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    Thomas Bernhard

    AuslschungEin Zerfall

    s&c by TW166Y

    Thomas Bernhards bedingungloses Geschenk an dieWeltliteratur: sein Roman AuslschungFranz-Josef Grtz

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    Thomas Bernhard wurde 1931 in Heerlen (Holland) geboren. SeinWerk im Suhrkamp Verlag ist auf Seite 653 dieses Bandes verzeichnet.Auslschung ist der Titel einer Niederschrift, die Franz-JosefMurau in seinem letzten Lebensjahr in Rom verfat hat und dieThomas Bernhard zugnglich macht. Diese Aufzeichnungen waren

    fr Murau unumgnglich geworden, da in ihnen ein Thema im Zen-trum steht, das seine ganze Existenz zerstrt hat, nmlich seine Her-kunft. Dieser Herkunftskomplex lt sich mit dem Namen einesOrtes bezeichnen Wolfsegg. Hier ist Murau aufgewachsen, hat er denEntschlu gefat, da er, will er sich, seine geistige Existenz retten,Wolfsegg verlassen mu. Obwohl er deshalb beabsichtigt, Wolfsegg zumeiden, mu er dennoch dorthin reisen: seine Eltern und sein Brudersind bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Dieser erneuteWolfsegg Aufenthalt macht Murau deutlich, da er sich von Wolfseggendgltig lsen mu. Er fat den Entschlu, ber Wolfsegg zu schrei-ben, und zwar mit dem Ziel, das in diesem Bericht Beschriebene aus-zulschen, alles auszulschen, das ich unter Wolfsegg verstehe, und

    alles, das Wolfsegg ist. Das Stilmittel, das Murau bei dieser Aus-lschung verwendet ist die bertreibung - eine Kunst, die auchThomas Bernhard zur Perfektion entwickelt hat.

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    Thomas Bernhard

    AuslschungEin Zerfall

    Suhrkamp

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    suhrkamp taschenbuch 1563Erste Auflage 1988

    Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1986

    Suhrkamp Taschenbuch VerlagAlle Rechte vorbehalten, insbesondere dasdes ffentlichen Vertrags, der bertragung

    durch Rundfunk und Femsehensowie der bersetzung, auch einzelner Teile.

    Druck: Ebner UlmPrinted in Germany

    Umschlag nach Entwrfen vonWilly Fleckhaus und Rolf Staude

    1 2 3 4 5 6 - 93 92 91 90 89 88

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    Ich fhle, wie der Tod mich bestn-dig in seinen Klauen hat. Wie ich

    mich auch verhalte, er ist berall da.Montaigne

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    Das Telegramm

    Nach der Unterredung mit meinem Schler Gambetti,mit welchem ich mich am Neunundzwanzigsten aufdem Pincio getroffen habe, schreibt Murau, Franz-Josef, um die Mai-Termine fr den Unterricht zuvereinbaren und von dessen hoher Intelligenz ichauch jetzt nach meiner Rckkehr aus Wolfsegg ber-rascht, ja in einer derart erfrischenden Weise begei-stert gewesen bin, da ich ganz gegen meine Gewohn-heit, gleich durch die Via Condotti auf die PiazzaMinerva zu gehen, auch in dem Gedanken, tatschlichschon lange in Rom und nicht mehr in sterreichzuhause zu sein, in eine zunehmend heitere Stimmungversetzt, ber die Flaminia und die Piazza del Popolo,den ganzen Corso entlang in meine Wohnung gegan-gen bin, erhielt ich gegen zwei Uhr mittag das Tele-gramm, in welchem mir der Tod meiner Eltern und

    meines Bruders Johannes mitgeteilt wurde. Eltern undJohannes tdlich verunglckt. Caecilia, Amal ia. Das Tele -gramm in Hnden, trat ich ruhig und mit klarem Kopfan das Fenster meines Arbeitszimmers und schaute aufdie vollkommen menschenleere Piazza Minerva hin-unter. Ich hatte Gambetti fnf Bcher gegeben, vonwelchen ich berzeugt gewesen bin, da sie ihm frdie nchsten Wochen ntzlich und notwendig seinwerden, und ihm aufgetragen, diese fnf Bcher auf

    das aufmerksamste und mit der in seinem Falle gebo-tenen Langsamkeit zu studieren: Siebenks von JeanPaul, Der Proze von Franz Kafka, Amras von Tho-

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    mas Bernhard,Die Portugiesin von Musil,Esch oder DieAnarchie von Broch und dachte jetzt, nachdem ich das

    Fenster geffnet hatte, um besser atmen zu knnen,da meine Entscheidung richtig gewesen war,Gambetti gerade diese fnf Bcher zu geben undkeine andern, weil sie im Laufe unseres Unterrichtsihm immer wichtiger sein werden, da ich ganz unauf-fllig die Andeutung gemacht habe, mich das nchsteMal mit ihm ber die Wahlverwandtschaften und nichtber Die Welt als Wille und Vorstellung auseinanderzu-setzen. Mit Gambetti zu sprechen, war mir auch an

    diesem Tag wieder ein groes Vergngen gewesennach den mhevollen, schwerflligen, nur auf die all-tglichen ganz und gar privaten und primitiven Be-drfnisse beschrnkten Unterhaltungen mit der Fa-milie in Wolfsegg. Die deutschen Wrter hngen wieBleigewichte an der deutschen Sprache, sagte ich zuGambetti, und drcken in jedem Fall den Geist aufeine diesem Geist schdliche Ebene. Das deutsche

    Denken wie das deutsche Sprechen erlahmen sehrschnell unter der menschenunwrdigen Last seinerSprache, die alles Gedachte, noch bevor es berhauptausgesprochen wird, unterdrckt; unter der deut-schen Sprache habe sich das deutsche Denken nurschwer entwickeln und niemals zur Gnze entfaltenknnen im Gegensatz zum romanischen Denken un-ter den romanischen Sprachen, wie die Geschichte derjahrhundertelangen Bemhungen der Deutschen be-

    weise. Obwohl ich das Spanische, wahrscheinlich,weil es mir vertrauter ist, hher schtze, gab mir dochGambetti an diesem Vormittag wieder eine wertvolle

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    Lektion der Mhelosigkeit und Leichtigkeit und Un-endlichkeit des Italienischen, das zum Deutschen in

    demselben Verhltnis stehe, wie ein vllig frei aufge-wachsenes Kind aus wohlhabendem und glcklichemHause zu einem unterdrckten, geschlagenen und da-durch verschlagenen aus dem armen und rmsten. Umwie vieles hher also, sagte ich zu Gambetti, seien dieLeistungen unserer Philosophen und Schriftsteller ein-zuschtzen. Jedes Wort, sagte ich, zieht unweigerlichihr Denken herunter, jeder Satz drckt, gleich was siesich zu denken getraut haben, zu Boden und drckt

    dadurch immer alles zu Boden. Deshalb sei auch ihrePhilosophie und sei auch, was sie dichten, wie ausBlei. Pltzlich habe ich Gambetti einen Schopenhau-erschen Satz aus der Welt als Wille und Vorstellungzuerst auf Deutsch, dann auf Italienisch vorgespro-chen und ihm, Gambetti, zu beweisen versucht, wieschwer sich die Waagschale auf der mit meiner linkenHand vorgetuschten deutschen Waagschale senkte,

    whrend sie sozusagen auf der italienischen mit mei-ner rechten Hand in die Hhe schnellte. Zu meinemund zu Gambettis Vergngen sagte ich mehrere Scho-penhauersche Stze zuerst in Deutsch, dann in meinereigenen italienischen bersetzung und legte sie sozu-sagen fr alle Welt, aber vor allem fr Gambetti,deutlich sichtbar auf die Waagschale meiner Hndeund entwickelte daraus mit der Zeit ein von mir aufdie Spitze getriebenes Spiel, das schlielich mit Hegel-

    stzen und mit einem Kantaphorismus endete. Leider,sagte ich zu Gambetti, sind die schweren Wrter nichtimmer die gewichtigsten, wie die schweren Stze nicht

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    immer die gewichtigsten sind. Mein Spiel hatte michbald erschpft. Vor dem Hotel Hassler stehengeblie-

    ben, gab ich Gambetti einen kurzen Bericht von mei-ner Wolfseggreise, der mir selbst am Ende zu ausfhr-lich, ja tatschlich zu geschwtzig gewesen ist. Ichhatte versucht, ihm gegenber einen Vergleich anzu-stellen zwischen unseren beiden Familien, das deut-sche Element der meinigen dem italienischen der sei-nigen entgegenzusetzen, aber ich spielte letzten Endesdoch nur die meinige gegen die seinige aus, was mei-nen Bericht verzerren und Gambetti, anstatt aufkl-

    rend belehren, auf unangenehme Weise stren mute.Gambetti ist ein guter Zuhrer und er hat ein sehrfeines, durch mich geschultes Ohr fr den Wahrheits-gehalt und fr die Folgerichtigkeit eines Vortrags.Gambetti ist mein Schler, umgekehrt bin ich selbstder Schler Gambettis. Ich lerne von Gambetti we-nigstens ebenso viel, wie Gambetti von mir. UnserVerhltnis ist das ideale, denn einmal bin ich der

    Lehrer Gambettis und er ist mein Schler, dann wie-der ist Gambetti mein Lehrer und ich bin sein Schler,und sehr oft ist es der Fall, da wir beide nicht wissen,ist jetzt Gambetti der Schler und bin ich der Lehreroder umgekehrt. Dann ist unser Idealzustand eingetre-ten. Offiziell bin ich aber immer der Lehrer Gambet-tis, und ich werde fr meine Lehrttigkeit von Gam-betti, genau gesagt, von Gambettis wohlhabendemVater, bezahlt. Zwei Tage nach der Rckkehr von der

    Hochzeit meiner Schwester Caecilia mit dem Weinfla-schenstpselfabrikanten aus Freiburg, ihrem Mann,meinem jetzigen Schwager, mu ich die erst am Vor-

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    tag ausgepackte Reisetasche, die ich noch gar nichtweggerumt und auf dem Sessel neben meinem

    Schreibtisch liegen gelassen habe, wieder einpackenund in das mir in den letzten Jahren tatschlich alles inallem mehr oder weniger widerwrtig gewordeneWolfsegg zurck, dachte ich, noch immer vom offe-nen Fenster aus auf die menschenleere Piazza Minervahinunterschauend, und der Anla ist jetzt kein lcher-licher und grotesker, sondern der furchtbare. Anstattmich mit Gambetti ber den Siebenks und ber diePortugiesin zu unterhalten, werde ich mich meinen in

    Wolfsegg auf mich wartenden Schwestern ausliefernmssen, sagte ich mir, anstatt mit Gambetti ber dieWahlverwandtschaften, werde ich mit meinen Schwe-stern ber das Begrbnis der Eltern und des Brudersund deren Hinterlassenschaft reden mssen. Anstattmit Gambetti auf dem Pincio hin und her, werde ichauf das Brgermeisteramt und auf den Friedhof und inden Pfarrhof zu gehen haben und mich mit meinen

    Schwestern ber die Begrbnisformalitten streiten.Whrend ich die Wschestcke, die ich erst am Vor-abend ausgepackt hatte, wieder einpackte, versuchteich mir die Konsequenzen klar zu machen, die der Todder Eltern und der Tod des Bruders nach sich ziehenwerden, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Aberich war mir naturgem doch der Tatsache bewut,was der Tod dieser drei mir wenigstens auf dem Papieram nchsten stehenden Menschen jetzt von mir for-

    derte: meine ganze Kraft, meine ganze Willensstrke.Die Ruhe, mit welcher ich nach und nach die Ta-sche mit meinen Reisenotwendigkeiten vollgestopft,

