Beschützer, Lehrer, Weiser, Techniker -...

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www.maennerzeitung.de 26 Switchboard. Zeitschrift für Männer und Jungenarbeit | Nr. 203 | SommerHerbst 2013 Titel Beschützer, Lehrer, Weiser, Techniker ... Gedanken eines Altenpflegers. Georg Paaßen Was ist Pflege? In der Warteschlange am Buffet wird Konversation gemacht: »Und was ma- chen Sie beruflich?« Die Offenheit meiner Antwort »Ich bin Altenpfle- ger« ruft gelegentlich gegenteilige Reaktionen hervor. Po abwischen ist die pflegerische Tätigkeit, die vielen Menschen als erstes zur Pflege einfällt. »Ausscheiden können« ist einer von 13 Bereichen, die von Pflegeprofis bei einer Anamnese (meist) abgefragt werden. Kommunizieren, sich be- wegen, »vitale Funktionen des Kör- pers aufrechterhalten«, sich und das Umfeld pflegen, essen und trinken, sich kleiden, ruhen und schlafen, sich beschäftigen, sich als Mann/Frau füh- len, für »Sicherheit in der Umgebung sorgen«, »soziale Bereiche des Lebens sichern« und »mit existenziellen Er- fahrungen des Lebens umgehen« sind die anderen. Pflege assistiert Men- schen, die alltägliche Aktivitäten nicht selbstständig durchführen und mit existenziellen Erfahrungen des Le- bens nicht allein umgehen können 1 . Dieses umfassende Verständnis von Pflege macht sichtbar, wie vielfältig die Unterstützung sein kann, die nötig wird, wenn jemand »nicht mehr so kann«. Wer in der eigenen Wohnung leben möchte, muss in der Regel Flur und Fenster putzen, aber auch mal die elek- trische Birne wechseln oder die Batte- rien der TV-Fernbedienung erneuern können. Dazu gehört aber auch so was Bürokratisches wie regelmäßig die Miete überweisen oder die Nebenkos- tenabrechnung prüfen. Wer keine Waschmaschinenreperatur organisie- ren kann, braucht entweder Hilfe oder kann nicht mehr allein wohnen. Wer nur Cola und Tiefkühlpizza zu sich nimmt, wird wahrscheinlich oft krank werden. Zur Pflege kann es auch ge- hören, einen brauchbaren Speiseplan zusammenzustellen, Mahlzeiten zu- zubereiten und die Küche hinterher wieder aufzuräumen. Oft wird bei der Gelegenheit daran erinnert, regelmä- ßig Medikamente einzunehmen. Wer Sprachschwierigkeiten hat, braucht Hilfe, um Gäste zum Geburtstag ein- zuladen oder Sozialleistungen zu klä- ren. Kann jemand keine Treppen stei- gen, gehört es zur Pflege, den Brief- kasten zu leeren und den Müll raus zu tragen. Die meisten Apotheken bieten pflegerische Hilfen: sie beraten bei In- kontinenz oder liefern Medikamente bis in die Wohnung. Mit AltenpflegeschülerInnen mache ich gern eine Übung: Wir haben gera- de diese Patientin verlassen. Schreibt mal auf, welche Leute alle dazu bei- tragen, dass dieser Mensch den Wunsch, zu Hause zu bleiben, leben kann. Die Tochter, die morgens für Körperpflege, Kleiden und Frühstück kommt. Der Nachbar, der Zeitung, Brötchen oder Post mitbringt und auch mal die Garderobe wieder fest- schraubt. Essen auf Rädern. Die Freundin, die wöchentlich auf einen Plausch reinschaut. Der Hausnotruf- dienst. Die Zahnärztin, die zur Gebiss- anpassung nach Hause kommt. Der Nachbarsjunge, der schon mal die Bettwäsche aus dem obersten Fach holt oder Besorgungen macht. Die En- kelin, die Facebook einrichtet und Oma auf dem Laufenden hält. Der Cousin, der Rente, Pflegestufe oder Wohngeld organisiert und dafür ein- mal im Monat 300 km weit anreist. Vielleicht auch Ehrenamtliche von der örtlichen Alzheimer-Gruppe oder der Kirchengemeinde, die einen Besuch auf dem Friedhof begleiten. Die Se- kretärin, die die Einladung zur Weih- nachtsfeier schickt. All das gehört zur Pflege, und auch der Lebensgefährte, der morgens ans Auf- stehen erinnert, den Toilettenstuhl leert und die Kompressionsstrümpfe anzieht. Auch die Profis, die monate- lang die viel zu langsam heilende Wunde versorgen. Auch die Freundin, die wöchentlich die Haare wäscht ... Häusliche Pflege ist nur möglich, wenn solch ein Netzwerk funktioniert. © nerek / photocase.de

