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    1978 Residenz Verlag, Salzburg und WienAlle Rechte, insbesondere das des auszugsweisen Abdrucksund das der photomechanischen Wiedergabe, vorbehalten

    Printed in Austria by Druckhaus R. Kiesel, SalzburgISBN 3-7017-0188-1

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    Thomas Bernhard

    Der Atem

    Eine Entscheidung

    Residenz Verlag

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    Da die Menschen unfhig waren, Tod,

    Elend, Unwissenheit zu berwinden,sind sie, um glcklich zu sein, berein-gekommen, nicht daran zu denken.

    Pascal

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    Es war, das zeigte sich dem noch nicht Acht-zehnjhrigen schon bald nach den von mir jetztmit dem Willen zu Wahrheit und Klarheit zu no-tierenden Ereignissen und Geschehnissen nichtsals nur folgerichtig, da ich selbst erkrankte,nachdem mein Grovater pltzlich erkrankt war

    und in das nur wenige hundert Schritte von unsgelegene Krankenhaus hatte gehen mssen, wieich mich erinnere und wie ich noch heute ge-nau vor mir sehe, in seinem grauschwarzen

    Wintermantel, den ihm ein kanadischer Besat-zungsoffizier geschenkt hatte, so unternehmendausschreitend und seine Krperbewegung mitseinem Stock taktierend, als wollte er einenSpaziergang machen wie gewohnt, an seinemFenster vorbei, hinter welchem ich ihn beob-achtete, nicht wissend, wohin ihn, den einzigen

    wirklich geliebten Menschen, dieser Spaziergangfhrte, ganz sicher in traurig-melancholischerGefhls- und Geistesverfassung, nachdem ichmich von ihm verabschiedet hatte. Das Bild istmir wie kein zweites: der von einem angesehe-nen Salzburger Internisten einer von diesem

    nicht nher bezeichneten Merkwrdigkeit we-gen zu einer klinischen Untersuchung, mgli-cherweise zu einem kleineren chirurgischen Ein-griff, wie ausdrcklich gesagt worden war, insLandeskrankenhaus Aufgeforderte verschwindet

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    an einem Samstagnachmittag hinter der Gar-tenmauer unseres benachbarten Gemsehnd-lers. Es mu mir klar gewesen sein, in diesem

    Augenblick war eine entscheidende Wende inunserer Existenz eingetreten. Meine eigene,durch meinen fortgesetzten Unwillen gegen

    Krankheitszustnde unausgeheilte Krankheitwar wieder, und zwar mit geradezu erschrek-kender Heftigkeit, ausgebrochen. Fiebernd undgleichzeitig in einem schmerzhaften Angstzu-stand, war ich schon einen Tag, nachdem meinGrovater das Krankenhaus aufgesucht hatte,

    unfhig gewesen, aufzustehen und in die Arbeitzu gehen. Aus dem Vorhaus, wo ich, aus Platz-mangel und aus hier nicht nher zu errtern-den, mir auch nicht vollkommen klaren famili-ren Grnden, mein Bett gehabt hatte, durfteich, wahrscheinlich, weil allein der Anblick

    meines Zustandes eine solche Manahme alsunbedingt und ganz einfach als selbstverstnd-lich erfordert hatte, in das sogenannte Gro-

    vaterzimmer. Jetzt war es mir mglich, jedeEinzelheit in dem Grovaterzimmer einer ge-naueren Betrachtung, ausgestreckt im Bett des

    Grovaters, jeden einzelnen ihm so lebensnot-wendigen, mir auf die ntzlichste Weise so ver-trauten Gegenstand einer langen, ja ununter-brochenen Prfung zu unterziehen. Grerer

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    Schmerz und gesteigerte Angst hatten mich vonZeit zu Zeit abwechselnd meine Mutter odermeine Gromutter, die ich auf dem Gang ge-hrt hatte, rufen lassen, und es mag den beidenmit allen mglichen Hausarbeiten beschftigtenund allein von der Tatsache des Krankenhaus-

    aufenthaltes meines Grovaters, ihres Mannesund Vaters, in Ungewiheit und Angst versetz-ten Frauen schlielich auf die angespanntenNerven gegangen sein, da ich sie, mglicher-

    weise viel fter als tatschlich erforderlich, zumir in das Grovaterzimmer herein und an

    mein Bett gerufen hatte, denn pltzlich hattensie sich meine fortwhrenden Mutter- undGromutterrufe verbeten und mich in ihrer ge-steigerten Ungewiheit und Angst als einen sieihrer Meinung nach ganz bewut und bsartigpeinigenden Simulanten bezeichnet, was mich,

    der ich ihnen zu frheren Gelegenheiten sicherfr diese Bezeichnung Anla gegeben hatte, indiesem tatschlich ernsten und, wie sich sehrrasch herausstellen sollte, lebensgefhrlichenZustande, zutiefst verletzen mute, und waren,so sehr ich sie auch darum immer wieder, Mut-

    ter und Gromutter rufend, gebeten hatte,nicht mehr im Grovaterzimmer erschienen.Zwei Tage spter erwachte ich in demselbenKrankenhaus, in welchem mein Grovater

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    schon mehrere Tage gewesen war, aus einerBewutlosigkeit, in welcher meine Mutter undmeine Gromutter mich im Grovaterzimmerentdeckt hatten. Der von den erschrockenenFrauen herbeigerufene Arzt hatte mich gegenein Uhr frh, wie ich spter von meiner Mutter

    erfahren habe, nicht ohne Vorwrfe gegen Mut-ter und Gromutter, ins Krankenhaus transpor-tieren lassen. Die Erkltung, die ich mir beim

    Abladen von mehreren Zentnern Kartoffeln imSchneetreiben auf dem Lastwagen vor dem Ma-gazin der Lebensmittelhandlung des Podlaha

    zugezogen und die ich viele Monate ganz ein-fach ignoriert hatte, war jetzt nichts anderes alseine schwere sogenannte nasse Rippenfellent-zndung gewesen, die von jetzt an whrendmehrerer Wochen immer wieder innerhalb we-niger Stunden zwei oder drei Liter einer gelb-

    grauen Flssigkeit produzierte, wodurch natur-gem Herz und Lunge in Mitleidenschaftgezogen und der ganze Krper binnen krze-ster Zeit auf die gefhrlichste Weise geschwcht

    worden war. Schon kurz nach meiner Einliefe-rung in das Krankenhaus war ich punktiert und

    waren, sozusagen als erste lebensrettende Ma-nahme, drei Liter dieser gelbgrauen Flssigkeitaus meinem Brustkorb abgelassen worden.Doch von diesen Punktionen spter. Aufgewacht

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    bin ich und also wieder zu Bewutsein gekom-men in einem dieser riesigen, zum Teil mit Ge-

    wlben ausgestatteten Krankensle, in welchenzwischen zwanzig und dreiig Betten standen,einmal weigestrichene, aber lngst an allenEcken und Enden im Laufe der Jahre und Jahr-

    zehnte abgestoene, vllig verrostete Eisenbet-ten, die in den Slen so eng aneinandergescho-ben waren, da es nur unter Anwendung vonGeschicklichkeit und Brutalitt mglich war,zwischen ihnen durchzukommen. In dem Saal,in dem ich aufgewacht bin, standen sechsund-

    zwanzig Betten, jeweils zwlf waren so an diegegenberliegenden Wnde geschoben, dazwischen ihnen auf dem so entstandenen Mit-telgang noch zwei Platz hatten. Diese zwei Bet-ten waren bis in die Hhe von eineinhalb Me-tern vergittert gewesen. Nachdem ich in dem

    Krankensaal aufgewacht war, hatte ich aber nurzwei Tatsachen feststellen knnen: da ich inein Bett am Fenster und unter ein kalkweiesGewlbe gelegt worden war. Auf diesem Ge-

    wlbe oder wenigstens auf dem Gewlbeteilber mir haftete whrend der ersten Stunden

    nach meiner Bewutlosigkeit mein Blick. Ausdem ganzen Saal hatte ich die Stimmen von al-ten Mnnern hren knnen, die ich nicht sehenkonnte, weil ich zu schwach gewesen war, auch

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    nur meinen Kopf zu bewegen. Als ich zum er-stenmal zur Punktion abgeholt worden war, sindmir naturgem noch nicht die ganze Greund die ganze Hlichkeit dieses Krankensaaleszu Bewutsein gekommen, was ich wahrge-nommen hatte, waren Schatten von Menschen

    und Mauern und von Gegenstnden an diesenMenschen und Mauern und die mit diesenMenschen und Mauern und Gegenstnden zu-sammenhngenden Gerusche, alles zusammenhatte ich auf diesem Weg durch den Kranken-saal, auf welchem mir mehrere geistliche

    Schwestern und wie diese weigekleidete Pfle-ger behilflich gewesen waren, schon ein vonden vielen Penicillin- und Kampferspritzen aufein Minimum herabgesetztes, mich aber tatsch-lich in einen gegenber meinen Anfangs-schmerzen nicht nur ertrglichen, sondern an-

    genehmen Zustand versetzendes Wahrneh-mungsvermgen gehabt, von allen Seiten hattenmich Hnde, mir war vorgekommen, eine Un-zahl von Hnden, ohne da ich diese Hndeund auch nicht die zu diesen Hnden gehren-den Menschen htte sehen knnen, aus mei-

    nem Bett heraus und auf eine Tragbahre geho-ben und gezogen und geschoben und in dickeDecken gewickelt und schlielich, alles war mir

    verschwommen und in der grten Undeut-

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    lichkeit, durch den ganzen, wie mir vorgekom-men war, von Hunderten von Leidensgeru-schen angefllten Krankensaal hinaus auf denGang befrdert und durch den langen, mich

    vollkommen aus dem Gleichgewicht bringen-den Gang mit seinen unendlich vielen offenen

    und geschlossenen, von Hunderten, wenn nichtTausenden von Patienten bevlkerten Zimmernin eine, wie mir vorgekommen war, enge, kahl-graue Ambulanz gebracht, in welcher mehrere

    rzte und Schwestern beschftigt waren, derenGesprche oder auch nur einzelne Wrter oder

    auch nur Rufe ich nicht verstehen hatte knnen,die aber ununterbrochen miteinander gespro-chen und immer wieder etwas gerufen hatten;

    wie ich mich auch noch an die Tatsache erinne-re, da pltzlich, nachdem meine Bahre abge-stellt gewesen war, gleich neben der Tr neben

    einer anderen Bahre, auf welcher ein alter Mannmit einem vollkommen verbundenen Kopf ge-legen war, mehrere rztliche Instrumente zuBoden gefallen waren, an das frchterliche An-einanderschlagen von Blechkbeln, dann wie-der Lachen, Schreien, Zufallen von Tren, wie

    pltzlich hinter mir Wasser aus einem Leitungs-hahn in eine Emailschssel heruntergelassen,der Leitungshahn abrupt wieder zugedreht

    worden war; mir war vorgekommen, gerade in

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    diesem Augenblick hatten die rzte eine Reihevon mir unverstndlichen lateinischen Wrterngesprochen, nur fr sie bestimmtes Medizini-sches, darauf waren wieder Befehle, Anweisun-gen, Gerusche von Glsern, Schluchen, Sche-ren, Schritte zu hren gewesen. Ich selbst hatte

    whrend dieser Zeit wahrscheinlich die untersteGrenze meines Wahrnehmungsvermgens er-reicht und folglich auch keinerlei Schmerzenmehr. Mir war nicht klar gewesen, in welchemTeil des Krankenhauses ich mich zu diesemZeitpunkt befand, auch hatte ich keine Ahnung

    von der Lage des Krankensaales, ich mu michin Fubodennhe befunden haben, weil ich so

    viele Beine gehen gehrt und gesehen habe,und allem Anschein nach waren die rzte undSchwestern auer mit mir mit vielen anderenPatienten beschftigt gewesen, ich selbst hatte

    aber die lngste Zeit den Eindruck, ich sei in dieAmbulanz hereingelegt und dann auch schonvergessen gewesen, da sich um mich ber-haupt niemand kmmerte, hatte ich gedacht,

    weil alle in der Ambulanz immer nur an mir vor-bergingen, einerseits hatte ich das Gefhl, bald

    erdrckt zu sein und ersticken zu mssen, an-dererseits war mein Zustand ein leichter,schwereloser. Noch hatte ich nicht gewut, waseine solche mir angekndigte Punktion bedeu-