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    gleichzeitig meine durch dieses zweifellos frchter-liche Unglck erschtterte unmittelbare Zukunft

    schon in Rechnung gestellt hatte, war mir erst lange,nachdem ich die Tasche wieder zugemacht hatte, un-heimlich gewesen. Die Frage, ob ich meine Eltern undmeinen Bruder geliebt und sogleich mit dem Wortnatrlich abgewehrt hatte, blieb nicht nur im Grunde,sondern tatschlich unbeantwortet. Ich hatte schonlange weder zu meinen Eltern, noch zu meinem Bru-der ein sogenanntes gutes, nurmehr noch ein gespann-tes, in den letzten Jahren nurmehr noch ein gleichgl-

    tiges Verhltnis. Ich wollte von Wolfsegg und alsoauch von ihnen schon lange nichts wissen, umgekehrtsie nichts von mir, das ist die Wahrheit. Von diesemBewutsein war unser gegenseitiges Verhltnis nurmehr noch auf eine mehr oder weniger existenznot-wendige Grundlage gestellt gewesen. Ich dachte, dieEltern haben dich vor zwanzig Jahren nicht nur ausWolfsegg, an das sie dich lebenslnglich ketten woll-

    ten, sondern auch gleich aus ihren Gefhlen entlassen.Der Bruder neidete mir in diesen zwanzig Jahrenunausgesetzt mein Fortgehen, meine grenwahnsinnigeSelbstndigkeit, wie er sich mir gegenber einmal aus-drckte, die rcksichtslose Freiheit, und hate mich. DieSchwestern waren in ihrem Argwohn mir gegenberimmer weiter gegangen, als es zwischen Geschwisternerlaubt ist, sie verfolgten mich von dem Zeitpunkt an,in welchem ich Wolfsegg und damit auch ihnen den

    Rcken gekehrt habe, auch mit Ha. Das ist die Wahr-heit. Ich hob die Tasche auf, sie war, wie immer, zuschwer, ich dachte, da sie im Grunde vllig berfls-

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    sig ist, denn ich habe in Wolfsegg alles. Wozu schleppeich die Tasche mit? Ich beschlo, ohne Tasche nach

    Wolfsegg zu reisen, und packte das Eingepackte wie-der aus und verstaute es nacheinander im Kasten. Wirlieben naturgem unsere Eltern und genau so natur-gem unsere Geschwister, dachte ich, wieder amFenster stehend und auf die Piazza Minerva hinunter-schauend, die noch immer menschenleer war, undbemerken nicht, da wir sie von einem bestimmtenAugenblick an hassen, gegen unseren Willen, aber aufdieselbe natrliche Weise, wie wir sie vorher geliebt

    haben aus allen diesen Grnden, die uns erst Jahre, oftauch erst Jahrzehnte spter, bewut geworden sind.Den genauen Zeitpunkt, in welchem wir die Elternund die Geschwister nicht mehr lieben, sondern has-sen, knnen wir nicht mehr bezeichnen und wir be-mhen uns auch nicht mehr, den genauen Zeitpunktausfindig zu machen, weil wir im Grunde Angst ha-ben davor. Wer die Seinigen gegen deren Willen ver-

    lt und noch dazu auf die unerbittlichste Weise, wieich es getan habe, mu mit ihrem Ha rechnen und jegrer zuerst ihre Liebe zu uns gewesen ist, destogrer ist, wenn wir wahrgemacht haben, was wirgeschworen haben, ihr Ha. Ich habe Jahrzehnte un-ter ihrem Ha gelitten, sagte ich mir jetzt, aber ichleide schon jahrelang nicht mehr darunter, ich habemich an ihren Ha gewhnt und er verletzt mich nichtmehr. Und unweigerlich hat ihr Ha gegen mich

    meinen Ha gegen sie hervorgerufen. Auch sie littenin den letzten Jahren nicht mehr unter meinem Ha.Sie verachteten ihren Rmer, wie ich sie als die Wolfs-

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    egger verachtete, und sie dachten im Grunde berhauptnicht mehr an mich, wie ich die meiste Zeit berhaupt

    nicht mehr an sie dachte. Sie hatten mich immer nureinen Scharlatan und Schwtzer genannt, einen sie unddie ganze Welt ausntzenden Parasiten. Ich hatte frsie nur das Wort Dummkpfe zur Verfgung. Ihr Tod,es kann nur ein Autounfall sein, sagte ich mir, ndertan dieser Tatsache nichts. Ich hatte keinerlei Senti-mentalitt zu frchten. Mir zitterten nicht einmal dieHnde beim Lesen des Telegramms und mein Krperbebte nicht einen Augenblick. Ich werde Gambetti

    Mitteilung davon machen, da meine Eltern und meinBruder tot sind und da ich ein paar Tage mit demUnterricht aussetzen mu, dachte ich, nur ein paarTage, denn lnger als nur ein paar Tage werde ich michnicht in Wolfsegg aufhalten; eine Woche wird genugsein, selbst bei sich unvorhergesehen komplizieren-den Formalitten. Einen Augenblick habe ich darangedacht, Gambetti mitzunehmen, weil ich Angst hatte

    vor der bermacht der Wolfsegger und ich wenig-stens einen Menschen an meiner Seite haben wollte,mit welchem ich mich gegen den Wolfsegger Ansturmzu wehren in der Lage sei, einen mir entsprechendenMenschen und Partner in verzweifelter, mglicher-weise aussichtsloser Lage, aber ich gab diesen Gedan-ken gleich wieder auf, weil ich Gambetti die Konfron-tation mit Wolfsegg ersparen wollte. Dann wrde ersehen, da alles das, das ich ihm in den letzten Jahren

    ber Wolfsegg gesagt habe, harmlos sei gegenber derWahrheit und der Wirklichkeit, die er zu sehen be-kommt, dachte ich. Einmal dachte ich, ich nehme

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    Gambetti mit, einmal, ich nehme ihn nicht mit. Ichentschied mich am Ende, ihn nicht mitzunehmen. Mit

    Gambetti mache ich in Wolfsegg auch zu viel und ein,mir doch alles in allem wahrscheinlich widerwrtigessensationelles Aufsehen, dachte ich. Einen Menschenwie Gambetti verstehen sie in Wolfsegg schon garnicht. Schon ganz und gar harmlosen Fremden sindsie in Wolfsegg immer nur mit Abscheu und Habegegnet, alles Fremde haben sie immer abgelehnt,sich niemals mit etwas Fremdem oder mit einemFremden von einem Augenblick auf den andern, wie

    es meine Gewohnheit ist, eingelassen. Gambetti nachWolfsegg mitzunehmen, bedeutete, Gambetti ganzbewut vor den Kopf zu stoen und ihn letztenendeszutiefst verletzen. Ich selbst bin kaum in der Lage, mitWolfsegg fertig zu werden, geschweige denn einMensch und ein Charakter wie Gambetti. Die Kon-frontation Gambettis mit Wolfsegg knnte tatschlichin eine Katastrophe fhren, dachte ich, deren entschei-

    dendes Opfer dann niemand anderer wre als Gam-betti selbst. Ich htte Gambetti ja schon frher einmalnach Wolfsegg mitnehmen knnen, dachte ich, ausgutem Grund unterlie ich es aber immer, obwohl ichmir sehr oft sagte, da es ja nicht nur fr mich ntzlichsein knnte, mit Gambetti nach Wolfsegg zu reisen,sondern auch fr Gambetti selbst. Meine Berichteber Wolfsegg htten so, durch den persnlichenAugenschein Gambettis, eine ihm gegenber durch

    nichts sonst erreichte Authentizitt. Ich kenne Gam-betti jetzt fnfzehn Jahre und ich habe ihn nicht eineinziges Mal nach Wolfsegg mitgenommen, dachte

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    ich. Mglicherweise denkt Gambetti ber diese Tat-sache anders als ich, sagte ich mir jetzt, auf Grund der

    Ungewhnlichkeit, die es naturgem ist, einen Men-schen, mit welchem ich fnfzehn Jahre einen mehroder weniger vertrauten Umgang pflege, nicht eineinziges Mal in diesen fnfzehn Jahren in jenen Orteinzuladen und mitzunehmen, der mein Ursprungsortist. Warum tatschlich habe ich diese ganzen langenfnfzehn Jahre Gambetti nicht in die heimatlichen Kar-ten schauen lassen? dachte ich. Weil ich immer Angstdavor gehabt habe und noch immer Angst davor

    habe. Weil ich mich schtzen will gegen sein Wissenber Wolfsegg und also gegen sein Wissen ber meineHerkunft einerseits, weil ich selbst ihn schtzen willgegen ein solches Wissen, das mglicherweise dochnur eine verheerende Wirkung auf ihn ausben kann.Ich wollte Gambetti in diesen fnfzehn Jahren unseresVerhltnisses niemals Wolfsegg aussetzen. Obwohl esmir immer wieder das angenehmste gewesen wre,

    nicht allein, sondern in Begleitung Gambettis nachWolfsegg zu reisen und mit Gambetti meine Wolfs-egger Tage zu verbringen, habe ich mich immer ge-weigert, Gambetti mitzunehmen. Natrlich wreGambetti jederzeit mit nach Wolfsegg gekommen. Erwartete ja immer auf meine Einladung. Aber ich ludihn nicht ein. Ein Begrbnis ist nicht nur ein trauriger,sondern auch ein ganz und gar widerwrtiger Anla,sagte ich mir jetzt, gerade zu diesem Anla werde ich

    Gambetti nicht auffordern, mit mir nach Wolfsegg zukommen. Ich werde ihm Mitteilung davon machen,da meine Eltern tot sind, ohne da ich die Bestti-

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    gung habe, werde ich sagen, da sie bei einem Auto-unfall umgekommen sind mit meinem Bruder, aber

    ich werde nicht mit einem Wort sagen, da er mitkom-men soll. Noch vor zwei Wochen, bevor ich nachWolfsegg zur Hochzeit meiner Schwester gefahrenbin, habe ich Gambetti gegenber mit der grtenRoheit ber meine Eltern gesprochen und meinenBruder einen mehr oder weniger schlechten Charakterund einen unbelehrbaren Dummkopf genannt. Wolfs-egg beschrieben als einen Hort des Stumpfsinns. Dasgrauenhafte Klima, das in der Gegend von Wolfsegg

    immer geherrscht und immer alles beherrscht hat, aufdie Menschen bertragen, die in Wolfsegg zu lebenoder besser noch, zu existieren gezwungen seien undwie dieses Klima von einer geradezu menschenver-nichtenden Rcksichtslosigkeit sind. Aber ich habedabei auch die absoluten Vorzge von Wolfsegg er-whnt, die schnen Herbsttage, die von mir wie keinezweite geliebte Winterklte und Winterstille in den

    umliegenden Wldern und Tlern. Da dort zwar einercksichtslose, aber auch durch und durch klare undgroartige Natur sei. Da diese durch und durch klareund groartige Natur aber von den Menschen, die siebewohnen, gar nicht mehr zur Kenntnis genommenwerde, weil sie in ihrem Stumpfsinn dazu nicht mehrimstande sind. Gbe es die Meinigen nicht und nur dieMauern, in welchen sie leben, hatte ich damals zuGambetti gesagt, ich mte Wolfsegg als den Glcks-

    fall eines Ortes fr mich empfinden, denn er sei wiekein zweiter meinem Geiste entsprechend. Aber ichkann die Meinigen ja nicht, weil ich es will, abschaffen, hatte

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    ich gesagt. Deutlich hre ich mich diesen Satz spre-chen und die Furchtbarkeit, die er jetzt durch den

    tatschlichen Tod meiner Eltern und meines Brudersin sich hatte, lie mich diesen Satz, noch immer amFenster stehend und auf die Piazza Minerva hinunterschauend, noch einmal laut aussprechen. Da ich dendamals Gambetti gegenber mit der grten Abnei-gung gegen die Betroffenen ausgesprochenen SatzAber ich kann die Meinigen ja nicht, weil ich es will,abschaffen, jetzt ziemlich laut und geradezu mit einemtheatralischen Effekt wiederholte, so, als sei ich ein

    Schauspieler, der den Satz zu proben hat, weil er ihnvor einem greren ffentlichen Auditorium vorzu-tragen hat, entschrfte ich ihn augenblicklich. Er warauf einmal nicht mehr vernichtend. Dieser Satz Aberich kann die Meinigen ja nicht, weil ich es will, abschaffen,hatte sich jedoch bald wieder in den Vordergrund ge-drngt und beherrschte mich. Ich bemhte mich, ihnzum Verstummen zu bringen, aber er lie sich nicht

    abwrgen. Ich sagte ihn nicht nur, ich plapperte ihnmehrere Male vor mich hin, um ihn lcherlich zumachen, aber er war nach meinen Versuchen, ihnabzuwrgen und lcherlich zu machen, nur noch be-drohlicher. Er hatte auf einmal das Gewicht, das nochkein Satz von mir gehabt hat. Mit diesem Satz kannstdu es nicht aufnehmen, sagte ich mir, mit diesem Satzwirst du leben mssen. Diese Feststellung fhrte ur-pltzlich zu einer Beruhigung meiner Situation. Ich

    sprach den SatzAber ich kann die Meinigen ja nicht, weilich es will, abschaffen, jetzt noch einmal so aus, wie ichihn Gambetti gegenber ausgesprochen hatte. Jetzt

