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Bibliothek des EigentumsIm Auftrag der Deutschen Stiftung Eigentumherausgegeben von Otto Depenheuer

Band 11

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Bibliothek des Eigentums

Th. von Danwitz, O. Depenheuer, Ch. EngelBd. 1, Bericht zur Lage des Eigentums2002, XII, 319 Seiten. 978-3-540-43266-1

O. Depenheuer (Hrsg.)Bd. 2, Eigentum2005, IX, 167 Seiten. 978-3-540-23355-8

Schwäbisch Hall-Stiftung (Hrsg.)Bd. 3, Kultur des Eigentums2006, XV, 640 Seiten. 978-3-540-33951-9

D. BlasbergBd. 4, Inhalts- und Schrankenbestimmungendes Grundeigentums zum Schutzder natürlichen Lebensgrundlagen2008, XII, 222 Seiten. 978-3-540-77738-0

O. Depenheuer, K.-N. Peifer (Hrsg.)Bd. 5, Geistiges Eigentum: Schutzrechtoder Ausbeutungstitel?2008, VIII, 224 Seiten. 978-3-540-77749-6

C. RothBd. 6, Eigentum an Körperteilen2009, XVII, 207 Seiten. 978-3-540-88821-5

O. Depenheuer (Hrsg.)Bd. 7, Eigentumsverfassung und Finanzkrise2009, VII, 73 Seiten. 978-3-642-00229-8

O. Depenheuer, B. Möhring (Hrsg.)Bd. 8, Waldeigentum2010, XXI, 411 Seiten. 978-3-642-00231-1

K.-H. Paqué, O. Depenheuer (Hrsg.)Bd. 9, Einheit-Eigentum-Effizienz2012, VIII, 214 Seiten. 978-3-642-33113-8

O. Depenheuer (Hrsg.)Bd. 10, Staatssanierung durch Enteignung?2014, VIII, 104 Seiten. 978-3-642-45014-3

M. Voigtländer, O. Depenheuer (Hrsg.)Bd. 11, Wohneigentum2014, X, 250 Seiten. 978-3-642-54824-6

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Michael Voigtländer ∙ Otto Depenheuer(Hrsg.)

Wohneigentum

Herausforderungen und Perspektiven

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ISSN 1613-8686 ISBN 978-3-642-54824-6 ISBN 978-3-642-54825-3 (eBook)DOI 10.1007/978-3-642-54825-3Springer Heidelberg NewYork Dordrecht London

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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HerausgeberMichael VoigtländerInstitut der deutschen Wirtschaft KölnKölnDeutschland

Otto DepenheuerRechtswissenschaftliche FakultätSeminar für Staatsphilosophie und RechtspolitikUniversität zu KölnKölnDeutschland

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V

Vorwort

Wohnungspolitik war das beherrschende Thema der Wirtschaftspolitik aller Bun-desregierungen in den Nachkriegsjahren. Die Vernichtung von Wohnraum durch Kriegseinwirkungen sowie der Zustrom von Millionen von Flüchtlingen und Ver-triebenen führten zu einer dramatischen Wohnungsnot. Vordringliches Ziel jeder Politik musste daher in der Schaffung von Wohnraum bestehen, sei es durch staat-liche Wohnungsbaugesellschaften oder durch Stimulierung des privaten Wohnungs-baus. Bis in die 1970er Jahre hinein blieb der Wohnungsbau das bestimmende The-ma in der Wohnungspolitik. Nachdem die kriegsbedingten Knappheitsprobleme weitestgehend bewältigt waren, sank seit den 1980er Jahren die politische Bedeu-tung der Wohnungspolitik nach und nach. Kurzzeitig unterbrochen durch die Wie-dervereinigung Deutschlands verlor der Wohnungsbau seit Mitte der 1990er Jahre weiter an politischer und wirtschaftlicher Relevanz.

Mit dem Rückgang der Bautätigkeit einher ging auch ein Bedeutungsverlust der Wohnungspolitik als politischer Agenda. Signifikanter Indikator ist die organisa-tionsrechtliche Zuordnung wohnungspolitischer Fragen in den Kabinettsressorts. Seit es keinen klassischen Wohnungsbauminister mehr gibt, vagabundiert die Zu-ständigkeit für wohnungspolitische Themen. Waren sie bis 2013 hauptsächlich im Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung gebündelt, aber teilwei-se auch auf das Wirtschaftsministerium oder Umweltministerium verteilt, ressortie-ren sie seither im Umweltministerium.

Die erfolgreiche und erfreuliche Überwindung des allgemeinen Wohnungsman-gels rechtfertigt es jedoch nicht, Wohnungspolitik nicht mehr als zentrale Agenda der Wirtschafts und Sozialpolitik sowie der sie fundierenden wissenschaftlichen Forschung zu begreifen. Im Gegenteil: viele aktuelle politische und gesellschaft-liche Herausforderungen haben unmittelbare Auswirkungen auf den Wohnungs-markt. Sie sind vom Staat nicht allein, sondern nur in Kooperation mit den privaten Wohneigentümern lösbar. Zu diesen wohnungspolitischen Agenden der Gegenwart zählen insbesondere:

• DieKnappheit vonWohnraum in denMetropolen und begehrtenHochschul-standorten. Hier stellt sich die Herausforderung einer dauerhaften Gewährleis-tung von bezahlbarem Wohnraum.

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VI Vorwort

• AbwanderungeninsbesondereausländlichenGebietenalsFolgedesdemografi-schen Wandels stellen Städte und Gemeinden vor die Aufgabe, Wohnungsleer-stände zu vermeiden, um die Attraktivität der Kommunen zu erhalten.

• GleichfallsalsFolgederdemographischenEntwicklungmussderGebäudebe-stand sich an die neuen Bedürfnisse anpassen. Insbesondere die Barrierefreiheit steht insoweit im Vordergrund, um älteren Menschen ein möglichst langes Ver-weilen in ihren eigenen Wohnungen zu ermöglichen.

• AuchdieZieledesKlimaschutzeslassensichnurdurchumfangreicheenergeti-sche Sanierungen im Wohnungsbestand erreichen. Immerhin trägt der Gebäude-sektor zu gut einem Drittel zu den Kohlendioxid-Emissionen bei.

• Wohneigentum gewinnt zudem als elementarer Bestandteil der privatenVor-sorge an Bedeutung. Als Teil privater, langfristiger und auf Verlässlichkeit an-gewiesener Altersvorsorge bedarf es möglichst konsistenter und umfassender Konzepte, privaten Wohnraum in das System der nachgelagerten Besteuerung zu integrieren.

• DieFinanzkriseunddieEuro-KrisehabendieZentralbankenweltweitzudrasti-schen Zinsschritten getrieben, die wiederum spekulative Blasen auch auf Immo-bilienmärkten befördern können. Damit stellt sich die Aufgabe, in einem solchen Umfeld bewährte und nachhaltige Finanzierungsstrukturen für den Wohnungs-bau zu sichern.

Vorliegender Sammelband sucht diese und weitere Aspekte aus dem Blickwinkel unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen zu analysieren, Handlungsmög-lichkeiten zu diskutieren und derart fundierte Empfehlungen an die Politik zu for-mulieren. Ziel dieses Buches ist es, die wohnungspolitische Diskussion anzuregen und Anstöße für eine Weiterentwicklung günstiger Rahmenbedingungen zu geben.

