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    Thomas Bernhard

    An derBaumgrenzeErzhlungen

    Rowohlt

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    Verffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH,Reinbek bei Hamburg, Januar 1980Copyright 1969 by Residenz Verlag, Salzburg

    Umschlagentwurf Manfred Waller (Foto: Isolde Ohlbaum)Gesamtherstellung Clausen & Bosse, LeckPrinted in GermanyISBN 3 499 14477 8

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    An der Baumgrenze

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    Das Land war wie versunken in eintiefes, musikalisches Denken.

    Robert Walser

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    Der Kulterer

    Je nher er dem Tag seiner Entlassung aus derStrafanstalt war, desto mehr frchtete sich derKulterer, zu seiner Frau zurckzukehren. Er

    fhrte ein in sich selbst eingeschlossenes undvon seinen Mithftlingen vllig unbeachtetesDasein und vertrieb sich die freie Zeit, die inder Strafanstalt oft viel zu lang war, denn sie ar-beiteten vorschriftsmig nur fnf bis sechsStunden im Tag an den Druckmaschinen, mit

    dem Aufschreiben von Einfllen oder, wie erdachte, geringfgigen Gedanken, die ihn bei-nahe ununterbrochen beschftigten. Aus Lan-geweile, und weil er sonst htte verzweifelnmssen, las er sich oft von ihm selber erdachteund aufgeschriebene krzere Geschichten undErzhlungen vor, Die Katze zum Beispiel oderDas Trockendock oder Die Schwimmvgel,Die Hyne, Die Verwalterin der Gutshofbesit-zerin, Das Totenbett. Meistens fielen ihm die-se Geschichten in der Nacht ein, und er mute,

    um sie nicht zu verlieren, in der Finsternis auf-stehen und sich, whrend seine Zellengenossenschliefen, an den Tisch setzen und in eben die-ser furchtbaren Finsternis das, was ihm einge-

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    fallen war, notieren. Es kam auch vor, da er so-fort ohne grere Vorbereitung eine ganze Ge-schichte bis zum Ende niederschreiben konnte,und er war froh darber, denn seine Geschich-ten vertrugen es nicht, durch irgendeinen Zwi-schenfall abgebrochen zu werden; mute er mit-ten in einer Geschichte aufhren, weil einer der

    drei Mithftlinge, die mit ihm in der Zelle leb-ten, auf ihn aufmerksam geworden war und ihnbrutal wegzischte vom Tisch, war die Geschichte

    verloren. Mit der Zeit aber hatte er eine so laut-lose Methode entwickelt, von seiner Pritscheaufzustehen und sich an den Tisch zu setzen,

    da sie ihn, selbst wenn sie nicht allzu tiefschliefen, nicht mehr bemerkten. Es gab kaumeine Nacht und in den letzten anderthalb Jah-ren berhaupt keine einzige mehr, in welcherer nicht von einem Einfall oder auch nur voneinem Gedanken, von einem Hinweis auf einenGedanken, aufgeweckt worden wre. Er nanntesein Schreiben Mein Zeitvertreib, und es kamihm, wie andern die Trume kommen, und es

    war ihm auch so zerbrechlich wie Trume.Seine Gesprche fing er meistens mit Jaja, ich

    wei an, und er sagte zum Beispiel Jaja, ichwei, es ist schwer oder Jaja, ich wei, daskann bs ausgehen oder Jaja, ich wei,Herr Aufseher Aber eigentlich redete er nie,

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    wenn er nicht gefragt wurde, und er nahm so-fort Haltung an, als der Aufseher erschien, zu-erst nur angedeutet durch das Gerusch desKnppels, der durch die Gnge zu polternschien, dann durch die Stiefelschritte, immerbedeutungsvoller und grer und schlielichgromchtig ber den Druckmaschinen. Dem

    Kulterer, der die aus der Druckmaschine her-ausfallenden Drucksorten abzuzhlen, einzu-packen und zuzuschnren hatte, war der Aufse-her sehr gewogen, denn zum Unterschied vonden anderen, grtenteils renitenten Mithft-lingen war er ein ruhiger Mensch, der, wie es

    schien, berhaupt keine Ansprche stellte undsich strikt an alle Verordnungen und Befehlehielt und auch in Wahrheit wirklich mit allemzufrieden war, auer mit sich selbst. Und als der

    Aufseher zu ihm sagte, er solle sich nach Ar-beitsschlu bei ihm melden, weil ein Brief undein Paket fr ihn eingelangt seien auch einBrief, wurde ihm angekndigt , sagte der Kul-terer, die Hnde an die Schenkel anlegend: Ja-

    ja, ich wei, Herr Aufseher! Schon gut!meinte der Aufseher, dem nichts entging und

    der von allen gefrchtet war, von hoch obenherunter und schaute ber den Kopf des Kulte-rer weg in den groen Druckereisaal hinein, in

    welchem die Maschinen und die Hftlinge

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    lngst verstummt waren, nur ab und zu muckteim Hintergrund, kaum wahrnehmbar, einer der

    Jngeren, einer der Neueingewiesenen, auf. DerKulterer hatte Angst, einer dieser Unvorsichti-gen knnte ausfllig werden, und er wnschte,da das nicht der Fall sei. Eine solche Ausfllig-keit, etwa in dem Wort Schweinerei gipfelnd,

    zog immer unmittelbare Strafverschrfung nichtnur fr den, der sich einen solchen Ausdruckerlaubt hatte, sondern fr die ganze Belegschaftnach sich. Sofort wurde dann die Arbeitszeit ummindestens eine Stunde verlngert, und es gabeine Reihe anderer sogenannter Zwangsverbo-

    te. Es wurden die Rundgnge auerhalb derStrafanstaltsmauern gestrichen und das Lichtschon um halb acht ausgedreht anstatt erst umneun Uhr.Wer ist zum Latrinendienst eingeteilt? fragteder Aufseher. Es meldeten sich die drei dafrBestimmten, darunter zwei von den Neuen.Wir fangen heute eine Stunde frher an, sagteder Aufseher. Er kontrollierte die Arbeit, ging

    von einem Mann zum andern, hatte aber andiesem Tage nichts auszusetzen. Sie knnten

    weiterarbeiten, meinte er, und die Maschinen,die in dem Augenblick, in welchem der Aufse-her hereingekommen war, sofort abgeschaltet

    worden waren, begannen wieder zu laufen, und

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    das Geratter und Gestampfe, das so gedmpftwie nur mglich alles zum Beben brachte, er-fllte den absichtlich streng verdunkelten, ja indieser Jahreszeit beinahe finsteren Raum. ZumKulterer gewandt, meinte der Aufseher, dadessen Haftzeit nun bald vorbei sei. Er, der Auf-seher, habe die Entlassung des Kulterer hart-

    nckig befrwortet. Er sagte das deutlich undso laut, da es alle hrten. Sie reagierten abernicht darauf, waren in ihre Maschinen vertieft,in das pausenlos flieende Papier, und ein La-chen, das am anderen Ende des Saales aufflak-kerte, um gleich wieder zu verstummen, hatte

    wohl eine ganz andere Sache, nicht den Kulte-rer betroffen. Jaja, ich wei, Herr Aufseher,sagte der Kulterer.Es war das eine grozgig eingerichtete Druk-kerei, in welcher sie alle mglichen Drucksortenherstellten, ausschlielich fr staatliche Zwecke,fr die Ministerien. Smtliche Schulzeugnisfor-mate wurden hier gedruckt. Die Arbeit in derDruckerei, die direkt an das Anstaltsgebudeanschlo, ein absichtlich verfinsterter Neubau,bedeutete fr die in ihr Beschftigten einen

    Vorzug. Es gab in der Strafanstalt eine Mengeprimitiver, vielmehr schwer ertrglicher Arbei-ten. Es war nicht ganz durchschaubar, nach wel-chen Gesichtspunkten man fr die eine oder

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    andere Arbeit eingeteilt wurde. Man konnte auseiner Arbeitsgruppe in die andere versetzt wer-den. Man konnte zu schwererer oder dreckigereroder schwerererund zugleich dreckigerer Arbeitabkommandiert werden, wenn man sich etwaszuschulden kommen lie, wenn man die Erwar-tungen, die von Seiten der Aufsicht in einen ge-

    setzt worden sind, nicht erfllte. Man konnte zuleichterer und zu angenehmerer, nicht so bel-riechender (wie in der Gerberei zum Beispiel)