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    hatte er dieselbe Bedeutung wie damals Gambettigegenber. Auf der Piazza Minerva war, auer Tau-

    ben, kein Leben. Pltzlich war mir kalt und ich schlodas Fenster. Ich setzte mich an den Schreibtisch. Aufmeinem Schreibtisch lag noch die Post, darunter einBrief Eisenbergs, ein Brief Spadolinis, des Erzbi-schofs und Liebhabers meiner Mutter, und ein ZettelMarias. Die Einladungen der verschiedenen rmi-schen Kulturinstitute und auch alle anderen privatenEinladungen habe ich sofort in den Papierkorb ge-worfen, auch ein paar Briefe, die sich mir schon nach

    der oberflchlichsten Betrachtung als Droh- oder Bet-telbriefe herausgestellt hatten, von Leuten, die entwe-der von mir Geld oder Aufklrung darber habenwollten, was wirklich ich mit meiner Denk- und Le-bensweise zu bezwecken beabsichtigte, die sich auf einpaar Zeitungsartikel beziehen, die ich in letzter Zeitverffentlicht habe und die diesen Leuten nicht pas-sen, weil sie naturgem gegen alle diese Leute ge-

    dacht und geschrieben sind, natrlich Briefe aussterreich, von Leuten geschrieben, die mich bis nachRom mit ihrem Ha verfolgen. Seit Jahren bekommeich diese Briefe, die durchaus nicht, wie ich zuerstgeglaubt hatte, von Verrckten geschrieben sind, son-dern von tatschlich mndigen, juristisch einwand-freien Personen sozusagen, die mir fr meine Ver-ffentlichungen in den verschiedensten Zeitungenund Zeitschriften nicht nur in Frankfurt und Ham-

    burg, auch in Mailand und Rom, unter anderem meineVerfolgung und Ttung androhen. Ich ziehe ster-reich andauernd in den Schmutz, sagen diese Leute,

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    die Heimat mache ich auf die unverschmteste Weiseherunter, ich unterstellte den sterreichern eine ge-

    meine und niedertrchtige katholisch- nationalsoziali-stische Gesinnung wann und wo ich nur knne, wo esin Wahrheit diese gemeine und niedertrchtige katho-lisch- nationalsozialistische Gesinnung in sterreichgar nicht gbe, wie diese Leute schreiben. sterreichsei nicht gemein und es sei nicht niedertrchtig, es seiimmer nur schn gewesen, schreiben diese Leute, unddas sterreichische Volk sei ein ehrbares. Diese Briefehabe ich immer sofort weggeworfen, auch heute frh.

    Behalten habe ich nur Eisenbergs Brief, die Einladungmeines Studienfreundes, des jetzigen Wiener Rabbi-ners, zu einem Treffen in Venedig, wo er Ende Mai zutun habe, wie er schreibt, und mit mir in das TeatroFenice zu gehen beabsichtige, nicht wie vor einem Jahr,wie er schreibt, in so etwas wie Strawinskis Geschichtevom Soldaten, sondern in Monteverdis Tancredo,Eisenbergs Einladung nehme ich selbstverstndlich

    an, ich werde ihm sofort antworten, dachte ich, abersofort bedeutet, nach meiner Rckkehr aus Wolfsegg. MitEisenberg durch Venedig zu gehen ist mir immer eingroes Vergngen gewesen, dachte ich, berhauptmit Eisenberg zusammen zu sein. Kommt er nachItalien, und sei es auch nur nach Venedig auf ein paarTage, kndigt er es an, dachte ich, ldt er mich ein undimmer auf ein, wie er selbst sagt, hochknstlerischesVergngen, zweifellos ist der Tancredo im Fenice ein

    solches, dachte ich. Ein Belegexemplar des Corrieredella Sera hatten sie mir zugeschickt, in welchem meinkurzer Aufsatz ber Leos Jancek abgedruckt ist. Ich

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    machte die Zeitung voller Erwartung auf, aber meinAufsatz war erstens nicht an hervorragender Stelle

    plaziert, was mich gleich verstimmt hat, zweitens ent-deckte ich in ihm schon beim ersten kurzen Durchle-sen eine Reihe von unverzeihlichen Druckfehlern,also das Frchterlichste, das mir passieren kann. Ichwarf den Corriere weg und las noch einmal, was mirMaria auf den Zettel geschrieben hat, den sie in mei-nen Briefkasten geworfen hat. Meine groe Dichterinschreibt, da sie Samstag abend mit mir essen gehenwill, mit dir allein, sie habe im brigen neue Gedichte

    geschrieben fr dich, wie sie schreibt. Meine groeDichterin ist in letzter Zeit recht produktiv, dachte ichund ich zog die Lade heraus, in der ich ein paar Foto-grafien meiner Familie verwahrt hatte. Ich betrachteteeindringlich die Fotografie, auf welcher meine Elterngerade auf dem Victoriabahnhof in London den Zugnach Dover besteigen. Ich hatte die Fotografie vonihnen gemacht, ohne ihr Wissen. Sie hatten mich, der

    ich neunzehnhundertsechzig in London studiert habe,besucht und waren nach einem vierzehntgigen Eng-landaufenthalt, der sie bis nach Glasgow und Bristolgefhrt hatte, nach Paris gereist, wo sie von meinenSchwestern erwartet worden waren, die ihrerseits vonCannes aus, wo sie unseren Onkel Georg besuchten,nach Paris gekommen waren, um meine Eltern zutreffen. Neunzehnhundertsechzig hatte ich durchausnoch ein wenigstens ertrgliches Verhltnis zu meinen

    Eltern gehabt, dachte ich. Ich hatte gewnscht, inEngland zu studieren, und sie hatten sich nicht imgeringsten dagegen gestellt, weil sie annehmen mu-

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    ten, ich werde nach meinem Studium in England nachWien zurckkehren und schlielich nach Wolfsegg, um

    ihren Wunsch, zusammen mit meinem BruderWolfsegg zu lenken und zu betreiben, zu erfllen.Aber ich hatte schon damals nicht die Absicht gehabt,nach Wolfsegg zurckzukehren, ich war tatschlich nurmit dem einzigen Gedanken aus Wolfsegg nachEngland und nach London gegangen, niemehr nachWolfsegg zurckzukommen. Ich hate die Landwirt-schaft, die Leidenschaft meines Vaters und meinesBruders. Ich hate alles, das mit Wolfsegg zusammen-

    hing, denn es war in ihm immer nur auf den wirt-schaftlichen Vorteil fr die Familie angekommen, aufnichts sonst. In Wolfsegg hatten sie, solange es bestehtund in den Hnden meiner Familie gewesen ist, frnichts anderes etwas brig gehabt, als fr seine Wirt-schaftlichkeit und wie mit der Zeit ein immer nochgrerer Gewinn aus seinen Produktionssttten, alsoaus seiner Landwirtschaft, die immerhin auch heute

    noch zwlftausend Hektar umfat, und aus den Berg-werken herauszuschlagen ist. Sie hatten nichts anderesim Kopf als die Ausbeutung ihres Besitzes. Sie heu-chelten zwar immer, auch etwas anderes zu betreibenals nur ihre wirtschaftliche Gewinnsucht, da sie frKultur, ja sogar fr die Knste etwas brig htten,aber die Wirklichkeit war schon immer eine deprimie-rende und beschmende gewesen. Sie hatten zwarTausende von Bchern in den Bibliotheken in Wolfs-

    egg, das fnf Bibliotheken beherbergt, und diese B-cher in absurder Regelmigkeit drei- oder viermaljhrlich abgestaubt, aber sie hatten diese Bcher aus

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    diesen ihren Bibliotheken niemals gelesen. Sie hieltendie Bibliotheken immer auf Hochglanz, damit sie sie,

    ohne sich schmen zu mssen, ihren Besuchern vor-zeigen und vor diesen Besuchern prahlen und ihregedruckten Kostbarkeiten herzeigen konnten, abersie machten von allen diesen Tausenden, ja Zehntau-senden von Kostbarkeiten persnlich niemals denGebrauch, der selbstverstndlich gewesen wre. Diefnf Bibliotheken in Wolfsegg, vier im Haupthaus,eine in den Nebengebuden, waren schon von meinenUrururgroeltern angelegt worden, meine Eltern hat-

    ten nicht einen einzigen Band dazu angeschafft. Esheit, unsere Bibliotheken seien zusammen ebensokostbar wie die Stiftsbibliothek von Lambach, dieweltberhmt ist. Mein Vater las kein Buch, meineMutter bltterte nur ab und zu in alten naturwissen-schaftlichen Bchern, um sich an den farbenprchti-gen Stichen, die diese Bcher schmcken, zu ergt-zen. Meine Schwestern betraten die Bibliotheken

    berhaupt nicht, es sei denn, sie zeigten sie Besuchern,die den Wunsch geuert hatten, unsere Bibliothekensehen zu wollen. Die Fotografie, die ich von meinenEltern auf dem Victoriabahnhof gemacht hatte, zeigtmeine Eltern in einem Alter, in welchem sie nochReisen gemacht haben und von keiner Krankheit ge-qult waren. Sie trugen gerade erst bei Burberry ge-kaufte Regenmntel und hatten an ihren Armen neue,ebenso bei Burberry gekaufte Schirme hngen. Als

    typische Kontinentler gaben sie sich noch englischerals die Englnder und machten dadurch einen ehergrotesken, denn feinen und vornehmen Eindruck und

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    ich hatte ja jedesmal beim Anblick dieser Fotografielachen mssen, jetzt aber war mir das Lachen darber

    vergangen. Meine Mutter hatte einen etwas zu langenHals, welcher nicht mehr als schn empfunden wer-den konnte und in dem Augenblick, als ich das Fotovon ihr gemacht habe, streckte sie ihn, da sie geradeden Zug bestieg, noch um ein paar Zentimeter weiterals sonst vor und machte dadurch die einfache Lcher-lichkeit des Bildes zu einer doppelten. Die Krperhal-tung meines Vaters war immer die eines Menschen,der sein schlechtes Gewissen der ganzen Welt gegen-

    ber nicht verbergen kann und darber unglcklichist. Er trug damals, als ich das Foto machte, seinenHut etwas tiefer als sonst in der Stirn, was ihn aufmeinem Foto viel unbeholfener erscheinen lt, als erin Wirklichkeit war. Warum ich gerade dieses Fotomeiner Eltern aufgehoben habe, wei ich nicht. EinesTages werde ich auf den Grund kommen, dachte ich.Ich legte das Foto auf den Schreibtisch und suchte

    nach jenem am Ufer des Wolfgangsees erst vor zweiJahren gemachten, das meinen Bruder auf seinemSegelschiff, das er das ganze Jahr ber in Sankt Wolf-gang in einer Pachthtte der Frstenberg stehen hat,zeigt. Der Mann auf dem Foto ist ein verbitterterMensch, den das Alleinsein mit seinen Eltern ruinierthat. Die sportliche Kleidung verdeckt nur mhseligdie Krankheiten, die ihn bereits vollkommen in Besitzgenommen haben. Sein Lcheln ist, wie gesagt wird,

    verqult und das Foto kann nur sein Bruder gemachthaben, nmlich ich. Als ich ihm eine Kopie des Fotosgegeben habe, zerri er sie kommentarlos. Ich legte

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    das Foto, das meinen Bruder zeigt, neben das Foto,auf welchem meine Eltern in London den Zug nach

    Dover besteigen und betrachtete beide lngere Zeit.Du hast diese Menschen solange geliebt, wie sie dichgeliebt haben und dann von dem Augenblick an ge-hat, von welchem an sie dic h gehat haben. Da ichsie berleben werde, habe ich naturgem niemalsgedacht, im Gegenteil war ich immer der Meinunggewesen, ich werde eines Tages der Erstverstorbenesein. Die jetzt eingetretene Situation ist die, an die ichniemals gedacht habe, an alle anderen mglichen habe

    ich immer wieder gedacht, niemals an diese. Ich hattemir sehr oft vorgestellt und auch sehr oft davon ge-trumt, zu sterben, sie hinter mir zu lassen, allein zulassen ohne mich, sie durch meinen Tod von mirbefreit zu haben, niemals davon, von ihnen zurckge-lassen zu sein. Die Tatsache, da siejetzt tot waren undnicht ich, war im Augenblick fr mich nicht nur diedenkbar unvorhergesehene, sie war fr mich das Sen-

    sationelle. Dieses sensationelle Element, dieses sensa-tionelle Elementare war es, das mich schockierte,nicht eigentlich die Tatsache an sich, da sie jetzt totund zwar unwiderruflich tot waren. Meine Eltern alsein wenn auch tatschlich immer in allem hilfloses, sodoch fr mich lebenslnglich dmonisches Paar, wa-ren auf einmal ber Nacht auf dieses groteske undlcherliche Foto zusammengeschrumpft, das ich jetztauf dem Schreibtisch liegen hatte und mit der grten