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    tete, weil ich die erste an mir vorgenommeneinfolge meiner Bewutlosigkeit gar nicht wahr-genommen hatte, aber gleich, was mir bevor-stand, ich hatte mich lngst in alles gefgt, undich htte alles mit mir geschehen lassen, ich hat-te infolge der mir in der Zwischenzeit bereits

    verabreichten Medikamente keinerlei Willens-kraft mehr, nur noch Geduld und auch keinerleiAngst, gleich, was auf mich zukommen sollte,nicht die geringste Angst, von dem Augenblickan, in welchem ich auf einmal schmerzfrei war,hatte ich keine Angst mehr, alles in mir war nur

    noch Ruhe und Gleichgltigkeit. So hatte ichschlielich vollkommen widerstandslos von derBahre gehoben und auf einen mit einem wei-en Leintuch zugedeckten Tisch gesetzt werdenknnen. Mir gegenber war ein groes, mattes,undurchsichtiges Fenster gewesen, und ich hat-

    te versucht, solange als mglich auf dieses Fen-ster zu schauen. Wer mich sttzte, wei ichnicht, ohne diese Sttze aber wre ich augen-blicklich kopfber nach vorn gefallen. Ich fhltemehrere Hnde, die mich hielten, und ich sahein Fnf-Liter-Gurkenglas neben mir. Die glei-

    chen Gurkenglser hatten wir im Geschft. Wasjetzt komme, sei notwendig und in ein paar Mi-nuten auch schon wieder vorbei, hatte ich hin-ter mir von dem Arzt gehrt, der dann die

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    Punktion vorgenommen hat. Ich kann nicht sa-gen, da das Durchstechen des Brustkorbesschmerzhaft gewesen war, aber der Anblick desGurkenglases neben mir, in welches der roteGummischlauch, der mit der Punktionsnadel

    verbunden war, die in meinem Brustkorb steck-

    te, mit seinem anderen Ende hineingelegt wor-den war, genau der gleiche Gummischlauch,den wir im Geschft zum Essigabziehen ver-

    wendeten und durch welchen nach und nach,und zwar stoweise unter rhythmischen Pump-und Sauggeruschen die schon erwhnte gelb-

    graue Flssigkeit in das Gurkenglas abgeleitet,und zwar so lange abgeleitet worden war, bisdas Gurkenglas neben mir ber die Hlfte ange-fllt gewesen war, hatte zu pltzlicher belkeitund in eine unmittelbar darauffolgende neuer-liche Bewutlosigkeit gefhrt. Erst im Kranken-

    saal, in meinem Eckbett, war ich wieder zu mirgekommen. Ich hatte kein Zeitgefhl, und ich

    wute nicht wann und nicht wie ich in dasKrankenhaus gekommen und wie lange ich be-

    wutlos gewesen war, als ich zum erstenmal indem Krankensaal aufwachte. Ich hatte zwar die

    Schatten von Menschen vor mir gesehen, abernicht verstanden, was sie gesprochen, zu mirgesagt hatten. Zuerst war mir selbst die Ursachemeines Krankenhausaufenthaltes nicht bekannt

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    der gleiche Zustand. Das Gesicht des Gro-vaters, vielleicht das der Gromutter, meinerMutter. Dann und wann war mir Nahrung ein-geflt worden. Keine Bewegung mehr, nichtsmehr. Mein Bett wird auf Rder gehoben unddurch den Krankensaal geschoben, hinaus auf

    den Gang, durch eine Tr, so weit, da es anein anderes anstt. Ich bin im Badezimmer.Ich wei, was das bedeutet. Jede halbe Stundekommt eine Schwester herein und hebt meineHand auf und lt sie wieder fallen, das gleichemacht sie wahrscheinlich mit einer Hand in

    dem Bett vor meinem Bett, das schon lnger alsmeines in dem Badezimmer gestanden ist. Die

    Abstnde, in welchen die Schwester herein-kommt, verringern sich. Irgendwann kommengraugekleidete Mnner mit einem verschlosse-nen Zinkblechsarg herein, decken ihn ab und

    legen einen nackten Menschen hinein. Mir istklar, der, den sie an mir vorbei in dem wiederfestverschlossenen Zinkblechsarg aus dem Ba-dezimmer hinaustragen, ist der Mensch ausdem Bett vor meinem Bett. Die Schwesterkommt jetzt nurmehr noch meine Hand aufzu-

    heben. Ob noch ein Pulsschlag feststellbar ist.Pltzlich fllt die nasse und schwere Wsche,die die ganze Zeit an einem quer durch das Ba-dezimmer und gerade ber mir gespannten

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    Strick aufgehngt gewesen war, auf mich. ZehnZentimeter, und die Wsche wre auf mein Ge-sicht gefallen, und ich wre erstickt. Die Schwe-ster kommt herein und packt die Wsche und

    wirft sie auf einen Sessel neben der Badewanne.Dann hebt sie meine Hand auf. Sie geht die

    ganze Nacht durch die Zimmer und hebt immerwieder Hnde auf und fhlt den Pulsschlag. Siefngt an, das Bett abzuziehen, in welchem gera-de ein Mensch gestorben ist. Dem Atem nachein Mann. Sie wirft das Bettzeug auf den Bodenund hebt, wie wenn sie jetzt auf meinen Tod

    wartete, meine Hand auf. Dann bckt sie sich,nimmt das Bettzeug und geht mit dem Bettzeughinaus. Jetzt will ich leben. Ein paarmal nochkommt die Schwester herein und hebt meineHand auf. Dann, gegen Morgen, kommen Pfle-ger und heben mein Bett auf Gummirder und

    fahren es in den Krankensaal zurck. Pltzlich,denke ich, hat der Atem des Mannes vor miraufgehrt. Ich will nicht sterben, denke ich.Jetzt nicht. Der Mann hat pltzlich zu atmenaufgehrt. Kaum hatte er zu atmen aufgehrt,

    waren die graugekleideten Mnner von der Pro-

    sektur hereingekommen und hatten ihn in denZinkblechsarg gelegt. Die Schwester hat es nichtmehr erwarten knnen, da er zu atmen aufge-hrt hat, dachte ich. Auch ich htte zu atmen

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    aufhren knnen. Wie ich jetzt wei, war ichgegen fnf Uhr frh wieder zurckgebracht

    worden in den Krankensaal. Aber die Schwe-stern, mglicherweise auch die rzte, warensich nicht sicher gewesen, sonst htten mir dieSchwestern nicht gegen sechs in der Frh von

    dem Krankenhauspfarrer die sogenannte Letztelung geben lassen. Ich hatte das Zeremoniellkaum wahrgenommen. An vielen andern habeich es spter beobachten und studieren knnen.Ich wollte leben, alles andere bedeutete nichts.Leben, und zwar mein Leben leben, wie und so-

    lange ich es will. Das war kein Schwur, das hat-te sich der, derschon aufgegeben gewesen war,in dem Augenblick, in welchem der andere vorihm zu atmen aufgehrt hatte, vorgenommen.

    Von zwei mglichen Wegen hatte ich mich indieser Nacht in dem entscheidenden Augenblick

    fr den des Lebens entschieden. Unsinnig, dar-ber nachzudenken, ob diese Entscheidungfalsch oder richtig gewesen ist. Die Tatsache,da die schwere, nasse Wsche nicht auf meinGesicht gefallen war und mich nicht erstickthatte, war die Ursache dafr gewesen, da ich

    nicht aufhren wollte zu atmen. Ich hatte nicht,wie der andere vor mir, aufhren wollen zu at-men, ich hatte weiteratmen und weiterleben

    wollen. Ich mute die sicher auf meinen Tod

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    eingestellte Schwester zwingen, mich aus demBadezimmer heraus- und in den Krankensaalzurckfhren zu lassen, und also mute ichweiteratmen. Htte ich nur einen Augenblick indiesem meinem Willen nachgelassen, ich httekeine einzige Stunde lnger gelebt. Es war an

    mir, ob ich weiteratmete oder nicht. Nicht dieLeichentrger in ihren Prosekturkitteln waren indas Badezimmer hereingekommen, um michabzuholen, sondern die weien Pfleger, diemich in den Krankensaal zurckgebracht haben,

    wie ich es wollte. Ich bestimmte, welchen der

    beiden mglichen Wege ich zu gehen hatte. DerWeg in den Tod wre leicht gewesen. Genausohat der Lebensweg den Vorteil der Selbstbe-stimmung. Ich habe nicht alles verloren, mir istalles geblieben. Daran denke ich, will ich wei-ter. Gegen Abend hatte ich zum erstenmal einen

    Menschen erkannt, meinen Grovater. Er hattesich neben mir auf einen Sessel gesetzt undmeine Hand festgehalten. Jetzt war ich mir si-cher. Jetzt mute es aufwrts gehen. Ein paar

    Wrter seinerseits, dann war ich erschpft ge-wesen. Auch meine Gromutter und meine

    Mutter hatten ihren Besuch angekndigt. Er,der nur wenige hundert Schritte in einem ande-ren, in dem sogenannten chirurgischen Gebu-dekomplex desselben Krankenhauses unterge-

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    bracht war, werde mich von jetzt an tglich be-suchen, so mein Grovater. Ich hatte das Glck,den mir liebsten Menschen in nchster Nhe zu

    wissen. Eine Menge herzstrkender Mittel, diemir zustzlich zu Penicillin und Kampfer verab-reicht worden waren, hatten meinen Zustand,

    wenigstens was mein Wahrnehmungsvermgenbetroffen hatte, verbessert, langsam waren ausden Schatten von Menschen und Mauern undGegenstnden wirkliche Menschen und wirkli-che Mauern und wirkliche Gegenstnde gewor-den, als ob sich am nchsten Morgen nach und

    nach alles aufgeklart htte. Die Stimmen hattenjetzt auf einmal die zum Gehrtwerden not-wendige Deutlichkeit und waren mir pltzlichverstndlich gewesen. Die Hnde, die mich be-rhrten, waren auf einmal die von Schwestern,die mir bis jetzt immer nur als groe weie

    Flecken vor meinen Augen erschienen waren,ein Gesicht, ein zweites Gesicht hatte ich ganzklar gesehen. Aus den Betten meiner Mitpatien-ten waren nicht nur undeutliche Stimmen undGerusche, sondern auf einmal tatschlich voll-kommen verstndliche Wrter, ja ganze Stze zu

    hren gewesen, als ob zwischen zwei Patienteneine Unterhaltung ber mich stattgefunden ht-te, war es mir vorgekommen, Anspielungen aufmein Bett und auf meine Person waren fr mich

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    ohne weiteres erkennbar. Jetzt hatte ich denEindruck, da mehrere Schwestern und Pflegerund ein Arzt im Krankensaal mit einem Totenbeschftigt gewesen waren, alles, was ich hrte,

    waren Hinweise darauf, da von einem Totengesprochen wurde. Aber ich hatte nichts von

    dem Toten sehen knnen. Ein Name war ge-nannt worden, dann war die Unterhaltung un-ter den Schwestern und Pflegern, an welcherauch immer wieder der Arzt beteiligt gewesen

    war, wieder undeutlich, schlielich fr michnicht mehr zu hren gewesen, bis ich, nach ei-

    niger Zeit, wieder Wrter deutlich hren undverstehen und auf ihre Bedeutung hatte prfenknnen. Offensichtlich hatten sich die Schwe-stern und Pfleger und der Arzt von dem Toten

    wieder entfernt, und die Schwestern waren dar-angegangen, die Patienten zu waschen. Am an-

    dern Ende des Krankensaales mu eine Wasser-leitung, mglicherweise sogar ein Waschbeckenan der Wand gewesen sein, an welchem dieSchwestern Wasser holten. Es war nur einschwaches Licht im Krankensaal, eine einzigeKugellampe an der Decke, die tatschlich ein

    Gewlbe war, mute den ganzen Krankensaalausleuchten. Die Nchte waren lang, und erstgegen acht Uhr war von drauen Licht zu erwar-ten. Jetzt war es aber erst halb sechs oder sechs

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    gewesen und schon stundenlang Unruhe imKrankensaal und auf dem Gang. Ich hatte schon

    viele Tote in meinem Leben gesehen, aber nochkeinen Menschen sterben. Den Mann, der imBadezimmer vor mir pltzlich zu atmen aufge-hrt hatte, hatte ich sterben gehrt, nicht ster-

    ben gesehen. Und jetzt, im Krankensaal, warwieder ein Mensch gestorben, wieder hatte icheinen sterben gehrt, nicht sterben gesehen, al-les, so dachte ich jetzt, noch immer vollkom-men bewegungsunfhig in meinem Bett lie-gend, hatte vorher, bevor die Schwestern und

    die Pfleger und der Arzt sich mit dem Totenbeschftigt hatten, mit dem Sterbenden zu tungehabt, alle diese seltsamen, einen Menschenabschlieenden Gerusche, wie ich jetzt wute.