    Arbeit eingeteilt werden, wenn man die in einengesetzten Erwartungen erfllte und sich in dieOrdnung der Strafanstalt fgte. Zuerst aber, am

    Tag der Aufnahme in die Strafanstalt, wurdenalle immer zu den angenehmeren Arbeiten ein-geteilt. Man kann sogar sagen, da die Aufsichtin jeden Neueingewiesenen ein gewisses bereiner bestimmten Grenze liegendes Vertrauensetzte. Dieses Vertrauen wurde von den meistenallerdings auf die grblichste Weise verletzt undausgenutzt. Den Vorzug, in der Druckerei zubleiben oder in der Kche oder in der Schuh-macherei, in der Schneiderei, in der Kanzlei,konnten sich die allerwenigsten lnger als nur

    eine ganz kurze Zeit erhalten. Dem Kultererwar es, weniger durch sein Geschick als einfachdurch seine Unfhigkeit, sich aufzulehnen odersich an irgendeinem Komplott zu beteiligen, an

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    fand an ihm auch nur das geringste Besondere,wenn man davon absieht, da sie in ihm einfacheinen bemerkenswert bescheidenen Menschensahen. Unscheinbar, war er ihnen niemals l-cherlich. So teilnahmslos sie ihm begegneten,sie hatten oft das Gefhl, ihm helfen zu mssen,

    wenn sie auch niemals wuten, wie helfen. Aber

    in diesem Gefhl enttuschte er sie, denn er warihnen allen, wie sie nach und nach, weil sie sichan ihn gewhnt hatten, feststellen muten, inbeinahe jeder Beziehung, vor allem im Einfach-sten, wo es um gar nichts ging und das deshalbdie grte Bedeutung hatte, weit berlegen. Es

    war merkwrdig: sie behandelten ihn, als wreer nicht ganz ernst zu nehmen, und fhlten zu-gleich Hochachtung, wenn sie mit ihm in Be-rhrung kamen. Aus der Lcherlichkeit, in dersie sich tummelten und die ihnen oft reichlichGelegenheit gab, sich anzuschnauzen und ge-genseitig herunterzusetzen, wo gar nichts mehrherunterzusetzen war, in der Verzweiflung, diemanchmal ber sie alle die Oberhand bekamund sie rasend machte, erwachten sie oft durchihn, der in der Dunkelheit des beinahe vllig

    verfinsterten Raumes stand und, zu ihnen ge-wandt, sagte: Jaja, ich wei . Wie sich in sol-chen Augenblicken selbst Mnner schmten, die

    vor Kaltbltigkeit und Krperkraft strotzten

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    und denen man kein wie immer geartetes Ge-fhl zugetraut htte! Man knnte diese Gedan-ken auf die Spitze treiben und behaupten, derKulterer habe oft und oft eine schwere Krper-

    verletzung, ja einen Mord verhindert. So inmit-ten von Schmutz und versauertem Idealismus,inmitten von Schweinerei, Verleumdung und

    Habsucht, bildete er ein Gegengewicht. Wennsie sich prgelten oft konnte er, dem ein sol-cher Anblick entsetzlichen Schmerz verursachte,es nicht verhindern , schien es, als wre nurdas Viehische lebensfhig und alles anderekrankhaft und unzchtig. Da sah er tief ins

    Verpfuschte hinein, das ausweglos, auf barbari-sche Weise unfhig war, mit sich fertig zu wer-den. Wie sie impulsiv in ihrer geistesgestrtenBewutlosigkeit an eine Zertrmmerung derElemente dachten in ihrer von vornherein fest-stehenden Niederlage, fhlte er, abseits ste-hend, qualvoll.Es war ihm immer der Umstand zugute ge-kommen, anspruchslos zu sein. Er hatte wohl,

    wie jeder Mensch, in sich selbst oft das Bedrf-nis gehabt, seine Existenz zu verbessern, sich

    aus gewissen, auch ihm beengt vorkommendenZustnden zu befreien; aber um den Preis selbstder geringsten Gewaltttigkeit wollte er sichnicht auch nur die leiseste Spur aus sich heraus

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    und irgendwohinein drngen, in eine Errun-genschaft, die ihm, wie er instinktiv fhlte undalso glaubte, einfach nicht zustand. Er hattezeitlebens einen kleinen, ja, von auen gesehen,

    vllig unbedeutenden, verschwindenden, lcher-lichen Raum zur Verfgung gehabt, diesenRaum aber versuchte er immer sorgfltig auszu-

    fllen, und waren es mit der Zeit schlielichauch nur mehr seine einsam da und dort amHimmel hngenden Trume gewesen, mit wel-chen er Raum und Zeit seiner Person auszufl-len, ja instndig auszuschmcken befhigt war.

    Wie hold das zur Vernunft gewordene Schicksal

    einem einfltigen Menschen ist, htte man anihm studieren knnen. Er verlangte so wenig,da es jeden andern erschreckt htte. Und sosparsam sein Haushalt war, so reichlich Gele-genheit fand er, davon der Umwelt, die ihmmanchmal wie jedem Menschen ungeheuerliche

    Ausmae annehmen konnte, durchaus fhlba-res, glaubhaftes, zweckmiges, ja berzweck-miges Material zu verschenken. Sein Verstand

    war nicht gro und auch nicht tiefer als derVerstand seiner Umgebung, ja ganz im Gegen-

    teil, sein Verstand reichte nicht einmal an dieAuenbezirke der anderen heran; aber zumUnterschied von diesen, die ihn oft berwltig-ten, war sein Verstand der grndlichste. Das ist,

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    abgesehen von Gre und Willenskraft jedesVerstandesvolumens, entscheidend.Auf das Rechnen mit Gedanken, vergleichbarder Addition und der Subtraktion, war er ei-gentlich zuerst im Gefngnis gekommen. Aufdas zerlegbare, unendlich dem Geist und demGefhl und der reinen Vernunft entziehbare

    Spiel mit ganz klar bezeichneten Unbekann-ten. Der Gedanke, der ihm pltzlich berNacht zum Begriff, zur einzigen Existenz und

    wahren Freiheit geworden war, ermglichteihm, mit sich fertig zu werden nach dem groenUnglck, das ber ihn gekommen war im Zuge

    eines Verbrechens, das er wie in radikalerselbstmrderischer Bewutlosigkeit begangenhatte. Auf einmal war er, der sich lngst verlo-ren geglaubt hatte, nicht mehr tdlich gewe-sen. Die Erfindung des Gedankens im Men-schen erschien ihm als das kostbarste Geschenk,das es gibt. Die Welt war ihm da, von diesementscheidenden Augenblick an, eine von Kon-zentration und genau abgegrenztem Bewut-sein einfach durchforschbare reinigende Un-endlichkeit. Erst jetzt, von da an, hatte es fr

    ihn einen Boden unter den Fen gegeben, ei-nen Himmel ber der Erde, eine Hlle, dieUmdrehung einer Weltachse ohne Beispiel. Auf

    Vermutungen hinter Wahrnehmungen waren

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    pltzlich Anstze eigener Zielsetzung gefolgt;Wirkungen beruhten pltzlich tatschlich aufUrsachen. Auf einmal hatte es das, was auch erHierarchie nannte, gegeben. Anarchie schalte-te sich, wie er dachte, von selbst, links undrechts seines Weges, aus. Und er entdeckte aufden Sttzpfeilern der Mathematik die Poesie,

    die Musik, die alles zusammenhlt.In den letzten Tagen vor seiner Entlassung, diesich qualvoll auf sein Herz und auf seinen

    Verstand legte, ohne ihn aber erdrcken zuknnen, und die auf seinem Gesicht ihren men-schenunwrdigen Ausdruck fand, versuchte er

    den Kontakt mit den Mithftlingen, und oft aufrhrende Weise, wie er sich wnschte, ein frallemal und fr immer, zu festigen. Alle Hand-lungen und Versuche seinerseits waren von dem