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www.maennerzeitung.de26 Switchboard. Zeitschrift für Männer und Jungenarbeit || Nr. 203 || SommerHerbst 2013

Titel

Beschützer, Lehrer, Weiser, Techniker ...Gedanken eines Altenpflegers.Georg Paaßen

Was ist Pflege?

In der Warteschlange am Buffet wirdKonversation gemacht: »Und was ma-chen Sie beruflich?« Die Offenheitmeiner Antwort »Ich bin Altenpfle-ger« ruft gelegentlich gegenteiligeReaktionen hervor. Po abwischen istdie pflegerische Tätigkeit, die vielenMenschen als erstes zur Pflege einfällt. »Ausscheiden können« ist einer von13 Bereichen, die von Pflegeprofis beieiner Anamnese (meist) abgefragtwerden. Kommunizieren, sich be-wegen, »vitale Funktionen des Kör-pers aufrechterhalten«, sich und dasUmfeld pflegen, essen und trinken,sich kleiden, ruhen und schlafen, sichbeschäftigen, sich als Mann/Frau füh-len, für »Sicherheit in der Umgebungsorgen«, »soziale Bereiche des Lebenssichern« und »mit existenziellen Er-fahrungen des Lebens umgehen« sinddie anderen. Pflege assistiert Men-schen, die alltägliche Aktivitäten nichtselbstständig durchführen und mitexistenziellen Erfahrungen des Le-bens nicht allein umgehen können1.

Dieses umfassende Verständnis vonPflege macht sichtbar, wie vielfältigdie Unterstützung sein kann, die nötigwird, wenn jemand »nicht mehr sokann«.

Wer in der eigenen Wohnung lebenmöchte, muss in der Regel Flur undFenster putzen, aber auch mal die elek-trische Birne wechseln oder die Batte-rien der TV-Fernbedienung erneuernkönnen. Dazu gehört aber auch so wasBürokratisches wie regelmäßig dieMiete überweisen oder die Nebenkos-tenabrechnung prüfen. Wer keineWaschmaschinenreperatur organisie-ren kann, braucht entweder Hilfe oderkann nicht mehr allein wohnen. Wernur Cola und Tiefkühlpizza zu sichnimmt, wird wahrscheinlich oft krankwerden. Zur Pflege kann es auch ge-hören, einen brauchbaren Speiseplanzusammenzustellen, Mahlzeiten zu-zubereiten und die Küche hinterherwieder aufzuräumen. Oft wird bei derGelegenheit daran erinnert, regelmä-ßig Medikamente einzunehmen. WerSprachschwierigkeiten hat, braucht

Hilfe, um Gäste zum Geburtstag ein-zuladen oder Sozialleistungen zu klä-ren. Kann jemand keine Treppen stei-gen, gehört es zur Pflege, den Brief-kasten zu leeren und den Müll raus zutragen. Die meisten Apotheken bietenpflegerische Hilfen: sie beraten bei In-kontinenz oder liefern Medikamentebis in die Wohnung.