    Aber dieser Mensch hatte auf ganz andere Weiseaufgehrt. Whrend der Mann im Badezimmer

    auf einmal, ohne die geringste Vorankndigung,nicht mehr geatmet gehabt hatte und tot gewe-sen war, hatte sich das Sterben desjenigen, der

    jetzt nurmehr noch tot im Krankensaal lag, ichhatte nicht sehen knnen, wo genau, aber dochdurch die Gerusche um ihn herum feststellen

    knnen, wo ungefhr, vllig anders vollzogen,dieser Sterbende hatte sich, wie ich deutlichgehrt hatte, in seinem Bett mehrere Male hef-tig und wie wenn er sich immer wieder und

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    zuletzt noch mit der uersten Krperanstren-gung gegen den Tod wehren wollte, in seinemBett hin und her geworfen. Zuerst waren mirdiese renitenten und lauten Bewegungen nichtals die renitenten und lauten Bewegungen ei-nes Sterbenden zu Bewutsein gekommen. Er

    hatte seinen Krper noch einmal herumgewor-fen und war dann tot liegengeblieben zum Un-terschied von dem Mann im Badezimmer, derganz einfach, ohne die geringste Vorankndi-gung, aufgehrt hatte zu atmen. Ein jeder istanders, ein jeder lebt anders, ein jeder stirbt

    anders. Ich htte, wre ich dazu imstande gewe-sen, wenn ich nur die Kraft gehabt htte, mei-nen Kopf zu heben, das gleiche gesehen, das ichdann spter sehr oft gesehen habe, einen Totenim Krankensaal, von dem man wei, da er, der

    Vorschrift entsprechend, noch drei Stunden in

    seinem Bett liegen bleiben und dann abgeholtwird. Ohne da ich es bis zu diesem Zeitpunktselbst hatte sehen knnen, war mir doch klargewesen, da in dem Krankensaal nur solchePatienten untergebracht waren, von welchenman nichts als den Tod erwartete. Die wenig-

    sten, die jemals in dieses Zimmer hereinge-kommen sind, haben es lebend wieder verlas-sen. Es war, wie ich spter erfahren habe, dassogenannte Alterszimmer, in welches die alten

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    geschulten Blick fr die Todeskandidaten, siesahen schon lange, bevor der Betroffene selbstes fhlte, da es mit dem einen oder anderen inder krzesten Zeit zu Ende gehen wrde. Sie

    waren seit Jahren oder schon seit Jahrzehntendort stationiert gewesen, wo so viele Hunderte

    und Tausende Menschenleben zu Ende gegan-gen sind, und sie verrichteten naturgem ihreArbeit mit der grten Geschicklichkeit, mitdem grten Gleichmut. Ich selbst war nichtnur infolge der totalen berfllung des Kran-kenhauses in das Sterbezimmer gekommen, in

    ein Bett, in dem, wie ich spter in Erfahrunggebracht habe, erst wenige Stunden vorher einMann gestorben war, ich war dort sicher auchauf Veranlassung des nachtdiensthabenden Arz-tes eingewiesen, welcher mir wahrscheinlichkeine Chance mehr gegeben hatte. Mein Zu-

    stand mu ihm bedenklicher gewesen sein alsdie Roheit, mich, den Achtzehnjhrigen, in dasnur von Siebzigjhrigen und von Achtzigjhri-gen belegte Sterbezimmer hineinlegen zu las-sen. Meine seit frhester Kindheit an mir prakti-zierte Abhrtung und meine immer auch ange-

    wandte Schmerzverweigerung hatten sich, wasdiesen lebensbedrohenden Krankheitsrckfallbetraf, nicht nur als schdlich und im Grundegenommen als tatschlich fahrlssig und letzten

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    Endes nicht nur lebensgefhrlich, sondern alslebensbedrohend erwiesen und htten beinahe,

    wie gesagt werden kann, um ein Haar, mein Le-ben ausgelscht. Denn Tatsache ist, da ich denganzen Herbst und den halben Winter dieKrankheit, wahrscheinlich eine leichte Lungen-

    entzndung, unterdrckt, schlielich, um nichtin den Krankenstand gehen und zuhause blei-ben zu mssen, ignoriert hatte und da diese

    von mir unterdrckte und ignorierte Krankheitnaturgem gerade wieder zu dem Zeitpunktausgebrochen ist, ausbrechen hatte mssen, der

    mit dem Auftreten der Krankheit meines Gro-vaters zusammenfiel. Ich erinnere mich, da ichtagelang, vielleicht wochenlang, ein hheres,schlielich sogar hohes Fieber vor den Meinigenund vor dem Podlaha verheimlichen hatte kn-nen. Ich wollte in meinem so gut funktionie-

    renden Lebensablauf durch nichts gestrt sein.Ich hatte einen Existenzrhythmus gefunden ge-habt, der meinen Ansprchen gengt und dermir tatschlich entsprochen hatte. Ich hatte mirein ideales Dreieck geschaffen gehabt, dessenBezugspunkte, Kaufmannslehre, Musikstudium,

    Grovater und Familie, meiner Entwicklung aufdie hchstmgliche Weise ntzlich gewesen wa-ren. Ich durfte mir keine Strung, also auchkeine Krankheit leisten. Meine Rechnung war

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    aber nicht aufgegangen, und im nachhinein istes klar, da eine solche Rechnung berhauptnicht aufgehen kann. Kaum hatte ich, nachdemich das Gymnasium verlassen und mein Glckin dem Kaufmannsladen des Podlaha gesuchthatte, eine mich tatschlich befriedigende Exi-

    stenzmglichkeit gefunden, die mich khn undmutig zugleich gegen alle Widerstnde meinLeben in die Hand (und vor allem auch in denKopf) hatte nehmen lassen, war ich auch schon

    wieder aus diesem Ideal herausgerissen. Es ist,denke ich, durchaus mglich, da ich selbst

    nicht mehr erkrankt wre, htte nicht meinGrovater das Krankenhaus aufsuchen mssen.

    Aber das ist ein absurder Gedanke, wenn auchein natrlicher, gerechtfertigter. Es ist klar, daauch die Jahreszeit den Ausschlag gegeben hat-te, der Jahresanfang ist die gefhrlichste aller

    Jahreszeiten, und der Jnner ist von den mei-sten Menschen nur auf die schwierigste Weisezu berbrcken, der ltere Mensch, geschweigedenn der alte, wird vom Jahresanfang gebro-chen. Lange Zeit niedergehaltene Krankheitenkommen zum Jahresanfang, aber mit grter

    Wahrscheinlichkeit immer gegen die Jnnermit-te zum Ausbruch. Die Krperkonstitution, dieder ungeheuren Belastung einer oder mehrererKrankheiten den ganzen Herbst und den halben

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    Winter gewachsen gewesen war, bricht MitteJnner zusammen. Zu diesem Zeitpunkt sind,das ist nie anders gewesen, die Krankenhuserberfllt und die rzte berfordert, und das To-tengeschft ist auf dem Hhepunkt. Ich hatte esganz einfach nicht ertragen knnen, da mein

    Grovater in das Krankenhaus gehen mute.Und hatte ich so viele Monate vorher alles nurMgliche zur Unterdrckung meiner eigenenKrankheit getan, jetzt, nachdem mein Grovaterdas Krankenhaus aufgesucht hatte, war diesesSystem der Krankheitsunterdrckung und der

    Krankheitsverweigerung in mir zusammenge-brochen. Dieser Zusammenbruch hatte nur einpaar Stunden gedauert. Den Meinigen mag zu-erst die Tatsache, da ich an dem Morgen,nachdem mein Grovater in das Krankenhausgegangen war, nicht mehr aufstehen hatte kn-

    nen, weil ich wahrscheinlich auch nicht mehraufstehen wollte, als die gegen sie gerichteteMarotte des von seinem Grovater geliebtenEnkels erschienen sein, gegen die es keinenPardon zu geben hatte. So gro durfte die Liebedes Enkels zu seinem Grovater und umgekehrt

    nicht sein, da der Enkel seinem Grovaterselbst in die Krankheit nachfolgte. Aber meintatschlicher Zustand hatte sie bald von dem

    Wahrheitsgehalt meiner Krankheit berzeugt.

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    Sie muten dieser meiner Krankheit aber dannmitraut haben, denn in ihrem Verhalten mirgegenber war deutlich gewesen, da sie diesemeine Krankheit in ihrem Innersten nicht nurnicht ernst genommen, sondern berhauptnicht akzeptiert hatten. Sie waren gegen meine

    Krankheit gewesen, weil sie gegen meine Liebezu meinem Grovater gewesen waren. Fr siewar ganz entschieden diese meine jetzt nachdem Krankenhausaufsuchen meines Grovatersauf einmal so heftig ausgebrochene Krankheitein von mir rcksichtslos ausgespielter Trumpf

    gegen sie, den sie mir nicht gnnten. Ihr Den-ken und das aus diesem ihrem Denken herausentwickelte Fhlen und Handeln in diesemPunkte waren aber sehr bald durch die dannurpltzlich und mit groer Gewalt auf uns allehereingebrochenen Ereignisse und Geschehnis-

    se berholt und auf, wie ich glaube, entschie-dene und lehrreiche Weise zurechtgewiesen.Ganz naturgem hatte sich der schwierige En-kel unter dem Schutz seines Grovaters schonsehr frh auch seelisch und geistig von ihnenabgesondert und, seinem Wesen und immer

    auch seinem Alter entsprechend, ihnen gegen-ber eine kritische Haltung eingenommen, wassie auf die Dauer nicht dulden und letzten En-des niemals ertragen konnten. Nicht bei ihnen

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    war ich ja aufgewachsen, sondern bei meinemGrovater, ihm verdankte ich alles, was michschlielich lebensfhig und in hohem Maeauch immer wieder glcklich gemacht hatte,nicht ihnen. Das heit nicht, da ich ganz ohneZuneigung fr sie gewesen wre, auch ihnen

    bin ich lebenslnglich und auf die natrlichsteWeise selbstverstndlich verbunden gewesen,wenn meine Zuneigung und Liebe ihnen auchnicht und niemals in dem hohen Mae zukom-men hatte knnen wie meinem Grovater. Erhatte mich akzeptiert, nachdem mich alle ande-

    ren nicht akzeptiert hatten, ja selbst meine ei-gene Mutter nicht, er war ihnen allen in Zunei-gung und Liebe um beinahe alles vorausgewesen. Ein Leben ohne ihn war mir lange Zeitunvorstellbar gewesen. Es war die logischeKonsequenz, ihm selbst in das Krankenhaus

    nachzufolgen. In meinem Eckbett, auf einmal indem vollen Bewutsein meiner Lage, mute ichnatrlich auf diesen Gedanken gekommen sein,da ich gar keine andere Wahl hatte, als in dem

    Augenblick nachzulassen und aufzugeben, inwelchem mein Grovater in das Krankenhaus

    gegangen war und mich, so meine Empfindung,whrend ich, ihn beobachtend, an seinem Fen-ster gestanden war, verlassen hatte. ber seineKrankheit wute ich nichts, bei seinem ersten

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    Besuch an meinem Bett hatte er davon nicht ge-sprochen, wahrscheinlich war ihm selbst dar-ber noch nichts bekannt gewesen, vermutlichhatte er die verordneten Untersuchungen noch

    vor sich, auch htte er sicher mit mir in diesenAugenblicken des Wiedersehens nicht darber

    gesprochen, schon aus dem einen Grund, michnicht zu verletzen, mich in meinem offensichtli-chen Schwchezustand nicht noch mehr herab-zusetzen, die Ungewiheit, seine Krankheit be-treffend, hatte aber naturgem ihre Wirkungauf mich gehabt, und nicht meine eigene

    Krankheit hatte mich jetzt, nachdem ich, wennauch nur zu kurzzeitigem, so doch durchaus

    wieder zu folgerichtigem Denken befhigt ge-wesen war, beschftigt, sondern die seinige. Diekurze Zeit, welche ich wieder zu Gedanken be-fhigt gewesen war, war ausschlielich auf die

    Krankheit meines Grovaters konzentriert ge-wesen. Aber es war ber diese Krankheit auchnichts von meiner Gromutter und von meinerMutter zu erfahren gewesen. Mglicherweise, sohatte ich denken mssen, verheimlichten miralle diese Krankheit, wenn ich sie danach fragte,

    antworteten sie nicht und lenkten mich sofortdavon ab. Aber ich entbehrte nicht das Wichtig-ste, nmlich, da mein Grovater, wie verspro-chen, jeden Nachmittag zu mir an mein Bett

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    kam. Er war es, der mich als erster auf die Ge-fhrlichkeit meiner Krankheit aufmerksam ge-macht und mir von der Zeit meiner Bewutlo-sigkeit einen Bericht gegeben hat. Er verhinder-te aber, da wir uns beide schwchten, indem

    wir nicht zuviel von Krankheit und Unglck

    redeten. Es war mir whrend seiner Besuche anmeinem Bett nichts als nur hchstes Glck ge-wesen, wenn ich meine Hand in der seinigenfhlte. Der Jngling, der beinahe schon acht-zehnjhrige Enkel, hatte jetzt eine viel intensi-

    vere, weil vor allem geistige Beziehung zu sei-

    nem Grovater als der Knabe, der ihm nur inGefhlen verbunden gewesen war. Wir mutennicht viele Worte wechseln, um uns und dasbrige zu verstehen. Wir hatten beschlossen,alles zu tun, um aus dem Krankenhaus wiederhinauszukommen. Auf einen neuen Anfang, auf

    einen neuen Lebensanfang sollten wir uns ge-fat machen. Mein Grovater hatte von einerZukunft gesprochen (fr uns beide), wichtigerund schner als die Vergangenheit. Es kommenur auf den Willen an, beide htten wir den Wil-len, diese Zukunft zu besitzen, in hchstem

    Mae. Der Krper gehorche dem Geist undnicht umgekehrt. Der Tagesablauf im Sterbe-zimmer war ein schon seit Jahrzehnten bis indie kleinsten Einzelheiten hinein vollkommen

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    eingespielter, und selbst die erschreckendstenEreignisse und Geschehnisse waren fr die indiesem Tagesablauf Beschftigten nur noch un-auffllige und alltgliche. Den zum erstenmal indieses Krankheits- und Todesgetriebe hereinge-kommenen, noch dazu jungen Menschen aber

    mute die pltzliche und erste Konfrontationmit dem Lebensende zutiefst erschrecken. Erhatte von der Frchterlichkeit des Lebensendesbis jetzt nur gehrt gehabt, niemals ein solchesLebensende gesehen, geschweige denn sovielean ihrem tatschlichen Lebensende angekom-

    mene Menschen auf einmal in und auf einemsolchen Schmerzens- und Leidenshhepunktegesehen. Was sich hier zeigte, war nichts ande-res als eine pausenlos und intensiv und rck-sichtslos arbeitende Todesproduktionssttte,die ununterbrochen neuen Rohstoff zugewiesen

    bekommen und verarbeitet hat. Nach und nachhatte ich die Vorgnge in dem sich mir mehrund mehr aufklrenden Sterbezimmer nicht nurmit der Gleichgltigkeit des ganz von seinemLeiden in Anspruch genommenen Kranken an-schauen, sondern mit dem wiedererwachten

    Verstand registrieren und prfen knnen. Nachund nach mir, von dem ersten gelungenenKopfheben an, ein Bild gemacht von den Men-schen, mit welchen ich schon seit Tagen diesen

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    von mir, wie ich sehr bald eingesehen habe, zuRecht als Sterbezimmer bezeichneten Kranken-saal teilte. Tatschlich waren im Sterbezimmergenausoviele Patienten wie Betten. Kein Bett istlnger als nur wenige Stunden ohne einen Pati-enten gewesen. Die Patienten wurden, wie ich

    schon sehr bald hatte feststellen knnen, nichtnur tglich, sondern stndlich und ohne dadiese Prozedur fr das Personal erschreckendgewesen wre, ausgewechselt, weil sie in dieser

    Jahreszeit in kurzen und in immer krzeren Ab-stnden starben und nicht schnell genug star-

    ben, wie ich dachte, um ihre Betten fr ihreNachfolger freizumachen. Schon drei, vier Stun-den, nachdem einer gestorben und aus seinemBett entfernt und in die Prosektur gebracht

    worden war, hatte sein Nachfolger in diesemBett seinen letzten Todeskampf aufgenommen.

    Da Sterben letzten Endes etwas so Alltglichesist, hatte ich vorher nicht wissen knnen. Eineshatten alle in dieses Sterbezimmer Hereinge-kommenen ganz sicher gemeinsam: sie wuten,da sie aus diesem Sterbezimmer nicht mehrlebend hinauskommen wrden. Solange ich in

    diesem Sterbezimmer gewesen war, hatte eskeiner lebend verlassen. Ich war die Ausnahme.Und ich hatte, wie ich glaubte, ein Recht dazu,

    weil ich erst achtzehn Jahre alt war und also

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    Wangen eingefallenen Schlfen des Kahlkopfeshatten sich in der von dem Sauerstoffpolsterrhythmisch bewegten Luft kleine weie Hr-chen bewegt. Da das Gitterbett seitlich zu demmeinigen aufgestellt war, hatte ich nicht eruie-ren knnen, was auf seiner Personalientafel

    stand. Es war nicht zu bestimmen, wie alt der andem Sauerstoffpolster ziehende Mann war, erhatte die Grenze, unter welcher ein Lebensalternoch abzulesen ist, lngst berschritten gehabt.Es mu die nachmittgige Besuchsstunde gewe-sen sein, in welcher der Mann an dem Sauer-

    stoffpolster gestorben ist. Ich erinnere mich ge-nau: meine Mutter hatte sich gerade nebenmich auf den Sessel gesetzt und mir eine Oran-ge geschlt und zerkleinert. Whrend sie dieeinzelnen Orangenspalten sorgfltig auf eineServiette auf meinem Leintuch legte, damit sie

    fr sie und also auch fr mich leicht erreichbarwaren, ich selbst hatte noch nicht einmal dieKraft, eine Hand zu heben, und meine Muttermir nacheinander die Orangenspalten in mei-nen Mund steckte, hatte der Mann im Gitterbettpltzlich aufgehrt, an seinem Sauerstoffpolster

    zu ziehen. Darauf hatte er so lange ausgeatmet,wie ich noch nie einen Menschen ausatmen ge-hrt hatte. Ich bat meine Mutter, sich nicht um-zudrehen. Ich hatte ihr den Anblick des in die-

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    sem Augenblick Gestorbenen ersparen wollen.Sie hatte nicht aufgehrt, mir von den Orangen-spalten zu geben. Sie hatte sich nicht umge-dreht und nicht gesehen, wie der Mann von derSchwester zugedeckt worden war. Das Zudek-ken der Verstorbenen geschah immer so: die

    Schwester zog ganz einfach, am Fuende desBettes stehend, das Leintuch unter dem Totenheraus und deckte damit den Toten zu. Aus ih-rer Tasche nahm sie ein Bndel mit kleinennumerierten Krtchen an kurzen Schnren her-aus. Eines dieser Krtchen befestigte sie mit der

    Schnur an einer groen Zehe des Toten. DiesenVorgang, da der gerade Gestorbene auf dieseWeise zugedeckt und fr die Prosektur nume-riert wird, hatte ich jetzt zum erstenmal am Bei-spiel dieses Mannes im Gitterbett gesehen. Je-der Gestorbene wurde auf die gleiche Weise

    zugedeckt und numeriert. Die Vorschrift ver-langte, da der Verstorbene drei Stunden inseinem Totenbett liegen mute und da er erstdann von den Mnnern der Prosektur abgeholt

    werden durfte. Zu meiner Zeit aber gengten,weil jedes Bett gebraucht wurde, zwei Stunden.

    Zwei Stunden hatte der Tote, mit seinem Lein-tuch zugedeckt, auf einem Krtchen an einergroen Zehe fr die Prosektur numeriert, imZimmer zu liegen, wenn er nicht, weil voraus-

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    zusehen gewesen war, da er in kurzer Zeitstarb, im Badezimmer gestorben war. Ein imKrankensaal und also im Sterbezimmer Verstor-bener hatte immer nur ein paar Minuten Betrof-fenheit unter den Sterbezeugen hervorgerufen,nicht mehr. Manchmal war ein solcher Tod mit-

    ten unter uns vollkommen unauffllig vorbeige-gangen und hatte niemanden und nichts mehrgestrt. Auch die Prosekturmnner, die mit ih-rem Zinkblechsarg, ich kann ruhig sagen, alle

    Augenblicke in das Sterbezimmer hereintram-pelten, rohe, starke Mnner in den Zwanzigern

    und Dreiigern, und bei dieser Gelegenheitschon auf dem Gang und erst recht im Sterbe-zimmer viel Lrm verursacht hatten, waren mirschon bald zur Gewohnheit geworden. Wennden Schwestern ein Sterbender mit seinemSterben zuvorgekommen war, wie der Mann im

    Gitterbett, war es ihnen nur selbstverstndlichgewesen, da sie kurz darauf den Krankenhaus-geistlichen hereinholten, damit er, wenn schonnicht mehr an dem noch Lebenden, so doch andem schon Toten die Letzte lung vollziehenkonnte. Zu diesem Zwecke hatte der mit den

    grten Atembeschwerden in das Sterbezimmergerufene, von viel zuviel Essen und Trinkenaufgedunsene Geistliche einen kleinen, schwar-zen, silberbeschlagenen Koffer bei sich, den er

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    sofort, nachdem er hereingekommen war, aufdem von den Schwestern mit unglaublicher Ge-schwindigkeit freigemachten Nachtkstchen desgerade Gestorbenen abstellte. Der Geistlichebrauchte nur an zwei Seitenknpfen des Kofferszu drcken, und der Koffer ffnete sich, indem

    der Deckel emporschnellte. Im Emporschnellendes Deckels waren automatisch zwei Kerzen-leuchter mit Kerzen und ein Christuskreuz ausSilber in senkrechte Stellung gebracht. Jetzt

    wurden die Kerzen von den Schwestern ange-zndet, und der Geistliche konnte mit seinem

    Zeremoniell beginnen. Kein Toter hat ohne die-sen geistlichen Beistand das Sterbezimmer ver-lassen drfen, darauf haben die Schwestern,

    Vinzentinerinnen, wie auf nichts sonst geachtet.Aber solche auertourlichen Letzten lungenim Sterbezimmer waren selten. Es gehrte zum

    Tagesablauf, da gegen fnf Uhr in der Frhund gegen acht Uhr am Abend der Geistlicheautomatisch mit seinem Sakramentenkoffer er-schien, um sich bei den Schwestern nach jenenzu erkundigen, fr welche der Zeitpunkt derLetzten lung gekommen war. Die Schwestern

    deuteten dann auf diesen oder jenen, und derGeistliche waltete, wie gesagt wird, seines Am-tes. An manchen Tagen waren auf diese Weisebis zu vier oder fnf Zimmergenossen der Letz-

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    ten lung teilhaftig geworden. Sie alle hattennicht lange darauf das Zeitliche gesegnet. Aberimmer wieder einmal hatten sich die Schwe-stern verrechnet, und es war ihnen einer ohnedie Letzte lung weggestorben, die aber dannsofort bei der ersten Gelegenheit an dem Toten

    pflichteifrigst nachgeholt wurde. Tatschlichhaben die Schwestern auf die zu verabreichendeLetzte lung immer und unter allen Umstndeneine grere Aufmerksamkeit gelegt als auf allesandere. Das ist nicht gegen ihre ununterbro-chen und fast immer auch bis an die uerste

    Grenze der Selbstaufopferung gegangene tag-tgliche Leistung gesagt, aber die Wahrheit. Das

    Auftreten und noch viel mehr das eigentlicheGeschft des Krankenhausgeistlichen hatte mich

    vom ersten Augenblick an so abgestoen, daich seine Auftritte als eine pervers katholische

    Schmierendarstellung kaum ertragen konnte.Aber auch diese Auftritte waren bald nurmehrnoch eine Gewohnheit und wie alles andere Ab-stoende und Schreckliche in diesem Sterbe-zimmer kaum mehr erregende, ja nicht einmalmehr irritierende Alltglichkeit geworden. Der

    Tagesablauf im Sterbezimmer, von meinem Eck-bettplatz aus betrachtet, war vorgeschriebenfolgender: gegen halb vier Uhr frh war, noch

    von der Nachtschwester, das Licht aufgedreht

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    worden. Jedem einzelnen Patienten, ob er beiBewutsein war oder nicht, wurde daraufhin

    von der Nachtschwester aus einem mit Dut-zenden von Fieberthermometern angeflltenEinsiedeglas ein solches Fieberthermometerzugesteckt. Nach dem Einsammeln der Fieber-

    thermometer hatte die Nachtschwester Dienst-schlu, und die Tagschwestern kamen mitWaschschsseln und Handtchern herein. DerReihe nach wurden die Patienten gewaschen,nur ein oder zwei hatten aufstehen und zum

    Waschbecken gehen und sich selbst waschen

    knnen. Wegen der groen Jnnerklte war daseinzige Fenster im Sterbezimmer die ganzeNacht und dann bis in den spteren Vormittagnicht und erst knapp vor der Visite aufgemacht

    worden, und so war der Sauerstoff schon in derNacht lngst verbraucht und die Luft stinkend

    und schwer. Das Fenster war mit dickem Dunstbeschlagen, und der Geruch von den vielenKrpern und von den Mauern und den Medi-kamenten machte in der Frhe das Ein- und

    Ausatmen zur Qual. Jeder Patient hatte seineneigenen Geruch, und alle zusammen entwickel-

    ten einen solchen aus Schwei- und Medikamen-tendunst zusammengesetzten, zu Husten- undErstickungsanfllen reizenden. So war, wenndie Tagschwestern auftauchten, das Sterbe-

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    zimmer auf einmal eine einzige abstoendeGestank- und Jammersttte, in welcher die wh-rend der Nacht zugedeckten und niedergehal-tenen Leiden pltzlich wieder in ihrer ganzenerschreckenden und bsartigen Hlichkeit undRcksichtslosigkeit aufgedeckt und ans Licht

    gebracht waren. Allein diese Tatsache htte ge-ngt, um schon in aller Frhe wieder in tiefsteVerzweiflung zu strzen. Aber ich hatte mir vor-genommen, alles in diesem Sterbezimmer, alsoauch alles mir noch Bevorstehende, auszuhal-ten, um aus diesem Sterbezimmer wieder her-

    auszukommen, und so hatte ich mit der Zeit ei-nen mich ganz einfach von einem bestimmtenZeitpunkt an nicht mehr schdigenden, son-dern belehrenden Mechanismus der Wahrneh-mung in dem Sterbezimmer entwickelt. Ichdurfte mich von den Objekten meiner Betrach-

    tungen und Beobachtungen nicht mehr verlet-zen lassen. Ich mute in meinen Betrachtungenund Beobachtungen davon ausgehen, da auchdas Frchterlichste und das Entsetzlichste unddas Abstoendste und das Hlichste dasSelbstverstndliche ist, wodurch ich berhaupt

    diesen Zustand hatte ertragen knnen. Da,was ich hier zu sehen bekommen hatte, nichtsanderes als ein vollkommen natrlicher Ablaufals Zustand war. Diese Ereignisse und Gescheh-

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    nisse, rcksichtslos und erbarmungslos wie kei-ne andern in meinem bisherigen Leben, warenauch, wie alles andere, die logische Konsequenzder von dem menschlichen Geist allerdingsimmer fahrlssig und gemein und heuchlerischabgedrngten und schlielich vollkommen ver-

    drngten Natur gewesen. Ich durfte hier, in die-sem Sterbezimmer, nicht verzweifeln, ich muteganz einfach die hier wie mglicherweise ankeinem anderen Ort ganz brutal offengelegteNatur auf mich wirken lassen. Unter Einsetzungdes Verstandes, zu welchem ich pltzlich, nach

    ein paar Tagen, wieder befhigt gewesen war,hatte ich die Selbstverletzung durch Beobach-tung auf ein Minimum einschrnken knnen.Ich war an das Zusammenleben mit Menschenbei Tag und Nacht gewhnt gewesen, denn ich

    war in die Schule des Internats in der Schran-

    nengasse gegangen, in eine der, wie ich glaube,hrtesten Menschenschulen, aber was ich hierin dem Sterbezimmer zu sehen bekam, mutealles in dieser Beziehung Vorausgegangene auf-heben. Der Achtzehnjhrige, der ich damals war,

    war von den Ursachen seiner Krankheit und

    dann von dieser Krankheit selbst direkt in denSchauplatz des Schreckens gestoen worden.Sein Abenteuer war miglckt, ich war zu Bo-den geworfen, in das Eckbett im Sterbezimmer

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    des Landeskrankenhauses, in dem Bewutsein,in die tiefste Tiefe der menschlichen Existenzgestrzt zu sein als Folge meiner Selbstber-schtzung. Ich hatte geglaubt, eine mich befrie-digende und dann gar mich glcklich machendeExistenz erzwingen zu knnen. Jetzt hatte ich

    wieder alles verloren. Aber ich hatte den Tiefst-punkt schon berwunden, ich war schon wie-der aus dem Badezimmer herauen, ich hattedie Letzte lung hinter mir, es war schon wie-der alles auf der Seite des Optimismus. Ich warschon wieder auf dem Beobachterposten. Ich

    hatte schon wieder meine Plne im Kopf. Ichdachte schon wieder an die Musik. Ich hrteschon wieder Musik in meinem Eckbett, Mozart,Schubert, ich hatte schon wieder die Fhigkeit,aus mir heraus die Musik zu hren, ganze Stze.Ich konnte die in meinem Eckbett aus mir her-

    aus gehrte Musik zu einem, wenn nicht zudem wichtigsten Mittel meines Heilungsprozes-ses machen. Beinahe war schon alles in mir ab-gestorben gewesen, jetzt hatte ich das Glck zubeobachten, da es nicht tot, sondern wiederentwicklungsfhig war. Ich hatte mich nur dar-

    auf besinnen mssen, alles schon beinahe Abge-storbene wieder in Gang zu setzen. So, auf derTatsache, da ich aus mir heraus wieder meineLebensmglichkeiten hatte entwickeln knnen,

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    Musik hren, Gedichte rekapitulieren, Grova-terstze interpretieren konnte, war es mir mg-lich gewesen, das Sterbezimmer selbst und die

    Vorgnge im Sterbezimmer unverletzt zu be-trachten und zu beobachten. Auch hatte in mirschon wiederder kritische Verstand zu arbeiten

    angefangen, das Gleichgewicht der Zusammen-hnge, die mir verlorengegangen waren, wiederherzustellen. So konnte ich den Tagesablauf imSterbezimmer auf einmal schon wieder mit derdazu notwendigen Ruhe beobachten und mirdie daraus resultierenden Gedanken machen.

    Mein Krper war von meiner Krankheit nochniedergedrckt, mein krperlicher Schwchezu-stand noch immer unverndert, mein Krper zukeiner Bewegung imstande, wenn ich davon ab-sehe, da ich meinen Kopf tatschlich schon ein

    wenig hatte heben und drehen knnen, was mir

    doch immerhin schon ermglichte, die Gredes Sterbezimmers wenigstens annhernd zuerfassen, was mir, wenn ich zu den Punktionenabgeholt wurde, niemals gelungen war, denn inder Anstrengung und in dem fast totalen Er-schpfungszustand, in welchem ich mich je-

    desmal whrend des Transports vom Sterbe-zimmer in die Ambulanz befunden hatte, war esmir unmglich gewesen, berhaupt etwas zusehen, bei dieser Gelegenheit hatte ich auch

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    immer, um nichts sehen zu mssen, fest die Au-gen zugemacht. Mein Krper also war von mei-ner Krankheit noch niedergedrckt gewesen,aber mein Geist und, was vielleicht noch wich-tiger gewesen war, meine Seele nicht. Nachdem Waschen der Patienten, das ber zwei

    Stunden in Anspruch nahm, erschien irgend-wann, zwischen fnf und sechs, der Geistlichemit seinem Sakramentenkoffer, um die Letztelung zu geben. Er kam jeden Tag in das Ster-bezimmer, und ich kann mich nicht erinnern,da er einmal keine Letzte lung gegeben ht-

    te. Es waren noch nicht einmal alle Patientengewaschen, und schon hatte sich der Geistlichean einem Bett festgebetet und bekreuzigt undden in dem Bett Liegenden gesalbt. Eine derSchwestern assistierte ihm. Nach dem Waschen

    war immer eine gewisse Beruhigung festzustel-

    len. Die Waschprozedur hatte alle ziemlich er-schpft, und da lagen sie jetzt in ihren Bettenund warteten auf das Frhstck. Die wenigstenhatten berhaupt ein Frhstck zu sich nehmenknnen, und die anderen waren dabei auf dieHilfe der Schwestern angewiesen. Es durfte

    nicht viel Zeit verloren gehen, wenn mir dieSchwester mein Frhstck eingab. Nachdem ichin den ersten Tagen sozusagen knstlich er-nhrt worden war wie die meisten anderen

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    und, so die rztesprache, an eine Traubenzuk-kerinfusion angehngt gewesen war, konnte mir

    jetzt schon das Normalfrhstck aus Kaffee undSemmeln eingegeben und eingeflt werden.

    Alle Patienten waren ausnahmslos an Infusio-nen angehngt, und da aus der Entfernung die

    Schluche wie Schnre ausschauten, hatte ichimmer den Eindruck, die in ihren Betten lie-genden Patienten seien an Schnren hngende,in diesen Betten liegengelassene Marionetten,die zum Groteil berhaupt nicht mehr, und

    wenn, dann nur noch selten, bewegt wurden.