    Wort Abschied veranlat. Er redete jetzt Mn-ner an, die er nie angeredet hatte, die sich nie-mals um ihn auch nur im geringsten gekm-mert hatten, ja, fr die er berhaupt nichtsbedeutete, fr die er gar nicht da war. Von woer Feindseligkeit zu verspren meinte, in dieseRichtung ging er mit Freundlichkeiten hinein,

    etwas gutzumachen, das ihm selbst vllig unklarwar. Es ging ihm darum, keinen Zweifel berseine guten Gedankengnge, seine Mithftlin-ge betreffend, eigentlich alles betreffend, offen-

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    Geschichte gelungen. Warum gelingt mir keinelustige Geschichte? hatte er sich oft und oft ge-fragt. Eine Geschichte mit einem Luftballonzum Beispiel, mit einem hemdsrmeligen Ma-trosen, mit einem Trampolin, mit einem Karus-sell? Jetzt, weil es ja nur noch ein paar Tage biszu seiner Entlassung waren, sagten sie, da er

    ruhig auch in der Nacht schreiben knne, esstre sie nicht. Das freute ihn, da er sie vonjetzt an nicht mehr zu hintergehen brauchte.Es ist furchtbar, wenn ich nicht schreibenkann, sagte er. Sie meinten, er knne, wenn er

    wolle, die Kerze anznden zum Schreiben. Er

    aber antwortete ihnen, da er sich im Laufe derZeit daran gewhnt habe, in der Dunkelheit zuschreiben. Mir fallen auch nur, wenn es finsterist, meine Geschichten ein, sagte er. Sie wun-derten sich, wieviel er im Laufe der Haftzeit ge-schrieben hatte. Einer kramte den groen PackPapier, den der Kulterer unter seiner Pritscheaufbewahrt hatte, hervor und begann mehrereGeschichten, die alle sorgfltig numeriert undzugeschnrt waren, unter ihnen zu verteilen. Siesollten sie lesen, meinte er. Warum sie nicht

    schon frher auf die Idee gekommen seien, dieGeschichten des Kulterer zu lesen, es sei viel-leicht doch eine Abwechslung, die eine oderandere Geschichte wrden sie sicher verstehen.

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    Der Kulterer sagte, da er sich freue, da siesich jetzt fr seine Geschichten interessierten,

    wo sie doch niemals dafr auch nur das gering-ste Interesse gezeigt htten, im Gegenteil. Es

    war euch immer lstig, sagte er, wenn ich ge-schrieben habe oder wenn ich euch nur etwas

    von meinen Geschichten erwhnt habe Er

    sagte das in einem sie alle rhrenden Ton.Wenn es nur eine Geschichte ist, die euch allengefllt! sagte er.

    Aber auch, nachdem sie es ihm erlaubt hatten,sich in der Nacht an den Tisch zu setzen, um zuschreiben, tat er das so lautlos, da sie gar nichts

    davon merkten. Oft war es nur der Wunsch Essoll von einem Haus handeln, der ihn aufstehenund sich hinsetzen lie, oft auch nicht einmalein solcher Gedanke, sondern nur ein einziges

    Wort, das Wort Rbe zum Beispiel, das WortAltar, das Wort Huf. Alle Wrter hatten frihn dieselbe Bedeutung, etliche aber versenktenihn von allem Anfang an tief in eine geheimnis-

    volle Finsternis, in das Paradies einer Grund-farbe und in Zahlen und Ziffern, in Vorausset-zung fr Geschriebenes. Nicht zuletzt kamen

    ihm die Zucht und die Unzucht der Zucht derStrafanstalt fr seine Gedanken, ja fr alles, zu-gute. Er frchtete, in Freiheit, der Strflings-kleider entledigt, nichts mehr schreiben zu kn-

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    ins Bewutsein gekommen und fiel sicher kei-nem auer ihm auf. Die sanften Schwnge derFensterabschlsse! In der Kapelle, die er dieganzen anderthalb Jahre tagtglich in der Fr-he zur Messe aufgesucht hatte, schaute er pltz-lich mit seinen neuen Augen. Und erst das Ar-beitsgert, das im Hof an den Wnden hing, im

    Schuppen auf dem Boden lag, die vielen alter-tmlichen Rechen und Gabeln und Sensen! Erhatte es immer geliebt, im Sommer auf die Wie-sen und Felder zu gehen. Doch empfand er die

    wrmere Jahreszeit hier immer schmerzlicherals Herbst und Winter. Man ist zu gemein unter

    der Knute des Aufsehers unter der Sonne! sagteer sich. Und das Lachen der Bauersfrauen, dasman von den Hfen herber hrt, ist einfurchtbarer Abgrund. Im Winter bleiben ja auchdie Tore geschlossen, und nur die Holzarbeiter-gruppe verlt die Strafanstalt durch den rck-

    wrtigen Ausgang in den nahen Wald. In derHolzarbeitergruppe hatte er nie gearbeitet, da-fr war er zu schwach. Die jungen Leute drng-ten sich natrlich immer in die Holzarbeiter-gruppe hinein, sie dachten an Flucht. Aber es

    ist noch keinem gelungen, zu fliehen, dachte er.Selbst wenn man entkommt, wird man erwischt,gefat, und alles ist noch viel schlimmer. Auf-lehnung ist Grenwahn, dachte er. Auflehnung

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    fhrt unweigerlich in doppelten Schmerz. Aufdem mittglichen Rundgang entdeckte er einTellereisen, das im Schuppen lag, eine groeSeltsamkeit! Mit solchen Tellereisen fangen sieseit Jahrhunderten das Raubtier, dachte er. Wiekommt dieses Tellereisen hierher? Wahrschein-lich, sagte er sich, legen sie es zeitweise aus,

    denn es gibt Wlfe in dieser Gegend. Man hrtesie in der kalten Jahreszeit in der Nacht, derSturm schlgt ihnen aufs Maul. Man hrt sieimmer wieder. Der Kulterer dachte, der Aufse-her lt uns immer ein paar Minuten lnger aufdem Hof, als die Vorschrift es will. Er ist gro

    und breit gewachsen und schlgt blitzartig zu.Sie nennen ihn alle die Gummiwurst, weil eroft den Knppel bentzt, um sich Gehr zu ver-schaffen, Rechtmigkeit. Er liebt es, in ange-spannten Hosen zu patrouillieren, hat nie ge-brllt. Nie hat auch nur einer unter ihnen den

    Aufseher brllen hren. Kurze, halblaute Wr-ter, das ist er. Er kann seine Kappe nicht leiden,aber er mu sie aufhaben, die Vorschrift sagt,da er die Kappe aufhaben mu. Er sagt oft:Infame Bestien!, und er liebt die Wortzusam-

    menstellung: Das ist ja ein fatales Miver-stndnis, Schweinehunde!An dem Abend, an welchem er das Paket aus-gepackt hatte, das von seiner Frau geschickt

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    war, das letzte in einer Reihe von Paketen, diealle immer das gleiche enthielten Fleisch, But-ter, Zeitungen, Socken , und das er mehrereTage nicht angeschaut hatte, er frchtete sichnmlich vor dem Auspacken, genauso wie vordem Lesen des Briefes, er hatte immer Angstdavor gehabt, vor dieser Mistimmung, in die

    ihn das Auspacken solcher Pakete und das Le-sen solcher Briefe immer hinuntergestrzt hat-te, vor dieser Schambildung in ihm, die sichfrchterlich auf seine Gedankenwelt auswirkenkonnte, seine Vorwurfswelt entznden, tagelan-ge verzweifelte Einfallslosigkeit in ihm hervor-

    rufen konnte, hatte er berraschenderweise eineGeschichte mit dem Titel Logik geschrieben,eine Meditation, die er dann am Morgen, nach-dem er noch ein paar Stunden geschlafen hatte,

    von ihr angenehm berrascht, seinen Zellenge-nossen vorgelesen hatte. Was ist denn das WortLogik fr ein Wort? hatte er die Mithftlinge,bevor er noch mit dem Vorlesen seiner Ge-schichte begonnen hatte, gefragt. Keiner konnteihm antworten. Was bedeutet das HauptwortLogik? Sie schwiegen. Gestern, sagte er,

    htte auch ich auf diese verwirrende Frage kei-ne Antwort gewut, aber heute wei ich sie; hrtzu, das, was ich jetzt vorlese, ist die Antwort aufmeine Frage, was das Wort, was das Hauptwort