Mit AltenpflegeschülerInnen macheich gern eine Übung: Wir haben gera-de diese Patientin verlassen. Schreibtmal auf, welche Leute alle dazu bei-tragen, dass dieser Mensch denWunsch, zu Hause zu bleiben, lebenkann. Die Tochter, die morgens fürKörperpflege, Kleiden und Frühstückkommt. Der Nachbar, der Zeitung,Brötchen oder Post mitbringt und auchmal die Garderobe wieder fest-schraubt. Essen auf Rädern. DieFreundin, die wöchentlich auf einenPlausch reinschaut. Der Hausnotruf-dienst. Die Zahnärztin, die zur Gebiss-anpassung nach Hause kommt. DerNachbarsjunge, der schon mal dieBettwäsche aus dem obersten Fachholt oder Besorgungen macht. Die En-kelin, die Facebook einrichtet undOma auf dem Laufenden hält. DerCousin, der Rente, Pflegestufe oderWohngeld organisiert und dafür ein-mal im Monat 300 km weit anreist.Vielleicht auch Ehrenamtliche von derörtlichen Alzheimer-Gruppe oder derKirchengemeinde, die einen Besuchauf dem Friedhof begleiten. Die Se-kretärin, die die Einladung zur Weih-nachtsfeier schickt. All das gehört zur Pflege, und auch derLebensgefährte, der morgens ans Auf-stehen erinnert, den Toilettenstuhlleert und die Kompressionsstrümpfeanzieht. Auch die Profis, die monate-lang die viel zu langsam heilendeWunde versorgen. Auch die Freundin,die wöchentlich die Haare wäscht ... Häusliche Pflege ist nur möglich,wenn solch ein Netzwerk funktioniert. ©

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Titel

Typisch männlich

In der Altenpflege bin ich »Beschüt-zer« vor Krankheit, wenn ich auf hy-gienisches und rückenschonendes Ar-beiten achte. Ich schütze vor Burn-out,wenn ich pflegende Angehörige daranerinnere, dass wir alle nur begrenzt be-lastbar sind. Ich schütze gebrechlicheMenschen vor den Folgen von Stürzen,wenn ich mich für weniger lose Tep-piche oder mehr Beleuchtung einset-ze. In der Altenpflege bin ich »Lehrer«,wenn ich Fragen zu Krankheiten oderMedikamenten beantworte oder denDschungel der Bürokratie lichten hel-fe. Ich bin ein »Weiser«, wenn ich Ge-lassenheit angesichts des Todes aus-strahle.In der Altenpflege bin ich Techniker,wenn ich erkläre, wie mit einem Ba-delifter umzugehen ist, wenn ich mitden Pflegebedürftigen Tricks überle-ge, wie sie Alltagsprobleme bewälti-gen können, wenn ich die losenSchrauben am Krankenbett anziehe.Die Kollegin hat geschrieben: »Fr. A.konnte nicht versorgt werden. Sieschlägt und schreit.« Wenn ich es amnächsten Tag schaffe, mit ihr durch das»Tal der Tränen« zu gehen und siehinterher erschöpft, zufrieden lä-chelnd in ihrem Lieblingssessel sitzt -dann komme ich mir ein bisschen wieein Held vor. Professionelle Pflege enthält vieles,was ich als »typisch männlich« erlebe.

Schichtarbeit

Kranke und Behinderte sind 24 Stun-den am Tag, sind auch an Sonn- undFeiertagen krank oder behindert. Pflegeprofis lassen sich also auf Arbeitin den Abendstunden und an Wochen-enden ein. Oft ist das eine 5,5-Tage-Woche: in 14 Tagen sind ein Samstag,ein Sonntag und ein Wochentag ar-beitsfrei. Und wenn jemand aus demTeam krank wird? Die Insulingabelässt sich genauso wenig auf morgenverschieben, wie Intimpflege oder Es-sensausgabe. Pflege springt ein. Fuß-ballverein, Tanzkurs oder Gospelchor... regelmäßige Freizeitaktivitätensind mit Dienstplänen schwer zu ver-einbaren. Dafür können Arzttermine,Saunabesuche oder Brunchverabre-

dungen auch in eine Spätdienstwochegelegt werden, wenn andere zwischen8 und 17 Uhr ihrem Job nachgehen. Wer in der Pflege arbeitet, verabredetsich zu Radausflug oder Rendevouzoft »unter Vorbehalt« - vielleicht musseingesprungen werden. Partnerschaftund Kinder müssen sich daran anpas-sen. Stress mit dem Schwiegervater,weil’s mit dem Besuch zum 60sten Ge-burtstag doch nicht klappt, ist nicht un-üblich. Mein Sohn war sehr genervt,als ich verspätet zur Abifeier kam. Es gibt in der ambulanten Pflege Ruf-bereitschaftsdienste, um auch nachtszu helfen. Das kann bedeuten, mor-gens um zwei aufzustehen, um jeman-den von den Hinterlassenschaften ei-ner Durchfallepisode zu befreien. DieDankbarkeit, die mir entgegenstrahlt,wenn der Mensch sauber und sicherwieder im Bett liegt - das ist ein Grund,Altenpfleger zu sein.