Danken möchten wir an dieser Stelle den Autoren für die konstruktive und zu-verlässige Zusammenarbeit. Ein besonderer Dank gilt darüber hinaus Christoph Bi-schoff, Matthias Schmitz und Björn Seipelt für die Durchsicht und Bearbeitung der Manuskripte. Gedankt sei ferner der Deutschen Stiftung Eigentum für die Initiative zu diesem Projekt und seiner ideellen und materiellen Unterstützung.

Köln, Februar 2014 Michael Voigtländer Otto Depenheuer

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VII

Inhaltsverzeichnis

Teil I Grundlagen ......................................................................................... 1

§ 1 Übersicht zu einer Philosophie des Wohnens ......................................... 3Achim Hahn

Teil II Wohnungspolitik ............................................................................... 21

§ 2 Die Entwicklung der Wohnungseigentumspolitik .................................. 23Oscar Schneider

§ 3 Die Stabilität des deutschen Wohnungsmarktes .................................... 43Michael Voigtländer

Teil III Eigentümerstrukturen .................................................................... 59

§ 4 Wohneigentum in Deutschland: Ein Überblick ..................................... 61Michael Voigtländer

§ 5 Der Staat als Wohnungseigentümer ........................................................ 65Michael Voigtländer

§ 6 Wohnungsgenossenschaften ..................................................................... 77Theresia Theurl

Teil IV Recht ................................................................................................. 95

§ 7 Der rechtliche Status des Wohneigentums .............................................. 97Charlotte Kreuter-Kirchhof

Teil V Wirtschaftliche Bedeutung ............................................................... 127

§ 8 Altersvorsorge durch Wohneigentum ..................................................... 129Arne Leifels und Bernd Raffelhüschen

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VIII Inhaltsverzeichnis

§ 9 Wohneigentum und Sozialstaat ............................................................... 157Joachim Kirchner und Holger Cischinsky

§ 10 Die Besteuerung des Wohneigentums ................................................... 191 Ulrich van Suntum und Daniel Schultewolter

Teil VI Herausforderungen der Zukunft ................................................... 213

§ 11 Demografischer Wandel und die Zukunft des Wohneigentums ......... 215 Tobias Just

§ 12 Klimawandel und Wohneigentumspolitik ............................................ 237 Ralph Henger

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IX

Autorenverzeichnis

Dr. rer. pol. Holger Cischinsky, Dipl.-Volkswirt Mitarbeiter am Institut Wohnen und Umwelt (IWU) in Darmstadt. http://www.iwu.de/?id=112

Professor Dr. jur. Otto Depenheuer Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Staatslehre, Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie sowie Direktor des Seminars für Staatsphilosophie und Rechtspolitik der Universität zu Köln. Vorsitzender des wiss. Beirates der Deutschen Stiftung Eigentum. www.depenheuer.de

Professor Dr. rer. pol. Achim Hahn, Dipl.-Ingenieur Inhaber der Professur für Architekturtheorie und Architekturkritik am Institut für Baugeschichte, Architek-turtheorie und Denkmalpflege der Technischen Universität Dresden. http://tu-dres-den.de/die_tu_dresden/fakultaeten/fakultaet_architektur/ibad/architekturtheorie.

Dr. rer. pol. Ralph Henger, Senior Economist am Institut der deutschen Wirt-schaft Köln. http://www.iwkoeln.de/de/wissenschaft/expertenliste/detail/19539.

Professor Dr. rer. pol. Tobias Just Inhaber des Lehrstuhls für Immobilienwirtschaft der Universität Regensburg und wissenschaftlicher Leiter der IREBS Immobilien-akademie. http://www.irebs-immobilienakademie.de/irebs-immobilienakademie/organe/prof-dr-tobias-just/.

Dr. rer. pol. Joachim Kirchner, Dipl.-Soziologe, Dipl.-Volkswirt Mitarbeiter am Institut Wohnen und Umwelt (IWU) in Darmstadt. http://www.iwu.de/?id=133.

Dr. jur. habil. Privatdozentin Charlotte Kreuter-Kirchhof Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Völkerrecht der Rheinischen Friederich-Wilhelms-Universität Bonn. http://www.jura.uni-bonn.de/index.php?id=5541.

Arne Leifels, Dipl.-Volkswirt Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Volkswirtschaftslehre und Finanzwissenschaft I der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. http://www.fiwi1.uni-freiburg.de/ueber-uns/team/arne_leifels.shtml.

Professor Dr. rer. pol. Bernd Raffelhüschen Direktor des Instituts für Volkswirt-schaftslehre und Finanzwissenschaft I der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. http://www.fiwi1.uni-freiburg.de/ueber-uns/team/bernd_raffelhueschen.shtml.

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X Autorenverzeichnis

Dr. jur. utr. Oscar Schneider Bundesminister a. D. für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau. http://de.wikipedia.org/wiki/Oscar_Schneider.

Daniel Schultewolter, Dipl.-Volkswirt Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Siedlungs- und Wohnungswesen der Westfälischen Wilhelms-Universität Müns-ter. http://www.wiwi.uni-muenster.de/insiwo/organisation/17dasc.html.

Professor Dr. rer. soc. oec. Theurl, Theresia Inhaberin der Professur für Volks-wirtschaftslehre und Geschäftsführende Direktorin des Instituts für Genossen-schaftswesen der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. http://www.wiwi.uni-muenster.de/06/nd/organisation/theurl/.

Professor Dr. rer. oec. Ulrich van Suntum Direktor des Instituts für Siedlungs- und Wohnungswesen der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. http://www.wiwi.uni-muenster.de/insiwo/organisation/17ulvs.html.

Professor Dr. rer. pol. Michael Voigtländer Leiter des Kompetenzfeldes Immo-bilienökonomik am Institut der deutschen Wirtschaft Köln. http://www.iwkoeln.de/de/wissenschaft/expertenliste/detail/19581.

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Teil IGrundlagen

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§ 1 Übersicht zu einer Philosophie des Wohnens

Achim Hahn

M. Voigtländer, O. Depenheuer (Hrsg.), Wohneigentum, Bibliothek des Eigentums 11, DOI 10.1007/978-3-642-54825-3_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

A. Hahn ()Institut für Baugeschichte, Technische Universität Dresden, Dresden, DeutschlandE-Mail: [email protected]

Im Jahre 1951 hielt der Philosoph Martin Heidegger in Darmstadt vor Architekten und Baukünstlern einen Vortrag mit dem Titel: Bauen, Wohnen, Denken.1 Nie zuvor und nie danach ist die Architekturwelt so eindringlich auf das Phänomen des Woh-nens hingewiesen worden. Bis heute, so mein Eindruck, denkt man darüber nach, was Heidegger unter Wohnen verstanden wissen wollte. Mein Anliegen ist es, die Diskussion fortzusetzen und nach weiteren philosophischen Hinweisen zu forschen, die das menschliche Wohnen auf eine erhellende und weiterführende Weise deuten. Für Heidegger wurden in jener Epoche seines Schaffens die Sprachschöpfungen Friedrich Hölderlins zur Inspirationsquelle, der von einem „dichterischen Wohnen“ des Menschen sprach. Immerhin, so lässt sich mit Heidegger verbinden, kann und muss das Wohnen im Zusammenhang eines allgemeinmenschlichen Daseinsver-ständnisses und Weltgefühls bzw. Gestimmtseins gefasst werden. Alle Empirie des Wohnens – auch das Entwerfen des Architekten, das explizit das Wohnen bedenkt

1 1991 erschien eine Neuausgabe der Vorträge und Diskussionen durch Ulrich Conrads. Im Jahr 2000 gab Eduard Führ das Buch Bauen und Wohnen. Martin Heideggers Grundlegung einer Phä-nomenologie der Architektur (Münster u. a. 2000) heraus, dem eine CD mit dem Originalvortrag von Heidegger beigelegt war.

Inhaltsverzeichnis

I. Wohnen als Metapher des räumlichen In-der-Welt-seins ................................................... 4II. „Dichterisch wohnet der Mensch auf dieser Erde“ ............................................................. 7III. Das Maß des Wohnens ........................................................................................................ 10IV. Das häusliche Wohnen als Stiftung einer besonderen Stimmung ....................................... 15V. Ausblick auf den Stil eines „modernen“ Wohnens ............................................................. 18

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4 A. Hahn

–, nimmt schon, in der Regel unbewusst, Teil an einer bestimmten Weltsicht, ist Ausdruck einer unhinterfragten, vielmehr selbstverständlich vollzogenen Anschau-ung der Welt, für die das Wohnen etwas bedeutet. Aber Sehen und Anschauen als menschliche Griffe in die Welt sind selbst schon gestimmt. Diesen liegt ein be-stimmtes Lebensgefühl, ein „stimmungsmäßiges Innesein“ (Rothacker) zugrunde, das Lersch einmal den „endothymen Grund“ genannt hat.2 Ohne das Verständnis einer Grundbefindlichkeit des In-der-Welt-seins lässt sich auch über das Wohnen philosophisch wenig Substanzielles aussagen. Hier spielen Grundgestimmtheiten, die bei Heidegger als Existenziale gefasst werden, wie Heimatlosigkeit, Geworfen-heit oder Weltgeborgenheit hinein.3 Das Wohnen, insofern es auf das Sein, Dasein und den Aufenthalt des Menschen als Ganzes bezogen ist, zeigt den Menschen als „Wanderer“ in einem unwirtlichen Welt-Raum, der für ihn nicht geschaffen ist und den er darum erst „bewohnbar“ machen muss.4 Dieses Herstellen und dauerhafte Si-chern von Bewohnbarkeit bedarf indes eines Maßes, das sich der Mensch nur selbst geben kann. Diese Problematik besteht vor allem für eine Welt, für die offensicht-lich das technische Messen eine Alternative zum mittelalterlichen Maßverständnis, mâze, geworden ist. Der Welt und ihren Räumen eignet indes das Unheimliche und Abgründige, das der Mensch angstvoll flieht, dem er aber einen eigenen Bereich abgewinnt, um ein bleibendes Wohnen zu ermöglichen und die Welt auf diese Weise in Besitz zu nehmen.5 Im häuslichen intimen Wohnen, worin sich vor allem das mo-derne Leben einzurichten wünscht, zeigt sich dann aber eine andere Abgründigkeit, die im Draußen kanalisiert, unterdrückt oder abgelenkt ist: nämlich die erregbare „Natur des Menschen“, die in ihren Temperamenten, Affekten und Emotionen ent-deckt und durch Erzeugen einer gedämpften und behaglichen Stimmung in Zaum zu halten versucht wird.

I. Wohnen als Metapher des räumlichen In-der-Welt-seins

Vor allem in Kontexten religiöser Lebensformen wird das Wohnen als Bild des Auf-enthalts des Menschen auf der Erde und damit in Bezug auf die Endlichkeit des Daseins und das dafür rechte Maß gebraucht. Mythen sind hier allgemeine Voraus-setzungen des Daseins.6 Die Texte des Alten Testaments deuten das Wohnen auf

2 Vgl. Philipp Lersch, Der Aufbau des Charakters. Leipzig 1938, S. 37 ff.3 Franz Josef Wetz beschreibt die „Grunderfahrung der antiken Griechen“ folgendermaßen: „Die Menschen gehören als leiblich-seelisch-geistige Einheit in das Ganze der göttlichen Natur hinein, die sie als Stätte des Behagens und der Geborgenheit erfahren.“ In: Franz Josef Wetz, Hans Jonas. Eine Einführung. Wiesbaden o. J., S. 28.4 Für Jürgen Mittelstraß bspw. ist Kultur „die Welt bewohnbar gemacht“, in: Jürgen Mittelstraß, Bauen als Kulturleistung. In: Beton- und Stahlbau, H. 1/2001, S. 53–59.5 Vgl. Philipp Dessauer, Besitzen und Wohnen. Frankfurt/M. 1946.6 Vgl. auch die Nachzeichnung z. B. des babylonischen Weltschöpfungsepos durch Thomas Rentsch. Dabei beschreibt jeder Mythos bzw. jede kosmische Ordnung einen Welthorizont und eine Entwurfspraxis, in welche das Bauen und Wohnen, das gesamte Entwerfen und Gestalten

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5§ 1 Übersicht zu einer Philosophie des Wohnens

zwei Weisen. Dazu unterscheidet das Hebräische zwischen jsb und skn. Das Neben-einander der Wohnvorstellungen bringt die beiden Aspekte göttlicher Präsenz, die des „thronenden“ ( jsb) und des „dynamisch gegenwärtigen“ ( skn) in JHWH (Jah-we) zusammen. Damit kommt die Abhängigkeit des menschlichen Wohnens zum Ausdruck. Der Bedeutungskern im jsb kombiniert den Sinn von Ortsgebundenheit mit Ruhestellung. „Über das Bedeutungspaar ‚Sich-setzen‘/‚Sitzen‘ hinaus führt als weitere Abstraktionsstufe die Sinnverbindung ‚Sich-Niederlassen‘/‚Wohnen‘ bzw. ‚Bleiben‘.“7 Der Aspekt des „Bleibens“ rückt in den Mittelpunkt, wenn vom Woh-nen in der Zukunft die Rede ist. Im Vorblick steht hier das „Sich-Niederlassen“ im künftigen Erbbesitz. Dabei geht es um ein „Wohnen in Sicherheit“, für welches Gott zuvor Ruhe vor den Feinden geschaffen hat. Menschliches Wohnen hängt von der Gewähr JHWHs ab. Außerhalb dieser käme es einem „Nicht-Wohnen“, d. h. künf-tiger Nicht-Existenz gleich. Skn bedeutet ein Wohnen, bei dem der Akzent auf dem angstfreien Niederlassen ohne bleibende, d. h. auch besitzrechtliche Ortsbindung liegt. Es bezeichnet die offene Orientierung hin zu einer noch nicht definierten, zukünftigen Lebensform. Im Vordergrund steht nicht die lokale Fixierung oder ter-ritoriale Verhaftung, sondern die dynamische Gegenwart im Vorblick auf ein kom-mendes Geschütztsein. Obwohl im außerbiblischen Gebrauch selten auftauchend, erfährt der Ausdruck χατασχηνόω [kataskenoo]8 im Griechischen des Neuen Tes-taments eine auffallend häufige Verwendung in der vorrangigen Bedeutung eines längeren oder dauernden Verweilens, eines Wohnens also, das Bestand hat. Darin wirkt der alttestamentliche Sprachgebrauch nach, nämlich ein Sich-Niederlassen, um einstweilen zu bleiben.9

Gegenüber dem kosmischen Weltvertrauen der Griechen,10 das dem irdischen Dasein eine nachvollziehbare Ordnung vorzeichnet, bestehen für das Selbstver-ständnis der Gnosis radikal andere Verhältnisse, Sein und Dasein in der Welt zu deuten. Die Mandäer, eine gnostische Täufersekte, die in entlegenen ostjordani-schen Fluss- und Sumpfgebieten siedelte, hatten sich in ihren Mythen eine eige-ne räumliche Vorstellungswelt geschaffen, die Hans Jonas in seinem Buch Gnosis und spätantiker Geist (zuerst 1934) untersucht hat.11 Für die mandäistische Vor-

seinen bleibenden Bezugspunkt gewinnt. Thomas Rentsch, Entwurf und Horizontbildung aus phi-losophischer Sicht. In: AUSDRUCK UND GEBRAUCH, H. 6/2005, S. 73–84.7 G. Johannes Botterweck, Helmer Ringgren (Hg.), Theologisches Wörterbuch zum Alten Testa-ment, Band III, S. 1021.8 Engl. Übersetzung: „to pitch one’s tent, to fix one’s abode, to dwell“, vgl. King James Version Greek Lexicon: www.biblestudytools.com/lexicons/greek/kjv [Stand 18.01.2010].9 Z.B.:GleichnisvomSenfkorn, ausdemeinBaumerwächst: poieî κλάδουςμεγάλους,ώστεδύνασθαιυποτηνσκιαναυτουταπετεινα τουουρανουκατασκηνουν […dassdieVögelunterdem Himmel unter seinem Schatten wohnen können.] (Mk 4, 32). Vgl. Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament. Begr. von G. Kittel, hg. von G. Friedrich,BandVII:Σ.Stuttgartu.a.1990,S. 389 ff., hier S. 391.10 Vgl. Anm. 3.11 Hans Jonas, Gnosis und spätantiker Geist. Erster Teil: Die mythologische Gnosis. Göttingen, 3. Aufl., 1964. Jonas wurde mit dieser Arbeit in Marburg von Heidegger und dem Religionsphilo-sophen Rudolf Bultmann promoviert.

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6 A. Hahn

stellungswelt hatten die Welt, der Raum und seine Grenzen sowie das Wohnen eine gewisse Bedeutung. Jonas zitiert aus der „Heiligen Schrift“ der Mandäer Ginzā (mandäisch: „Schatz“) in der Übersetzung von Mark Lidzbarski (Göttingen 1925): „Nicht einzelne Größen im Raume der Welt – der Raum selbst, in dem das Leben sich findet, ist als solcher eine dämonische Macht, und die ‚Dämonen‘ sind ebenso wohl Personal- wie Raum-Begriffe. Ihre Überwindung ist daher nichts anderes als ihre Durchquerung, die mit der räumlichen Grenze auch ihre Macht durchbricht und aus der Magie ihrer Umfassung herausführt. Darum sagt das erlösende Leben von sich, daß es ‚die Welten durchwanderte‘: ‚Die Welten ( Äonen) alle will ich durch-ziehn, die Mysterien alle erschließen‘.“12

Es ist hier vor allem die Idee von Weg und Wanderung, die dem Aufenthalt des Menschen in der Welt eine spezifische Weise des Im-Raum-seins, „des mensch-lichen Inseins“ (Jonas), bescheinigt: die Bewegung. Der Kosmos der Mandäer be-steht aus vielen fremden und finsteren Welten, die, eine nach der anderen, durch-gangen werden müssen, denen die eine jenseitige lichte Welt gegenübersteht. Auch dies wird räumlich gedacht: Jene vom Licht durchflutete Welt ist die Welt außerhalb der irdischen. „Wie lange halte ich es schon aus und wohne in der Welt!“,13 zitiert Jonas und sieht darin die Grundstimmung der Weltangst als „Raum-Zeit-Angst“ formuliert. Jonas spricht vom Panischen dieses Erlebnisses, wobei sein und wohnen offensichtlich identisch aufgefasst werden: „In jener Welt der (Finsternis) wohnte ich tausendMyriadenJahre,undniemandwußtevonmir,daß ichdortwar. […]Jahre um Jahre und Generationen um Generationen war ich da, und sie wußten um mich nicht, daß ich da in ihrer Welt wohnte.“14 Die Welt oder passender das Weltge-häuse ist räumlich angeschaut: Es ist geschlossen. In diese Welt gelangt man hinein wie auch wieder nach außen hinaus. „Der Aufenthalt ‚in der Welt‘ ist ein ‚Woh-nen‘“, so der Logos der Gnosis. Damit ist sowohl das räumlich Umgrenzte als auch das Austauschbare bezeichnet. Die Welt als ganze ist „Wohnung“ oder „Haus“, wo-bei Wohnen und Haus unterschieden werden, je ob es sich um die irdische oder die jenseitige Welt handelt. Entsprechend ist das Haus finster oder licht. Die wie mir scheint philosophisch bedeutsamste Herausforderung steckt in der zweiseiti-gen Bedeutung des Wohnens15 selbst. Der Mandäismus unterscheidet zwischen der episodischen Zufälligkeit und der grundlegenden Bestimmung des Wohnens: „Im Wohnen liegt die doppelte Beziehung: das nur Zeitweilige, nur Ansässigsein, aus Wahl oder Schicksal (auch Vorgeschichte) zustandegekommen und grundsätzlich wieder lösbar – eine Wohnung kann man aufgeben, verlassen, gegen eine andere vertauschen, ja, man kann sie hinter sich zugrundegehen lassen –, und zugleich das Konstitutive, das der Ort des Daseins für dasselbe hat, sein Angewiesensein auf ihn: das Leben muß wohnen und ist seinem Wo zugehörig; die Hingehörigkeit ist ihm

12 Jonas, Gnosis, S. 99.13 Ebd., S. 100.14 Ebd.15 Vgl. auch Achim Hahn, Architekturtheorie. Wohnen, Entwerfen, Bauen. Wien 2008. Dort habe ich zwischen der „Grundsituation des Wohnens“ und dem „So-Wohnen“ unterschieden, S. 162–171.

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7§ 1 Übersicht zu einer Philosophie des Wohnens

wesentlich, es wird von seinem Wo bestimmt – d. h. es selber ist ein ursprünglich raumhaftes Phänomen und lebt aus seinem Raume her. Daher kann es nur Wohnung mit Wohnung vertauschen und auch das außerweltliche Dasein ist Wohnen – in den Wohnsitzen des Lichts und des Lebens, die eine Unermeßlichkeit von umzirkten Örtern jenseits der Welt sind.“16

Das Zeitweilige und das Konstitutive, dies sind die beiden Gesichtspunkte, unter denen das gnostische Denken das Wohnen betrachtet. Die „Gefahr des Wohnens“ wird darin gesehen, dass sich das Leben in der Welt ansiedelt und im irdischen Haus sich festzusetzen versucht. Das „Bleiben“ ist nicht gewünscht, vielmehr die Welt nur „die Herberge“ ist, in der man befristet weilt: „‚die Herberge hüten‘ ist formel-haft für: in der Welt (im Körper) sein“.17 Jonas weist in diesem Zusammenhang auf die Verbindung bzw. Gleichsetzung von Welt und Körper hin. Wie der Körper das Leben „behaust“, so die Welt das in ihr eingeschlossene Leben. „Mehr noch ist es ‚das Zelt‘, vorzüglich aber das ‚Gewand‘, das den Körper als flüchtige Weltform der Seele kennzeichnet. Das Gewand ‚zieht‘ man ‚an‘ und zieht man wieder aus, man vertauscht das eine mit dem anderen, das stoffliche mit dem Lichtgewand. Denn auch im jenseitigen Dasein bedarf das Leben eines ‚Gewandes‘. Darin bekun-det sich, daß zum Leben als solchen ein räumliches Worin und eine umschließende Form gegen diese gehört.“18 In diesen Bildern, so Jonas, ist vor allem auf die impli-ziten und expliziten Fragen zu achten, da diese, im Gegensatz zu den meist konst-ruierten Antworten, elementar sind, da aus dem „Zustand des Daseins gegeben“.19

II. „Dichterisch wohnet der Mensch auf dieser Erde“20

Heideggers Darmstädter Vortrag von 1951 steht in einer Reihe weiterer Vorträge und Aufsätze, die das Thema des Wohnens zum Inhalt haben. Zwar ist bereits in Sein und Zeit (1927), d. h. vor der Zeit der „Kehre“ und der intensiven Beschäf-tigung mit dem Werk Hölderlins, vom Wohnen die Rede, neu ist aber der Bezug auf Maß und Messen. In Sein und Zeit taucht das Wohnen bei der Erläuterung von „In-Sein“21 auf. Danach meinen „in“ und „inan-“ ursprünglich „wohnen, habitare, sich aufhalten“. „Sein“, als Existenzial („ich bin“) verstanden, bedeutet „wohnen bei […]vertraut seinmit“.SodieknappenAusführungenHeideggers in seinemfrühen Hauptwerk.

16 Jonas, Gnosis, S. 101.17 Ebd.18 Jonas, Gnosis, S. 102.19 Ebd.20 Im Folgenden verwende ich Passagen aus meinem Buch Architekturtheorie. Wohnen, Entwer-fen, Bauen. Wien 2008.21 Martin Heidegger, Sein und Zeit. Tübingen, 15. Aufl., 1984, S. 54.

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Mit dem Werk des Dichters Friedrich Hölderlin (1770–1843) beschäftigt sich Heidegger spätestens seit den Dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts.22 Vor allem in Seminaren und Vorträgen werden Gedichte Hölderlins zum Ausgangspunkt von Interpretationen. 1951, im Jahr des Darmstädter Gesprächs über Mensch und Raum, erscheinen Heideggers Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung in zweiter Auflage. Hölderlin sei der „Dichter des Dichters“, bei ihm lasse sich das „Wesentliche“ des Wesens der Dichtung finden. Der Aufsatz „Hölderlin und das Wesen der Dichtung“ zeigt, warum Hölderlin und das Dichten für die Phase der „Kehre“ in Heideggers Denken so bedeutsam wurden. Darin fragt er: Wer ist es aber, der im Fluss der Zeit ein Bleibendes fasst und es im Wort zum Stehen bringt?23 Der Dichter stiftet durch das Wort das Bleibende. Das Bleibende ist nichts was immer schon vorhan-den wäre. Vielmehr muss „gerade das Bleibende gegen den Fortriß zum Stehen gebracht werden; das Einfache muß der Verwirrung abgerungen, das Maß dem Maßlosen vorgesetzt werden“.24 An dieser Stelle begegnet uns im Zusammenhang mit dem Dichten (und Bleiben) das Maß, welches dem Maßlosen entgegen gesetzt werden soll. Dazu müssen, so Heidegger, die Götter ursprünglich genannt werden. Durch das Nennen der Götter stellt sich der Mensch unter ihren Anspruch. Die Be-deutung der Dichtung liegt im Aussprechen des wesentlichen Wortes: „Dichtung istworthafteStiftungdesSeins.[…]DasEinfachelässtsichnieunmittelbarausdem Verworrenen aufgreifen. Das Maß liegt nicht im Maßlosen“.25 Darauf folgt eine weitere Bestimmung der Aufgabe der Dichtung für das Bemessen der Dinge: „Weil aber Sein und Wesen der Dinge nie errechnet und aus dem Vorhandenen ab-geleitet werden können, müssen sie frei geschaffen, gesetzt und geschenkt werden. Solche freie Schenkung ist Stiftung“.26 Auch das Dasein des Menschen wird so auf einen festen Grund gestellt. In diese feste Gründung spielt nun ebenfalls das Wesen des menschlichen Wohnens hinein. „Voll Verdienst, doch dichterisch wohnet/Der Mensch auf dieser Erde“, heißt es bei Hölderlin.27 Das Wohnen, oder auch das Da-sein, sei in seinem Grund „dichterisch“. Das dichterische Wohnen ist kein Verdienst des Menschen, sondern ein Geschenk.

Derebenfalls1951vonHeideggergehalteneVortrag„…dichterischwohnetderMensch…“28 wendet sich zunächst gegen die gewöhnliche Vorstellung, das Woh-nen bedeute nur eine Verhaltungsweise des Menschen neben anderen29 bzw. das

22 Nach einer Bemerkung von Walter Biemel hat Heidegger in den Jahren 1933/34 zum ersten Mal den Dichter Hölderlin zum Thema seiner Vorlesungen gemacht. Walter Biemel, Zu Heidegger (Interview). In: Concordia. Internationale Zeitschrift für Philosophie. Aachen 1989, S. 2–14, hier S. 10.23 Martin Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung. Frankfurt/M., 2. Aufl., 1951, S. 38.24 Ebd.25 Ebd.26 Ebd.27 Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe. Band I, hg. von Michael Knaupp. Darmstadt 1998, S. 908.28 Martin Heidegger,„…dichterischwohnetderMensch…“(1951).In:Ders.,VorträgeundAuf-sätze. Pfullingen, 6. Aufl., 1990, S. 181–198.29 Heidegger, „dichterisch“, S. 183.

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9§ 1 Übersicht zu einer Philosophie des Wohnens

Innehaben einer Wohnung.30 Bei der Suche nach dem Wesen der Dichtung, wobei Dichten zunächst als „Wohnenlassen“ gedeutet ist, gelangt Heidegger ins Wesen des Wohnens. Wieder ist es der Zuspruch der Sprache, der den Weg zur Bedeutung dieses „Wesens“ öffnet. Bei seinem Wohnen baut der Mensch die der Pflege be-dürfenden Dinge der Erde an und errichtet Bauwerke. Doch dieses Bauen füllt das Wesen des Wohnens nicht aus. Das Bauen sei eine „Wesensfolge des Wohnens, aber nicht sein Grund oder gar seine Gründung“.31 Heidegger befindet, dass der Mensch das Wohnen „vermögen“ muss. Dies führt ihn zu einem weiteren Verständ-nis von Bauen. Das Dichten erweist sich jetzt als das „anfängliche Bauen“, insofern es dem menschlichen Wohnen erst sein Maß gibt: „Das Dichten erbaut das Wesen des Wohnens“.32 Das Maß, welches sich das Dichten nimmt, wird im Durchmessen der Dimension zwischen Himmel und Erde gefunden. Der Dichter nimmt dieses Maß, indem er dichtet. „Das Dichten ist diese Maß-Nahme und zwar für das Woh-nen des Menschen.“33 Somit wird das Dichten zum Grundvermögen des Wohnens.34 Das Undichterische des Wohnens, nämlich nicht menschlich zu wohnen, liegt im Unvermögen des Menschen, das Maß zu nehmen.

Das Zeitwort Wohnen, so Heidegger im Vortrag „Hebel – der Hausfreund“ von 1957, „nennt uns die Weise, nach der die Menschen auf der Erde unter dem Himmel die Wanderung von der Geburt bis in den Tod vollbringen“.35 Diese Wanderung sei der „Hauptzug des Wohnens“ als des „Aufenthalts zwischen Erde und Him-mel, zwischen Geburt und Tod, zwischen Freud und Schmerz, zwischen Werk und Wort“.36 Die Welt ist das Haus, das der Mensch „als der Sterbliche“ bewohnt. Das menschliche Wohnen, so führt Heidegger aus, stehe zwischen Technik und Dich-tung. Die „technisch beherrschbare Natur der Wissenschaft“ hat sich mit rasender Geschwindigkeit von der „natürlichen Natur des gewohnten, gleichfalls geschicht-lich bestimmten Wohnens des Menschen“37 entfernt. Vom ursprünglicheren Woh-nen des Menschen her gedacht, sei das „bloße Leben, das man lebt, noch kein Woh-nen“.38 Aber der Dichter vermag das Maß des Wohnens zu benennen, insofern er es von den Göttern sich nimmt. In einem späteren Text von 1970 kommt Heidegger noch einmal auf „Das Wohnen des Menschen“ zurück. Der Dichter kann nur das-jenige als Maß stiften, was er zuvor von den Himmlischen empfangen hat. Die Himmlischen und die Sterblichen gehören zusammen, so Heidegger den Dichter Hölderlin deutend, die einen geben das Maß, die anderen nehmen es sich darauf-hin.Denn derMensch „wohnet dichterisch […] auf dieser Erde“.Damit ist ein

30 Ebd., S. 182.31 Ebd., S. 185.32 Ebd., S. 196.33 Ebd., S. 192.34 Ebd., S. 197.35 Martin Heidegger, Hebel – der Hausfreund (1957). In: Ders., Aus der Erfahrung des Denkens. GA Bd. 13. Frankfurt/M., 2. Aufl., 2002, S. 138 f.36 Heidegger, Hebel, S. 139.37 Ebd., S. 148.38 Ebd., S. 147.

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Maß angesprochen: „Die irdisch Dichtenden sind nur die Maß-Nehmenden einer himmlischen Maßgabe“.39 Die Menschen, insofern sie sich allein „technisch“ zum Wohnen verhalten, können sich selbst kein Maß geben, insofern „das Maß für den nur noch rechnenden Menschen das Quantum“ ist.40 Das Maß des Wohnens soll nicht verwechselt werden mit dem Wohnungsmaß!

Es ist für unseren Zusammenhang von einigem Interesse, schaut man sich die veröffentlichten Protokolle der Aussprache auf dem Darmstädter Gespräch an, dass von den anwesenden Architekten der Begriff des Maßes nicht thematisiert wur-de.41 Dies erscheint umso verwunderlicher, als wir es doch beim Maß (Proportion, Symmetrie usw.) mit einem Schlüsselbegriff der Architektur und des Bauens zu tun haben. Einzig der Zusammenhang von Wohnen und Bauen, von Heidegger sehr eindringlich und provokant am Leitfaden der Wortbedeutungsgeschichte ausgelegt und entfaltet, findet Beachtung. Aber die Verknüpfung von Wohnen und Bauen mit dem Maßdenken wird ignoriert.

III. Das Maß des Wohnens

Schon bei Aristoteles, dann offensichtlicher bei Vitruv wird unter dem Maß etwas genommen, was man von außen an eine Sache heranführt. Der Maßstab, insofern wir ihn wie etwa einen Zollstock als ein Messgerät von einer bestimmten Länge verstehen wollen, ist ein entsprechendes Gerät, mit dessen Hilfe ein quantitatives Maß an etwas Drittem, passender Weise einer Säulenstärke, abgenommen werden kann. Diesen Umgang mit solchem Gerät nennen wir „messen“.

Hölderlindichtetso:„derMenschmissetsich[…]mitderGottheit“.Diesesolldas Maß sein, mit dem der Mensch sein Wohnen „ausmisst“. Heidegger interpre-tiert: „Das Vermessen ermißt das Zwischen, das beide, Himmel und Erde, einander zubringt. Dieses Vermessen hat sein eigenes métron und deshalb seine eigene Me-trik“.42 Offensichtlich kommt es entscheidend auf dieses Vermessen an. Dazu wird kein Zollstock oder anderes Messgerät benötigt. Das Wohnen selbst, insofern es dichterisch ist, ist ein Vermessen. Heidegger sagt: „Das Vermessen ist das Dichte-rische des Wohnens. Dichten ist ein Messen“.43 Zunächst nimmt sich das Dichten das Maß, an dem etwas überhaupt gemessen werden soll. Hölderlin nennt die Gott-heit als Maß für das menschliche Wohnen. Verwirrend ist hier allerdings Hölderlins Feststellung, dass die Gottheit unbekannt sei, dennoch aber das Maß für das Woh-nen sein soll. Obwohl Gott unbekannt ist, kann er dennoch offenbar sein „wie der Himmel“. In dieser Offenbarkeit erscheint das Maß, woran der Mensch sich misst.

39 Martin Heidegger, Das Wohnen des Menschen (1970). In: Ders., Aus der Erfahrung des Den-kens. GA Bd. 13. Frankfurt/M., 2. Aufl., 2002, S. 215.40 Heidegger, Wohnen, S. 219.41 Vgl. Anm. 1.42 Heidegger, „dichterisch“, S. 190.43 Ebd.

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Heidegger spricht deshalb von einem seltsamen, geheimnisvollen Maß, insofern wir daran gewöhnt sind, unter dem Messen uns eine wissenschaftliche Beschäfti-gung mit Werkzeuggebrauch und Messtechnik vorzustellen. Das Maßnehmen, wie es Heidegger bei Hölderlin deutet, ist indes ein vernehmendes Hören, dessen Mit-telstellung der Dichter einnimmt. Dieser steht nämlich gleichsam als Bote zwischen Erde und Himmel, zwischen dem Menschen und der Gottheit. „Denn der Mensch wohnt, indem er das ‚auf der Erde‘ und das ‚unter dem Himmel‘ durchmisst.“44 Das Dichten sei also ein „ausgezeichnetes Messen“. Insofern kann das Dichten auch das „anfängliche Bauen“ genannt werden, da es das Maß nimmt „für die Architektonik, für das Baugefüge des Wohnens“.45 Aber Heidegger nennt Dichten auch „Anden-ken“. Die Worte des Dichters machen auf das Bleibende aufmerksam. Sie stiften, was bleibt: „Das stiftende Wohnen des Dichters weist und weiht dem dichterischen Wohnen der Erdensöhne den Grund“.46 In diesen Weisen wird das Maß gedacht.

Wollte Heidegger noch vor die Metaphysik zurückgehen, um das Wohnen aus der Seinsvergessenheit herauszuheben, kritisiert E. Lévinas gerade den Primat der Ontologie vor der Metaphysik, die er als Ethik auslegt. Er denkt das Wohnen vom Verhältnis des Ich zum Anderen, wobei er zwischen der Andersheit der Welt und dem absolut Anderen unterscheidet. In einer bewohnten Welt, in der ich mich auf-halte,„fälltdieAndersheit[…]untermeineVermögen“.47 Im Gegensatz zu Heideg-gers Interpretation des Wohnens als Aufenthalt bei den Dingen, setzt Lévinas das „Geschehen des Wohnens ( habitation)“, das allerdings vom Wissen des Menschen getrennt werden muss. Wohnen und Wissen haben kein gemeinsames Maß. Denn jedes Wissen, jede Vorstellung der Welt, der Gegenstände und Orte sind nachträg-lichzurSituationdesWohnens:„JedeBetrachtungvonGegenständen[…][ereig-net] sich im Ausgang von einer Bleibe ( demeur)“.48 Der Mensch findet sich nicht in die Welt geworfen und verlassen wieder, wie Heidegger behauptet, denn die Bleibe liegt gewissermaßen noch „vor“ der Welt. Die primäre Veranschaulichung der Welt erfährt das Subjekt also durch das Wohnen, durch die Existenz von der Intimität und Isolierung eines Hauses aus, die die menschliche Subjektivität als Sammlung und Bei-sich-bleiben erweckt und sich „als Existenz in einer Bleibe“ konkretisiert49: „Von nun an bedeutet Existieren Bleiben“.50

44 Heidegger, „dichterisch“, S. 192.45 Ebd., S. 196.46 Heidegger, Erläuterungen, S. 143.47 Emmanuel Lévinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität. München 1987, S. 42.48 Lévinas, Totalität, S. 218. Demeurer heißt sowohl „bleiben“ als auch „wohnen“. Bollnow weist darauf hin, dass „der französische Begriff der ’demeure‘ [„Heim“] stärker das zähe Verweilen am Ort im Gegensatz zum widerstandslosen Fortgetriebenwerden im Fluß der Zeit [betont].“ Otto F. Bollnow, Neue Geborgenheit. Stuttgart/Köln 1955, S. 165.49 Lévinas, Totalität, S. 220.50 Ebd., S. 223.

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Der Philosoph Werner Marx51 reagiert auf die bei Heidegger aufgelassene Kluft, insofern dieser, nachdem das Dichterische als leitend für das Errichten von Bau-ten aufgezeigt wurde, es jedoch versäumt habe, zu sagen, wie der Weg für den Menschen, der kein Dichter ist, zu gehen sei, damit er das jetzige undichterische Wohnen überwinde.52 Diese Lücke nun selbst schließend, stellt Marx dem „dichte-rischen Wohnen“ ein „Wohnen in den Maßen“ gegenüber. Marx entwickelt, anders als Heidegger, ein „nichtmetaphysisches“, d. h. für den sterblichen Menschen er-fahrbares Maß, insofern er ein Maß-nehmen denkt, in welchem der „Maßnehmende ‚wohnt‘“.53 Dafür stehe paradigmatisch das Maß des Heilenden, welches sich im Bereich des „Mitmenschlichen“ ereignet, da die mitweltlichen sozialen Erfahrun-gen des Liebens, des Mitleidens und des Anerkennens des Anderen ein „Wohnen“ in jenen Maßen bedeutet. Dieses Maß wohnt als Gestimmtheit in dem Menschen, der jene maßgebenden mitmenschlichen Erfahrungen gemacht hat. Marx spricht deshalb vom „‚Wohnen‘ in den Maßen“.54 Es ist der Tod, der die Menschen über-haupt für die Erfahrung von Maßen öffnet, in denen zu wohnen sie freilich erst noch lernen müssen.55

Hatte Marx das ethische Maß für das Wohnen des Menschen stärker an die mit-weltliche Erfahrung binden wollen, so erinnert Walter Biemel daran, dass Heideg-ger im „Brief über den ‚Humanismus‘“ den von Heraklit gebrauchten griechischen Ausdruck ethos mit Aufenthalt bzw. „Ort des Wohnens“ übersetzt habe. Der voll-ständige Spruch heißt in Heideggers Übersetzung: „der Mensch wohnt, insofern er Mensch ist, in der Nähe Gottes“.56 Damit sei für Heidegger das Thema der Ethik die Frage nach dem „rechten Wohnen“. Die Bedeutung von Wohnen führe in den Bereich, den Heidegger für das Sein vorbehalten habe: das Offene, die Nähe, die Lichtung. Der dabei mitgedachte Aufenthalt des Menschen inmitten des Seienden („Geviert“) umfasse eben nicht nur das Mitmenschliche, sondern ebenso die Natur und das Göttliche. Um das eigentliche Wohnen des Menschen zu ermöglichen, dür-fe das Sein nicht vom Seienden her gedeutet werden.57 Biemel erklärt das Wohnen als den Aufenthalt des Menschen, welchen Heidegger auch als die Nähe zum Sein gedacht habe. Dabei hat Heidegger ausdrücklich betont, dass der Mensch als der Existierende, der in der Lichtung des „Da“ wohnt, es heute nicht vermag, „dieses Wohnen eigens zu erfahren und zu übernehmen“.58 Nähe meint Vertrautheit, so dass das Wohnen zu denken bedeutet, nach der Vertrautheit des Menschen zum Mit-menschen, zur Natur, zum Göttlichen und schließlich nach der Vertrautheit zu sich

51 Werner Marx, „Gibt es auf Erden ein Maß?“. Frankfurt/M. 1986.52 Marx, „Maß“, S. 152.53 Ebd., S. 60.54 Ebd., S. 68.55 Ebd., S. 116.56 Martin Heidegger, Brief über den ‚Humanismus‘ (1946/47). In: Ders., Wegmarken. GA Bd. 9. Frankfurt/M. 1976, S. 354 f.57 Biemel, Heidegger, S. 12.58 Heidegger, Brief, S. 337.

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selbst59 zu fragen. Biemel interpretiert das Wohnen als Entsprechung des Ethos, das „von dem das menschliche Sein tragenden Bezug zur Lichtung“60 auszugehen hat. Der dem Wesen des Wohnens gerecht werdende Aufenthalt entspricht dann dem Verhalten des Menschen zum Seienden in der Erfahrung der Nähe. Mit dem Gewinn des richtigen Wohnens sei auch der rechte Bezug zum „Geviert“ verwirklicht, so dass sich die klassischen ethischen Fragen nicht mehr stellten.61 Die andauernde Su-che nach diesem Aufenthalt, dem „rechten Wohnen“, verweist indes den Menschen weiterhin in die Heimatlosigkeit.62

Otto Pöggeler nimmt in seinem Aufsatz „Gibt es auf Erden ein Maß?“ den Ge-dankenkontext Hölderlin-Heidegger auf, indem er zunächst auf die Weiterführun-gen von Marx hinweist: „Diese Weiterführung geschieht von Hölderlins Frage nach dem Maß her, doch so, daß das Wohnen, von dem Hölderlin spricht, nicht nur ein dichterisches sein soll, sondern auch vom alltäglichen Leben aus gefunden und zum Ethos geführt werden soll.“63 Pöggeler geht dann aber wieder zurück auf den ur-sprünglichen Hölderlin-Text und findet eine andere Interpretation des Maßes als Heidegger: „Der Mensch muß auf der Erde aufrecht stehen, wie die Kirche mit ihrem Turm, der in den Abgrund der Bläue ragt. Die himmlischen Gestalten sind sein Maß, ein Maß nämlich im Sinne der alten Tugend, in bestimmten Situatio-nen die Mitte zu treffen, die ‚mâze‘ nach dem mittelhochdeutschen Ausdruck. Ein bleibendes Maß aber gibt es nicht, denn gerade der höchste Gott ist der Donnerer, der jede Ausgewogenheit auch wieder zerstört.“64 Heidegger und Marx stimmten darin überein, so Pöggeler, dass der Ausdruck „ein Maß“ vom Maßnehmen her zu verstehen ist. Sowohl Hölderlin wie Heidegger behaupten, dass es dieses Maß auf Erden nicht gebe. Anders freilich Marx: Für ihn kann dieses Maß im alltäglichen Leben gefunden werden. So mag es zunächst einmal „offen“ bleiben, inwiefern beim menschlichen Wohnen überhaupt so etwas wie Maß und Mitte intendiert sind.

Auch Gadamer hat sich über eine kritische Lektüre Marxens mit der Thema-tik des Wohnens und seines Maßes auseinandergesetzt.65 Er interpretiert Heideg-gers Weigerung, ein gemessenes Wohnen anzuerkennen, nicht so sehr von jenen mitweltlichen Tugenden her, die Marx aufzählt. Entscheidender ist, dass wir das Wohnen nicht mehr denken können. Unser Denken heute ist von einer zunehmen-den Berechenbarkeit in Beschlag genommen: „Es geht nicht um das Wohnen als solches, sondern darum, Wohnen wieder ‚denkbar‘ zu machen, d. h. ihm seinen

59 Walter Biemel, Maß und Maßlosigkeit der Sterblichen. In: Walter Brüstle, Ludwig Siep (Hg.), Sterblichkeitserfahrung und Ethikbegründung. Essen 1988, S. 33.60 Biemel, Maß, S. 34.61 Biemel, Heidegger, S. 12.62 Biemel, Maß, S. 35.63 Otto Pöggeler, Gibt es auf Erden ein Maß? In: Walter Brüstle, Ludwig Siep (Hg.), Sterblich-keitserfahrung und Ethikbegründung. Essen 1988, S. 138.64 Pöggeler, Maß, S. 142.65 So ausführlich in Gadamers Rezension zu Marxens „Gibt es auf Erden ein Maß?“: Hans-Georg Gadamer, „Gibt es auf Erden ein Maß?“ (W. Marx). In: Ders., Neuere Philosophie I: Hegel, Hus-serl, Heidegger. GW Bd. 3. Tübingen 1987, S. 333–349.

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RangimSelbstverständnisdesMenschenwiederzugeben[…]“.66 Deshalb muss der Mensch wieder ins „Wohnenkönnen“ zurückgeführt werden, was indes das rech-nende Denken nicht bewerkstelligen kann. Insofern sind es Dichter und Denker, denen Heidegger zutraut, ein anderes Wohnen als ein anderes Denken und schließ-lich die Erfahrung vom Maß zu antizipieren. Wichtig bleibe, dass Hölderlin und Heidegger das „dichterische Wohnen“ als „die eigenste Möglichkeit des Menschen“ beschreiben.67

Gadamer selbst hat dann später für ein qualitatives Maßdenken gesorgt. Beim „rechnenden“ Messen wird ein Maß von außen ans Wohnen gelegt, um festzustel-len, wie sich das Wohnen an diesem Maß ausnimmt: mehr oder weniger Quadrat-meter, die eine Fläche ausmessen. Es gibt aber, so Gadamer, zwei Arten des Mes-sens. Gadamer spricht davon, dass es auch das Maß gibt, „das man in den Sachen selbst findet und das sich als das rechte Maß erweist“.68 Für Maß 1 ist der Hand-werker zuständig, der auf Grund einer durchgeführten Messung sich nachprüfbar in seinem eigenen Verhalten nach dem erzielten Ergebnis richtet. Bei Maß 2 reagiert man nicht auf das an eine Sache angelegte Maß, sondern man folgt dem Blick auf das Maßvolle und orientiert sich an dem, „was sich als richtig erweist und dem man gehorcht“.69 Dazu bedarf es der Fähigkeit, das Angemessene gelten zu lassen. Ihm Folge zu leisten, muss selbst anerkannt sein und als Richtmaß gelten. Wir haben es dann mit der seltenen Gabe zu tun, dass jemand spürt, „was hier das Richtige ist“,70 um daraufhin auch das Richtige zu tun.

Die Bedeutung des mittelalterlichen mâze, von der Pöggeler gesprochen hat und Gadamer ebenfalls auszugehen scheint, weist vor allem drei Richtungen auf.71 In der ersten wird unter mâze eine bestimmte Größe verstanden, mit der eine andere verglichen wird, eine abgegrenzte Ausdehnung in Raum, Gewicht, Kraft, das Maß, sowohl allgemein, wie von bestimmten, eingeführten Maßen jeglicher Art. Zwei-tens ist unter mâze eine verglichene und richtig befundene Größe, eine gehörige Größe, das rechte, gebührende Maß zu verstehen. Drittens dann wird mâze auch im Sinne des Maßhaltens, der Mäßigung gebraucht. Daraus ergeben sich weite-re Bedeutungsebenen: die Kunst zu messen, das rechte Maß zu finden, diejenige Eigenschaft des Gemüts, vermöge derer der Mensch in allen Dingen Maß hält, die äußerste Grenze nie überschreitet, anstandsvolle Bescheidenheit usw. Diese zuletzt

66 Gadamer, Rezension, S. 344.67 Ebd., S. 348.68 Hans-Georg Gadamer, Sprache und Musik – Hören und Verstehen. In: G. Schröder, H. Breunin-ger (Hg.), Kulturtheorien der Gegenwart. Frankfurt/M. 2001, S. 13–25, hier S. 17.69 Gadamer, Sprache, S. 17.70 Ebd., S. 18.71 Vgl. Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Mit Benutzung des Nachlasses von Georg Friedrich Be-necke ausgearbeitet von Wilhelm Müller und Friedrich Zarncke. Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1854–1866 mit einem Vorwort und einem zusammengefassten Quellenverzeichnis von Eberhard Nellmann sowie einem alphabetischen Index von Erwin Koller, Werner Wegstein und Norbert Richard Wolf. 4 Bde. u. Indexbd. Stuttgart 1990: http://germazope.uni-trier.de/Projects/WBB/woerterbuecher/bmz/wbgui?lemid=BA00001 [Stand 18.01.2010].

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und drittens aufgeführten Bedeutungen von mâze betreffen eine bestimmte Disposi-tion des Gemüts, des Charakters und der Erziehung, die den ritterlichen Kreisen, deren Ideen für den Gehalt der mittelhochdeutschen Literatur maßgebend waren, als eine der vornehmsten Tugenden galt, deren Trefflichkeit um so öfter gerühmt wird, je näher die roheren Leidenschaften jener Zeit die Notwendigkeit derselben legen mochten.72

IV. Das häusliche Wohnen als Stiftung einer besonderen Stimmung

Einem anderen philosophischen Impuls folgen die Autoren, die mit dem (häusli-chen) Wohnen vor allem das Erzeugen einer Stimmung und damit den Zustand einer bestimmten Befindlichkeit verbinden. Bei Heidegger ist von der Befindlich-keit oder Gestimmtsein des Menschen die Rede. Sie sei eine eigene Grundweise des Verstehens. Auch Hans Lipps hat von der Gestimmtheit unserer Existenz gespro-chen, von dem Druck, unter dem der Mensch steht, dass er etwas beginnen, seinem Leben eine konkrete Gestalt geben muss. Solche existenzialen Stimmungen werden oft metaphorisch zum Ausdruck gebracht, indem Bilder des Geworfenseins bzw. der Geworfenheit des Menschen, aber ebenso auch des Heimatlichen und Geborge-nen usw. erzeugt werden. Es geht den nachfolgenden Autoren aber nicht mehr um das menschliche Wohnen und Bleiben in der Welt, sondern – ausgesuchter – um das Wohnen in einem erst dafür „gemachten“ Raum, den bergenden Raum, den man be-wusst und gekonnt der Abgründigkeit, Fremde, Kälte und Unheimlichkeit der Welt entgegen setzt. