugen Bewegung, provozieren neues Leben„Verständnis für das Leben heißt“, so Steiner,„voll mit der Seele in Gegensätzen drinnen ste-hen“, denn: „Wo die Gegensätze als ausgeglichenerlebt werden, da herrscht das Leblose, das Tote;das Leben selbst ist die fortdauernde Überwin-dung, aber zugleich Neuschöpfung von Gegen-sätzen.“4

Seit der ersten Ausstellung außerhalb der Ar-chivmauern in der Kölner Galerie Monika Sprüthim Sommer 1992 sind Steiners Tafel-Zeichnungenin vielen bedeutenden Museen zu sehen gewesen,darunter im Lenbachhaus München, im PortikusFrankfurt, in der Albertina Wien, in der Narodni-Galerie Prag, im Watari Museum of ContemporaryArt Tokyo, im University Art Museum in Berke-ley, im Kunsthaus Zürich und im Museo Nacionalde Bellas Artes in Buenos Aires. Es ist wohl diegeistige Präsenz der Tafelzeichnungen und die Un-mittelbarkeit ihrer Bildwirkung, die diese späteEntdeckung Steiners für und durch die heutigeKunstwelt möglich machten und die nicht seltenauch Irritationen auslösten, die der KunstkritikerGünter Metken vielleicht am treffendsten deute-te mit der Bemerkung: „Das Auftauchen diesersiebzig Jahre alten, doch ganz frischen und insich stimmigen Denkbilder gehört vermutlich zuden Anstößen, deren unser orientierungslos ge-wordenes Fin de siècle bedarf.“ 5

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WALTER KUGLER SIGNATUREN DES GEISTIGEN – DIE WANDTAFELZEICHNUNGEN VON RUDOLF STEINER

Friede unter den Religionen – Brücke zwischen den Menschen

Frank Hörtreiter

1 Günter Metken, „Kräfte im Weltall, kosmische Phantasie“,in „Süddeutsche Zeitung“ 10. November 1992

2 ders., Vortrag vom 7.12.1923, in: Mysteriengestaltungen,GA 232, Dornach 1987, S. 103 ff

3 vgl. Dieter Koepplin, Zeichnerische Bildekräfte zu begriff-lich fundierter Plastik, in: Joseph Beuys, 4 Bücher aus:Projekt Westmensch, Ausstellungskatalog (Basel, Berlin, Darmstadt), Köln-New York 1992, S. 68 ff.

4 Rudolf Steiner, „Mein Lebensgang“, Kap. XXII, GA 285 Günter Metken, siehe Anm.

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3) Grundmodell des Synkretismus

Dies ist nicht bloß ein Schimpfwort! Hier könntesich vieles ein Heimatrecht erwerben, so wie beiuns schon der Weihnachtsbaum; so entsteht „In-kulturation“. Als ständige Gefahr droht aber die Ver-fälschung des Eigenen. Aus der Angst vor dieser Ge-fahr entsteht jedoch Enge.

Hier wird es praktisch! Im Taschenbuch „Anthro-posophie und Waldorfpädagogik in den Kulturender Welt“9 gibt es eine Fülle von Beispielen, wiedie Anthroposophie selber eine „Inkulturation“erlebt. Eigenartig: die vielen Menschen aus au-ßereuropäischen Kulturen und Religionen spre-chen oft von der Bereicherung und Vertiefung ih-rer eigenen religiösen Herkunft durch die An-throposophie. So die Inderin Aban Bana: „Ich habe niemals einen Konflikt erlebt … Ichbin zwar nicht Christ als getaufter Christ, ichbin kein konfessioneller Christ, aber ich sage,ich bejahe alles, was über die Christologie inder Anthroposophie geschrieben ist. … (Ich)würde zum Beispiel nicht sagen, ich gebe mei-ne Religion auf, einfach weil ich zum Chris-tentum im Sinne Rudolf Steiners Ja sage. Ichbin meiner Religion treu.“

Aber auch in den Evangelien lebt Wesenhaftes ausden anderen Religionen: Hermann Beckh hat (inAnknüpfung an Rudolf Steiners Vortragszyklusüber das Lukas-Evangelium)10 auf die Parallele derBuddha-Legende und des Lukas-Evangeliums hin-gewiesen.

Die Christengemeinschaft wird – wie auch die An-throposophie – von kirchlichen Kritikern gern ei-ner kulturell-religiösen Vermischung und damitder Konturlosigkeit geziehen. Tatsächlich ist sieangetreten mit einem „gesunden Schuss Heiden-tum“. Diese Offenheit (in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts noch umstrittener als heute) ent-springt aber dem Bestreben, die WirkensspurenChristi in den anderen Religionen zu finden12. Esmuss wohl bei diesem interessierten Hinblickenauf die nichtchristlichen Kulturen zunächst ein-

mal bleiben. Zu einer liebevollen (und nicht bloßunverbindlich-toleranten) Gemeinschaftlichkeitzu kommen, kann wohl nicht unmittelbar die Auf-gabe einer Religionsgemeinschaft sein (schon garnicht, wenn man kultisch so eindeutig und un-terscheidbar geprägt ist) – es ist schon ein Fort-schritt, wenn aus der erkenntnisoffenen Haltungsich unter den Gemeindegliedern eine brüderlicheLebenspraxis ergibt. Hier wäre – in Pestalozzis Sinne – von der Seeledie „Hand“ gefragt, nämlich Opfer und tätige Frie-densliebe.

4) Grundmodell der Steigerung

Den „Fragmenten der anderen“ steht unsere „Fül-le“ gegenüber. Nicolaus von Kues hat sich 1453(kurz nach der Eroberung Konstantinopels) in sei-ner Schrift „De pace fidei“ in einem Gespräch imHimmel dafür ausgesprochen13.

Für die Anthroposophie ist manche Religion ge-schichtlich wie eine Vorstufe zum Christentum zubetrachten. Am deutlichsten entwickelt das Stei-ner beim Buddhismus, dessen Lehre von „Mitleidund Liebe“ (wie er sie oft nennt) vor allem in denGeist des Lukas-Evangeliums eingeflossen ist.Dennoch: für den Anthroposophen ist der Bud -dhist deshalb nicht auf halbem Wege zum Chris-tentum steckengeblieben, sondern es handelt sichum das Verhältnis von Buddha selber zu Christusselber, und Buddha ist ja für den Buddhisten kei-neswegs der Erlöser wie es Christus für den Chris-ten ist.

Nikolaus von Kues – dessen „De pace fidei“ sogroßartig tolerant z. B. gegenüber den Riten ist,wie es der anfangs zitierte Vers aus der Bhaga-vad-Gita schon ausdrückt – bringt wesenhaft dieBegrenzungen religiösen Verständnisses zum Aus-druck, indem er jeweils Vertreter der religiösenStrömungen national auftreten lässt. Bei ihmspricht typisiert der „Türke“, „Grieche“, „Araber“,„Germane“, „Böhme“ etc.