    Eindringlichkeit und Schamlosigkeit betrachtete. Ge-nauso das Foto meines Bruders. Vor diesen Menschenhast du dich zeitlebens so gefrchtet wie vor nichts

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    anderem, dachte ich, und du hast diese Furcht zu dergrten Ungeheuerlichkeit deines Lebens gemacht,

    sagte ich mir. Diesen Menschen hast du dich zeitle-bens, obwohl du immer wieder den Versuch gemachthast, nicht entziehen knnen, alle deine Versuche indieser Richtung sind letzten Endes gescheitert, du bistnach Wien, um ihnen zu entkommen, nach London,um ihnen zu entkommen, nach Paris, nach Ankara,nach Konstantinopel, schlielich Rom, zwecklos. Siemuten tdlich verunglcken und zu diesem lcherli-chen Papierfetzen, der sich Fotografie nennt, zusam-

    menschrumpfen, um dir nicht mehr schaden zu kn-nen. Der Verfolgungswahn ist zuende, dachte ich. Siesind tot. Du bist frei. Zum ersten Mal empfand ichbeim Anblick der Fotografie, die ihn in Sankt Wolf-gang auf seinem Segelboot zeigt, Mitleid mit meinemBruder. Er sah jetzt auf dem Foto noch viel komischeraus als bei frherer Betrachtung. Meine Unbestech-lichkeit, diese Betrachtung betreffend, erschreckte

    mich. Auch die Eltern waren auf dem Foto, das sie aufdem Victoriabahnhof zeigt, komisch. Alle drei warensie jetzt, vor mir auf dem Schreibtisch, keine zehnZentimeter gro und in modischer Kleidung undgrotesker Krperhaltung, die auf eine ebenso gro-teske Geisteshaltung schlieen lt, noch komischer alsbei frherer Betrachtung. Die Fotografie zeigt nur dengrotesken und den komischen Augenblick, dachteich, sie zeigt nicht den Menschen, wie er alles in allem

    zeitlebens gewesen ist, die Fotografie ist eineheimtckische perverse Flschung, jede Fotografie,gleich von wem sie fotografiert ist, gleich, wen sie

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    darstellt, sie ist eine absolute Verletzung der Men-schenwrde, eine ungeheuerliche Naturverflschung,

    eine gemeine Unmenschlichkeit. Andererseits emp-fand ich die beiden Fotos als geradezu ungeheuercharakteristisch fr die darauf Festgehaltenen, frmeine Eltern genauso wie fr meinen Bruder. Dassind sie, sagte ich mir, wie sie wirklich sind, das warensie, wie sie wirklich waren. Ich htte auch andereFotografien meiner Eltern und meines Bruders ausWolfsegg mitnehmen und mir behalten knnen, ichhabe diese mitgenommen und behalten, weil sie die

    Eltern wie meinen Bruder genauso wiedergeben indem Augenblick, in welchem diese Fotografien vonmir gemacht worden sind, wie meine Eltern wirklichsind, wie mein Bruder wirklich ist. Ich hatte nicht diegeringste Scham bei dieser Feststellung. Nicht zufllighatte ich gerade diese Fotografien nicht vernichtetund sogar nach Rom mitgenommen und in meinemSchreibtisch aufbewahrt. Hier habe ich keine ideali-

    sierten Eltern, sagte ich mir, hier habe ich meineEltern, wie sie sind, wie sie waren, verbesserte ichmich. Hier habe ich meinen Bruder, wie er gewesenist. Sie waren alle drei so scheu, so gemein, so ko-misch. Ich htte ja, dachte ich, keine Verflschungmeiner Eltern und meines Bruders in meinem Schreib-tisch geduldet. Nur die tatschlichen, die wahren Ab-bilder. Nur das absolut Authentische, und ist es nochso grotesk, mglicherweise sogar widerwrtig. Und

    genau diese Fotos mit meinen Eltern darauf und mei-nem Bruder habe ich Gambetti einmal gezeigt, voreinem Jahr, ich wei noch wo, im Cafe auf der Piazza

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    del Popolo. Er hatte sich die Fotos angeschaut undkeinerlei Kommentar abgegeben. Ich erinnere mich

    nur, da er, nachdem er die Fotos angeschaut hatte,fragte: sind deine Eltern sehr reich? Ich hatte daraufgeantwortet: ja. Ich wei auch noch, da es mir nach-her peinlich gewesen ist, ihm die Fotos berhauptgezeigt zu haben. Du httest ihm gerade diese Fotosniemals zeigen drfen, sagte ich mir damals. Es wareine Dummheit gewesen. Es gab und gibt zahlloseFotografien, auf welchen meine Eltern tatschlich,wie gesagt wird, seris dargestellt sind, aber sie ent-

    sprechen nicht dem Bild, das ich mir von meinenEltern zeitlebens gemacht habe. Auch von meinemBruder gibt es solche serisen Fotografien, auch siesind Verflschungen. Gambetti htte ich keine dieserVerflschungen jemals gezeigt. Im brigen hasse ichbeinahe nichts auf der Welt mehr, als das Herzeigenvon Fotografien. Ich zeige keine und ich lasse mirkeine zeigen. Da ich Gambetti das Foto mit den

    Eltern auf dem Victoriabahnhof gezeigt habe, wareine Ausnahme. Was bezweckte ich damit? Gambettiseinerseits hatte mir niemals Fotografien gezeigt. Na-trlich, seine Eltern und seine Geschwister kenne ichund es htte gar keinen Sinn, mir Fotos, auf welchensie dargestellt sind, zu zeigen, er wre auch nie auf dieIdee gekommen. Im Grunde hasse ich Fotografienund ich selbst bin nie auf die Idee gekommen, Foto-grafien zu machen, von dieser Londoner Ausnahme

    abgesehen, von Sankt Wolfgang, von Cannes, zeitle-bens habe ich keinen Fotoapparat besessen. Ich ver-achte die Leute, die fortwhrend am Fotografieren

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    sind und die ganze Zeit mit ihrem Fotoapparat um denHals umherlaufen. Fortwhrend sind sie auf der Suche

    nach einem Motiv und sie fotografieren alles undjedes, selbst das Unsinnigste. Fortwhrend haben sienichts im Kopf, als sich selbst darzustellen und immerauf die abstoendste Weise, was ihnen selbst abernicht bewut ist. Sie halten auf ihren Fotos eine per-vers verzerrte Welt fest, die mit der wirklichen nichtsals diese perverse Verzerrung gemein hat, an welchersie sich schuldig gemacht haben. Das Fotografieren isteine gemeine Sucht, von welcher nach und nach die

    ganze Menschheit erfat ist, weil sie in die Verzerrungund die Perversitt nicht nur verliebt, sondern ver-narrt ist und tatschlich vor lauter Fotografieren mitder Zeit die verzerrte und die perverse Welt fr dieeinzig wahre nimmt. Die fotografieren begehen einesder gemeinsten Verbrechen, die begangen werdenknnen, indem sie die Natur auf ihren Fotografien zueiner perversen Groteske machen. Die Menschen sind

    auf ihren Fotografien lcherliche, bis zur Unkennt-lichkeit verschobene, ja verstmmelte Puppen, dieerschrocken in ihre gemeine Linse starren, stumpfsin-nig, widerwrtig. Das Fotografieren ist eine nieder-trchtige Leidenschaft, von welcher alle Erdteile undalle Bevlkerungsschichten erfat sind, eine Krank-heit, von welcher die ganze Menschheit befallen ist undvon welcher sie nie mehr geheilt werden kann. DerErfinder der fotografischen Kunst ist der Erfinder der

    menschenfeindlichsten aller Knste. Ihm verdankenwir die endgltige Verzerrung der Natur und des inihr existierenden Menschen zu ihrer und seiner per-

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    versen Fratze. Ich habe noch auf keiner Fotografieeinen natrlichen und das heit, einen wahren und

    wirklichen Menschen gesehen, wie ich noch auf keinerFotografie eine wahre und wirkliche Natur gesehenhabe. Die Fotografie ist das grte Unglck des zwan-zigsten Jahrhunderts. Bei der Betrachtung von Foto-grafien hat es mich immer wie bei nichts sonst geekelt.Aber, sagte ich mir jetzt, so verzerrt die Eltern undmein Bruder auf diesen einzigen von mir gemachtenFotografien mit dem meinem Bruder gehrendenFotoapparat sind, sie zeigen, je lnger ich sie be-

    trachte, hinter der Perversitt und der Verzerrungdoch die Wahrheit und die Wirklichkeit dieser sozu-sagen Abfotografierten, weil ich mich nicht um dieFotos kmmere und die darauf Dargestellten nicht,wie sie das Foto in seiner gemeinen Verzerrung undPerversitt zeigt, sehe, sondern wie ich sie sehe. MeineEltern auf dem Victoriabahnhof in London habe ich aufdie Rckseite des Fotos geschrieben. Auf das zweite,

    das meinen Bruder in Sankt Wolfgang zeigt, MeinBruder beim Segeln in Sankt Wolfgang. Ich griff in dieLade und holte ein Foto heraus, auf welchem meineSchwestern Amalia und Caecilia vor jener Villa inCannes in Pose stehen, die sich mein Onkel Georg, derBruder meines Vaters, von dem Geld gekauft hat, mitwelchem ihn sein Bruder nach dem Tod meiner Gro-eltern ein fr allemal, wie gesagt wird, ausgezahlt hatund der mehrere Aktienpakete so geschickt in vielen

    Teilen Frankreichs angelegt hat, da er davon immernicht nur recht gut, sondern sogar in einem gewissenihm entsprechenden Luxus leben konnte. Er hat,

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    dachte ich jetzt bei Betrachtung der Fotografie, aufwelcher meine Schwestern ihre mehr oder weniger

    spttischen Gesichter zeigen, das bessere Los gezogenim Gegensatz zu seinem Bruder, meinem Vater. DerOnkel Georg ist vor vier Jahren ebenso pltzlichgestorben wie sein Bruder, mein Vater, allerdings inder Folge eines Herzanfalls, der ihn im Park seinerVilla berrascht hat, whrend er gerade im Begriffgewesen war, seine Rosen zu inspizieren, die im Laufeseines spteren Lebens seine einzige Leidenschaft ge-worden waren. Mit fnfunddreiig hatte er sich schon

    aus Wolfsegg absetzen und an die Riviera zurckzie-hen knnen mit einer Menge Geld und mit einemHaufen von Bchern. Er liebte die franzsische Lite-ratur und das Meer und war ganz in diesen beidenVorlieben aufgegangen. Oft denke ich, da ich vielvon meinem Onkel Georg habe, mehr jedenfalls alsvon meinem Vater. Auch ich habe zeitlebens die Lite-ratur und die Bcher und das Meer geliebt. Auch ich

    bin aus Wolfsegg weggegangen, sogar schon in jn-geren Jahren als er. Meine Schwestern Amalia und Cae-cilia vor Onkel Georgs Villa habe ich auf die Fotografiegeschrieben. Das letzte Mal war ich neunzehnhun-dertachtundsiebzig in Cannes gewesen. Mindestenseinmal im Jahr suchte ich den Onkel Georg auf. Einpaar Tage mit ihm in seiner Villa zusammen hatten mirimmer gut getan. Zu seinem Universalerben hat er,zum Entsetzen unserer Familie, seinen Hausmeister

    gemacht, der ihm immer treu gedient und den erimmer liebevoll mein guter Jean genannt hat. MehrereMale ist mein Onkel Georg in Rom gewesen, in der