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    Fall fhrte ihn unweigerlich zu der Einsicht,da ihm kein Unrecht geschehen war. Es gibtberhaupt kein Unrecht! Dieser Satz hatte ihnbeinahe verfhrt, an diesem Satz hingen Tau-sende berlegungen, bis er sich schlielich alsfalsch und korrupt erweisen mute In seinemFalle war kein ihm geschehenes Unrecht festzu-

    stellen. Er hatte getan, was man nicht tun darf,und er wurde dafr bestraft, ja, nicht bermigdafr bestraft, wie er jetzt sah, nein, er empfandseine Strafe von unten heraufschauend geradenoch angemessen. Aber es war der Anfang, sichmit der neuen Mglichkeit abzufinden, bitter

    gewesen. Mit der Zeit hatte sich, nach seinenberlegungen, mitten in der Auseinanderset-zung mit seinem Verbrechen, das Gefhl, un-terdrckt zu sein, in das gegenteilige, frei zusein, umgewandelt. Es beruhte auf dem einfa-chen Gedankengang, da der Freie nicht frei,da der Unfreie nicht unfrei ist. Wo ist dieGrenze der Freiheit und von wo aus wird sie be-stimmt? fragte er sich. Es war ein so klarer Ge-dankengang, da ihn selber frstelte, als er ihnzum erstenmal denken durfte. Jetzt bin ich frei!

    konnte er sich sagen. Niemals vorher habe ichFreiheit gehabt! Es war ein ungeheuerer Auf-schwung fr ihn. Aber es wre, dachte er, einsinnloses Unternehmen, es den Menschen der

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    Auenwelt wie den Innenweltmenschen, denfreien wie den unfreien, die beide beides zu-gleich sind, erklren zu wollen, was er ein Ur-gefhl nannte. Vereinfacht und nur fr sichsagte er sich jetzt: Meine Entlassung aus der

    Anstalt bedeutet, da ich meine Freiheit aufge-ben mu. Allerdings hing dieser Gedanke

    nicht unmittelbar mit seinen ihn erwartendenueren Umstnden, wie Frau und Broterwerb,zusammen, er war vielmehr im berdurch-schnittlichen des immer Unbegreifbaren, in ei-ner hochgelagerten allgemeinen unausschpfli-chen Gedankenexekution verankert. Es kam

    ihm vor, als machte er, vllig unbegreiflich, denersten Schritt aus der Strafanstalt hinaus in denTod. In einen unberwindlichen, unausbleibli-chen, scharfsinnigen, konsequenten Tod.

    Am Tag seiner Entlassung wurde er schon frhzum Direktor gerufen. Er habe sich fr den

    Aufenthalt in der Strafanstalt beim Direktor zubedanken, sagte ihm der Aufseher, der ihnfhrte. Jaja, ich wei , sagte der Kulterer.Ihm, dem Aufseher, werde der Kulterer abge-hen. Ob er sich bei ihm zu beklagen habe, frag-

    te ihn der Aufseher, er selbst glaube das nicht,manchmal sei er auch gegen ihn barsch vorge-gangen, aber das sei unumgnglich gewesen.Der Kulterer wute sich in der Finsternis, die

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    haben, oder soll es Ihnen nachgeschickt wer-den? Wo sind Sie denn zu Hause? Gehn Sie jetzt

    wieder zu Ihrer Frau? Jaja, sagte der Kulte-rer. Naja, meinte der Direktor, Sie haben jasicher schon unser Firmenadressenmaterial be-kommen. Es wird sich schon ein Posten fr Siefinden. Versuchen Sie es doch in einer Drucke-

    rei, da haben Sie doch wirkliche Chancen! Es isterstaunlich, wieviel manche Leute bei uns ler-nen! Es ist wirklich erstaunlich, sagte der Di-rektor. Sie werden uns fehlen in der Drucksor-tenabteilung, sagte er. Also, wenn Sie ent-lassen sind, Sie sind ja noch nicht entlassen,

    witzelte er, bekommen Sie Ihr Geld. Naja,sagte er und stand auf und gab dem Kultererein groes graues Kuvert. Dieses Kuvert, sagteer, bergeben Sie Ihrem zustndigen Polizei-kommissariat. Alles Weitere luft dann vonselbst. Da Sie sich jede Woche auf dem Kom-missariat zu melden haben, wissen Sie ja. Ja-

    ja, ich wei , sagte der Kulterer. Der Direktorgab ihm die Hand. Er wre zu Dank verpflich-tet, sagte der Kulterer, er sage das nicht, weil es

    Vorschrift sei, das zu sagen, sondern aus einem

    wirklichen ehrlichen Gefhl heraus. zu gro-em Dank verpflichtet, sagte er. Er schmtesich, keine besseren Worte gefunden zu haben.Er hatte sich einen guten Abschiedssatz fr den

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    ein dritter trocknete mit einem Fetzen hinterbeiden auf. Na, na, sagte der Aufseher, weilsie ihm die heie Lauge vor die Fe geschttethatten. Sie standen sofort stramm und in Erwar-tung einer Zchtigung, aber der Aufseher ber-ging den Zwischenfall; er folgte dem Kulterer,der schnelle, kurze Schritte machte. Sie fuhren

    jetzt schon mit dem Frhstck zu den Zellen.Das Kuvert bekommst du, wenn du fortgehst,zurck, sagte der Aufseher. Er wollte die Zelleabsperren, aber da kamen die Frhstckstrger,und er blieb so lange, bis sie das Frhstck aus-geteilt hatten, an der Zellentr stehen, die

    Frhstckstrger antreibend. Es solle das keineBegnstigung sein, Frhstck austragen, sagteer. Los, los! Sie schpften das lauwarme Ge-trnk aus einem riesigen Zinkkbel, den sie anzwei groen Henkeln zu tragen und vor der Zel-lentr abgestellt hatten. Aus einem Karton ver-teilten sie Brotscheiben. Jeder Hftling bekam

    vier Stck, das war die Brotration fr den gan-zen Tag. Morgen wird unser Kulterer schon ineinem sauberen Bettchen schlafen, sagte der

    Aufseher. Der Betroffene stand abseits, er hatte,

    in Anwesenheit des Aufsehers, die Hnde ange-legt. Er war berzeugt, da ihm der Aufseherkeine Niedertrchtigkeit habe sagen wollen,sondern ihm gut gesinnt sei. Eine Niedertracht

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    Pack Schriften hervor, und ohne da er sie dar-um bitten mute, packten sie mit an, der Strk-ste zog den Strick fest zu; es war ein ordentlichschweres Paket. Als der Kulterer es probeweiseaufhob, sie lachten dazu, denn es hatte dasmglicherweise einen komischen Eindruck aufsie gemacht, fhlte er eine groe Unsinnigkeit,

    eine groe Unsinnigkeit, die er selber war, dieer sich nicht erklren konnte, denn er konntesich selbst nicht erklren. Zu dumm, sagte er.Was machst du mit den Geschichten? fragtensie. Er zuckte mit den Achseln. Verkauf siedoch. Es heit, die Zeitungen reien sie einem

    aus der Hand. Ob sie natrlich deine Geschich-ten drucken, ist eine andere Frage, sagten sie.Jaja, sagte der Kulterer, ich wei. Es tte ih-nen leid, meinten sie, von jetzt an auf ihn ver-zichten zu mssen. Er wre ihnen unentbehrlichgeworden. Ja, wirklich. Es kme nichts Besse-res nach, wie man ja wisse. Mir gehst du jeden-falls ab, sagte der lteste. Es htten sich fr siealle durch ihn vorteilhafte Gesprche ergeben;abgesehen davon, da sie jetzt bezglich desKartenspiels einen Partner weniger htten. Und

    Mhle und Dame, sagte der Kulterer. DieDruckerei wird sich anschauen, meinten sie. Erwrde aber sicher noch einen Sprung in dieDruckerei hineinmachen, um sich zu verab-