    Aber diese Schluche, die mir immer wie Ma-rionettenschnre vorgekommen sind, waren frdie an diesen Schnren und also SchluchenHngenden meistens nurmehr noch die einzigeLebensverbindung. Wenn einer kme und dieSchnre und also Schluche abschnitte, hatte

    ich sehr oft gedacht, wren die daran Hngen-den im Augenblick tot. Das Ganze hatte vielmehr, als ich mir zuzugeben gewillt gewesen

    war, mit dem Theater zu tun und war auchTheater, wenn auch ein schreckliches und er-brmliches. Ein Marionettentheater, das, einer-

    seits nach einem genau ausgeklgelten System,andererseits immer wieder auch vollkommen,

    wie mir vorgekommen war, willkrlich von denrzten und Schwestern bewegt worden ist. Der

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    Vorhang in diesem Theater, in diesem Marionet-tentheater auf der anderen Seite des Mnchs-berges, ist allerdings immer offen gewesen. Dieich im Sterbezimmer auf diesem Marionetten-theater zu sehen bekommen hatte, waren aller-dings alte, zum Groteil uralte, lngst aus der

    Mode gekommene, wertlose, ja unverschmtvollkommen abgentzte Marionetten, an wel-chen hier im Sterbezimmer nurmehr noch wi-derwillig gezogen worden ist und die nach kur-zer Zeit auf den Mist geworfen und verscharrtoder verbrannt worden sind. Ganz natrlich

    hatte ich hier den Eindruck von Marionettenhaben mssen, nicht von Menschen, und ge-dacht, da alle Menschen eines Tages zu Mario-netten werden mssen und auf den Mist gewor-fen und eingescharrt oder verbrannt werden,ihre Existenz mag davor wo und wann und wie

    lang auch immer auf diesem Marionettenthea-ter, das die Welt ist, verlaufen sein. Mit Men-schen hatten diese an ihren Schluchen wie anSchnren hngenden Figuren nichts mehr zutun. Da lagen sie, ob sie nun in ihren Rolleneinmal gut oder schlecht gefhrt worden waren,

    wertlos, nicht einmal mehr als Requisiten ver-wendbar. Zwischen Frhstck und Visite hatteich meistens ungestrt Zeit fr meine Beobach-tungen. Kamen die Prosekturmnner mit ihrem

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    Zinkblechsarg, hatte ich immer denken mssen,sie rumen den Fundus aus. Die Visite hattesich tatschlich nur mit mir beschftigt, die an-deren interessierten nicht, die anderen betref-fend, hatte es keine Diskussion mehr gegeben,die rzte, hinter ihnen die Schwestern, waren,

    wie mir schien, schon vollkommen interesselosden ganzen Krankensaal abgeschritten, bevorsie schlielich vor meinem Bett und vor meinerPerson Halt machten. Kann sein, da es sie irri-tierte, da ich, aus welchem Grund immer, indem Sterbezimmer lag, aber sie nderten diesen

    Zustand nicht. Warum auch. Die Umstnde hat-ten mich in dieses Zimmer, in diesen Saal, indas Sterbezimmer hereingebracht, ich war nichtgestorben, ich war briggeblieben, da lag ich,ein Sonderfall, der ihre Aufmerksamkeit auf sichziehen mute. Ich hatte aber von Anfang an den

    Eindruck, da es sie, vornehmlich die rzte, irri-tierte, da ich, als junger Mensch, hier in dem

    wahrscheinlich schon immer den Alten undnicht nur den Alten und ltesten, sondern denSterbenden vorbehaltenen Zimmer ganz einfachlnger, viel lnger als blich gelegen war. Wenn

    ich, was wahrscheinlich gewesen war, am erstenoder zweiten Tag gestorben wre, niemandem

    wre dabei etwas aufgefallen, sehr richtig wreich darinnen untergebracht gewesen, wo ein

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    fall gewesen, da ich selbst nicht auf einem sol-chen Gang, sondern in einem Zimmer meinBett haben konnte und berhaupt ein Bett hat-te. Viele waren gar nicht mehr aufgenommen

    worden in dem tatschlich Hunderte fassendenGebudekomplex, der aber natrlich auch fr

    die in den letzten Jahren beinahe um das Dop-pelte angewachsene Bevlkerungszahl der Stadtlngst zu klein geworden war. Schlielich hattenfr die chirurgische und fr die gynkologische

    Abteilung sogar Baracken aufgestellt werdenmssen. In einer dieser Baracken, so hatte ich

    von ihm erfahren, war mein Grovater unterge-bracht gewesen. Er war jetzt schon ber eine

    Woche im Krankenhaus, und die Untersuchun-gen, denen er sich in dieser Zeit hatte unterzie-hen mssen, hatten noch kein Ergebnis ge-bracht. Mglicherweise sei das Ganze, so er, ein

    falscher Alarm gewesen, und er knne in derkrzesten Zeit wieder nach Hause gehen. Erfhle sich berhaupt nicht krank. Der Verdachtdes Arztes werde sich wahrscheinlich als unbe-grndet herausstellen. Er rechne nur mit einpaar weiteren Tagen Krankenhausaufenthalt.

    Ihm selbst war der Gedanke gekommen, obnicht die Tatsache, da er das Krankenhaus auf-gesucht habe, fr mich den neuerlichen Aus-bruch meiner schon, so er, lngst vergessenen

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    Krankheit bedeutet habe, diese Mglichkeit, soer, sei nicht auszuschlieen, ein Zusammen-hang zwischen seiner und meiner Krankheit be-stehe in jedem Fall, das Traurige an der Sachesei nur, da nicht er, sondern ich auf einmaldurch dieses unglckliche Verhltnis beider

    Krankheiten zueinander in die Katastrophe ge-strzt sei. Es sei nicht sicher gewesen, vertrauteer mir in dem Moment an, in welchem er wu-te, da diese Erffnung mich nicht mehr sch-digen konnte, ob ich davonkommen wrde. Dassei ihm bekannt gewesen, da mich die Schwe-

    stern schon in das Badezimmer abgeschobengehabt hatten, weil sie der Meinung gewesen

    waren, ich sei am Ende. Aber er habe nicht ei-nen Augenblick an meinem Wiederaufkommenzweifeln mssen. Die Tatsache, da mir derGeistliche, der ihm vom ersten Augenblick an,

    so wie mir, widerwrtig gewesen war, die Letztelung erteilt hatte, war ihm entsetzlich gewe-sen. Geistliche der Art wie der Krankenhaus-geistliche, die nichts anderes sind als ganz ge-meine Ausntzer der Kirche und ihrer Opfer,in Katholizismus reisende Agenten, die sich in

    fortgeschrittenerem Alter vor allem in grerenKrankenhusern, weil es ihnen hier abwechs-lungsreicher und eintrglicher erscheint als wo-anders, festsetzen und ihre Geschfte machen,

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    verabscheute er zutiefst. Fr meine weitere Ent-wicklung und vor allem Geistesausrichtung seider Aufenthalt in dem Sterbezimmer, nun ein-mal Tatsache, von durch nichts sonst zu errei-chendem Wert. Die Bezeichnung Sterbezimmerfr den seiner Meinung nach architektonisch

    ebenmigen, dem ganzen, so er, herrlichenGebude Fischer von Erlachs entsprechendenKrankensaal gefiel ihm. Er schtzte mich richtigein, indem er mir whrend seiner Besuche nichts

    vormachte, sich nicht die geringste Menschlich-keitsheuchelei mir gegenber gestattete und

    auch in seiner Ablenkungskunst niemals dieGrenze zur Lge berschritt. Der Primarius, sei-ner Meinung nach ein vorzglicher, intelligen-ter, nicht nur oberflchlich gebildeter Mann, mit

    welchem er sich ber mich und meine Lagerecht gut unterhalten habe knnen, glaube, da

    meine Krankheit in wenigen Wochen, er habenicht gesagt, in zwei, drei Wochen, in wenigenWochen also abklingen werde. Noch bildete sichnach jeder an mir vorgenommenen Punktionneuerlich und immer noch in einer zu Besorg-nis Anla gebenden Geschwindigkeit in meinem

    Brustkorb die gelbgraue Flssigkeit, die nocheinige Zeit alle Tage abgelassen werden msse,aber auch dieser Vorgang sei schon im Abklin-gen. Ich msse aber, unabhngig von geistigem

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    ohne eine solche zeitweise Krankheit nichtkomme. Wenn wir nicht auf die natrliche Wei-se und also von der Natur aus ganz einfach dazugezwungen sind, in solche Denkbezirke, wie siezweifellos solche Krankenhuser und berhauptSpitler im allgemeinen sind, zu gehen, mssen

    wir auf die knstliche Weise solche Kranken-huser und Spitler aufsuchen, auch wenn wirsolche uns in Krankenhuser und berhauptSpitler hineinzwingende Krankheiten in unserst finden oder erfinden oder gar knstlich er-zeugen mssen, so er, weil wir sonst nicht in

    der Lage sind, auf das lebenswichtige und exi-stenzentscheidende Denken zu kommen. Esmssen nicht Krankenhuser sein, die uns einsolches Denken ermglichen, es knnen auchGefngnisse sein, sagte er, vielleicht auch Kl-ster. Aber Gefngnisse und Klster, so seine

    Fortsetzung, sind nichts anderes als Kranken-huser und Spitler. Er halte sich, indem er sichin dem Krankenhaus aufhalte, zweifellos in ei-nem ihm auf einmal lebensnotwendig erschei-nenden Denkbezirk auf. Zu keinem anderenZeitpunkt sei ein solcher Aufenthalt fr ihn von

    einer derartigen Wirksamkeit gewesen. Jetzt, daich ber den Berg sei, htte ich selbst auch dieMglichkeit, den Krankenhausaufenthalt als

    Aufenthalt in einem Denkbezirk zu betrachten

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    und diesen Aufenthalt entsprechend auszunt-zen. Aber er habe keine Bedenken, da ichselbst nicht lngst diesen Gedanken gehabt habeund schon darangegangen sei, diese Mglich-keit auszuntzen. Der Kranke ist der Hellsichti-ge, keinem anderen ist das Weltbild klarer.

    Wenn er die Hlle, so hatte er fortan das Kran-kenhaus bezeichnet, verlassen habe, seien dieSchwierigkeiten, die es ihm in letzter Zeit un-mglich gemacht htten zu arbeiten, beseitigt.Der Knstler, insbesondere der Schriftsteller,hatte ich von ihm gehrt, sei geradezu verpflich-

    tet, von Zeit zu Zeit ein Krankenhaus aufzusu-chen, gleich, ob dieses Krankenhaus nun einKrankenhaus sei oder ein Gefngnis oder einKloster. Es sei das eine unbedingte Vorausset-zung. Der Knstler, insbesondere der Schrift-steller, der nicht von Zeit zu Zeit ein Kranken-

    haus aufsuche, also einen solchen lebensent-scheidenden existenznotwendigen Denkbezirkaufsuche, verliere sich mit der Zeit in die Wert-losigkeit, weil er sich in der Oberflchlichkeit

    verheddere. Dieses Krankenhaus, so mein Gro-vater, kann ein knstlich geschaffenes Kranken-

    haus sein, und die Krankheit oder die Krankhei-ten, die diesen Krankenhausaufenthalt ermg-lichen, knnen durchaus knstliche Krankhei-ten sein, aber sie mssen da sein oder mssen

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    erzeugt und mssen immer unter allen Um-stnden in gewissen Abstnden erzeugt werden.Der Knstler oder der Schriftsteller, der sich umdiese Tatsache herumdrcke, gleich, aus was freinem Grund, sei von vornherein zur absoluten

    Wertlosigkeit verurteilt. Wenn wir auf die natr-

    liche Weise krank werden und ein solches Kran-kenhaus aufsuchen mssen, knnen wir vonGlck reden, so mein Grovater. Aber, so wei-ter, wir wissen nicht, ob wir tatschlich auf dienatrliche Weise in das Krankenhaus hereinge-kommen sind oder nicht. Es kann sein, da wir

    nur glauben, auf die natrliche, ja auf die natr-lichste Weise hereingekommen zu sein, whrend

    wir doch nur auf die knstliche, mglicherweiseauf die knstlichste Weise hereingekommensind. Aber das ist gleichgltig. Wir haben dann,so mein Grovater weiter, auf jeden Fall den

    Berechtigungsausweis fr den Denkbezirk. Undin diesem Denkbezirk ist es uns mglich, zudem Bewutsein zu kommen, das uns auer-halb dieses Denkbezirkes unmglich ist. In die-sem Denkbezirk erreichen wir, was wir auer-halb niemals erreichen knnen, das Selbstbe-

    wutsein und das Bewutsein alles dessen, dasist. Es knne sein, so mein Grovater, da erseine Krankheit erfunden habe, um in denDenkbezirk des Bewutseins, so seine Bezeich-

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    nung, hineinzukommen. Mglicherweise htteauch ich zu demselben Zweck meine Krankheiterfunden. Es spiele aber keine Rolle, ob es sichum eine erfundene oder um eine tatschlicheKrankheit handle, wenn sie nur dieselbe Wir-kung hervorrufe. Schlielich sei jede erfundene

    Krankheit eine tatschliche. Wir wissen nie, ha-ben wir eine erfundene oder eine tatschlicheKrankheit. Wir knnen aus allen mglichenGrnden eine Krankheit haben oder erfindenund dann auch haben, weil wir immer eine tat-schliche Krankheit erfinden, die wir tatschlich

    haben. Es wre durchaus mglich, da es ber-haupt nur erfundene Krankheiten gibt, so meinGrovater, die als tatschliche Krankheiten er-scheinen, weil sie die Wirkung von tatschli-chen Krankheiten haben. Es sei die Frage, ob esberhaupt tatschliche Krankheiten gebe, ob

    nicht alle Krankheiten erfundene Krankheitenseien, weil die Krankheit an sich eine Erfindungsei. Wir knnten auch ruhig sagen, da wir un-sere beiden Krankheiten fr unsere Zwecke, diemglicherweise und wahrscheinlich denselbenZweck verfolgten, erfunden htten. Und es sei

    unmageblich, ob er zuerst die seine und erstdann ich die meine erfunden habe oder umge-kehrt. Wir hielten uns jetzt, indem wir uns indem Krankenhaus aufhielten, nicht mglicher-

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    weise, sondern ganz sicher in dem fr uns bei-de lebensrettenden Denkbezirk auf, so er. Es

    war klar, da er, was er jetzt gesagt hatte, wie-der nur als eine Spekulation bezeichnete. Ichhatte dieser Spekulation ohne weiteres folgenknnen. Mein Genesungsproze war fortge-

    schritten. Jetzt hatte ich den Beweis. Die Visitewar mir immer nur eine vorgezogene Totenbe-schau gewesen. Sie hatte sich an jedem Tagegegen halb elf oder elf mehr oder weniger wort-los vollzogen, die rzte hatten, weil es sich frsie ja bereits um Tote handelte, an welchen sie

    offensichtlich teilnahmslos vorbeigehen mu-ten, an diesen Patienten ihre Kunst berhauptnicht mehr angewendet, alles an ihnen war hiernichts mehr als die gewohnte und letzten Endesschon zur kalten Routine gewordene Passivittin gebndelten rztekitteln vor dem hier alles

    beherrschenden Tode gewesen, sie hatten aufmich den Eindruck gemacht, als htten sie mitdiesen in ihren Eisenbetten verlorenen Men-schen, die zwar fr die rzte schon tot, fr michaber noch immer, und zwar in der erbarmungs-

    wrdigsten Weise und unter den qualvollsten,

    erniedrigendsten Umstnden existiert haben,nichts mehr zu tun gehabt, eine lstige Proze-dur hatten sie hier in dem sogenannten Sterbe-zimmer absolvieren mssen. Diese alten Men-

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    schen im Sterbezimmer durften, so mute ich,wenn ich die rzte bei der Visite beobachtete,denken, unter keinen Umstnden mehr in dasLeben zurck, sie waren schon abgeschriebenund schon aus der Menschengesellschaft abge-meldet, und als htten die rzte die Verpflich-

    tung gehabt, das um keinen Preis zu verhin-dern, entzogen sie in jeder ihrer Handlungendiesen nurmehr noch auf sie, die rzte, ange-

    wiesenen erbrmlichen Menschen im Sterbe-zimmer durch Unttigkeit und Gefhls- undGeistesklte das Leben. Die Medikamente, die

    hier in dem Sterbezimmer von den rzten ver-schrieben worden waren, waren keine Hei-lungsmittel, es waren im Grunde nichts mehrals nur Sterbemittel, die das Sterben und denTod dieser Patienten in jedem Falle beschleu-nigten, wie auch die Infusionsflaschen ber den

    Kpfen dieser Patienten nichts anderes als nurglserne Todesbeschleuniger waren, die einenHeilungswillen dokumentieren und, wie ichschon einmal gesagt habe, auf theatralische

    Weise tatschlich darstellen sollten, aber inWahrheit nichts anderes waren als die glsernen

    Markierungen des gekommenen Lebensendes.Eine durch das Verhalten der Gesellschaft wahr-scheinlich gerechtfertigte Verlegenheitslsung

    war diese Visite immer gewesen, die tglich die

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    rzte, an jedem Freitag an ihrer Spitze auch denPrimarius, in das Sterbezimmer gefhrt hatte.Die Schwestern mochten auch bei dieser Gele-genheit nichts anderes im Kopf gehabt habenals das Platzproblem, und es hatte den An-schein, als warteten sie nur darauf, da sich die

    Betten leerten. Ihre Gesichter waren so abge-hrtet wie ihre Hnde, und es war in ihnenkein, nicht das geringste Gefhl mehr zu ent-decken gewesen. Sie hatten hier schon Jahr-zehnte ihre Arbeit gemacht und waren nurmehrnoch exakt funktionierende Krankenversor-

    gungsmaschinen im Vinzentinerinnenkittel. Eswar ihnen anzusehen, da sie ber ihren Zu-stand verbittert und dadurch noch unzugngli-cher fr das, was die Seele genannt wird, waren.Sie konnten berhaupt keine Seelenbeziehungmehr haben, weil sie das, was sie ununterbro-

    chen als ihre wichtigste Aufgabe anzuschauenhatten, die Rettung der Seele, in Gemeinschaftmit der Kirche und hier, im Krankenhaus, inGemeinschaft mit dem Krankenhauspfarrer tat-schlich nurmehr noch als gedankenloses Ge-schft betrieben. An diesen Schwestern ist alles

    nurmehr noch mechanisch gewesen, wie eineMaschine arbeitet, die sich in ihrer Ttigkeit anihren eingebauten Mechanismus und an sonstnichts zu halten hat. Die Visite hatte mir jedes-

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    mal die in Wei daherkommende Machtlosig-keit der Medizin gezeigt. Ihr Auftritt hatte im-mer nur Eisesklte und mit dieser Eisesklte dieZweifel an ihrer Kunst und an ihrem Recht hin-terlassen. Einzig und allein vor meinem Bett

    waren sie aus der Fassung geraten, weil sie es,

    immer wieder unvermutet und urpltzlich, jetzthier im Sterbezimmer mit einem Lebenden undmit keinem Toten zu tun hatten. Hier waren sie,

    wenn auch nur untereinander, gesprchig unddiskussionsbereit, wenn sie mir da auch immerunverstndlich geblieben sind. Es war niemals

    mglich gewesen, mit ihnen einen tatschlichenKontakt aufzunehmen. Jeder Versuch in dieserRichtung war von ihnen gleich durch ein rdesZurck- und Zurechtweisen meiner Person ab-gebrochen worden. Sie wollten sich der Au-enwelt, wie es den Anschein hatte, um keinen

    Preis, nicht einmal um den Preis einer ganz ein-fachen, ganz kurzen Unterhaltung, um den Preiseines auch nur angedeuteten bermuts ffnen.Sie waren immer nur die an jedem Tage aufeinmal und mit der gleichen Rcksichtslosigkeit

    vor meinem Bett aufgestellte weie Mauer ge-

    blieben, in welcher kein menschlicher Zug zuentdecken war. Dem Jngling waren die rzteimmer als Schreckensbotschafter erschienen, andie ihn seine Krankheiten erbarmungslos ausge-

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    liefert hatten. Er hatte zu den rzten immer nureine Schreckensbeziehung haben knnen. Sie

    waren ihm niemals und in keinem Augenblickvertrauenerweckend gewesen. Alle Menschen,die er gekannt und geliebt hat und die zu einembestimmten Zeitpunkt einmal kranke Menschen

    gewesen waren, sind an dem entscheidendenPunkte ihrer Krankheit von den rzten im Stichgelassen worden und, wie er sich spter sagenhatte mssen, beinahe immer aus grober undunverantwortlicher Fahrlssigkeit. Immer wie-der war er mit der Unmenschlichkeit der rzte

    konfrontiert, von ihrem bersteigerten Hoch-mut und mit ihrem geradezu perversen Gel-tungsbedrfnis vor den Kopf gestoen gewesen.

    Vielleicht war er in seiner Kindheit und Jugendimmer nur an solche abstoenden und letztenEndes lebensgefhrlichen rzte geraten, denn

    Tatsache ist, da nicht alle rzte abstoend undlebensgefhrlich sind, wie die sptere Erfahrunggezeigt hat. Da er, wie ihm doch immer vorge-kommen war, gegen alle diese leichtfertig dieMedizin und also ihr sogenanntes heiliges Ge-werbe betreibenden rzte schlielich immer

    wieder gesund geworden war, dankte er seineralles in allem immer wieder in hohem Grade

    widerstandsfhigen Natur. Mglicherweise wa-ren es gerade die vielen Krankheiten, die er im

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    mir gefhrt. Meine Natur verlangte immerschon nach Erklrung, besser noch, Aufklrung,und ich wre vor allem, was meine rzte be-trifft, fr Erklrung und Aufklrung dankbargewesen. Mit den rzten war aber nicht zusprechen gewesen. Sie haben sich in die Unbe-

    quemlichkeit einer Unterhaltung mit mir vonvornherein nicht eingelassen. Immer hatte ichdas Gefhl, da sie vor Erklrung und Aufkl-rung Angst hatten. Und es ist ja Tatsache, dadie Kranken, die den rzten ausgeliefert sind inden Krankenhusern, niemals mit rzten in

    Kontakt, geschweige denn zu Erklrung undAufklrung kommen. Die rzte schirmen sichab, errichten die, wenn nicht natrliche, sodoch knstliche Mauer der Ungewiheit zwi-schen den Patienten und sich. Die rzte sindununterbrochen hinter dieser von ihnen als

    Mauer aufgerichteten Ungewiheit verschanzt.Ja sie operieren mit der Ungewiheit. Wahr-scheinlich sind sie sich ihrer eigenen Unfhig-keit und also Machtlosigkeit bewut und wis-sen, da der Patient allein die Initiative zuergreifen hat, will er seinen Krankheitszustand

    eindmmen oder aus seinem Krankheitszustandwieder herauskommen. Die wenigsten rztegeben zu, da sie beinahe nichts wissen undebenso beinahe nichts tun knnen. Die rzte,

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    die hier im Sterbezimmer Visite machten, hattenihre Patienten niemals aufgeklrt und hatten allediese Patienten im Stich gelassen. Im medizini-schen und im moralischen Sinn. Ihre Medizin

    war naturgem machtlos, ihre Moral wre ih-nen ein zu hoher Einsatz gewesen. Hier notiere

    ich, was im Kopf des Jnglings vorgegangen ist,der ich damals gewesen bin, nichts weiter. Sp-ter mag alles in einem anderen Licht erschienensein, damals nicht. Damals hatte ich diese Ge-fhle, nicht die heutigen, damals hatte ich dieseGedanken, nicht die heutigen, damals hatte ich

    diese Existenz, nicht die heutige. Nach der Visi-te, ein Vorgang, der nur ein paar Minuten in

    Anspruch genommen hatte, waren die Patien-ten, die whrend der Visite wenigstens den Ver-such gemacht hatten, sich in ihren Betten auf-zurichten, was ihnen aber nur auf die hilfloseste

    Weise geglckt war, wieder in ihre Betten zu-rckgesunken, so auch ich. Ich fragte mich je-desmal, was habe ich jetzt wieder erlebt, washabe ich jetzt wieder gesehen? Und die Antwort

    war immer dieselbe: die Hilflosigkeit und dieStumpfsinnigkeit von rzten, die eine vollkom-

    men in das Geschft degradierte Auffassung vonder Medizin haben und die sich in keinem Au-genblick dieser erschtternden Tatsache sch-men. Am Ende der Visite, wenn sie schon wie-

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    der an der Tr angekommen waren, hatten sichalle, auch die Schwestern, immer noch einmalumgedreht und sich dem der Tr gegenberlie-genden Bett zugewendet. In diesem Bett lag ein

    von chronischem Rheumatismus an allen seinenGliedern, aber vor allem an Hnden und Fen

    vollkommen verkrmmter Gastwirt aus Hofga-stein, der angeblich schon ber ein Jahr lang indiesem Bett gelegen war und von welchem seiteinem Jahr der Tod stndlich erwartet wurde.Dieser Gastwirt, auf drei, vier Polstern in seinemBett hoch aufgerichtet, hatte jedesmal, wenn

    die rzteschaft und die Schwestern am Ende derVisite an der Tr angekommen waren, mit demrechten Zeigefinger auf seine Stirn getippt, wor-auf die rzteschaft und die Schwestern regel-mig in ein lautes Gelchter ausgebrochen wa-ren, das mir viele Tage unverstndlich gewesen

    war, weil ich die Ursache noch nicht kannte. Siehatten jedesmal am Ende der Visite ber dengrausamen Scherz des Gastwirtes auflachenmssen. War ihr Gelchter ausgelacht, war die

    Visite vorbei. Der Gastwirt aus Hofgastein, einvollkommen abgemagertes und dadurch auf

    groteske Weise in die Lnge gezogenes Skelett,auf welchem die gelbe Haut nur noch notdrf-tig und auch dadurch wiederum auf groteske

    Weise klebte, war nicht wegen dieser rheumati-

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    schen Verkrppelung im Krankenhaus, sondernwegen einer chronischen Nierenentzndung.Seit ber einem Jahr hatte der Gastwirt zweimal

    wchentlich an eine sogenannte knstliche Nie-re angeschlossen werden mssen, immer auchan dem Tag, an welchem ich punktiert wurde.