FrauenberufIn Zeiten von Massenarbeitslosigkeitist es angebracht darauf hinzuweisen,dass in der Gesundheitswirtschafteher in Menschen als in Maschinen in-vestiert wird und darauf, dass dieBranche wächst. In der Stadt Essen le-ben mehr als 550.000 Menschen. Nachvier Jahrzehnten »Strukturwandel«dürfte die Uniklinik einer der größtenArbeitgeber der Stadt sein.In Essen hat Anfang Juli ein ambulan-ter Pflegedienst der Caritas Konkursangemeldet. 300 Angestellte und 1200Pflegebedürftige sind betroffen. Dasöffentlich-rechtliche Radio mit Studioin der Stadt beschränkt sich darauf, ei-ne knappe Pressemitteilung zu zitie-ren. Dazu kann die Lokalzeitung amdritten Tag zwei bis drei Details er-gänzen. Mehr gibt’s auch nach einerWoche nicht.Ich denke an die 1200 Menschen, diemit ihren Angehörigen jetzt überlegenmüssen: Ist es auch in vier Wochennoch möglich, in der eigenen Woh-nung zu leben? Und in 300 Haushal-ten von Pflegeprofis wird jetzt über-legt, wie es an Weihnachten finanziellaussehen wird. Doch dem wird in un-serer Gesellschaft wenig »Nachrich-tenwert« zugestanden.Was wäre, wenn Pflege nicht ein Frau-en-, sondern ein Männerberuf wäre?

Ritterlich

Die chirurgische Praxis ruft an. Mor-gen ist Hausbesuch bei Frau B. Sie hatschwer heilende Wunden am Unter-schenkel. Seit Monaten lehnt sie es ab,zum achten Mal deshalb in ein Kran-kenhaus zu gehen und nochmal eineHauttransplantation zu versuchen.Doch auf den Wunden werden die Be-läge immer dicker. Die müssen abge-tragen werden. Das möchte der Chir-urg unter Vollnarkose im Krankenhausmachen. Nix da, sagt Frau B. Der Me-diziner lässt sich auf den Eingriff nurzu Hause ein, wenn auch jemand vomPflegedienst dazu kommt. Als es soweit ist, wird nochmal aufgeklärt, dassVollnarkose im Hospital besser wäreund die Lokalanästhesie nur mässigerfolgreich sein wird. Sie will trotz-dem. Der Ehemann verlässt das Haus. Die Arzthelferin reicht an. Ich halte die Beine der Patientin. Der Arzt trägt mit chirurgischem Löf-fel, Skalpell und Schere ab. Die Patientin schreit und zuckt, willaber die Beine still halten. Ein Königreich für eine Rüstung, dieden Schmerz von der Patientin abhält.Vielleicht auch eine Rüstung für mich,denn noch heute, Jahre später, kom-men mir die Tränen, wenn ich darandenke. Zwei Tage später bin ich wieder beider Patientin. Gemeinsam mit ihremMann überreicht sie mir als Dank ei-nen kleinen Obstkorb.

Nähe und Verlegenheit

Seit einigen Wochen kommen wir vomPflegedienst, um einen Verband amFuß zu wechseln. Das ist irgendwie»medizinisch« und braucht kaum Ver-trautheit. Heute ist ein zusätzlicher Einsatz inder Mittagszeit, weil eine Wechsel-druckmatratze ins Bett soll. Dazu willHerr C. nach Monaten zum ersten malwieder das Bett verlassen, um auf ei-nem Stuhl zu sitzen. Ich will aufNummer sicher gehen, weil seine Bei-ne vielleicht das Körpergewicht nichttragen können. Also lege ich meineArme um seinen Oberkörper. Wider-willig legt er seine Arme um meineSchultern.

www.maennerzeitung.de28 Switchboard. Zeitschrift für Männer und Jungenarbeit || Nr. 203 || SommerHerbst 2013

Titel

»Haben Sie sich auch die Zähne ge-putzt?« Das bin ich noch nie gefragtworden. Eine originelle Art, damit um-zugehen, dass wir jetzt sehr viel Kör-perkontakt haben. Wir grinsen uns an.