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    schieden. Jaja, sagte er. Das wre selbstver-stndlich. Ob sie es glaubten oder nicht, es fieleihm schwer, fortzugehen. Er wrde am liebstenbleiben. Es sei ihm unvorstellbar. Aber mankann nicht lnger bleiben, als man gezwungenist, sagte er. Selbst wenn man ein Gesuch andie Justiz richten wrde, mte ein solches Ge-

    such naturgem abgelehnt werden. Sie lach-ten und glaubten ihm nicht. Er sah verstrt aus.Er wrde ihnen ein Geschenk machen, sagte er,damit sie sich an ihn erinnerten. Er wisse natr-lich nicht, ob sie auch nur die geringste Freudean dem, was er ihnen zu schenken beschlossen

    habe, htten, aber er knne sich vorstellen, daes, wenn es ihnen vielleicht auch anfnglich l-cherlich erscheint, spter einmal von Nutzensein knnte. Ich habe jedem von euch etwasaufgeschrieben, sagte er, fr jeden einzelnenetwas nur fr ihn, etwas, das nur ihn allein be-trifft. Und er gab jedem ein zusammengefalte-tes Papier. Auch wenn sie ihn auslachten, erschmte sich nicht, aber er wnschte sich natr-lich, da sie ihn nicht auslachten. Bevor er nochdas Papier entfaltet hatte, fragte der, welcher

    dem Kulterer immer als der Bedauernswertesteunter ihnen vorgekommen war, als der Ge-meinste auch, was das sei, was der Kulterer ih-nen aufgeschrieben habe. Ein Aphorismus,

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    sagte der Kulterer. Er getraute sich nicht, mehrzu sagen als: Ein Aphorismus.Die drei, deren Haftzeit noch immer unabseh-bar war, hatten die Erlaubnis, eine halbe Stundespter die Arbeit anzutreten, um sich von demEntlassenen verabschieden zu knnen. Der Auf-seher hatte sie aus einer Schnapsflasche trinken

    lassen, die er ihnen gleich wieder wegnahm; ermsse zum Direktor, um eine vorgeschriebene,den Kulterer betreffende Formalitt zu erledi-gen, sagte er, sperrte die Zelle ab und ver-schwand. Er kam aber sofort noch einmal zu-rck, sperrte auf und sagte, der Kulterer msse

    sich augenblicklich umziehen. Los! sagte erund warf einen Haufen Kleider, offensichtlichdie Zivilkleider Kulterers, auf die Pritsche desEntlassenen. Zieh dich um! herrschte er denKulterer an, nicht bsartig, im Gegenteil. Ersperrte ab und polterte davon. Der Kultererduckte sich und entledigte sich der Anstaltsklei-der, und als er nackt vor den Zellengenossenstand die die ganze Zeit versucht hatten, ihmRatschlge zu geben: Da gehst du hin! Nein,du sagst einfach, du kennst dich nicht aus, ver-

    stehst du! oder Bldsinn, einfach hingehen,anklopfen und hineingehen! hatten sie zu ihmgesagt, sie hatten ihm einzutrichtern versucht,

    wie er sich drauen zu verhalten habe, weil wir

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    auf den Kopf geschlagen? Du hast gar nicht ge-blutet, was? Du weit doch, die Polizei schlgtunsereinen immer auf den Kopf. Die kennenkein Pardon! Die kennen da nichts! Der Kulte-rer schttelte den Kopf. Mir haben sie nichtsgetan, sagte er. Und deine Frau? fragten sie.Wie war die? Wie hat sie darauf reagiert? Der

    Kulterer antwortete nicht. Wei sie, da duheimkommst? Hast du es ihr geschrieben? Duhast es ihr gar nicht mitgeteilt? Er habe einenguten Zug zu Mittag, sagten sie. Wieviel Geldihm verblieben sei? Ob ihm berhaupt etwasgeblieben sei? Jaja, sagte der Kulterer. Er

    schrieb sich noch rasch ihre Adressen auf undbat sie, ihn in guter Erinnerung zu behalten.Du weit ja, sagten sie. Es sei nicht einfach,hinauszugehen, die Welt sei kalt und verzeihenicht. Er hatte Lust gehabt, sie alle drei zu um-armen, aber in diesem Moment wurde die Traufgerissen, und der Aufseher fhrte die Hft-linge ab. Die Zelle war offengeblieben. Da stander und hrte die Druckmaschinen ber den Hofherber. Er beugte sich ber seine noch war-men Anstaltskleider und weinte.

    Der Aufseher hatte ihn in die Kche geschickt,wo sie ihm etwas zum Essen eingewickelt hatten.Aber er kannte dort niemand. Es waren lauterneue Gesichter. Er ging in die Druckerei und in

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    die Gerberei und berall, wo er eine offene Trfand, hinein und verabschiedete sich. In derKapelle schaute er noch einmal die schnenBilder an. Vom Pfarrer hatte er sich schon am

    Vortag verabschiedet. Schlielich kehrte er nocheinmal in die Zelle zurck, um seine Sachen zuholen. Er vergewisserte sich, nichts vergessen zu

    haben, hob seinen Papierpack auf und gingfort. ber den Hof hrte er, wie der Aufsehereinen Hftling niederschlug. Er entfernte sich,so rasch er konnte, von der Strafanstalt in dieLandschaft hinein, die, hgelig, braun undgrau, vor Hoffnungslosigkeit dampfte.

    (1962)

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    Der Italiener

    Fragment

    Nach dem Nachtmahl ging ich mit dem Italie-ner vor dem Lusthaus auf und ab. Er habe es

    weit gebracht, sagte er, das Florenz nach demKrieg, sowie das Aussterben seiner Familie habeihn, fr seine Begriffe, reich gemacht. Er hattemir schon am Vormittag vierzehn Geschfteaufgezhlt, die er besitze, zwei Landwirtschaf-ten, zwei Mhlen, eine Konservenfabrik, smtli-

    che in der Toskana, ein Haus in Florenz, einenkleinen Besitz ber Silvaplana, eine Htte frmeine Einsamkeit. In immer krzeren Abstn-den kehrte in dem, was er sagte, Fiesole wie-der. Er schilderte, whrend aus dem offenenLusthaus, in dem mein Vater, wie ich jetzt sah,

    von meinen Schwestern viel zu hoch aufgebahrtwar, die gefrchtete und unter Umstndentdliche Luft herausstrmte, seine Verhltnis-se, Ansichten ber Geschfte, whrend ich inGedanken noch immer mit Kiental und Zim-

    merwald, mit der Wirkung Karl Liebknechtsbeschftigt war. Fortwhrend dachte ich anmeine Arbeit, vornehmlich an das HeidelbergerProgramm. Aus Hflichkeit, um den Italiener

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    nicht vor den Kopf zu stoen, sagte ich, ichplante schon lange Zeit eine Reise nach Sdita-lien. Ich mchte mich einem Gesteinsforscheranschlieen, der im Herbst nach Sizilien geht,sagte ich. Der Italiener warnte mich, zu frhnach Sizilien zu reisen, nicht vor Ende Okto-ber. Unser Ausgangspunkt werde Caltanisetta

    sein, sagte ich, die Forschungen meines Freun-des beschrnkten sich auf das Gebiet zwischenCaltanisetta und Enna. Der Italiener riet mir zueinem Ausflug nach Agrigent (Sie ersparensich damit Griechenland!), nach Palermo undCefal. Er frchtete, entdeckte ich, ich knnte

    ihn pltzlich auffordern, zu meinem toten Vaterins Lusthaus hineinzugehen, oder ich knnteihn fragen, ob er, wie sich das gehrte, schonbei meinem toten Vater, dem Alten Herrn,gewesen sei; smtliche Trauergste hatten in-zwischen diesen gefrchteten Totenbesuch ab-solviert, nur der Italiener nicht. Ich hatte ihnden ganzen Tag lang beobachtet, von allen er-schien er mir als der Interessanteste, auch alsder weitaus Intelligenteste der ganzen Gesell-schaft. Kein gesprchiger Mensch, er war seit

    seiner Ankunft immer allein gewesen. DieSchwestern hatten sich, nachdem sie ihn be-grt hatten, nicht mehr um ihn gekmmert.Er wnschte aber auch keinen Kontakt.