    Er hatte, denke ich, ein zhes Herz, und solangesein Witz nicht abstarb, war auch er nicht abge-storben, nicht tot, wahrscheinlich lebte er ln-ger, als es den rzten und Schwestern recht war.

    Wenn sie schon nicht durch seinen Tod vonihm und von der durch ihn verursachten tagtg-

    lichen Belastung befreit wurden, so durften siesich wenigstens an seinem immer wiederkeh-renden Witz mit dem rechten Zeigefinger er-freuen, der an keinem Tage, in welchem ich imSterbezimmer gewesen war, seine Wirkung ver-fehlt hatte. Von diesem Gastwirt aus Hofgastein

    ist spter noch einmal die Rede. Die Visite, derHhepunkt an jedem Tag, war gleichzeitig im-mer die grte Enttuschung gewesen. Kurzdarauf kam das Mittagessen. Die Schwesternhatten nur drei oder vier Portionen auszuteilen,denn nur drei oder vier Patienten waren im-

    stande, das Mittagessen einzunehmen, die bri-gen waren mit heiem Tee oder heiem Obst-

    wasser in Krze abgefertigt. Ein mir in denersten Tagen nach meiner Bewutlosigkeit als

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    dick und schwer aufgefallener Mann, von wel-chem ich nie ein Wort gehrt hatte und der inder Zwischenzeit so wie alle andern bis auf dieKnochen abgemagert war, hatte immer nur einegroe Schssel voll pfel zum Essen bekom-men, und ich erinnere mich noch genau, wie

    der Mann, beinahe bewegungslos, jedesmalnach und nach die ganzen pfel auf dieserObstschssel aufgegessen hat, und zwar um ab-zuwassern. Von seiner schwarzen Personalienta-fel hatte ich schon bald, nachdem ich wieder beiBewutsein gewesen war, das Wort GENERAL

    ablesen knnen, das unter seinen, wie ich micherinnere, ungarischen Namen in Grobuchsta-ben geschrieben war. Lange Zeit hatte ich mei-ne Aufmerksamkeit nur auf dieses eine WortGENERAL gerichtet und mich gefragt, ob, wasich die ganze Zeit als GENERAL von der Tafel

    heruntergelesen hatte, auch wirklich das WortGENERAL gewesen war. Ich hatte mich nicht

    verlesen, der Mann war tatschlich ein ungari-scher General gewesen, ein Flchtling wie Hun-derttausende und Millionen andere auch, denes, wer wei woher, bei Kriegsende nach Salz-

    burg verschlagen hatte. Es war mir unvorstellbargewesen, mit einem wirklichen General, der beinherer Betrachtung auch noch genauso aus-schaute wie ein General, in einem Zimmer zu

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    Menschen, der es, wer wei unter welchen Um-stnden, zum General gebracht hatte, war seineLautlosigkeit, nicht Schweigsamkeit, sondernabsolute Lautlosigkeit gewesen, niemand hatte

    jemals etwas von ihm gehrt, und er war auchniemals von irgendeinem Menschen angespro-

    chen worden, und wenn die Schwestern oderdie rzte etwas zu ihm gesagt hatten, so hatte ernichts erwidert. Mglicherweise hatte er auchnichts mehr verstanden. Kaum war er tot undabtransportiert, war das Wort GENERAL auchschon von der Tafel gewischt, und ein paar

    Stunden, nachdem er sich in dem Bett, das ichso oft und so intensiv beobachtet hatte, aus der

    Welt entfernt hatte, hatte er einen Nachfolger.Auf das Wort GENERAL war das Wort LAND-WIRT gefolgt, das seit einiger Zeit im Sprachge-brauch dieses Landes das Wort Bauer ersetzte.

    Neben diesem Bett war nur eine einzige Nachtein sogenannter Marktfahrer aus Mattighofengelegen. Der Mann war, was zu meiner Zeitberhaupt niemals auer in diesem einen Fall

    vorgekommen war, zu Fu in das Sterbezimmerhereingekommen und von der Nachtschwester,

    die gerade ihren Dienst angetreten hatte, in dasBett eingewiesen worden. Er hatte sein Kleider-bndel unter dem Arm und hatte alles eher, nurkeinen kranken Eindruck gemacht. Offensicht-

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    lich war er gerade von der sogenannten Auf-nahme gekommen und hatte die erste Untersu-chung im Krankenhaus hinter sich. Der Gastwirtaus Hofgastein, zwei Betten weiter, hatte sichsofort fr ihn interessiert und ihm, dem unkun-digen Neuen, Anweisungen fr sein hier not-

    wendiges und erwnschtes Verhalten gegeben,die beiden hatten sich sofort verstanden, warenvom gleichen Schlage gewesen und hatten den-selben Sprachgebrauch. Der Marktfahrer war sospt in das Krankenhaus und in das Sterbezim-mer hereingekommen, da er nicht einmal

    mehr ein Nachtmahl erhielt, auf welches er Lustgehabt hatte. Kaum war er in seinem Bett, hattedie Nachtschwester das Licht ausgedreht, und

    wahrscheinlich war der Neuangekommene auchurpltzlich erschpft gewesen, denn von die-sem Moment an hatte ich nichts mehr von ihm

    gehrt, whrend er gerade noch davon gespro-chen hatte, da er nicht wisse, warum er jetztauf einmal hier sei. In der Frh hatte er es inseinem Bett nicht mehr ausgehalten und war,noch bevor er dazu aufgefordert worden war,aufgestanden und, wie mir schien, vllig unmo-

    tiviert auf den Gang hinausgegangen. Diese Au-genblicke der Abwesenheit des Marktfahrers ausMattighofen hatte der Gastwirt aus Hofgasteindazu bentzt, sich nach der Krankheit des

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    Marktfahrers zu erkundigen. Der Gastwirt ergriffdie auf dem Nachtkstchen neben seinem Bettabgelegte Fiebertabelle des Marktfahrers und tatso, als studierte er sie. Mit einem tiefen Seufzer,in welchem Entsetzen und eine bis zur Scha-denfreude hinaufgesteigerte Infamie gewesen

    waren, legte der Gastwirt die Fiebertabelle, aufwelcher die Krankheit des Marktfahrers inStichwrtern verzeichnet gewesen war, wiederauf dem Nachtkstchen ab. Als der Marktfahrer,

    wahrscheinlich auf Anordnung der jetzt schondienstmachenden Tagschwester, wieder in das

    Sterbezimmer hereingekommen war, hatte ihnder Gastwirt aus Hofgastein, wie wenn er jetztalles ber den Marktfahrer in Erfahrung ge-bracht htte, mit einem gleichzeitig bsartigenund schadenfrohen Schweigen empfangen undihn dann heuchlerisch gefragt, ob er eine gute

    Nacht gehabt habe. Tatschlich war gerade die-se Nacht eine der wenigen ruhigen ohne auffal-lende Zwischenflle gewesen, und der Markt-fahrer meinte, eine gute. Daraufhin erzhlte erdem Gastwirt einen Traum, den er, der Markt-fahrer, in der Nacht getrumt habe, wovon ich

    aber nichts verstand. Jetzt werde er sich wa-schen, sagte der Marktfahrer, und er schlpfteaus dem Nachthemd und trat an das Waschbek-ken. Eine Zeitlang beobachtete ich die Um-

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    stndlichkeit, mit welcher sich der Marktfahrerwusch, dann interessierte mich offensichtlichder Vorgang nicht mehr, und ich hatte nichtmehr hingeschaut. Pltzlich hrte ich ein ent-setzliches Gerusch, und ich schaute augen-blicklich zum Waschbecken hin. Der Marktfah-

    rer war tot ber dem Waschbecken zusammen-gebrochen, und sein Kopf war an der Kante desWaschbeckens aufgeschlagen. Da ich mich au-genblicklich nach dem Waschbecken umgedrehthatte, war noch Folgendes zu sehen gewesen:der Krper des Marktfahrers zog den Kopf des

    Marktfahrers aus dem Waschbecken heraus undlie ihn hart auf dem Fuboden aufschlagen.Der Marktfahrer war, whrend er sich gewa-schen hatte, vom Schlag getroffen worden. DerGastwirt hatte jetzt seinen Triumph. Er berich-tete, da er den Tod des Marktfahrers schon vor-

    ausgesehen habe, nachdem er einen Blick aufdie Fiebertabelle des Marktfahrers geworfenhatte. Der Gastwirt aus Hofgastein hatte mithocherhobenem Kopf und mit weit auf seinemLeintuch ausgestreckten Armen und mit so weitals mglich gespreizten Fingern die Bergung

    und den Abtransport des Marktfahrers aus Mat-tighofen beobachtet. Ich selbst war ber dieseSzene erschrocken gewesen und sehe sie immer

    wieder. Es war das erstemal gewesen, da ich

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    einen Menschen, der gerade noch geredet hatteund noch dazu auf die unbeschwerteste Weisegeredet hatte, pltzlich tot vor mir liegen gese-hen habe. Dieser war der einzige gewesen, denich im Sterbezimmer erlebt habe, der seinenunmittelbar bevorstehenden Tod berhaupt

    nicht vorausgesehen hatte. Der Gastwirt ausHofgastein mute ihn, den Marktfahrer aus Mat-tighofen, um diesen so anschaulich und so ur-pltzlich abrupt vorgefhrten Sterbevorgangbeneidet haben. Jeder, der den Marktfahrer ausMattighofen vor uns unmittelbar nach seinem

    Tode gesehen hatte, mute ihm seinen Tod ge-neidet haben. Die Wachen hatten dem Markt-fahrer seinen Tod sicher geneidet, die andernhatten ihn gar nicht wahrgenommen. DenSchwestern und den rzten war der Marktfah-rer, bevor er noch in ihre Leidens- und Qualma-

    schine hineingeraten war, entkommen. Es hattesich gar nicht ausgezahlt, da sie ihm ein Betthergerichtet und eine Fiebertabelle angelegthatten, mochten die Schwestern gedacht haben.Nichts neiden die mit Sicherheit Sterbendenmehr als einen solchen glcklichen Tod ohne

    Sterben. Es war in der Natur des Marktfahrersaus Mattighofen gelegen, da er auf diese Weisegestorben war, hatte ich gedacht, als sie ihn ab-holten. Dieser Mensch hatte keinen anderen

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    Tod haben knnen. Ich selbst hatte mich dabeiertappt, da ich dem Marktfahrer seinen Todneidete, weil ich mir nicht sicher sein konnte,einmal auf diese pltzliche, vollkommenschmerzfreie Weise von einem Augenblick aufden andern in die Vergangenheit entkommen,

    vorbei zu sein. Schlielich wird den wenigstenein Tod ohne Sterben zuteil. Wir sterben vondem Augenblick an, in welchem wir geboren

    werden, aber wir sagen erst, wir sterben, wennwir am Ende dieses Prozesses angekommensind, und manchmal zieht sich dieses Ende

    noch eine frchterlich lange Zeit hinaus. Wirbezeichnen als Sterben die Endphase unsereslebenslnglichen Sterbeprozesses. Wir verwei-gern schlielich die Bezahlung der Rechnung,

    wenn wir uns