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    Stadt, die er genauso wie ich, von allen Stdten derWelt, am meisten liebte, am hchsten schtzte. Gam-

    betti und mein Onkel Georg haben sich gut verstan-den, viele Abende im Freien auf der Piazza del Popolooder, wenn es regnete, im Cafe Greco, Gesprchegefhrt ber alles mgliche, vor allem ber Kunst, Ma-lerei. Mein Onkel Georg war ein passionierter Kunst-sammler und wie ich wei, hat er die Zinsen seinesVermgens zum Groteil fr die Anschaffung vonBildern und Plastiken zeitgenssischer Knstler aus-gegeben. Da er einen guten Geschmack und einen

    ganz und gar auergewhnlichen Instinkt, den Wertder von ihm bevorzugten Kunstwerke betreffend,hatte, war er in seiner Sammelleidenschaft bald nebenseinem eigentlichen, zu einem zweiten bedeutendenVermgen gekommen, das ruhig als ein Millionenver-mgen bezeichnet werden kann. Die unbekanntenKnstler, die er frderte, waren bald, nachdem er siemehr oder weniger entdeckt und indem er ihre Arbei-

    ten angekauft und gleichzeitig bekannt gemacht hat,berhmt geworden. Mein Onkel Georg hatte fr denprimitiven Geschftsgeist meiner Familie nichts brig, erhate im Grunde die alljhrlich ausgebeutete Naturauf dem Land und er verachtete die jahrhundertealtenTraditionen von Wolfsegg insgesamt, ob es sich nunum die Produktion von Fleisch und Fett, Haut undHolz und Kohle oder um die Jagd handelte, die er amtiefsten hate, die aber von seinem Bruder, meinem

    Vater, und seinem Neffen, meinem Bruder, als dieerste aller mglichen Leidenschaften betrieben wurde.Die Jagd hate er von allen hassenswerten Leiden-

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    schaffen am allertiefsten. Whrend seine Eltern, meineGroeltern, der Jagd verfallen waren, wie auch mein

    Vater, sein Bruder, der Jagd verfallen war, hatte sichmein Onkel Georg immer geweigert, auf die Jagd zugehen. Er a auch wie ich kein Wild und hatte sich,whrend die brige Familie auf der Jagd gewesen war,in eine der Bibliotheken eingesperrt, um sich durchintensive Lektre von den Jagdexzessen der Familieabzulenken, whrend sie die Hirsche abschossen, sa ich inder Bibliothek hinter festverschlossenen Fensterbalken, umihre Schsse nicht hren zu mss en, sagte er, und las

    Dostojewski. Mein Onkel Georg liebte die russischeLiteratur wie ich, vor allem Dostojewski und Ler-montow, und er hat oft sehr Kluges ber diese russi-schen Dichter gesagt und sich immer wieder mit denbeiden Revolutionren Kropotkin und Bakunin aus-einandergesetzt, die er, was die sogenannte Memoi-renliteratur betrifft, als die hchsten einschtzte, under war es, der mich in die russische Literatur

    eingefhrt hat als ein ganz und gar in der russischenLiteratur beschlagener Fachmann, dem dasRussische so gelufig war wie das Franzsische unddem ich selbst meine Liebe zur russischen, spterauch zur franzsi-schen Literatur, verdanke. Wie ichja berhaupt einen Groteil meinesGeistesvermgens meinem Onkel Georg verdanke.Er, mein Onkel Georg, hatte mir schon sehr frhsozusagen die Augen fr die brige Welt geffnet,

    mich darauf aufmerksam gemacht, da es auerWolfsegg und da es auerhalb sterreichs auchnoch etwas anderes gibt, etwas noch viel Gro-artigeres, etwas noch viel Ungeheuerlicheres und da

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    die Welt nicht nur, wie allgemein blich angenommenwird, aus einer einzigen Familie, sondern aus Millio-

    nen Familien besteht, aus nicht nur einem einzigenOrt, sondern aus Millionen solcher Orte und nicht nuraus einem einzigen Volk, sondern aus vielen Hunder-ten und Tausenden von Vlkern und nicht nur auseinem einzigen Land, sondern aus vielen Hundertenund Tausenden von Lndern, die alle jeweils dieschnsten und wichtigsten sind. Die ganze Mensch-heit ist eine unendliche mit allen Schnheiten undMglichkeiten, sagte mein Onkel Georg. Nur der

    Stumpfsinnige glaubt, die Welt hre da auf, wo erselbst aufhrt. Mein Onkel Georg hat mich aber nichtnur in die Literatur eingefhrt und mir die Literaturals das Paradies ohne Ende geffnet, er hat mich auch indie Welt der Musik eingefhrt und mir fr alle Knstedie Augen geffnet. Erst wenn wir einen ordentlichenKunstbegriff haben, haben wir auch einen ordentli-chen Naturbegriff, sagte er. Erst wenn wir den Kunst-

    begriff richtig anwenden und also genieen knnen, knnenwir auch die Natur richtig anwenden und genieen.Die meisten Menschen kommen niemals zu einemKunstbegriff, nicht einmal zu dem einfachsten undbegreifen dadurch auch niemals die Natur. Die idealeAnschauung der Natur setzt einen idealen Kunstbe-griff voraus, sagte er. Die Menschen, die vorgeben,die Natur zu sehen, aber keinen Kunstbegriff haben,sehen die Natur nur oberflchlich und niemals ideal

    und das heit, in ihrer ganzen unendlichen Groartig-keit. Der Geistesmensch hat die Chance, zuerst, berdie Natur, zu einem idealen Kunstbegriff zu kommen,

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    um auf die ideale Naturanschauung zu kommen berden idealen Kunstbegriff. Mein Onkel Georg lief mit

    mir nicht, wie mein Vater, auf unseren Italienreisenvon einer Sule zur andern, von einem Denkmal zumandern, von einer Kirche zur andern, von einemMichelangelo zum andern, er hat mich berhaupt niezu irgendeinem Kunstwerk gefhrt. Gerade deshalbverdanke ich aber meinem Onkel Georg mein Kunst-verstndnis, weil er mich nicht von einer Kunstbe-rhmtheit zur andern drngte, wie meine Eltern, son-dern mit allen diesen Kunstwerken immer in Ruhe

    lie, mich immer nur aufmerksam machte darauf, daes sie gibt und wo sie zu finden seien, aber nicht, wiemeine Eltern es mit mir getan haben, meinen Kopf alleAugenblicke an eine Sule oder an eine rmische odergriechische Mauer stie. Dadurch, da die Meinigen,auer meinem Onkel Georg, meinen Kopf schon infrher Kindheit an die sogenannten berhmten Alter-tmer der Welt gestoen haben, mit der ihnen eigenen

    plumpen Rcksichtslosigkeit, haben sie meinen Kopfsehr bald vllig unempfindlich gemacht fr jede Artvon Kunst, sie hatten sie mir dadurch nicht nahegebracht, sondern verekelt. Ich hatte viele Jahre dar-auf zu verwenden gehabt, meinen von ihnen an diesenHunderten und Tausenden von Kunstwerken stumpf-sinnig gestoenen Kopf wieder in Ordnung zu brin-gen. Wre ich nur schon als Kind, in welches bis zumuersten berdru alles vllig wahllos hineinzustop-

    fen meine Eltern sich niemals zurckgehalten hatten,unter dem Einflu meines Onkels Georg gestanden,dachte ich, ich htte einen groen Vorteil gehabt.

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    Zuerst aber mute ich, kurz gesagt, von meinenEltern fast zur Gnze vernichtet werden, um dann,

    als ich schon ber zwanzig gewesen war und, wie esschien, rettungslos verloren, von meinem Onkel Georgdoch noch geheilt zu werden. Mit Bedacht und mitBehutsamkeit. Als ich begriff, was mein Onkel Georgfr mich und mein Weiterkommen und fr meineganze Entwicklung bedeutete, war es fr eineBehandlung schon fast zu spt gewesen. Meiner Wil-lensstrke, aus dem Unheil von Wolfsegg, also ausdem von meinen Eltern in mir angerichteten Unheil

    herauszukommen, sowie der Hellsichtigkeit meinesOnkels Georg verdanke ich aber letzten Endes meineRettung. Da ich keine Existenz zu fhren hatte alsErwachsener, wie die Meinigen alle, auer meinemOnkel Georg, sondern die ihnen entgegengesetzte,wie mein Onkel Georg. Zeitlebens haben sie meinenOnkel Georg gehat, gar nicht mehr versteckt in denletzten Jahrzehnten, sie haben ihn mit der Zeit ge-

    nauso behandelt wie mich, so gedacht ber ihn, wieber mich, ihn so hintergangen, wie mich. Aber erwar auf ihre Bedachtnahme nicht angewiesen. EinesTages hatte er sich in den Zug gesetzt, nachdem erseine Finanzen geordnet hatte und war nach Nizza.Dort hatte er sich erst einmal ein paar Wochen ausge-schlafen, um sich dann in aller Frische, wie er immerwieder gesagt hat, nach einem fr ihn gnstigen Platzumzusehen. Am Meer mute dieser Platz sein, in

    einem groen Garten, in der besten Luft, in der ande-rerseits verkehrsgnstigsten Lage. Mit Verbitterunghatten sie in Wolfsegg seine ersten Ansichtskarten in

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    Empfang genommen. Sie sahen den Onkel Georg sichin der Sonne rkeln, in allen mglichen selbstver-

    stndlich mageschneiderten Pariser Leinenanzgenam Meeresufer promenieren, und in ihren Trumen,die naturgem immer nur Alptrume gewesen wa-ren, betrat er, den sie zeitlebens nur einen nichtsnutzenSchurken genannt haben, immer wieder die Bankpor-tale in den Rivieranobelorten, um sich die Zinsenseines sich von Tag zu Tag ganz von selber vergr-ernden Vermgens abzuheben. Sie waren zu dumm,um an eine Geistesexistenz auch nur zu glauben. Mein

    Onkel Georg fhrte eine Geistesexistenz, wie ein paarHundert vollgeschriebene Notizbcher beweisen. DieBeschrnktheit des Mitteleuropers, der, wie ja gesagtwird, lebt, um zu arbeiten, anstatt zu arbeiten, um zuleben, wobei es ganz und gar gleichgltig ist, wasunter Arbeit zu verstehen ist, war meinem OnkelGeorg schon sehr frh auf die Nerven gegangen under hatte die Konsequenz aus seinen berlegungen

    gezogen. Das Aufderstelletreten war seine Sachenicht. In seinen Kopf mu der Mensch frische Lufthereinlassen, sagte er immer wieder, das heit, er muimmer wieder, und zwar tagtglich, die Welt in seinenKopf hereinlassen. In Wolfsegg haben sie niemalsfrische Luft in ihren Kopf und also auch nicht die Weltin ihn hineingelassen. Starr und steif saen sie, so wiesie darauf gemacht worden sind, auf ihrem Erbe zukeinem anderen Zweck, als immer nur darauf zu ach-

    ten, da sich dieses Erbe als gigantischer Besitzklum-pen nur noch mehr und mehr verfestigte, ja nichtauflste. Mit der Zeit hatten sie alle nach und nach die

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    Starre und die Festigkeit und die absolute Hrte diesesBesitzklumpens angenommen, ohne es selbst zu mer-

    ken. Sie waren immer mit diesem Besitzklumpen zueiner furcht- und ekelerregenden Einheit verschmol-zen und merkten es nicht. Mein Onkel Georg merktees aber. Er wollte mit diesem Besitzklumpen nichts zutun haben. Er wartete nur den geeigneten, wahr-scheinlich sogar idealen Augenblick ab, um sich vondiesem Wolfsegger Besitzklumpen loszureien. Siehatten ihm ja, wie ich wei, den Vorschlag gemacht,sein Erbe nicht aus Wolfsegg abzuziehen, sondern

    sich mit einer quasi sicheren Rente zufriedenzugeben.Seine Hellsicht bewahrte meinen Onkel vor einer sol-chen Dummheit. Leute wie die Meinigen sind amskrupellosesten vor allem gegen ihre Familienmitglie-der, wenn es darauf ankommt. Sie scheuen letztenEndes vor keiner Infamitt zurck. Unter dem Mantelihrer Christlichkeit und Groartigkeit und Gesell-schaftlichkeit sind sie nichts als habgierig und gehen,

    wie gesagt wird, ber Leichen. Mein Onkel Georghatte von Anfang an nicht in ihre Plne gepat. Tat-schlich frchteten sie ihn, weil er sie frh durch-schaut hatte. Er hatte sie schon als Kind bei ihrenScheulichkeiten ertappt und sie immer, furchtlos, aufdiese ihre Scheulichkeiten aufmerksam gemacht, ih-nen diese Scheulichkeiten tapfer vorgehalten, er soll,wie gesagt wird, auf Wolfsegg das gefrchtetste Kindgewesen sein. Hellsichtig von Anfang an, soll er es

    sich schon zur frhen Leidenschaft gemacht haben,die Seinigen blozustellen. Er lauerte ihnen schon alskleines Kind auf und konfrontierte sie mit ihren Wi-

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    derwrtigkeiten. Kein Kind soll auf Wolfsegg so vieleFragen gestellt, so viele Antworten gefordert haben.