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    Ich hatte sofort die Gelegenheit ausgentzt, mitdem Italiener im Park zu verschwinden, der ge-spannten Atmosphre im Haus, den vielen Leu-ten, Erregungen meiner Schwestern, dem Trau-ertumult in ihnen fr kurze Zeit zu entkommen,er wollte, da ich ihm etwas ber die Geschichteunseres Hauses erzhle, und zwar im Freien,

    was ich, selbst neugierig und freilich mit groenDenkschwierigkeiten, auch getan habe. Jetztgingen wir also auf und ab, und ich zeigte, ei-nem pltzlichen, vllig unvorhergesehenen Ein-fall folgend, dem Italiener, um ihn von dem To-ten, der ihm so gut wie unbekannt war, meinem

    Vater, zu dessen Begrbnis ihn seine Familie zuuns geschickt hatte, abzubringen, den HaufenTheaterkostme und Instrumente, Mntel, Jak-ken, Hosen, Trompeten, Schlagzeug und Fltenalso, im Schuppen an der Lusthauswand. Vor

    Aufregung hatten meine Schwestern, bevor sieden Vater im Lusthaus aufbahren konnten, dasLusthaus ausgerumt und die Kostme und In-strumente, die jahrzehntelang im Lusthaus ge-legen waren, im Schuppen auf einen Haufengeworfen. Ich dachte, den Italiener knnten die

    Kostme und Instrumente, alles kostbare, uralteStcke, interessieren. Ich erklrte ihm, da je-des dieser Stcke fr mich eine besonders tiefeBedeutung habe, einen besonders hohen Wert

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    darstelle, Erinnerungen, sagte ich im Tonfalldes Italieners. Er schien mir, nach seinen ue-rungen, darin, wie er sich von den anderen un-terschied, auf seine Weise, sehr gut erzogen,knstlerisch interessiert zu sein. Zum Groteilnoch von meiner Urgromutter und ihrenSchwestern zusammengenht und geschmckt,

    von meinem Urgrovater und seinen Brdernzusammengekauft, seien sie die schnsten, dieich jemals gesehen, die schnsten, die ich je-mals gehrt habe, und der Fundus vieler groerTheater in ganz Europa sei mir bekannt. DerSchuppen war durch einen Bretterspalt von den

    beiden Totenkerzen im Lusthaus erleuchtet. Ichsagte, der Italiener solle sich nicht schmutzigmachen, denn der Schuppen war schmutzig,

    voller Spinnweben, voller Staub. Zuerst zeigteich ihm die Kostme der Reichen. Dann dieKostme der Armen. Dann die Kostme derErhabenen. Dann die Kostme der Lcherli-chen. Eins nach dem andern zog ich vor seinen

    Augen aus dem Haufen heraus und hielt es ge-gen das Licht. Der Italiener wollte wissen, werdas Schauspiel geschrieben hat, das die Kinder

    meiner Schwestern genau an diesem Abendzwischen halb neun und halb elf,in und vor demLusthaus aufgefhrt htten, wre nicht unserVater whrend der letzten Probe gestorben,

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    htte er sich, wie ich schon ausfhrlich darge-legt habe, nicht auf die bekannte grauenhafte

    Weise in seinem Zimmer erschossen. Ein Un-glck, hatte der Italiener vorher gesagt. Ob dasSchauspiel ein lustiges sei oder ein tragisches,oder tragisch und lustig zugleich, wollte er un-bedingt wissen. Ich antwortete, da der lteste

    Sohn meiner jngeren Schwester, der Dreizehn-jhrige, der Dichter des Schauspiels sei, ich ht-te es, das fr jeden mit Ausnahme der Mitspie-lenden als berraschung gedacht gewesen war,nicht gelesen, nicht eine einzige Zeile, sagteich, ich wei nicht einmal seinen Titel. Es sei,

    sagte ich, eine gute Idee, mir sofort nach unse-rer Rckkehr ins Haus das Schauspiel geben zulassen, denn aufgefhrt wird es nun nichtmehr, um es noch in der Nacht zu lesen, anSchlaf wre nicht zu denken und ablenken kn-ne es mich vielleicht, auch von der fr mich im

    Augenblick qulenden Schriftstellerei. Da mirdas Wesen dessen, der es geschrieben hat, be-kannt sei, ein sehr zartes Wesen, sagte ich,

    werde mir das Schauspiel sicher gefallen undmir auf erfreuliche Weise zu denken geben. Seit

    mehr als hundert Jahren, sagte ich, werde all-jhrlich von einem unserer Kinder, meistensvon einem der Shne, fr das Lusthaus, undzwar fr den letzten Augustabend, ein Schau-

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    das alles an? Ich machte ihm den Vorschlag, insHaus zu gehen, es sei dort, wenn auch laut, sodoch warm, er wolle vielleicht auch ein warmesGetrnk, einen heien Most? sagte ich, dender Italiener am frhen Nachmittag mit gro-em Genu, wie ich habe feststellen knnen,getrunken hat. Der Italiener aber wolltealle Ko-

    stme sehen. Ich erklrte ihm, aus der Erinne-rung, jede der dazugehrenden Rollen, auch,wer sie jeweils gespielt hat, gespielt haben knn-te. Damit verging beinahe eine Stunde. DieKostme des neuen Schauspiels wren nichtdarunter, sie seien, nicht fertig geworden, im

    Zimmer meiner jngeren Schwester, und zwarauf dem Boden in ihrem Zimmer, liegengeblie-ben. Auch die Musikinstrumente schienen ihmzu gefallen. Er sei, sagte er, einmal mit seinerMutter in Padua, wo er studiert habe, aus einembrennenden Operntheater gelaufen, und seineMutter sei an dem Schock vier Wochen spterin einem Florentiner Spital gestorben. Seitherhabe er kein Theatergebude mehr betreten.In unser Lusthaus sei er aber hineingegangen.

    Wir schwiegen, dann sagte er: Wir schreiben

    einander nie. Mir fiel auf, wie nachdenklich erdas gesagt hatte, gleichzeitig bedauerte ich,kein Wort Italienisch zu knnen; mein Vater hatrecht gehabt mit der Behauptung, man knne

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    Alter zu fragen, so sagte er, der jetzt vor mirging, auf einmal, er sei achtundvierzig. Er er-schien mir jetzt jnger als noch am Vormittag.Da ich mich unter dem Unglck so frei be-

    wegte, ganz zum Unterschied von den andern,gefiel ihm. Es wirke sich auch auf ihn aus.

    Vom Haus herber hrten wir beide jetzt meine

    Schwestern aufgeregt debattieren, einzelneWrter, ja ganze Stze waren, wohl wegen derdafr gnstigen Luftstrmung, bis in den Waldherein voll verstndlich. Die Debatte der beidenkam aus der Kche, wohin sie sich, wahrschein-lich um eine ihrer nutzlosen Dringlichkeiten

    ungestrt besprechen zu knnen, zurckgezo-gen hatten. Es machte auch dem Italiener Spa,die Auseinandersetzung der Schwestern aufzu-fangen. Im Mittelpunkt der immer lauter wer-denden Unterhaltung, die, wie ich hren konn-te und wie auch der Italiener verstand, beigeffneten Fenstern stattfand, wohl weil dieSchwestern der Ansicht gewesen waren, da sichum diese Zeit und in dieser Klte kein Menschmehr im Park oder gar im Wald befinde, fielenimmer wieder die Worte zuerst und dahinter.