FRIEDE UNTER DEN RELIGIONEN – BRÜCKE ZWISCHEN DEN MENSCHEN

Andreas Rössler5 beschreibt fünf Modelle des Ver-hältnisses des Christentums zu den anderen Welt-religionen, die hier vergleichsweise auch dafürdienen können, das Verhältnis der Christen ge -meinschaft zu diesen fünf Grundmodellen zu beschreiben.

1) Grundmodell der intoleranten Exklusivität

Seine Grundthese wäre: „Außerhalb der Kirche gibtes kein Heil“ (Origenes und Cyprian). Rössler weisthier auf die Hadesfahrt Christi hin, in der er zumBeistand der verstorbenen Seelen wird, die ihr göttliches Sein verloren hatten. Die Frage ist alsodoppelt: 1) Ist Christus allein der menschgewordene Gott,der die Menschen durch sein Leben, Sterben undAuferstehen erlöst? (Ja!) 2) Kann Christus durch seine Hadesfahrt auch fürdie ein Erlöser sein, die nicht an ihn glauben bzw.nichts von ihm wissen? (Ebenfalls Ja!)

Christus selber – nicht das Christentum als Welt-religion – steht absolut im Mittelpunkt. Wenn esim Römerbrief heißt, dass alle Kreatur mit uns inden Fall verstrickt ist und nach Erlösung seufzt6,dann wird dieser Erlösungsvorgang bei Steinerkonkret: die Heilstat Christi hat einen kosmischenAspekt für alle Kreatur, zu der wir Menschen jaauch gehören. Nichts ist für Steiner (und ebensofür jede christliche Gemeinschaft) zentraler in al-ler Geschichte als das Leben Christi auf Erden,sein Tod und die Auferstehung! Unabhängig vonihrer Religion haben alle einen „Vater im Himmel,der seine Sonne aufgehen lässt über Böse undGute“7. Als religiöse Grundkraft wird hier dieDankbarkeit gegenüber dem Weltenerlöser deut-lich, die für alle Menschen gelten kann; sie ist so-zusagen jedem gegeben, der einen Menschenleibund somit Anteil hat an dem Fall (und der Erlö-sungsoffenheit) des Menschen.

Für die Christengemeinschaft ist dies nicht anders.Sie trägt ja den fast schon auftrumpfenden Namen„Die Christengemeinschaft“. Um Missverständnis-

sen vorzubeugen: dies heißt selbstverständlichnicht, dass wir uns als einzige christliche Kircheempfinden; im erneuerten Credo heißt es: „Gemeinschaften, deren Glieder den Christus insich fühlen, dürfen sich vereinigt fühlen in einerKirche, der alle angehören, die die heilbringendeMacht des Christus empfinden.8

2) Grundmodell des Relativismus

Alle Religionen sind ein bisschen wahr, weil sie alleder Offenbarung Gottes entstammen. Rössler meint,dass dies letztlich zu einer Konturlosigkeit Gottesund Christi führt, und er bezieht Lessings Ringpa-rabel ein (die ja energisch für Toleranz eintritt),um sie dann zu bestreiten. Dies muss für den Dra-matiker Lessing nicht seine eigene, letzte Über-zeugung spiegeln (siehe weiter unten das 4. Mo-dell der Steigerung), aber Lessings Nathan be-scheinigt mit der gleichermaßen edlen Darstellungden drei Religionen die Gleichwertigkeit („…derechte Ring, vermutlich, ging verloren…“).

Weil wir aufeinander blicken, sind wir relativ! Da-her die Forderung in den oben zitierten „Statu-ten“ der Anthroposophischen Gesellschaft, kei-nen Menschen zu diskriminieren. Lessings Ring-parabel geht ja auch von Menschen aus, die ein-ander begegnen und ohne diese Begegnung wert-loser leben würden. Dies bliebe aber in einem Ag-nostizismus stecken, wenn wir nur auf die Er-kenntnis blicken würden. In der Anthroposophiewird aber die alte Dreigliederung des Menschendargestellt, die Pestalozzi z. B. mit Kopf, Herz undHand bezeichnete. Im Erkennen geht es um denedlen Streit um die Wahrheit, da darf nicht aus-schließlich Toleranz herrschen. Im Fühlen wird le-bendig, was wir einander bereichernd in der Be-gegnung schenken, die das Erlebnis des Menschenkostbar macht. Im Wollen erlebt man vielleichtam ehesten Treue und Bindung – wie in der Ehe.Der Relativismus hat seinen Ort in jenem Seelen-teil, den Pestalozzi „Herz“ nennt, und dort scha-det er nicht, sondern weckt Selbstlosigkeit undOpferkraft.

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Dahinter steht im Grunde, dass wir mit der Geburteine Herkunft er hal ten, die uns auch religiösprägt. Diese Begrenzungen werden wir erst nachunserem Tode überwinden, und nur dann, wennwir dem Christlich-Menschlichen gedient haben –egal in welcher Religion.

Jedoch bleibt bei Nikolaus von Kues letztlich un-begründet, warum und wie sehr das Christentumeine Höherstellung genießt. Zumindest gilt dasfür die intellektuelle Ebene. Denn das Entschei-dende ist für ihn: Christus selber spricht als dasWORT. Und dieses Wort steht so über allen Spra-chen, wie die Religion über dem Nationalen.

G. E. Lessing hat – vermutlich als einer der we-nigen Geister des deutschen Idealismus – die cu-sanische Schrift über den religiösen Frieden ge-kannt. Nathans Ringparabel haben wir oben demRelativismus zugeordnet. Dass sie nicht unmit-telbar Lessings eigene Gedanken spiegelt, ist umso plausibler, als seine zur gleichen Zeit allmäh-lich entstandene Schrift „Über die Erziehung desMenschengeschlechts“ ein ganz anderes Reli-gionsverhältnis entwirft, nämlich eine religions-geschichtliche Steigerung. Lessing sieht da dieWeltgeschichte wie eine gewaltige Schule. Unddamit die Menschen an jeder Religionsstufe An-teil nehmen, spricht er von den wiederholten Er-denleben. Ich halte diese Gedanken (die Lessingja nicht gerade ungefährdet äußern konnte, an-gesichts der intriganten Versuche Goezes, LessingsLebensstellung bis ins Materielle hinein zu zer-stören) für einen Teil seines ureigenen Weltbil-des. So plädiert Lessing (der ja jedem Menschendank der Reinkarnation die Chance zur Begegnungmit Christus zuspricht) für Weitherzigkeit. DerFortschrittsoptimismus und das lineare Ge-schichtsdenken Lessings mag uns heute – ange-sichts der Gräuel des 20. Jahrhunderts – gründ-lich verdächtig geworden sein. Man müsste einLessing-Wort (das er der Gräfin Orsina in denMund legt) hinzustellen: „Wer über gewisse Din-ge den Verstand nicht verlieret, der hat keinen zuverlieren.“15 Dennoch: Lessings religionsge-schichtlich weiter Atem könnte ihn zum Kirchen-

vater machen „für alle Menschen, über die Gottseine Sonne aufgehen und regnen lässt!“ (Clau-dius). In Pestalozzis Dreierschema wäre hier der„Kopf“ angesprochen, der Friedlichkeit mit fröh-lichem Erkenntnisstreit zu einen weiß.

5) Grundmodell des Universalismus

Rössler sieht darin im Grunde die Gesprächsbereit-schaft dessen, der selber in seinem Glauben ge-gründet ist und deshalb vor Veränderungen keineAngst haben muss.

Die Wahrheit ist das überlegene Ziel gegenüberjedem Dogma mittelalterlicher Prägung. SchonThomas von Aquin sah den Glauben nicht vor al-lem in einzelnen Sätzen, sondern als Wahrheits-sinn verwirklicht, und in diesem Sinn kann dieAnthroposophie und auch die Christengemein-schaft ganz zustimmen.

Lessings berühmter Satz über das Streben nachErkenntnis und über den Besitz der Wahrheit giltauch für uns:„Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendeinMensch ist oder zu sein vermeinet, sondern dieaufrichtige Mühe, die er angewendet hat, hin-ter die Wahrheit zu kommen, macht den Wertdes Menschen. Denn nicht durch den Besitz,sondern die Nachforschung der Wahrheit er-weitern sich seine Kräfte, worin allein seine immer wachsende Vollkommenheit besteht. DerBesitz macht ruhig, träge, stolz. Wenn Gott inseiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nachWahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielteund spräche zu mir: wähle, ich fiele mit De-mut in seine Linke und sagte: Vater, gib!, diereine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein.14

Dieser Universalismus ist stets in Gefahr, in Re-lativismus zu verfallen. Ein Fundamentalist wit-tert das sofort. Aber da erhebt sich auch die Fra-ge: warum wird er dabei so aggressiv? Mit Andreas

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Rössler kann man sich fragen: „Wenn ich inErkennt nis fra gen zu angriffslustig werde – bin ichdann wirklich der Wahrheit verpflichtet oder treibtmich die versteckte Angst, dass mein eigenes Fun-dament wackeln könnte?“ Marie von Ebner-Eschenbach hat einmal sinngemäß gesagt, Stur-heit sei der Charakterersatz der Engherzigen. Indiesem Sinne ist hier keine Engherzigkeit, son-dern echter Charakter gefragt: Festigkeit des ei-genen Glaubensgrundes, die den liebevollen Blickzum Mitchristen und Mitmenschen erlaubt, ohneAngst oder Prinzipienreiterei.

1 Bhagavad-Gita IX, 232 „Wandsbeker Bote“, Winkler-Kassiker, München S. 82

(historischer Kontext dort in den Anmerkungen). Diese Reminiszenz knüpft an die Schrift „Zur Eröffnung2001“ des Priesterseminars an.

4 Rudolf Steiner: „Die Weihnachtstagung…“ GesamtausgabeBand (im folgenden jeweils „GA“ abgekürzt) 260, Dornach41985, S. 50

5 „Steht Gottes Himmel allen offen?“ – Zum Symbol des kosmischen Christus“, Stuttgart 1990

6 Römer 8,19 f7 Mt. 5,458 11. Satz im Credo der Christengemeinschaft, z. B. abge-

druckt in der Bekenntnis-Synopse auf der ausfaltbarenSchlussseite von Adolf Müller / Arnold Suckau: „Werdestu-fen des christlichen Bekenntnisses“, Verlag Urachhaus,Stuttgart 1974

9 Stefan Leber (Hrsg.) „Anthroposophie und Waldorfpädago-gik in den Kulturen der Welt“, (Verlag Freies Geistesleben,Stuttgart 1997)

10 Rudolf Steiner: „Das Lukas-Evangelium“, GA 114, Dornach1955

12 z. B. in den Bändchen der Reihe „Christus aller Erde“:– Verlag der Christengemeinschaft, StuttgartJ.W. Kleins „Baldur und Christus“ (Chr.a.E.Bd. 3) 1925– Hermann Beckh: Von Buddha zu Christus(Chr.a.E.Bd. 10), Stuttgart 1925– Hermann Beckh: Der Hingang des Vollendeten(Chr.a.E.Bd. 18/19), Stuttgart 1925– Friedrich Doldinger: Kaiser Julian, der Sonnenbekenner(Chr.a.E.Bd. 23), Stuttgart 1926– Hermann Beckh: Zarathustra (Chr.a.E.Bd. 24), Stuttgart1927– Hermann Beckh: Der Hymnus an die Erde(Chr.a.E.Bd. 34), Stuttgart 1934Und (alles im Verlag Urachhaus, Stuttgart): – Wilhelm Kelber: „Die Logoslehre von Heraklit bis Origenes“, 1958– Rudolf Meyer: „Nordische Apokalypse“, Verlag Urachhaus, Stuttgart 1967– Rudolf Frieling: „Christentum und Islam – der Geistes-kampf um das Menschenbild“, Verlag Urachhaus, Stuttgart1977– Diether Lauenstein: „Die Mysterien von Eleusis“, VerlagUrachhaus, Stuttgart 1987

13 Nicolaus von Kues „Über den Frieden im Glauben – Depace fidei“ im Band III der lateinisch-deutschen Studien-ausgabe Ausgabe im Herder-Verlag, Wien 1967 und inBand 223 der philosophischen Bibliothek, Felix Meiner,Leipzig 1943

14 G.E. Lessing: Emilia Galotti, IV, 7 15 G.E. Lessing im Brief an Moses Mendelssohn vom

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geht, um eine gemeinsame Suche nach der Wahr-heit, auch der Wahrheit im Glauben.

Weder die vollständige Privatisierung der Abso-lutheitsansprüche, noch die generelle AblehnungAndersdenkender im Interesse der Abschottungkönnen von der Notwendigkeit entbinden, sichder Herausforderung des Gesprächs zu stellen.Dieses wird mit Religionsformen am leichtestenstattfinden können, die einen gewissen Grad anInstitutionalisierung aufweisen. Beispielsweiseführen Kirche, Anthroposophische Gesellschaftund Christengemeinschaft Dialoge über viele an-stehende Fragen, auch über die Reinkarnations-vorstellungen.