    Mir selbst haben die Meinigen immer vorgeworfen,ich wrde werden wie mein Onkel Georg. Als ob essich um den abschreckendsten aller Menschen han-delte, sagten sie alle Augenblicke zu mir: du wirst wiedein Onkel Georg. Aber es fruchtete nichts, wenn siemich vor meinem Onkel Georg warnten, denn ichhatte von Anfang an niemand andern mehr geliebt inWolfsegg als den Onkel Georg. Dein Onkel Georg istein Unmensch! haben sie oft gesagt. Dein Onkel

    Georg ist ein Parasit! Dein Onkel Georg ist eineSchande fr uns! Dein Onkel Georg ist ein Verbre-cher! Die Liste der Schauertitel, die sie fr meinenOnkel Georg stndig parat hatten, hatte auf michniemals die von ihnen gewnschte Wirkung gehabt.Alle paar Jahre besuchte er uns von Cannes aus auf einpaar Tage, selten auf ein paar Wochen, dann war ichder glcklichste Mensch gewesen. Es war meine

    groe Zeit, wenn der Onkel Georg in Wolfsegg war.Pltzlich war Wolfsegg etwas anderes als das alltgli-che. Grostdtisch ging es dann in Wolfsegg zu. DieBibliotheken waren auf einmal gelftet, Bcher wan-derten hin und her, Musik erfllte die Rume, diesonst nur kalte, finstere, vllig lautlose Hhlen waren.Pltzlich waren die Zimmer, die allgemein als absto-end empfunden wurden, gemtlich, anheimelnd.Die Stimmen, die sonst in Wolfsegg immer nur in

    einem barschen Ton zu hren waren, barsch oderunterdrckt, klangen auf einmal vllig natrlich. Esdurfte gelacht werden, auch in Unterhaltungen in

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    normaler Lautstrke gesprochen werden, nicht nurdann, wenn es galt, dem Personal Befehle zu erteilen.

    Warum redet ihr denn immer, wenn das Personal daist, franzsisch? herrschte mein Onkel Georg meineEltern an, das ist doch lcherlich. Ich war unter sol-chen Bemerkungen seinerseits der glcklichsteMensch. Warum macht ihr denn bei diesem herrlichenWetter die Fenster nicht auf? sagte er. Whrend sonstund besonders deprimierend in den letzten Jahren beiTisch immer nur ber Schweine und Rinder, berHolzfuhren und die gnstigeren oder ungnstigeren

    Lagerhauspreise gesprochen wurde, fielen auf einmalWrter wie Tolstoi oder Paris oder New York oderNapoleon oder Alfons der Dreizehnte oder Mene-ghini, Callas, Voltaire, Rousseau, Pascal, Diderot. Ichsehe ja mein Essen gar nicht, hatte mein Onkel ganzungeniert gesagt, worauf meine Mutter vom Tischaufgesprungen ist und die Fensterlden geffnet hat.Du mut die Fensterlden noch weiter ffnen, hat

    mein Onkel Georg zu ihr gesagt, damit ich meineSuppe sehen kann. Wie knnt ihr denn die ganze Zeitin diesem Halbdunkel existieren? fragte er. Ihr lebt jain einem Museum! sagte er. Alles schaut aus, als wrees jahrelang unbenutzt. Wozu habt ihr denn das herr-liche Geschirr in den Ksten, wenn darauf nicht ge-gessen wird? Euer kostbares Silber? Ich bewunderteden Onkel Georg. Mit ihm konnte in keinem Fall einewie immer geartete Langeweile aufkommen. Er sa

    nicht, wie die andern, starr und steif bei Tisch, erwandte sich alle Augenblicke an einen von uns, umihn etwas zu fragen oder um ihm irgendeine Wahrheit

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    zu sagen oder irgendein Kompliment zu machen. Dumut mehr Blau tragen, sagte er zu meiner Mutter, das

    Grau steht dir nicht. Es sieht aus, als wenn du inTrauer wrst. Dabei ist es schon fnfzehn Jahre her,da unser Vater gestorben ist. Du, sagte er zu meinemVater, wirkst, als wrst du bei dir selbst angestellt.Darauf hatte ich hell auflachen mssen. Wurde dasEssen aufgetragen, was bei uns immer beinahe invlligem Stillschweigen vor sich gegangen war,scherzte er mit den Mdchen, die das Essen auftrugen,was meine Mutter nur schwer ertragen konnte. Es

    wird nicht mehr lange dauern, sagte er, unbekmmertum die Anwesenheit der das Essen auftragenden Md-chen, da niemand mehr da ist, der euch bedient.Dann werdet ihr auf einmal lebendig werden. Es liegtso etwas Revolutionres in der Luft, sagte er. Ich habeso ein Gespr, es wird etwas kommen, das alles wiederein wenig zum Leben erweckt. Mein Vater schttelteauf solche Bemerkungen den Kopf, meine Mutter

    blickte nur starr ins Gesicht meines Onkels, als httesie keinerlei Skrupel, ihm ihre Abneigung zu zeigen.In den mediterranen Lndern, so mein Onkel Georg,ist alles ganz anders, sagte er. Nher erklrte er sichnicht. Als ich, damals vielleicht siebzehn oder acht-zehn Jahre alt, wissen wollte, was in den sogenanntenmediterranen Lndern anders als bei uns in Mitteleu-ropa sei, sagte er, da er es mir eines Tages klarmachenwerde, wenn ich selbst diese mediterranen Lnder

    aufsuchte. In den mediterranen Lndern ist das Lebenhundertmal mehr wert als hier, sagte er. Ich warnaturgem begierig, zu erfahren, warum. Die Mittel-

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    europer treten wie Puppen auf, nicht wie Menschen,alles ist verkrampft, sagte mein Onkel Georg. Sie

    bewegen sich niemals natrlich, alles ist steif an ihnenund letzten Endes lcherlich. Und unertrglich. Wieihre Sprache, die die unertrglichste ist. Das Deutscheist das Unertrglichste, sagte er. Ich war begeistert,wenn er Die mediterranen Lnder sagte. Es ist einSchock, sagte er, hierher zurckzukommen. Es strteihn nicht im geringsten, da er mit seinen Bemerkun-gen den Zuhrern dem Appetit verdorben hatte. Undwas fr eine abscheuliche Kche! rief er aus. In

    Deutschland und sterreich und auch in der soge-nannten deutschen Schweiz ist es kein Essen, es ist einFra! Die vielgerhmte sterreichische Kche istnichts anderes als eine Zumutung. Eine Vergewalti-gung des Magens wie des ganzen Krpers. Ich brau-che Wochen, um mich in Cannes von der sterreichi-schen Kche zu erholen. Und was ist ein Land ohneMeer! rief er aus, ohne den Gedanken weiterzufhren.

    Wenn er einen Schluck Wein trank, rmpfte er dieNase. Wie ich deutlich sehen konnte, hatte er auch anden sterreichischen Mineralwassern etwas auszuset-zen, die sonst allgemein als sehr gut bezeichnet wer-den, aber er gab keinen Kommentar dazu ab. Esmute ihn, so dachte ich schon damals, in Wolfseggunendlich langweilen, denn zu dem, wozu er immerdie grte Lust gehabt hat, nmlich ein anregendesGesprch zu fhren, war er in Wolfsegg niemals ge-

    kommen. Manchmal machte er, wenigstens in denersten Tagen seines Aufenthalts, einen Versuch, warfer beispielsweise das Wort Goethe mehr oder weniger

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    unvermittelt auf den Tisch; aber sie konnten damitnichts anfangen. Geschweige denn mit Wrtern wie

    Voltaire, Pascal, Sartre. Da sie mit ihm nicht mithaltenkonnten, wie sie unausgesetzt fhlten, begngten siesich mit ihrer Abneigung gegen ihn, die sich von Tagzu Tag steigerte, die schlielich gegen Ende seinesAufenthalts immer in offenen Ha umschlug. Fort-whrend gaben sie ihm zu verstehen, da sie schwerarbeiteten, whrend er das absolute Nichtstun und dieSpekulation mit diesem Nichtstun zu seinem Tagesin-halt und, wie es schien, lebenslnglichen Ideal ge-

    macht habe. Weit du, hat er einmal zu mir gesagt, ichkomme ja nicht wegen der Familie nach Wolfsegg, nurwegen der Mauern und der Landschaft, die mir meineKindheit vergegenwrtigen. Und wegen dir, sagte ernach einer Pause. In seinem Testament hatte er be-stimmt, da er nicht, wie die Seinigen und die Meini-gen geglaubt haben, in Wolfsegg, sondern in Cannesbegraben wird. Er wollte am Meer begraben sein.

    Mehr oder weniger pomps und also ganz und garprovinziell aufgeputzt, waren sie zu seinem Begrbnisnach Cannes geeilt in Erwartung eines ungeheuer-lichen Vermgens und muten, wie ich schon ange-deutet habe, die grte Enttuschung ihres Lebens, someine Mutter immer wieder, zur Kenntnis und mitnachhause nehmen. Der gute Jean, Sohn eines armenFischerehepaars aus Marseille, hatte nicht weniger alsvierundzwanzig Millionen Schilling in Aktien und ein

    mindestens doppelt so hohes Vermgen an realemBesitz geerbt. Die Kunstsammlung hatte mein OnkelGeorg den Museen in Cannes und Nizza vermacht.

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    Auf seinem Grabstein, den ihm der gute Jean hattesetzen lassen, sollten nur sein Name und folgende

    Wrter stehen: der zu dem richtigen Zeitpunkt die Barba-ren hinter sich gelassen hat. Jean hat sich streng an dieAnweisung meines Onkels Georg gehalten. Als meineEltern vor einem Jahr auf dem Weg nach Spanieneinen Besuch an seinem Grab machten, sollen sie sichso aufgeregt haben, da meine Mutter danach ge-schworen habe, Onkel Georgs Grab niemehr aufzusu-chen, sie empfand seinen Grabspruch als eine unge-heuerliche Schande und soll nach ihrer Rckkehr nach

    Wolfsegg immer nur von einem Verbrechen ihresSchwagers, meines Onkels Georg, gesprochen haben.Mit dem Onkel Georg habe ich die weitesten undinteressantesten Spaziergnge in der UmgebungWolfseggs gemacht, mit ihm bin ich zu Fu bis nachRied im Innkreis in der einen und bis nach Gmundenin der anderen Richtung gegangen. Er hatte sich im-mer Zeit genommen fr mich. Da es auf der Welt

    auch noch etwas anderes als Khe, Dienstboten undstreng einzuhaltende gesetzliche Feiertage gibt, dieseErkenntnis habe ich ihm zu verdanken. Ihm verdankeich die Tatsache, da ich nicht nur lesen und schrei-ben, sondern auch tatschlich denken und phantasie-ren gelernt habe. Es ist sein Verdienst, da ich Geldzwar sehr hoch, aber nicht am allerhchsten ein-schtze und da ich die Menschheit auerhalb Wolfs-eggs nicht nur als ein notwendiges bel betrachte, wie

    zeitlebens die Meinigen, sondern als einen lebenslng-lichen Ansporn, mich mit ihr auseinanderzusetzen alsder grten und spannendsten Ungeheuerlichkeit.