    Ich machte den Italiener darauf aufmerksam,da es sich um den Leichenzug handle und werin ihm hinter wem zu gehen habe. Eine warf derandern noch schnell das Wort Bischof an den

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    Kopf, dann war es still. Jetzt bemerkte ich erst,wie frchterlich ihre Stimmen waren. Von derLichtung aus war das Lusthaus zu sehen. Ichdachte, genau um diese Zeit htten die Kinderihr Schauspiel gespielt. Eine ebenso groeMenge Leute, wenn auch nur aus der nchstenUmgebung, in anderer Stimmung, in anderen

    Kleidern als jetzt, weniger Verwandte als Nach-barn und Freunde, wren im Haus und im Park,vor dem Lusthaus versammelt. Ich dachte berden Unterschied zwischen Sommerlustspielbe-sucher und Sommertotenbesucher nach, wh-rend ich schon auf dem Massengrab stand. Der

    Italiener hatte keine Ahnung davon. Ich war imZweifel, ob ich ihm sagen solle, da er und ichauf zwei Dutzend verscharrten Leichen stnden.Hier in der Lichtung, sagte ich, ich beherrsch-te mich im letzten Augenblick, haben wir alsKinder oft Fangen gespielt, und ich erklrteihm unser Fangenspiel. Er meinte, die Floren-tiner Kinder spielten dasselbe Fangenspiel. Ichkonnte sogar in der Finsternis die Umrisse desMassengrabes, den hellen Fleck im Gras sehen.Ich bin ber zehn Jahre, glaube ich, nicht mehr

    in der Lichtung gewesen, und jetzt schon zumviertenmal innerhalb von drei Tagen; auch mitdem Italiener. Ich sagte, das noch Frchterli-chere rasch zurckdrngend: Mein Vater wollte

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    im Lusthaus aufgebahrt sein. Auch sein Vaterhat sich im Lusthaus aufbahren lassen. Unddann: Er nannte es oft auch Das Schlachthaus.Zum viertenmal in drei Tagen, dachte ich. Umdann doch, was mir wichtig erschien, aus vieler-lei Grnden, auch den Italiener in bezug aufdas Massengrab aufzuklren, schaute ich, da

    wir weiterkamen; wir machten, von mir gefhrt,den Umweg ber die Brcke. Der Italiener warerstaunt, als ich, gerade auf der Brcke, sagte:Hier gibt es ein Massengrab, und zwar in derLichtung, aus der wir uns gerade entfernt ha-ben. In der Lichtung sind zwei Dutzend Polen

    begraben. Verscharrt, sagte ich. Mit kurzenStzen erzhlte ich, wie jedem seiner Vorgn-ger, dem Italiener die von meinem Vater stam-mende Geschichte, da in der Lichtung zweiDutzend Polen verscharrt sind, gemeine Solda-ten, sagte ich, zwei Offiziere. Ich knnemich, obwohl bei Kriegsschlu erst zwlf Jahrealt, noch an die Polen erinnern, sie waren imLusthaus untergebracht, sie hatten im Lusthausdas Kriegsende abgewartet, sie hatten Zufluchtgesucht im Lusthaus. Aus den Erzhlungen

    meines Vaters wisse ich, da sie, zwei Wochenvor Kriegsschlu, von pltzlich in der Nacht ausdem Wald herausgekommenen Deutschen er-schossen worden sind. Die Leichen sollen vier-

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    zehn Tage im Lusthaus gelegen sein und einenungeheueren Gestank verbreitet haben, denHausleuten sei es verboten gewesen, das Lust-haus zu betreten. Meinem Vater sollen dieDeutschen mit dem Erschieen gedroht haben,auch allen andern, die die Leichen aus demLusthaus befrdern und eingraben wollten.

    Halbwchsige, sagte ich, Fnfzehnjhrige,Sechzehnjhrige. Diese Geschichte habe ichjetzt schon zum drittenmal seit meiner Ankunfterzhlt. Wirklich gesehen hat die Erschossenennur mein Vater. Der Italiener schaute auf dasLusthaus und sagte: Das Schlachthaus. Ich

    sagte, da ich, an dem Mordtag, das Schreiender Polen vom Lusthaus in mein Zimmer her-ber gehrt habe. Jahrelang htte ich in derNhe des Lusthauses und berall in der Welt inder Nacht dieses Schreien gehrt. Mit diesemSchreien, das sich automatisch jedesmal mitmeiner Annherung an das Lusthaus verstrke,htte ich zwei Jahrzehnte, bis zum heutigenTag, zu kmpfen gehabt. Mein ganzes Leben,sagte ich, habe ich immer geglaubt, dem Ge-schrei der an die Wand gestellten Polen nicht

    mehr entkommen zu knnen. Der Italienerdrehte sich um. Unter den Ermordeten soll einPotocki sein, sagte ich. Der Italiener nahmmeine Erzhlung, meine Mitteilung schweigend

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    auf. Nur mein Vater habe, sagte ich, lange Zeit,von dem Massengrab gewut, niemand sonst; essei lngst die dafr zustndige Behrde ver-stndigt worden, doch habe sich bis heute nochniemand um das Massengrab, um das Polen-grab, wie meine Schwestern es nannten, ge-kmmert. Wir gehen auch nie in die Lichtung,

    sagte ich, mit Ihnen bin ich, merkwrdig, in dieLichtung gegangen. Auch mit dem Freistdter.Mit dem Ungarn. Greuel, sagte der Italienerund fragte mich, ob dieser Ausdruck stimme.Ich bejahte. Die Polen, sagte ich, sind in dasLusthaus wie in eine Falle gegangen. Nun wie-

    der meinen Vater betreffend, sagte der Italie-ner: Erschossen, und schaute auf das Lust-haus. Ein Unglcksfall? Wieder dachte ich:Liegt ein Selbstmrder mit durchschossenemSchdel im Lusthaus? Ein so grauenhaft zer-strtes Gesicht, sagte der Italiener. Um abzu-lenken, erkundigte ich mich noch einmal nachden politischen Verhltnissen in Italien. DasPolitische, sagte er, interessiert mich tatsch-lich nur insofern, als es meinen Geschftenntzt; kann sein, da meine Ehrlichkeit ver-

    blfft. Damit entledigte er sich eines ihm, wieich feststellte, unangenehmen Gesprchs. InRom, sagte er vereinfachend, sitzen immerdie falschen Leute, in jedem Staat sitzen in jeder

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    mich in Mhlbach eingewhnt habe, bei ihrenEltern auszuharren; erst dann, wenn ich auer-halb des Gasthauses fr uns beide, mglicher-

    weise in Tenneck, schrieb ich, zwei Zimmer fruns beschafft habe, solle sie herkommen. Siehatte mir in ihrem letzten Brief, von den An-klagen gegen ihre verstndnislosen Eltern abge-

    sehen, geschrieben, sie frchte Mhlbach, undich antwortete, ihre Furcht sei grundlos. Ihr Zu-stand verndere sich in der Weise krankhaft,da sie jetzt alles frchte. Dann, wenn das Kindda sei, schrieb ich, knne sie wieder klar sehen,da alles in Ordnung sei. Es wre falsch, vor

    Jahresende zu heiraten, schrieb ich, ich schrieb:Nchstes Frhjahr ist ein guter Termin. DerZeitpunkt, in welchem das Kind kommt, schriebich, ist in jedem Falle peinlich fr die Umwelt.Nein, dachte ich, das kannst du nicht schreiben,alles, was du bis jetzt in den Brief geschriebenhast, kannst du nicht schreiben, darfst du nichtschreiben, und ich fing von vorne an und zwarsofort mit einem Satz, in welchem ich Ange-nehmes, von unserm Unglck Ablenkendes,

    von der Gehaltserhhung, die mir fr August

    in Aussicht gestellt ist, berichtete. Der Postenin Mhlbach sei abgelegen, schrieb ich, dachteaber, Mhlbach ist fr mich und fr uns beideeine Strafe, eine Todesstrafe und schrieb: In-

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    Brutalitt an ihm. Er wrde seinem Vater im-mer noch hnlicher, ihr mache das Angst. VonFaustschlgen in die Gesichter von Brdernund Vettern, von schweren Krperverletzungenist die Rede, von Vertrauensbrchen, von Mit-leidlosigkeit seinerseits. Dann sagt sie: Das warschn, auf dem Wartbergkogel. Ihr gefalle sein

    Anzug, das neue Hemd dazu. Ihrer beiderSchulweg fhrte durch einen finstern Hoch-wald, in welchem sie sich frchteten, daran er-innerten sie sich: an einen aus Gllersdorf ent-sprungenen Hftling, der, in Hftlingskleidung,in dem Hochwald ber einen Baumstamm ge-

    strzt und an einer tiefen Kopfwunde verblutetund, von Fchsen angefressen, von ihnen aufge-funden worden ist. Sie redeten von einer Frh-

    geburt und von einer Geldberweisung Siewaren, wute ich pltzlich, schon vier Tage ausder Steiermark fort, zuerst in Linz, dann inSteyr, dann in Wels gewesen. Was haben siedenn fr Gepck mit, dachte ich. Anscheinendist es viel Gepck, denn die Wirtin hat schwergetragen, ich hre sie noch, man hrt, wie je-mand in den ersten Stock hinaufgeht zu den

    Fremdenzimmern. Zweimal ist die Wirtin hin-aufgegangen. Inzwischen, dachte ich, wird es indem Zimmer warm sein. Was fr ein Zimmer?Die Schwierigkeit in den Landgasthusern ist