Nackt

Vor 30 Jahren war ich als Zivildienst-leistender in der häuslichen Pflege.Damals habe ich zum ersten Mal je-mandem beim Duschen geholfen. Icherinnere mich noch an einen Mann, deran Schultern und Oberarmen vieleschmutzige Stellen hatte, dunkelgraueStriche, mal einen halben, mal dreiZentimeter lang. Die gingen mit Was-ser und Seife nicht weg.Mittags fragte ich eine Altenpflegerindanach: Der Mann hatte seine Bröt-chen als Bergmann verdient. Unter Ta-ge ist es schweißtreibend heiß undnicht nur an den Wänden der Flözeschürfen die Malocher sich die Hautauf. Zurück bleiben Reste von Koh-lenstaub unter der Haut. Das ist so dau-erhaft wie ein Tattoo.

Diese Erinnerung ist viel deutlicher inmeinem Gedächtnis, als meine Begeg-nungen mit nackten Geschlechtsorga-nen. Bei der Intimpflege habe ichgründlich zu waschen und auf Haut-veränderungen, Ausfluss oder Gerü-che zu achten.Irgendwann habe ich verwundert fest-gestellt, dass Schambehaarung dün-ner oder grau werden kann. Ich weißauch, dass mit dem Altern die Hautrunzliger wird - überall.Ich hatte mal eine Patientin um die 25zu versorgen, bei der ein Abszess amPo chirurgisch eröffnet worden war.Sie konnte den Verband nicht selbstwechseln und auch nicht Tag für Tagin die Arztpraxis. Also wurde der Pfle-gedienst engagiert. Ihr war’s peinlich,die Jeans auszuziehen und die Unter-hose zur Seite zu schieben. Wir habenes angesprochen, was vier Sätzebrauchte. Dann war es wirklich wich-tiger zu klären, wie die Wunde auss-sieht und wann sie denn - endlich -wieder verheilt sein würde.

Lebenswege

Er war Mantafahrer, mit Fuchs-schwanz und allem. Sie blond gefärbt.Das muss damals wirklich wie im Filmgewesen sein. Pech, dass er dann mit 44 Jahren einenUnfall hatte. Verschiedene Knochenwurden dabei so zertrümmert, dass sieauch Jahre später nur wenig belastbarsind. In der Wohnung kann er sich mitRollstuhl bewegen. Den Transfer aufden Toilettenstuhl kann er -fast im-mer - rechtzeitig und ohne Hilfe be-wältigen. Also trägt er zur SicherheitTena Pants. Er hatte einen gut bezahl-ten Job und auch nebenher immer ei-niges verdient. Jetzt ist seine Rente be-schämend gering. Seine Frau hat beieiner Bekannten etwas gefunden, umdazu zu verdienen. Der Lebensplan des Paares wurde insGegenteil verkehrt. Er muss sich vonihr helfen lassen und fühlt sich als Be-lastung für sie. Dass sein Hang zu cho-lerischen Ausbrüchen eher größer ge-worden ist, macht es nicht leichter. Er

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www.maennerzeitung.de 29Switchboard. Zeitschrift für Männer und Jungenarbeit || Nr. 203 || SommerHerbst 2013

Titel

hat nichts, um Stolz, aber vieles, umScham zu fühlen. Sie hatte sich einenBrötchenverdiener und Beschützerausgesucht. Kinder, Tupperware undNippes füllten ihren Alltag. Jetzt rap-pelt der Wecker um fünf, damit sie ihmaus dem Bett und beim Duschen hel-fen, sich selbst ausgehfertig machenund eine Tasse Kaffee trinken kann.Sie muss pünktlich anfangen. Nein, die beiden haben sich nicht des-halb geheiratet, weil sie gleichberech-tigt, kreativ, selbstbewusst, ergebnis-offen und gemeinsam Lebensfragenausdiskutieren können. Sie haben inden sechs Jahren seit dem Unfall auchkeinen Weg gefunden, wieder zärtlichmiteinander zu sein. Alles was sie ge-meinsam tun, ist behindert durch dieUnfallfolgen. Sie streiten oft und lächeln fast nie.