Prinzipien und Einsichten aus dem interreligiösenDialog können in der Auseinandersetzung um dieReinkarnationsvorstellungen teilweise verwendetwerden. Aber die individualisierte Religiositätkann nicht generalisierend zum Gespräch einge-laden werden, dazu fehlen die institutionellenGrundlagen. Vielmehr ereignet sich der Dialog derReligiositäten im Alltag, als ein Gespräch mit vielen einzelnen, die „Sehnsucht nach Religionhaben“, aber ein „Ungenügen am Christentum“verspüren …

Bedingungen und Grenzen des Dialogs

Eine dialogische Theologie wird sich dem Ge-spräch mit Esoterik und neuer Religiosität nichtentziehen, aber auch Bedingungen und Grenzenfesthalten. Paul Tillich hat einmal vier Voraus-setzungen für den Dialog genannt: „Ein Gesprächzwischen Vertretern verschiedener Religionen istnicht möglich ohne gewisse Voraussetzungen. Dieerste Voraussetzung ist, dass beide Partner derReligion des anderen nicht ihren Wert absprechen,sondern sie als Religion gelten lassen, die letzt-lich auf Offenbarungserfahrungen beruht – nur sokann die Aussprache der Mühe wert erscheinen.Die zweite Voraussetzung ist, dass beide Partnerihren religiösen Standpunkt mit Überzeugung ver-treten können, sodass das Gespräch eine erns-

thafte Gegenüberstellung der verschiedenenStandpunkte ist. Die dritte Voraussetzung ist, dasses eine gemeinsame Basis gibt, die sowohl Ei-nigkeit wie Widerspruch ermöglicht, und schließ-lich ist es nötig, dass beide Partner der Kritik zu-gänglich sind, die gegen ihre eigene religiöseStellung gerichtet ist.“

Ein Dialog wird dort nicht möglich sein, wo ei-ner der beiden Partner von seiner prinzipiellenÜberlegenheit ausgeht; ebenso endet das Ge-spräch dort, wo Freiheit und Menschenwürde zer-störende Verhältnisse vorliegen. Hier bleibt nurein klares Bekenntnis und der Protest. Die Grenz-ziehung begründet sich nicht aus dem Andersseinder potentiellen Gesprächspartner und seinenÜberzeugungen, sondern allein aus deren Verhal-ten, ersichtlich an inhumanen Strukturen und inder Unfähigkeit zur Kommunikation. Dialog mussherrschaftsfrei sein (Sölle).

Chancen des Dialogs

Eine Chance des Dialogs der Religiositäten könn-te darin liegen, dass das „Christliche … durch dasReligiöse neu erschlossen“ würde. Daiber, der dasVerhältnis von kirchlicher zu nichtkirchlicher Re-ligiosität in Analogie zum Verhältnis von Chris-tengemeinde und Bürgergemeinde bestimmt,weist auf die Chancen der Kritik in beiden Rich-tungen hin: „Nicht-kirchliche Formen von Reli-gion brauchen nicht unbedingt konkurrierendeHeilsentwürfe darstellen. Sie sind zwar immer kritikbedürftig, aber sie sind auch kritikfähig,d. h., sie enthalten Wahrheitsmomente, die denDialog ermöglichen.“

Wahrheit wäre dann nicht als feststehende Ob-jektivität im Sinne des ontologischen Wahrheits-verständnisses verstanden, aber auch nicht alsSubjektivität im religiösen Erleben, sondern pro-zessual, als zwischen den Gesprächspartnern imintersubjektiven Prozess gefundene Wahrheit. Die-se Form dialogischer Auseinandersetzung löst diechristliche oder andersreligiöse Identität keines-

„EINE ZEIT ECHTER RELIGIONSGESPRÄCHE BEGINNT…“

Das Aufkommen von Reinkarnationsvorstellun-gen im Westen demonstriert beispielhaft das

Ende des christlichen Monopols auf den Feldernvon Religion und Lebensdeutung. Das mittelal-terliche Christentum konnte unter Voraussetzungeines hohen gesellschaftlichen Stabilitätsgradesseine Auffassungen gegen Andersdenkende durchMachtmittel durchsetzen. Die moderne plurali-sierte Gesellschaft setzt dagegen eine akzeptier-te Koexistenz verschiedener Sinnwelten voraus.Trotzdem bestand für den Bereich der Religion biszum Ende des 19. Jahrhunderts praktisch ein Deu-tungsmonopol der christlichen Kirchen. Erst dasErscheinen alternativer religiöser Sinnwelten undDeutungssysteme bringt die Kirchen in Gefahr,weil deren bloßes Vorhandensein empirisch de-monstriert, „dass die eigene Sinnwelt nicht wirk-lich zwingend ist.“ Die Demontage des altenchristlichen Monopols in den westlichen Kulturenbedeutet für die Kirchen eine tiefe Kränkung undstellt ihr Selbstverständnis von universaler Gül-tigkeit in Frage.

Menschen, die Religion in Form der Reinkarna-tionsvorstellungen zum ersten Mal oder wiederentdecken, sind an den religiösen Ausdifferen -zierungen und Unterscheidungen wenig interes-siert. Wolfgang Vogelmann beobachtet „vielfältigfließende Übergänge, die allesamt in jener ex-pressiven Dimension wurzeln, die sich mit jenenexistentiellen Fragen beschreiben lässt: Woherkomme ich? Wer bin ich? Wo finde ich meine Zu-flucht?“ In der Perspektive existentieller Frage-stellungen schwinden die Unterschiede zwischenReinkarnationsvorstellungen und christlichemGlauben. Ihnen gemeinsam ist die Differenz zu denmaterialistischen und areligiösen Einstellungen.

Dieses wird auch von dem katholischen Theolo-gen Hans Waldenfels für wichtig gehalten: „Diewahre Alternative, um die es geht, lautet nicht:

christlicher Auferstehungsglaube oder nicht-christlicher Reinkarnationsglaube, sondern: Fort-leben nach dem Tod oder nicht!“

DIALOG DER RELIGIOSITÄTEN

… Auf der grundsätzlichen Ebene stellt sich na-türlich die Frage, wie die christliche Theologie mitLehren anderer Religionen umgehen kann. Gehtsie von einem möglichen Wahrheitsgehalt ande-rer Lehren aus, versucht sie deren Wahrheitsge-halt zu entdecken, oder nimmt sie gar nicht erstdie Diskussion auf? Weltweit stellt sich das Pro-blem des interreligiösen Dialogs mit zunehmen-der Deutlichkeit. Dies wird auch zu einem neuenUmgang mit Problemen des Synkretismus führenmüssen.

Möglicherweise bedeutet dies für den christlichenUmgang mit Reinkarnationsvorstellungen dies,dass sie nicht grundsätzlich verworfen werdenkönnen, sondern nur insoweit, als sie fundamen-talen Bekenntnisaussagen des christlichen Glau-bens widersprechen.