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    Mein Onkel Georg hat mir die Musik und die Litera-tur aufgeschlsselt und mir die Komponisten und die

    Dichter als lebendige Menschen nahegebracht, nichtnur als jhrlich drei- oder viermal abzustaubendeGipsfiguren. Ihm verdanke ich, da ich unsere, wie esschien, fr immer und ewig verschlossenen Bcher inunseren Bibliotheken aufmachte und in ihnen zu lesenangefangen habe und mit diesem Lesen bis heute nichtaufgehrt habe, da ich schlielich zu philosophierengelernt habe. Meinem Onkel Georg verdanke ich, daich schlielich nicht nur ein mechanisch sich in die

    Wolfsegger Geld- und Wirtschaftsmhle fgender,sondern ein durchaus als frei zu bezeichnenderMensch geworden bin. Da ich nicht nur stumpfsin-nige sogenannte Bildungsreisen gemacht habe, wie siemeine Eltern gewohnt waren und wie ich sie auch dieersten Jahre mit meinen Eltern gemacht habe, nachItalien und nach Deutschland beispielsweise, nachHolland und nach Spanien, sondern da ich die Wis-

    senschaft des Reisens als eines der grten Vergn-gen, die die Welt anzubieten hat, erlernt und bis heutegenossen habe. Ich habe durch meinen Onkel Georgkeine toten, sondern sehr lebendige Stdte kennenge-lernt, keine toten Vlker aufgesucht, sondern leben-dige, keine toten Schriftsteller und Dichter gelesen,sondern lebendige, keine tote Musik gehrt, sonderneine lebendige, keine toten Bilder gesehen, sondernlebendige. Er, niemand anderer, hat mir die groen

    Namen der Geschichte nicht als fade Abziehbildereiner ebenso faden Geschichte auf die Innenwndemeines Gehirns geklebt, sondern sie mir immer als

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    lebendige Menschen auf einer lebendigen Bhne vor-gefhrt. Whrend mir meine Eltern die Welt tagtg-

    lich als eine durch und durch langweilige, meinenKopf nach und nach lhmende vorgezeigt haben, alseine, auf welcher es sich im Grunde gar nicht auszahltzu existieren, hatte mir mein Onkel Georg im Gegen-teil dieselbe Welt als eine immerfort und allezeit hoch-interessante vorgefhrt. So hatte ich schon als ganzkleines Kind immer die Wahl zwischen zwei Weltengehabt, zwischen der der Eltern, die ich immer alsuninteressant und als nichts anderes als lstig empfun-

    den habe, und der meines Onkels Georg, die ber-haupt nur aus ungeheuerlichen Abenteuern zu beste-hen schien, in welcher es einem niemals langweiligwerden konnte und in welcher man tatschlich immerLust hatte, ewig zu leben, in welcher es eine Selbstver-stndlichkeit war, zu denken, sie mge niemals aufh-ren, was wiederum automatisch zur Folge hatte, daich in ihr ewig und das heit, unendlich leben wollte.

    Meine Eltern hatten, vereinfacht gesagt, immer alleshingenommen, mein Onkel Georg hatte niemals et-was hingenommen. Meine Eltern hatten von Geburtan immer nur nach den ihnen von ihren Vorgngernvorgeschriebenen Gesetzen gelebt und waren niemalsauf die Idee gekommen, sich einmal eigene, neueGesetze zu machen, um nach diesen von ihnen ge-machten neuen Gesetzen zu leben, mein Onkel Georghatte nur nach seinen eigenen, von ihm gemachten

    Gesetzen gelebt. Und diese von ihm selbst gemachtenGesetze hatte er alle Augenblicke umgestoen. MeineEltern waren immer nur den ihnen vorgeschriebenen

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    Weg gegangen und es wre ihnen niemals eingefallen,diesen Weg auch nur fr einen Augenblick zu verlas-

    sen, mein Onkel Georg ist nur seinen eigenen Weggegangen. Meine Eltern, um noch ein Beispiel fr denGegensatz anzufhren, in welchem sie zu meinemOnkel Georg standen, haten das sogenannte Nichts-tun, weil sie sich nicht vorstellen konnten, da einGeistesmensch das Nichtstun gar nicht kennt, es sichgar nicht leisten kann, da ein Geistesmensch geradedann in der uersten Anspannung und in dem aller-grten Interesse existiert, wenn er sozusagen dem

    Nichtstun frnt, weil sie mit ihrem tatschlichenNichtstun gar nichts anfangen konnten, weil in ihremNichtstun tatschlich gar nichts vorging, weil sie inWahrheit und in Wirklichkeit berhaupt nicht den-ken, geschweige denn einen Geistesproze zu fhrenimstande waren. Dem Geistesmenschen ist das soge-nannte Nichtstun ja gar nicht mglich. Ihr Nichtstunallerdings war ein tatschliches Nichtstun, denn es tat

    sich in ihnen nichts, wenn sie nichts taten. Der Gei-stesmensch ist aber genau im Gegenteil am allerttig-sten, wenn er sozusagen nichts tut. Aber das ist dentatschlichen Nichtstuern, wie meinen Eltern undberhaupt den Meinigen, nicht plausibel zu machen.Andererseits hatten sie aber doch eine Ahnung vonder Art und Weise des Nichtstuns meines OnkelsGeorg, denn gerade weil sie eine Ahnung davon hat-ten, haten sie ihn, denn sie ahnten, da sein Nichts-

    tun ihnen, weil es ein anderes, ja ein dem ihrigengenau entgegengesetztes Nichtstun war, nicht nurgefahrlich werden konnte, sondern immer gefahrlich

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    war. Der Nichtstuer als der Geistesmensch ist tatsch-lich in den Augen derer, die unter nichts tun, tatsch-

    lich nichts tun verstehen und die als Nichtstuer auchtatschlich gar nichts tun, weil in ihnen whrend desNichtstuens gar nichts vorgeht, die grte Gefahrund also der Gefhrlichste. Sie hassen ihn, weil sie ihnnaturgem nicht verachten knnen. Schon mit vierJahren soll mein Onkel Georg allein in die neunKilometer entfernte Ortschaft Haag gegangen sein,um dort wildfremden Menschen zu erklren, da eraus Wolfsegg sei, aber nicht die Absicht habe, wieder

    nach Wolfsegg zurckzukehren. Die ber das seltsameKind verstndlicherweise fassungslosen Haager sol-len den kleinen Georg als den Widerspenstigsten, denman sich vorstellen kann, zu seinen Eltern nachWolfsegg zurckgebracht haben. Die meiste Zeit hat-ten seine Eltern und die anderen Aufsichtspersonenihn mehr oder weniger wie einen kleinen Hund anWolfsegg anketten mssen, um sein Verschwinden zu

    verhindern. Er habe schon in der frhesten Kindheitden Entschlu gefat, nur so lange, als unbedingtnotwendig, in Wolfsegg zu bleiben. Ich wartete abernatrlich den Augenblick ab, sagte er einmal inCannes zu mir, in welchem ich mich tatschlich ohneKrampf und das heit, mit allen fr die totale Freiheitnotwendigen Mitteln ausgestattet, von Wolfsegg be-freien konnte. Wolfsegg an sich ist ja etwas Wunder-bares, sagte er, aber die Unsrigen haben es mir immer

    vergraust. Mein Bruder, dein Vater, sagte er einmal,ist ja ein schwacher Charakter. Tatschlich ist er einlieber Mensch, aber nicht auszuhalten. Und deine

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    Mutter, meine Schwgerin, ist eine habgierige Person,die deinen Vater nur aus Berechnung geheiratet hat.

    Sie kommt ja tatschlich aus dem Garnichts. Da sieeinmal, wie gesagt wird, hbsch gewesen ist, siehtman ihr heute nicht mehr an. Dein Vater ist im Grundenicht geldgierig. Sie, deine Mutter, hat in ihm erst dieprimitive Geldgier geweckt. Aber ich habe mich auchbevor dein Vater deine Mutter kennengelernt hat,nicht mit ihm verstanden, wir waren uns in allementgegengesetzt. Sicher, er ist gutmtig, auch heutenoch, aber, sei mir nicht bse, er ist ein dummer

    Mensch. Deine Mutter hat ihn vollkommen in derHand. Dabei war er als Schler der bessere. Alles warausgezeichnet, was er machte. Er lieferte die bestenArbeiten ab. Er war beliebt, ich nicht. Er hatte immerdie besseren Noten. Aber obwohl wir die gleichenKleider anhatten, habe ich immer eleganter als erausgesehen. Ich wei nicht warum. Aber das sage ichnur, weil ich deinen Vater, meinen Bruder, im Grunde

    immer geliebt habe, sagte der Onkel Georg. Tatsch-lich hatte er auch, als er das letzte Mal in Rom war, nurdavon gesprochen, da er seinen Bruder wie keinenzweiten Menschen auf der Welt geliebt habe, ja immernoch liebe, wenn nur diese Frau, deine Mutter, sagteer, nicht aufgetaucht wre. Die Frauen tauchen aufund bringen den Mann, den sie schlielich selbst ge-gen den Willen dieses Mannes heiraten, von seinenguten Eigenschaften, ja von seinem ganzen guten

    Charakter ab und vernichten ihn oder machen ihnwenigstens zu ihrem Hampelmann. Deine Mutter hatdeinen Vater zu ihrem Hampelmann gemacht. Mein

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    Gott, hat mein Onkel Georg ausgerufen, wie httesich dein Vater entwickeln knnen, wenn er an eine

    andere Frau gekommen wre! Ich kenne keinen amu-sischeren Menschen als deine Mutter, sagte er. Siegeht in die Oper, aber sie versteht nicht das geringstevon Musik. Sie schaut ein Bild an, aber sie verstehtnichts von Malerei. Sie lgt und gibt vor, Bcher zulesen, aber sie liest keins. Und doch plappert sie fort-whrend bei Tisch, sagte er, und redet alles um sieherum nieder mit ihrem kompletten Unsinn. Dabeimte sie wissen, wie man es anstellt, da sich das

    Geld ganz von selbst macht, nicht auf diese stupidekrankhafte Weise, wie sie das praktiziert und wie essich dein Vater zu eigen gemacht hat. Der OnkelGeorg hatte damit seine eigene Kunst, Geld zu ma-chen und stndig zu vermehren, angedeutet. Es istkaum zu glauben, da wir aus ein- und demselbenStall sind, dein Vater und ich, sagte er oft. Ich habeimmer viele Ideen gehabt, sagte er, dein Vater hat nie

    eine Idee gehabt. Ich habe Reisen gemacht, weil ichdie Lust dazu hatte und die Leidenschaft, dein Vaterhat nie auch nur das geringste Bedrfnis gehabt zureisen, er ist immer, weil es sich so gehrte, gereist,nach stumpfsinnigen Plnen, die ihm andere gemachthaben, lauter widerwrtige Leute, die sich immerKunstkenner nannten. Du mut nach Rom fahrenund in die Sixtinische Kapelle gehen, haben sie zu ihmgesagt und er ist in den Zug gestiegen und nach Rom

    gefahren und in die Sixtinische Kapelle hineingegan-gen. Du mut den Giorgione sehen, der in der Acca-demia hngt und La Tempesta heit, haben sie zu ihm

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    gesagt und er ist in den Zug gestiegen und nachVenedig gefahren und hat sich das Bild von Giorgione

    angeschaut, dasLa Tempesta heit. Sie haben gesagt,du mut nach Verona fahren, und dir das Grab vonRomeo und Julia anschauen und er ist hingefahrenund hat es sich angeschaut. Die Akropolis, haben siegesagt, mut du unbedingt sehen und er ist nachAthen gefahren und hat sich die Akropolis ange-schaut. Du mut Rembrandt sehen, haben sie gesagt,du mut Vermeer sehen, du mut das StraburgerMnster sehen und die Kathedrale von Metz. berall

    ist er hingefahren und hat sich das angeschaut, was sieihm empfohlen haben, seine sogenannten Kunstken-ner. Und was waren das immer fr entsetzliche Leute,die ihm das alles empfohlen haben, sagte der OnkelGeorg, diese frchterlichen Kleinbrgerkpfe mitdem Professortitel, die sich nur an ihn herangemachthaben, um ein paar kostenlose Tage in unserem sch-nen Wolfsegg zu verbringen. Diese grauenhaften Er-

    scheinungen aus Wien, die er sich immer eingeladenhat, Universittsprofessoren, Kunstgeschichtler etce-tera, weil er geglaubt hat, das seien Kulturmenschen.Diese Scheulichkeiten aus Salzburg und Linz, die anden Wochenenden Wolfsegg mit ihrem widerwrtigenGeruch verpestet haben, sogenannte Philosophen,Gelehrte, Rechtsanwlte, die ihn alle nur ausgentzthaben. Mit Kind und Kegel sind sie heraufgekommenzu uns und haben sich ber das Wochenende angefres-

    sen und bei Tisch ihren pseudowissenschaftlichen Un-sinn verzapft. Und dann diese ekelhaften rzte, die ersich kommen hat lassen von Vcklabruck oder von

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    Wels. Die ihn nur ruiniert haben geistig. Dein Vaterwar immer der irrigen Meinung gewesen, hochtra-

    bende akademische Titel seien die Gewhr fr eingewisses ansehnliches Geistes vermgen. Darin hat erimmer geirrt. Ich habe zeitlebens immer alle dieseTitel und die, die diese Titel tragen, gehat. Sie sindmir so widerwrtig, wie nichts sonst. Wenn ich dasschon hre: Universittsprofessor! wird mir schlecht.Ein solcher Titel ist ja geradezu meistens der Beweisfr einen besonders auerordentlichen Dummkopf. Jeungeheuerlicher sich ein solcher Titel anhrt, ein

    desto grerer Dummkopf trgt ihn. Und dazu auchnoch seine Frau, deine Mutter! Sie kommt ja geradedaher, wo der Geist immer mit Fen getreten wor-den ist. Und sie hat in den Jahrzehnten, in welchen siemit deinem Vater verheiratet ist, diese ihre Kunstnoch um vieles perfektioniert. Aber dein Vater istniemals ein selbstndig denkender Mensch gewesen,er hatte gar nicht die Mglichkeiten dazu. Er bewun-

    derte immer die andern, von welchen er glaubte, dasie denken, und lie diese andern fr sich denken. Erhat es sich natrlich immer recht bequem gemacht.Aber diese Bequemlichkeit ist nicht spurlos an ihmvorbergegangen. Er hat sich nicht entwickelt. Es tutmir leid, sagte mein Onkel Georg, aber dein Vater istein besonders dummer Mensch. Und gerade einensolchen besonders dummen Menschen hat deine Mut-ter, die immer raffiniert war, gebraucht. So gesehen,

    waren deine Eltern immer ein ideales Paar, sagte er.Ich hre es noch ganz genau, wir saen im Freien aufder Piazza del Popolo, der Onkel Georg war am

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    spten Nachmittag so gesprchig geworden wie nochnie, weil er, ganz gegen seine Gewohnheit, mehrere

    Glser Weiwein schon am Nachmittag getrunkenhatte. Gerade weil ich deinen Vater, meinen Bruder,immer geliebt habe und auch heute noch liebe, erlaubeich mir, so ber ihn zu sprechen, sagte der OnkelGeorg, das weit du. Ich hatte deinem Vater immereine andere Frau als deine Mutter gewnscht, aberschlielich, sagte er pltzlich und blickte mich dabeikonsterniert an, ist sie ja deine Mutter. Vielleicht ist esein Fehler gewesen, sagte er, da du an mich gekom-

    men bist. Vielleicht wrst du glcklicher ohne mich,wer wei. Darauf hatte ich nur nein gesagt. Er wohnteim Hotel de la Ville, seinem Lieblingshotel an derSpanischen Treppe, von welchem aus er nur ein paarSchritte hinunter hatte ins Cafe Greco. Mindestenseinmal im Jahr kam er nach Rom, wenn mir Cannesauf die Nerven gegangen ist, sagte er jedesmal. Ein-mal im Jahr ging ihm Cannes auf die Nerven. Paris

    mag ich nicht, sagte er oft, Rom mag ich immer. Auchweil ich wei, da du in Rom bist. In einer geliebtenStadt hat man immer einen Menschen, den man liebt,sagte er. Schade, da Rom so laut geworden ist. Aberalle Stdte sind laut geworden. Obwohl der OnkelGeorg auf dem Foto, das meine Schwestern Amaliaund Caecilia vor seiner Villa zeigt, gar nicht zu sehenwar, hatte ich doch in Betrachtung der Fotografiefortwhrend mehr oder weniger nur an ihn gedacht.

    Mich mit ihm beschftigt. Mich durch ihn von demTelegramm aus Wolfsegg, dessen ganze Furchtbarkeitich noch nicht ermessen hatte knnen, abzulenken

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    versucht. Die Eltern tot, endgltig tot, mein BruderJohannes tot. Zur Auseinandersetzung mit dieser Tat-

    sache und deren Auswirkungen war ich noch nichtimstande. Ich schob sie hinaus. Mein Onkel Georgwre mir in diesen Stunden der beste Beistand gewe-sen. Ich hatte keinen. Der Gedanke, was jetzt auf michzukommt, durfte nicht gedacht werden. Ich legte diedrei Fotografien jetzt so bereinander auf denSchreibtisch, da, obwohl er darauf gar nicht abgebil-det ist, weil das Foto ja nur meine beiden Schwesternin Cannes zeigt, mein Onkel Georg zuoberst und also

    ber meinen Eltern sozusagen als erster eingeordnetwar, unter meinen Eltern mein Bruder Johannes. Miteinem Schlag waren jetzt alle tot. Was, fragte ich mich,hat sie miteinander und mit mir verbunden? Im Hotelde la Ville, wo er natrlich das beste und schnste vonallen Zimmern bewohnte, hat mein Onkel einmal zumir gesagt, da er seine Familie lieben msse, obwohler sie zu hassen gezwungen sei. Genau mit diesen

    Wrtern hatte er sein Verhltnis zu den Seinigen undMeinigen charakterisiert. Den Bruder, meinen Vater,liebte er und verachtete ihn gleichzeitig. Seine Schw-gerin, meine Mutter, hate er zwar als seine Schwge-rin, respektierte sie aber als meine und meines BrudersJohannes Mutter. Sie werden uralt werden, hat ereinmal gesagt, diese Menschen werden uralt, ihrStumpfsinn legt sich wie ein schtzender Panzer mitden Jahrzehnten um sie, sie fallen nicht pltzlich um

    wie Unseresgleichen. Er hat geirrt. Sie haben lebens-lngliche, ihr Leben immer noch mehr verlngernde,anstatt abkrzende Krankheiten, mgen sie noch so

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    lstig sein, keine Todeskrankheiten, die auftreten undden Menschen umwerfen. Ihre Interessen reiben sie

    nicht auf, ihre Leidenschaften machen sie nicht ver-rckt, weil sie gar keine haben. Ihr Gleichmut undschlielich ihre Gleichgltigkeit regeln ihre Verdau-ung tagtglich, so da sie mit einem Greisenalterrechnen knnen. Im Grunde zieht sie nichts auf derWelt an und stt sie nichts auf der Welt ab. Sie treibenberhaupt nichts so weit, da es sie im geringstenschwchen knnte. In dem Augenblick, in welchemsie bemerkt haben, da ich unter ihnen ein strendes

    Element bin, sagte mein Onkel Georg, schlossen siemich aus ihrer Gemeinschaft aus, zuerst im geheimen,spter offen. Im Grunde htten sie schlielich jeden,auch den hchsten Preis bezahlt, um mich los zu sein.Ganz von selbst hatte ich eine Funktion bernommenin Wolfsegg, die sie nicht akzeptieren konnten, ichwar derjenige, der sie fortwhrend auf ihre Fehleraufmerksam machte, dem nichts von ihrer Charakter-

    schwche entging, der sie bei jeder Gelegenheit alscharakterschwach ertappte. Wie verwundert warensie, sagte mein Onkel Georg, als ich sie eines Tagesdarauf aufmerksam machte, da sie unsere Bibliothe-ken ein halbes Jahr nicht mehr aufgesperrt hatten undda ich Einla in die Bibliotheken verlangte. Wennich unsere Bibliotheken sagte, waren die Leute immerverwundert, denn alle andern hatten bestenfalls unsereBibliothek sagen knnen, weil sie nur eine Bibliothek

    hatten, wir hatten fnf, aber mit diesen fnf Bibliothe-ken waren wir doch in noch viel beschmendererWeise auf der Geistesstrecke geblieben, sagte mein

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    Onkel Georg, als jene, die nur eine einzige Bibliothekhatten. Einer unserer Urururgrovter hatte jene fnf

    Bibliotheken angelegt, auf die auch ich zeitlebens sostolz gewesen bin, sicher kein Verrckter, wie inWolfsegg immer gesagt wurde, ein Geistesnarr, wel-cher es sich leisten konnte und wollte, anstatt berallnur der Ausbreitung der Langeweile und des Stumpf-sinns dienende Salons anzulegen in unseren Gebu-den, dort Bibliotheken einrichtete und zwar mit demgrten Literatur Verstndnis. Eines Tages, so meinOnkel Georg, war ich sozusagen in diese verschlafe-

    nen Bibliotheken eingebrochen, was sie mir lebens-lnglich nicht verziehen haben. Aber nach meinemWeggang aus Wolfsegg halben sie die Bibliothekenwieder abgesperrt und selbst nicht mehr betreten jah-relang, bis es sich herumgesprochen hatte, da es siegibt und sie sie den Neugierigen, um ihr Gesicht nichtzu verlieren, zeigen muten. In Wolfsegg wurdenichts bentzt, sagte mein Onkel Georg, bis ich auf

    einmal alles bentzte. Ich setzte mich auf die Sessel,auf die sich jahrzehntelang niemand gesetzt hatte, ichffnete die Kastentren, die jahrzehntelang niemandgeffnet hatte, ich trank aus Glsern, aus welchenjahrzehntelang niemand getrunken hatte. Ja ich gingdurch Gnge, durch die jahrzehntelang niemand ge-gangen ist. Von Anfang an war ich der Neugierige,vor welchem sie sich zu frchten hatten, sagte derOnkel Georg. Und ich hatte angefangen, in unseren

    jahrhundertealten Schriften zu blttern, die in groenKisten auf den Dachbden gelagert waren, von wel-chen sie immer Kenntnis gehabt, die sie aber niemals

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    nher in Augenschein genommen haben. Sie frchte-ten unliebsame Entdeckungen. Mich, sagte der Onkel

    Georg, hatte immer alles interessiert und naturgeminteressierten mich vor allem unsere Zusammen-hnge. Die Geschichte interessierte mich, aber nichtso, wie sie sich fr unsere Geschichte interessierten,sozusagen nur fr die als zu Hunderten und zu Tau-senden aufeinandergelegten Ruhmesbltter, sondernals Ganzes. Was sie niemals gewagt hatten, in ihrefrchterlichen Geschichtsabgrnde hinein und hinun-ter zu schauen, hatte ich gewagt. Das brachte sie

    gegen mich auf.Der Georg war schlielich auf Wolfs-egg zu einem Schreckenswort fr sie alle geworden,sagte mein Onkel. Sie hatten Angst, das Kind, das ichwar, knnte sie beherrschen, nicht umgekehrt. MeineEltern, deine Groeltern, sagte er, ketteten mich anWolfsegg und knebelten mich. Genau das htten sieniemals tun drfen. Und deine Eltern haben aus demVersagen meiner Eltern, also deiner Groeltern,

    nichts gelernt, im Gegenteil, sie hatten noch viel un-glcklichere Methoden, mit dir umzugehen. Aber an-dererseits, sagte er, was wre aus dir geworden, wennsie sich nicht so verhalten htten dir gegenber, wiesie sich verhalten haben? Diese Frage mute nichtbeantwortet werden, sie beantwortete sich von selbst.Wenn ich dich sehe, sagte mein Onkel Georg, sehe ichim Grunde immer mich. Du hast genau die gleicheEntwicklung genommen. Du hast dich von ihnen

    getrennt, du bist ihnen aus dem Weg gegangen, duhast ihnen den Rcken gekehrt, du hast dich ihnen zudem richtigen Zeitpunkt entzogen. Wie sie mir nicht

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    verziehen haben, verzeihen sie dir nicht. Mein Gott,sagte er, was fr mich Cannes, ist fr dich Rom. So

    knnen wir mit Wolfsegg fertig werden, aus derFerne. Wenn ich an diese lhmenden Abende mit denMeinigen denke, in welchen die herrlichsten Stich-wrter schon in dem Augenblick, in welchem sieausgesprochen werden, verpuffen. Was man auchsagt, es wird nicht verstanden. Was auch angeregtwird, es wird gar nicht zur Kenntnis genommen.Wenn er eine Zeitung liest, dein Vater, ist es dieObersterreichische Landwirtschaftszeitung, wenn er ein

    Buch liest, ist es das Bilanzbuch. Und dann fahren sie,weil sie das Abonnement auszuntzen haben, nachLinz ins Theater und gehen in eine scheuliche Ko-mdie und schmen sich nicht, und gehen in dieselcherlichen Konzerte im sogenannten Brucknerhaus,in welchem mit der grten Lautstrke die falschenTne herrschen. Diese Leute, ich meine deine Eltern,sagte er, haben nicht nur ein Abonnement fr das

    Theater und fr das Konzert genommen, sie leben ihrLeben auf Abonnement, sie gehen auch tagtglich inihr Leben, wie in das Theater, in eine scheulicheKomdie, und schmen sich nicht, in ihr Leben zugehen, wie in ein abstoendes Konzert, in welchemnur die falschen Tne die beherrschenden sind und sieleben, weil es sich gehrt, nicht weil sie es habenwollen, weil es ihre Leidenschaft ist, ihr Leben, nein,weil es abonniert ist von ihren Eltern. Und wie im

    Theater an den falschen Stellen, klatschen sie auch inihrem Leben an den falschen Stellen und jubeln wie imKonzert in ihrem Leben andauernd da, wo berhaupt

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    nichts zu jubeln ist, und verziehen da auf die absto-endste Weise ihr arrogantes Gesicht, wo sie herzhaft

    lachen sollten. Und wie die Stcke, die sie auf ihrAbonnement aufsuchen, eine Katastrophe und dasniedrigste Niveau sind, ist au