Ein Mann wird gepflegt

Das Haus hat er mit den eigenen Hän-den aufgebaut. Das forderte viel Kraftund Durchsetzungsvermögen. Beideshatte er immer.Seine Ehefrau musste nie für Geld ar-beiten. Sie kümmerte sich um Haus-halt und Kinder. Und wenn es malStreit gab, dann hatte er das letzteWort. Zwischen Vater und Sohn wur-de es oft laut. Trotzdem ist der Sohnnie ausgezogen. Heute wohnt seinSohn mit Frau und zwei Töchtern auchin dem Haus. Zwei Männer. Vier Frau-en.Fast 80-jährig, hatte er eine Reihe vonSchlaganfällen. Er kann nur noch mitviel Mühe sprechen und ist dannschwer zu verstehen. Das nervt ihnsehr. Er kann die Finger nicht mehrkoordiniert bewegen. Was nicht durchdie Ernährungssonde geht, muss an-gereicht werden. Zehn bis zwanzig malam Tag wird ihm ein Trinkbecher zumMund geführt. Er hat die Kontrolleüber seine Schließmuskulatur verlo-ren. Mehrmals täglich werden Einla-gen gewechselt. Er lässt es über sichergehen.Wenn die Krankengymnastik kommt,klagt er sehr schnell über Schmerzenund lehnt es ab, mitzuarbeiten oderselbst Übungen zu machen. Wird er aufeinen Stuhl gesetzt, ist er sehr unruhigund fordert nach etwa 10 Minuten non-

verbal, aber sehr deutlich, wieder insBett gelegt zu werden. Er äußert sich nur, wenn ihm im Mo-ment etwas nicht passt. Sonst ist er ver-stummt.

Die Pflege ist weiblich!

Mein Vater ging zum Fußballplatz,meckerte den Fernseher an, wennSport oder Nachrichten kamen (ma-che ich auch). Er hat beim Wahlkampfdes Ortsvereins mitgemacht. Er hattefaszinierend viel Werkzeug im Keller,mit dem er auch umzugehen wusste.(ich habe viel Freude daran, Möbelselbst zu bauen oder Sachen zu repa-rieren). Er hat uns oft ausgeschimpft,vor allem meine älteren Schwestern.Oft habe ich nicht verstanden, was sei-nen Zorn ausgelöst hatte. So lange ichmich erinnern kann, hat er viel getrun-ken und nach einigen Jahren im Dau-erkrankenschein ist er - auch als Fol-ge des Alkohols - gestorben. Ich warzwölf. Ich denke, ich habe damals schon ge-ahnt, was ich heute aufschreiben kann:»typisch männlich« würde mich nichtglücklich machen. Als ich 28 war, mussten wir entschei-den, in welchem Beruf ich Geld fürunsere Familie verdienen könnte. Ichhabe mich für die Altenpflege ent-schieden. Klar, das ist ein typischerFrauenberuf, aber das war für mich

nicht wichtig. Entscheidend waren dieguten Erfahrungen in dem Berufsfeldals Zivildienstleistender und im Stu-dentenjob. Ich war sicher, ich würdeein »guter« Altenpfleger. Ich war si-cher: das gibt ein »krisensicheres«Einkommen. Wir haben beim bundesweiten Män-nertreffen in einem Workshop zu-sammengesessen, vier Männer, die inder Pflege arbeiten. Wir haben uns dieFrage gestellt, ob es für unsere ArbeitBedeutung hat, dass Pflege ein »Frau-enberuf« ist. Wir pflegen Menschenund tun, was dabei nötig ist. Dazu ge-hören Hilfen beim Toilettengang oderdas Wechseln der Batterie im Blutzu-cker-Messgerät. Beim Frisieren binich nicht gut - typisch Mann. Ich ach-te auf meine Gesundheit und meineErnährung - typisch Frau. Ja, wir leben in einer Kultur, die dar-auf baut, dass es genau zwei Ge-schlechter gebe. Aber das sind Rah-menbedingungen und nicht mein gan-zes Leben. Ich kann gut zuhören unddie meisten meiner Kolleginnen kön-nen besser einparken als ich. - Naund?!

Anmerkung1 Mehr dazu hier: http://de.wikipedia.org/wi

ki/AEDL

GGeeoorrgg PPaaaaßßeenn Jg. 1964, lebt und arbeitet in Essen als examinierter Altenpfleger seit 1995.

>> [email protected]