In der evangelischen Überlieferung wird dabei dasVerständnis von Heil als einem Geschehen, dasum Christi Willen aus Gnade eröffnet ist, vorran-gige Bedeutung haben. Ansatzpunkte zu einemGespräch mit Vertretern der Reinkarnationslehrebestehen dann, wenn Wiedergeburt zugleichChance eines neueröffneten Lebens bedeutet, alsogrundsätzlich das jeweils neue Leben als Ge-schenk verstanden wird. Ganz allgemein bedeu-tet dies für den kritischen Umgang mit Formenneuer Religiosität oder auch Volksreligiosität, je-denfalls nicht kirchlich approbierter Religiosität,dies, dass es nicht einfach um Verwerfungen ge-hen kann, die die Diskussion erst gar nicht zu-lassen, sondern dass es wirklich um den Dialog

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„Eine Zeit echter Religionsgespräche beginnt…“Rüdiger Sachau

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Die Besonderheit des Christentums besteht in derChristuserfahrung, in seinem Kommen, Leben,Sterben und Auferstehen. Das Wesentliche anChristus ist nicht seine Macht und sind auch nichtseine Argumente, sondern das Wesentliche ist dieLiebe Gottes, die sich in ihm inkarniert. Als lei-dender Gottesknecht ist sein Wesen durch Ver-wundbarkeit bestimmt. Hans Jochen Margull hatdas Wesen des christlichen Beitrags im Dialog alsdie Haltung der Verwundbarkeit bestimmt: „DasChristentum ist enorm verwundbar. Real bleibt dasKreuz, bleiben die Wunden.“

Der Dialog der Religionen und die Begegnung derReligiositäten, die Herausforderung durch dieReinkarnationsvorstellungen und die relativie-rende Pluralisierung verwunden die vertrautenStandpunkte und Überzeugungen. „Eine Kurzfor-mel für das Ethos des Dialoges ist, dass der einedanach strebt, den anderen so zu verstehen, wieer sich selber versteht. An diesem Ethos hat auchder Dialog seine Verwundbarkeit.“ Die letzte Kon-sequenz der Nachfolge Christi, der Verwundbar-keit, ist, dass der andere mich überzeugen könn-te. Die Liebesbereitschaft muss so weit gehen,dass sie bereit ist, den bisherigen Glauben auf-zugeben. Verwundet werden Überzeugungen,Glaube, Christentum, Rechtfertigungslehre, nichtsbleibt ausgespart, weil alles im Dienste steht.

Dieses ist das Nadelöhr der Christusnachfolge iminterreligiösen Dialog. Kritisch infrage gestelltwerden alle menschlichen Perfektions- und All-machtswünsche, ob sie in den Reinkarnations-vorstellungen oder in verabsolutierter christlicherReligion zutagetreten. Margull fragt: „Ist die Un-verwundbarkeit, ist ein Unverwundbarer am Endeein Götze?“

Die pneumatozentrische Perspektive: Wahrheit in der Begegnung

Die Unverfügbarkeit absoluter Wahrheitenschließt das Suchen nach Wahrheit nicht aus. Ausdieser Perspektive fällt nun ein neuer Blick auf

die Wahrheitserkenntnis im Dialog der Religionen.Martin Buber hat darauf hingewiesen, dass Wahr-heit zwar nicht besessen werden, aber im Dialogereignishaft zutage treten kann. Er hat diesen Ereignischarakter beschrieben als einen Meteor,eine Sternschnuppe, die im Augenblick aufleuch-tet, „und ich selber kann nur das Licht bezeugen,nicht aber den Stein hervorholen und sagen: Dasist es.“

Diese Unverfügbarkeit der Wahrheit ist christlichzu verstehen als die Unverfügbarkeit des HeiligenGeistes. In der permanenten Dynamis des Geisteserfährt der Glaube seine Übersetzung in immerneue Gestalten. Eine alleinige ebenfalls kontex-tuelle – Spielart des Christentums im europäi-schem Denk- und Handlungszuschnitt verkenntdie Vielfalt der Wege Gottes mit seinem Volk undschneidet sich vom lebendigen Wehen des Geis-tes ab. Kritisch erinnert die pneumatische Di men -sion im Dialog der Religiositäten an die sozialeStruktur des Lebens: Der Mensch ist Mensch, in-sofern er sich beziehend verhält. In der Verwei-gerung des Dialogs würde das Humanum selberdemontiert. „Ohne Dialog, ohne ein dialogischesLeben, kann der Mensch seine Menschlichkeitnicht erreichen.“

Auch für den kommenden Dialog über die Rein-karnationsvorstellungen gilt das Wort Martin Bubers: „Eine Zeit echter Religionsgespräche beginnt, – nicht jener so benannten Scheinge-spräche, wo keiner seinen Partner in Wirklichkeitschaute und anrief, sondern echter Zwiesprache,von Gewissheit zu Gewissheit, aber auch von auf-geschlossener Person zu aufgeschlossener Person.Dann erst wird sich die echte Gemeinschaft wei-sen, nicht die eines angeblich in allen Religionenaufgefundenen gleichen Glaubensinhalts, sonderndie der Situation, der Bangnis und der Erwar-tung.“

„EINE ZEIT ECHTER RELIGIONSGESPRÄCHE BEGINNT…“

wegs auf, sondern das Gespräch zwingt beide Sei-ten dazu, sich präzise zu erklären und das Eige-ne in Widerspruch und Anknüpfung zur Sprachezu bringen.

THEOLOGISCHE DIMENSIONEN IM DIALOG

Die christliche Religion wird den Dialog mit denReligionen und Religiositäten, mit den Vertrete-rinnen und Vertretern der Reinkarnationsvorstel-lungen innerhalb und außerhalb von Kirche undChristentum nicht nur als ein praktisches Gebotder Stunde ansehen, sondern diesen auch theo-logisch reflektieren. Im Bild der Trinität kann einSymbol für das gelingende Verhältnis von Plura-lismus und Einheit gesehen werden: Der eine Gottlässt sich nur in der Vielfalt seiner Perspektivenerfahren. Die Unterschiedenheit der Personen wirdnicht aufgehoben, sondern geht in das inner-göttliche Selbstgespräch mit ein, das als Vorbilddes Dialogs angesehen werden kann. Vermiedenwird die dualistische Kontroverse und die monis-tische Reduktion. „Es geht nicht so sehr darum,dass der Christ an die Trinität glaubt, sonderndass er trinitarisch glaubt, und d. h.: in der Ein-heit der drei Glaubensartikel und in bewusstemVermeiden jener Einseitigkeiten, die Gott zumPrinzip, zum Götzen oder zum Talisman machen.“Orientiert an den drei Personen der Trinität, las-sen sich theologische Perspektiven des Dialogsentfalten.

Die theozentrische Perspektive: Absolutheitsanspruch der Liebe Gottes

Die pluralistische Situation hat das Ende der Ab-solutheitsansprüche geschichtlicher Religionen mitsich gebracht, von denen keine einen allgemeingültigen Beurteilungsstandort außerhalb des„Marktes“ für sich behaupten kann. Dennoch wirdin christlicher Perspektive der Gedanke einer um-fassenden Einheit in Gott nicht aufgegeben wer-den können. Der Glaube an Gott den Schöpfer mussnotwendig auch alle Religionen mit einschließen,

die nicht ohne Gott gedacht werden können. Wür-de man sie als gottesfern verstehen, wäre diesesein Akt göttlicher Selbstbegrenzung, der die Weltder Religionen sich selbst überließe.

Unaufgebbar ist darum der Gedanke des umfas-senden Anspruchs Gottes auf alle Menschen allerReligionen. Christlich wird der absolute AnspruchGottes auf den Menschen als sein unbedingterLiebeswille angesehen, der in Jesus Christus Ge-stalt nimmt. „Gerade weil sich die Gotteswahrheitvorbehaltlos inkarniert, d. h. vergeschichtlicht,d. h. der Relativität anheim gegeben hat, kannuns ein Absolutheitsanspruch nur als Ausdruck derAbsolutheit Gottes gestattet sein – ein Ausdruck,der niemals in unsere eigene Verfügungsgewaltübergehen darf.“

Der Absolutheitsanspruch der Liebe Gottes ver-langt letzten Ernst in seiner Verkündigung undAdäquanz in der Form. Darum muss festgehaltenwerden, dass der Anspruch der Liebe Gottes nichtkompatibel ist mit den Spielen der Macht. JedeForm der Gewalt gegenüber Andersdenkenden,und dieses schließt alle Formen des Bedrängens,Bedrohens und Verurteilens mit ein, verstößt ge-gen die Gottesebenbildlichkeit des Menschen.Deutlicher: Dialog geschieht mit Menschen, nichtmit Gegnern. Kritisch stellt der allen geltende ab-solute Liebesanspruch Gottes die sich verabsolu-tierenden Autonomieansprüche einzelner Men-schen in Frage. Im Dialog über die Reinkarna-tionsvorstellungen wird der Anspruch Gottes zumdiakritischen Prinzip des Entwicklungsgedankens.

Die christozentrische Perspektive: Im Zeichen der Verwundbarkeit

Nicht in einer Entwicklungsgeschichte kommt derchristliche Glaube zu sich selbst, sondern im Er-eignis der Inkarnation Gottes, indem Gott sichnackt in diese Welt hineinstürzt (Rahner), sichaus Liebe in der Ambivalenz riskiert und im Kreu-zestod auch die radikalste Gottesferne nicht aus-lässt.

RÜDIGER SACHAU

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(Aus: Rüdiger Sachau, Westliche Reinkarnationsvorstellungen,Chr. Kaiser/Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 1996)

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an die bestehenden Kirchen oder ihre Verbände(Ökumene). Sie will in ihrer Weise dem Christen-tum in Kultus und reformatorischer Haltung die-nen. Außer im deutschen Sprachraum bestehenheute Gemeinden in mehreren europäischen Län-dern, der englisch sprechenden Welt sowie in Süd-amerika.

Die Christengemeinschaft – was ist sie nicht?

Die Christengemeinschaft ist nicht die allein seligmachende Kirche: sie kann und will nicht als „die“Kirche „für alle“ gelten, aber für alle offen sein,die sich in ihr vereinen wollen.

Eine Sonderlehre oder die besondere Hervorhe-bung einzelner Glaubenswahrheiten (Sekte) kenntsie nicht: das Christentum ist universell und darfnicht durch Überbewertung einzelner Lehrinhal-te und Verhaltensnormen in seiner einzigartigenGröße entstellt werden.

Die Christengemeinschaft ist auch nicht die „An-throposophenkirche“, wenngleich sie die einzigechristlich-religiöse Gemeinschaft ist, die die An-throposophie Rudolf Steiners anerkennt und de-ren entscheidende Hilfe für die Erweiterung undErneuerung der Theologie aufgenommen hat.

Die Christengemeinschaft ist nicht gegründet aufeiner Bekenntnisverpflichtung der Gläubigen. Siesteht nicht in einem Abhängigkeitsverhältnis zurstaatlichen Steuerordnung: alle Zuwendungen derMitglieder kommen freiwillig nach deren Selbst-einschätzung zusammen. Ihre Pfarrer sowie eineAnzahl anderer Mitarbeiter sind hauptberuflichtätig; ihr Gehalt wird nicht nach Leistung, Amts-alter, Stellung oder Vorbildung, sondern alleinnach den Möglichkeiten der Gemeinschaft be-messen.

Sie ist nicht kunst- oder kulturfeindlich, sondernhat durch ihr kultisches Leben selbst vielfältigekünstlerische Aufgabenfelder (z. B. Architektur,

Plastik, Malerei, Musik) und ist um die Pflege desZusammenhangs von Religion, Kunst und Wis-senschaft bemüht.

Die Christengemeinschaft – was ist sie?

Inmitten der vielen religiösen und weltanschau-lichen Gemeinschaften unserer Zeit tritt die Chris-tengemeinschaft mit einem eigenen christlichenGemeindeleben auf. Dieses gründet sich auf demerneuerten christlichen Gottesdienst (der neuenMesse), der Menschenweihehandlung. Sie enthältein neues christliches Bekenntnis (Credo), das dieWahrheit des christlichen Glaubens in einer un-serer Zeit gemäßen Form ausspricht.

Gottesdienst und Bekenntnis leben durch die ge-meinsame und individuelle religiöse Übung derGläubigen. Zu dieser gehört auch ein Streben nacheinem erneuerten Verständnis des Evangeliumsund die Pflege des Gebetes.

Die Christengemeinschaft ist also Sakramentsge-meinschaft: Taufe, Konfirmation, Schicksalsbera-tung, Trauung, Priesterweihe und Letzte Ölungsind mit dem Zentralsakrament, der Menschen-weihehandlung, verbunden.

Ein Kindergottesdienst und altersgerechte religi-öse Unterweisung, die Pflege eines vertieften underweiterten Verständnisses des Neuen Testaments,Beratung und Seelsorge nach den Erwartungen de-rer, die darum nachsuchen, Vorbereitung der Sa-kramente und deren Vollzug, Bestattung und Für-bitte sind wesentliche Lebensfunktionen des Ge-meindewesens.

Wer sich diesem aus freiem Entschluss nach reif-licher Prüfung verbinden will, wird Glied der Ge-meinde. Mit-Glied der Christengemeinschaft.

DIE CHRISTENGEMEINSCHAFT

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ERHARD KRÖNER

Die Christengemeinschaft wirkt für eine Erneu-erung des christlichen Lebens. Sie vereinigt

in ihren Gemeinden Menschen, die in einer zeit-gemäßen Form Christen sein wollen.

Im Mittelpunkt ihres religiösen Lebens steht derneue Gottesdienst, die Menschenweihehandlung.

Die Christengemeinschaft vertritt eine Weltan-schauung, die in der Christus-Tat das entschei-dende Ereignis der Menschheitsgeschichte sieht.Christus hat in vier Stufen sich selbst der Mensch-heit dargebracht; durch Lehre, Leiden, Tod undAuferstehung. So führt dieser neue Gottesdienstdurch Evangelium, Opferung, Wandlung und Kom-munion die Menschen zu Christus.

Ihre Entstehung dankt die Christengemeinschaftdem Rat und der Hilfe Rudolf Steiners. Seine Gei-steswissenschaft (Anthroposophie) ist die Grund-lage für eine Erweiterung der Theologie; sie willneue Wege zum Verständnis der christlichen Wahr-heiten in einer unserer Zeit entsprechenden Formzeigen.