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    im Winter die Beheizung. Holzfen, dachte ich.Im Winter konzentriert sich, auf dem Land, fastalles auf das Einheizen. Ich sah, da der jungeMann derbe hohe, das Mdchen aber stdti-sche, dnne Halbschuhe anhatte. berhaupt,dachte ich, ist das Mdchen fr diese Gegendund fr diese Jahreszeit vllig ungeeignet ange-

    zogen. Mglicherweise haben die beiden, dach-te ich, gar keinen Landaufenthalt vorgehabt.Warum Mhlbach? Wer geht nach Mhlbach,wenn er nicht gezwungen ist? Im folgendenhrte ich einerseits zu, was die beiden mitein-ander sprachen, whrend sie mit dem Essen

    aufgehrt hatten, nunmehr noch Bier tranken,andererseits las ich, was ich fortwhrend ge-schrieben hatte, durch, und ich dachte, das istein vllig unbrauchbarer Brief, rcksichtslos,gemein, unklug, fehlerhaft. So darf ich nichtschreiben, dachte ich, so nicht, und ich dachte,da ich die Nacht berschlafen werde, am nch-sten Tag einen neuen Brief schreiben. Eine sol-che Abgeschiedenheit wie die in Mhlbach,dachte ich, ruiniert die Nerven. Bin ich krank?Bin ich verrckt? Nein, ich bin nicht krank und

    ich bin nicht verrckt. Ich war mde, gleichzei-tig aber wegen der beiden jungen Leute unf-hig, aus dem Gastzimmer hinaus und in den er-sten Stock, in mein Zimmer zu gehn. Ich sagte

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    mir, es ist schon elf Uhr, geh schlafen, aber ichging nicht. Ich bestellte mir noch ein Glas Bierund blieb sitzen und kritzelte auf das Briefpa-pier Ornamente, Gesichter, die immer gleichenGesichter und Ornamente, die ich schon alsKind immer aus Langeweile oder versteckterNeugierde auf beschriebenes Papier gekritzelt

    habe. Wenn es mir gelnge, pltzlich Klarheitber diese beiden jungen Menschen, Verlieb-ten, zu haben, dachte ich.Ich unterhielt mich mit der Wirtin, whrend ichden beiden Fremden zuhrte, alles hrte ichund pltzlich hatte ich den Gedanken, die bei-

    den sind ein Gesetzesbruch. Mehr wute ich nicht,als da das keine Normalitt ist, so, wie die bei-den, sptabends mit dem Postautobus in Mhl-bach anzukommen und sich ein Zimmer zunehmen, und tatschlich fiel mir auf, gestattetdie Wirtin den beiden wie Mann und Frau ineinem einzigen Zimmer zu bernachten, undich empfinde das als natrlich und ich verhaltemich passiv, beobachte, bin neugierig, sympa-thisiere, denke nicht, da es sich da ohne Zwei-fel um etwas zum Einschreiten handelt. Ein-

    schreiten? Auf einmal fange ich mit Verbrechenin Zusammenhang mit den beiden zu spielenan, als der junge Mann mit lauter Stimme, imBefehlston, zu zahlen verlangt, und die Wirtin

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    geht zu ihnen hin und rechnet die Konsumationzusammen und wie der junge Mann seine Brief-tasche ffnet, sehe ich, da sehr viel Geld in ihrist. Die Landwirtsshne, so kurz sie von ihrenEltern gehalten sind, denke ich, heben dochdann und wann eine grere Summe von einemihnen zur Verfgung stehenden Konto ab und

    geben sie, gemeinsam mit einem Mdchen,rasch aus. Die Wirtin fragt, wann die beiden inder Frhe geweckt werden wollen, und der jun-ge Mann sagt um acht und schaut jetzt zu mirherber und legt fr die Wirtstochter einTrinkgeld auf den Tisch. Es ist halb zwlf, wie

    die beiden aus dem Gastzimmer sind. Die Wir-tin rumt die Glser zusammen, wscht sie abund setzt sich dann noch zu mir. Ob ihr diebeiden nicht verdchtig vorkommen, frage ichsie. Verdchtig? Natrlich, gibt sie mir zu ver-stehen. Wieder versucht sie, sich mir auf diegemeinste Weise zu nhern, ich stoe sie aber

    weg, mit der Stablampe an die Brust, stehe aufund gehe in mein Zimmer.Oben ist alles ruhig, ich hre nichts. Ich wei,in welchem Zimmer die beiden sind, aber ich

    hre nichts. Whrend des Stiefelausziehensglaube ich, da da ein Gerusch war, ja, einGerusch. Tatschlich horche ich lngere Zeit,aber ich hre nichts.

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    ren liegt sie in der Heilsttte Grabenhof. Er er-kundigte sich nach meiner Verlobten. Er kenntsie, hat sogar mit ihr, wie sie das letzte Mal inMhlbach gewesen ist, getanzt, der alte, dickeMann, denke ich, ihn anschauend. Es sei Wahn-sinn, zu frh, genauso Wahnsinn, zu spt zuheiraten, sagte er. Er gestattete mir in der zwei-

    ten Vormittagshlfte (schreib, kommandierteer) den Brief an meine Braut endgltig zuschreiben. Auf einmal hatte ich einen klarenKopf fr den Brief. Das ist ein guter Brief, sagteich mir, als ich damit fertig war und in ihm istnicht die kleinste Lge. Ich wrde ihn rasch

    aufgeben, sagte ich und ging zum Postautobushinber, der schon warmgelaufen war undgleich, nachdem ich dem Fahrer meinen Briefgegeben hatte, abfuhr, an dem Tag, vom Fahrerabgesehen, ohne einen einzigen Menschen. Eshatte einundzwanzig Grad Klte, ich las das ge-rade neben der Gasthaustr vom Thermometerab, als mich die Wirtin, im offenen Gang ste-hend, ins Gasthaus hineinwinkte. Sie klopfeschon stundenlang immer wieder an das Zim-mer, in welchem das Mdchen liege und be-

    komme keine Antwort, sagte sie, nichts. Ichging sofort in den ersten Stock hinauf und zuder Zimmertr und klopfte. Nichts. Ich klopftenoch einmal und sagte, das Mdchen solle auf-

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    machen. Aufmachen! Aufmachen! sagte ichmehrere Male. Nichts. Da kein zweiter Zimmer-schlssel da ist, msse man die Tr aufbrechen,sagte ich. Die Wirtin gab wortlos ihr Einver-stndnis, da ich die Tr aufbreche. Ich brauch-te nur einmal krftig meinen Oberkrper anden Trrahmen drcken und die Tr war offen.

    Das Mdchen lag quer ber das Doppelbett,bewutlos. Ich schickte die Wirtin zum Inspek-tor. Ich konstatierte eine schwere Medikamen-tenvergiftung bei dem Mdchen und deckte esmit dem Wintermantel zu, den ich vom Fenster-kreuz heruntergenommen hatte, offensichtlich

    war das der Wintermantel des jungen Mannes.Wo ist der? Unausgesprochen fragte sich jeder,wo der junge Mann ist. Ich dachte, da dasMdchen den Selbstmordversuch tatschlicherstnach dem Verschwinden des jungen Mannes(ihres Verlobten?) unternommen hat. Auf demBoden verstreut lagen Tabletten. Der Inspektor

    war ratlos. Nun msse man warten, bis der Arztda sei, und alle sahen wir wieder, wie schwieriges ist, einen Arzt nach Mhlbach herauf zu be-kommen. Es knne eine Stunde dauern, bis der

    Arzt kommt, meinte der Inspektor. Zwei Stun-den. In Mhlbach nur nie in die Lage kommen,einen Arzt zu brauchen, sagte er. Namen, Da-ten, dachte ich, Daten, und ich durchsuchte die

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    Mrzzuschlag berfhrt, die Eltern begleitetenes im Leichenwagen. Der Bruder und Sohnblieb dann unauffindbar.Gestern, den achtundzwanzigsten, fanden ihnberraschend zwei Holzzieher knapp unterhalbder Baumgrenze ber Mhlbach erfroren undmit zwei von ihm erschlagenen schweren Gem-

    sen zugedeckt. (1967)

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