Die Christengemeinschaft wurde am 16. Septem-ber 1922 gegründet; sie wirkt seither als selb-ständige christliche Kirche.

Verkündigung und Lehre

Der Mensch ist seinem Wesen und seiner Bestim-mung nach Bürger zweier Welten: einer über-sinnlich-geistigen und der irdisch-natürlichen.Während des Lebens auf Erden kann er seinenhimmlischen Ursprung vergessen und dadurchzum Glied nur der vergänglichen Welt werden.

Durch Religion verbindet sich der Mensch im Le-ben zwischen Geburt und Tod in aktiver Weisewieder mit der Welt seines Ursprungs.

Christus ist der Schöpfer der Welt, der sichtba-ren und der unsichtbaren (Johannes-Evangelium).Er ist in Jesus von Nazareth Mensch geworden undhat durch sein Leben, durch Leiden, Tod und Auf-erstehung die Menschheit vor dem Untergang ineinem nur äußerlich-materialistischen Leben er-rettet („erlöst“). Seither kann der einzelne be-wusst Christus suchende Mensch ihn finden. Durchihn empfängt er ein neues Leben, ja, sein künf-tiges Fortbestehen.

Unsterblichkeit und Ungeborenheit

Zur Frage: Wohin? angesichts des Todes gehört imBlick auf die Geburt die andere Frage: Woher? Bei-de Ereignisse, Geburt und Tod, sind Tore, durchdie das Menschenwesen in das Leben hinein- undaus ihm hinausgeführt wird. Deshalb benötigenwir heute neben einer neuen Lehre von der „Un-sterblichkeit“ des Menschen eine von seiner „Un-geborenheit“ (Präexistenz).

Der Leib des Menschen verbindet ihn mit den ir-dischen Vorfahren; Seele und Geist jedoch ent-stammen höheren Daseinsbereichen. Im Schick-sal des Menschen offenbart sich, was früher be-reits vorbereitet wurde und später durch ihn wei-tergebildet werden soll.

Auf Erden soll er durch Christus zur inneren Frei-heit finden und so auch zur Kraft selbstloser Liebe.

Gründung und Ausbreitung

Die Gründer der Christengemeinschaft, zu denenFriedrich Rittelmeyer und Emil Bock als maßge-bende Persönlichkeiten gehörten, fanden ihre Fra-gen nach einer christlichen Erneuerung durch Ru-dolf Steiner in zeitgemäßer Form beantwortet. Sieist von Anfang an selbständig, ohne jede Bindung

Die Christengemeinschaft

(Entnommen aus: Dr. Erhard Kröner, Die Christengemein-schaft, Eine erste Orientierung, Hannover 2002)

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(aus: Nelly Sachs, „Fahrt ins Staublose“, Gedichte, Frankfurt/Main 1988. Mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp-Verlages)

Wenn die Propheten einbrächen

Nelly Sachs

Wenn die Propheten einbrächen durch Türen der Nacht, den Tierkreis der Dämonengötter wie einen schauerlichen Blumenkranz ums Haupt gewunden— die Geheimnisse der stürzenden und sich hebenden Himmel mit den Schultern wiegend

für die längst vom Schauer Fortgezogenen—

Wenn die Propheten einbrächen durch Türen der Nacht, die Sternenstraßen gezogen in ihren Handflächen golden aufleuchten lassend—

für die längst im Schlaf Versunkenen—

Wenn die Propheten einbrächen durch Türen der Nacht mit ihren Worten Wunden reißend in die Felder der Gewohnheit, ein weit Entlegenes hereinholend für den Tagelöhner

der längst nicht mehr wartet am Abend—

Wenn die Propheten einbrächen durch die Türen der Nacht und ein Ohr wie eine Heimat suchten

Ohr der Menschheitdu nesselverwachsenes,würdest du hören?Wenn die Stimme der Prophetenauf dem Flötengebein der ermordeten Kinderblasen würde,die vom Märtyrerschrei verbrannten Lüfteausatmete—wenn sie eine Brücke aus verendeten Greisenseufzernbaute—

Ohr der Menschheit du mit dem kleinen Lauschen beschäftigtes, würdest du hören?

Wenn die Propheten mit den Sturmschwingen der Ewigkeit hineinführen wenn sie aufbrächen deinen Gehörgang mit den Worten:Wer von euch will Krieg führen gegen ein Geheimnis wer will den Sterntod erfinden?

Wenn die Propheten aufständen in der Nacht der Menschheit wie Liebende, die das Herz des Geliebten suchen, Nacht der Menschheit würdest du ein Herz zu vergeben haben?

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Frank Hörtreiter(geb. 1944)Priester der Christengemeinschaft in Hamburg-Mitte. Studium der klassischen Philologie inTübingen und Theologie an der Freien Hoch -schule der Christengemeinschaft. 30 Jahre langMitwirkung im Verband der Sozialwerke derChristengemeinschaft, besonders in den Kinder-und Feri en lagern. Dozent am Priester se mi narder Christengemeinschaft in Hamburg.

Jörg-Johannes Jäger (geb. 1937)Promotion und Assistenzprofessur an der FreienUniversität in Berlin; seit 1977 Pfarrer in derChristengemeinschaft.

Erhard Kröner(geb. 1930)Studium der Naturwissenschaften ( Pro motion 1955) und Theologie(Priesterweihe 1956); Pfarrer in Hannover(1956–2000) und Lenker in der Leitung (1972–1995) und in Nord deutsch land (1979–1990).Im Vorstand der AnthroposophischenGesellschaft in Deutschland (1967–1990).

Walter Kugler(geb. 1948)Lehrerausbildung (Geschichte, Musik, Deutsch),anschließend Studium der Politikwissenschaftund Pädagogik. Diplom 1975; Lehrauftrag ander Pädagogischen Hochschule Köln; heuteLeitung der Rudolf-Steiner-Nachlassverwaltungin Dornach.

Alexander Men(1935–1990)stammt aus Moskau; naturwissenschaftlicheStudien; russisch-orthodoxer Priester seit 1958;enge Verbindung zu Solschenizyn und anderenSystemkritikern; zahlreiche Veröffentlichungenzu religiösen und theologischen Themen; großePopularität wegen seiner Verbindung vonmoderner Weltoffenheit und tiefer Religiosität;am 9.9.1990 auf dem Weg zur Kirche ermordet.

Rüdiger Sachau(geb. 1951)Studium der evangelischen Theologie; Pfarrer ineiner Landgemeinde; Studieninspektor desGehard-Uhlhorn-Studienkonvikts in Göttingen;Studienleiter an der Evangelischen AkademieNordelbien in Bad Segeberg; seit 2001 Leiterdes Amtes für Öffentlichkeitsarbeit derNordelbischen Kirche in Hamburg.

Wolfgang Schad(geb. 1935)Leiter des Instituts für Evolutionsbiologie undMorphologie der Universität Witten-Herdecke.Dozent für Theologie und Naturwissenschaften(Evolution) am Priesterseminar der Christen -gemeinschaft in Hamburg. Kursleiter an an thro -posophischen Aus bildungsstätten im In- undAusland. Studium der Biologie, Chemie, Physikan den Universitäten Marburg/Lahn, Münchenund der Pädagogik an der Pädagogischen Hoch -schule in Göttingen. Promotion an der Uni ver -sität Witten/Herdecke. Tätigkeiten als Waldorf -lehrer und Dozent am Seminar für Waldorf pä da -gogik, Begründer und Mitarbeiter am FreienHochschulkolleg in Stuttgart. ZahlreichePublikationen.

Georgij Tschistjakov(geb. 1953)Studierte klassische Philologie; seit 1993Priester; heute Priester an der Kasmas undDamian-Kirche in Moskau. Leiter der religiösenAbteilung der Bibliothek für ausländischeLiteratur und Rektor der Alexander-Men-Universität in Moskau.

Günther Dellbrügger(geb. 1949)In der Leitung des Priesterseminars derChristengemeinschaft in Hamburg, Dozent fürPhilosophie (insbesondere Scholastik undMystik, deutscher Idealismus), Kirchen -ge schich te, Dog matik, Sakramentslehre undinterreligiöser Dialog. Priester in Hamburg-Mitte. Studium der Philosophie, Slavistik undGeschichte an den Universitäten Tübingen undMün chen und Theologie an der Freien Hoch -schule der Christengemeinschaft in Stuttgart.Promotion über Hegels Religions philosophie.Waldorflehrer in Stuttgart, Seminarleiter undDozent am Priesterseminar in Stuttgart,Aufbauarbeit der Gemeinden der Chris -tengemeinschaft in Moskau, St. Petersburg undOdessa.

Volker Fintelmann(geb. 1935)Arzt, Vorstand der Carus Akademie fürGanzheitsmedizin in Hamburg, Dozent fürmedizinische Menschenkunde am Priester -seminar der Christengemeinschaft in Hamburg.Studium der Medizin in Tübingen, Berlin,Heidelberg und Hamburg, Facharzt für InnereMedizin. Leitender Arzt im Krankenhaus BeimSchlump und Ärztlicher Direktor und Ge schäfts - führer des DRK-Krankenhauses Rissen inHamburg. Wissenschaftliche Arbeiten in derHepatologie, praktische und methodischeAusarbeitung einer modernen Phytotherapieund einer anthroposophisch ergänzten Medizin.Zahlreiche Publikationen zum FachbereichMedizin.

Sofia Gubaidulina(geb. 1931)stammt aus Tatarstan, der ehemalssowjetischen tatarischen Republik. Studium inKasan und am Konservatorium in Moskau;zusammen mit Alfred Schnittke und EdisonDenissow Hauptvertreter der modernen Musik inRussland; viele Werke verweisen auf einenreligiösen Zusammenhang (Offertorium, Incroce, Sieben Worte, Passion und AuferstehungJesu Christi nach Johannes u. a.); lebt seit1992 bei Hamburg.

Wolfgang Held(geb. 1964)Studium der Waldorfpädagogik am Institut fürWaldorfpädagogik in Witten-Annen(Schwerpunkt Mathematik und Astronomie).Seit 1994 freie Lehrtätigkeit. Publiziert u. a.„Der Sternenkalender“ (jährlich erscheinendesastronomisches Jahrbuch), Herausgeber- undAutorenschaft seit 1994, Dornach; Dozent amPriester seminar der Christengemeinschaft inHamburg.

Udo Herrmannstorfer(geb. 1941)Selbständiger Unternehmensberater und Dozentfür Organisationsentwicklung am Priester -seminar der Chris tengemeinschaft in Hamburg.Studium der Betriebs- und Volkwirtschaftslehrein Bremen und Tübingen. Mitbegründer vonEinrichtungen zur assoziativen Zusammenarbeitin der Wirtschaft. Mitglied der Sektion fürSozialwissenschaften an der Freien Hochschulefür Geisteswissenschaft am Goetheanum in Dor - nach / Schweiz. Internationale Vortragstätigkeitzu aktuellen Zeitfragen und sozialen Frage -stellungen unter Einbezug anthro posophischerwei terter Sichtweise. Laufende Publikationenin Zeitschriften und Sammel bänden mehrereBuchveröffentlichungen.

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Johann Wolfgang von GoetheAuf Glaube, Liebe, Hoffnung ....................... 2

Günther Dellbrügger, Andreas LaudertEditorial .................................................. 3

Alexander Men †Christentum ............................................. 5

Günther Dellbrügger„Sich hingeben bis zum Ende, heißt das Evangelium erfüllen.Nur auf diese Weise kann die Welt gerettet werden.“ ................ 12Leben und Schicksal Alexander Mens (1935–1990)

Jörg-Johannes JägerKaiser Heinrich II. und die Ecclesia Catholica Non Romana ................. 15Aus Anlass des 80. Geburtstages der Christengemeinschaft und der 1000-Jahrfeier der Königskrönungen von Heinrich II. und Kunigunde, seiner Gemahlin (Mit Abbildungen)

Wandtafelzeichnungen von Rudolf Steiner zum Thema: „Wissenschaft – Kunst – Religion“ .............. 30Abbildungen

Günther Dellbrügger, Andreas LaudertZu den Wandtafel zeichnungen Rudolf Steiners zum Thema „Wissenschaft – Kunst – Religion“ ............. 40

Vater Georgij Tschistjakov, MoskauChristus heute und die orthodoxe Tradition .. 42

Sofia GubaidulinaDie Verwandlung der Zeit .......................... 49Aus einem Interview mit Enzo Restagno und Valentina Cholopowa

Wolfgang SchadChristentum und Naturwissenschaft ........... 52

Wolfgang HeldWas ist christliche Astronomie? ................. 68

Volker FintelmannDas Zusammenwirken von Arzt und Priester .. 71

Udo HerrmannstorferMenschheitliches Christentum ................... 74

Walter KuglerSignaturen des Geistigen .......................... 76Die Wandtafelzeichnungen von Rudolf Steiner

Frank Hörtreiter Friede unter den Religionen –Brücke zwischen den Menschen ................. 79

Rüdiger Sachau„Eine Zeit echter Religionsgespräche beginnt…“ ............................................. 84

Erhard KrönerDie Christengemeinschaft ......................... 88

Nelly SachsWenn die Propheten einbrächen ................ 90

Zu den Autoren ....................................... 92

Inhaltsverzeichnis

© Stiftung Priesterseminar Hamburg der ChristengemeinschaftMittelweg 13 · 20148 Hamburg – Hamburg 2002

E-Mail: [email protected]: www.priesterseminar-hamburg.de

Gestaltung, Satz und Umschlag: Harro Wolter, HamburgReproduktionen: RSW Reprostudio Winterhude, HamburgDruck und Binden: druckhaus köthen GmbH, 06366 Köthen

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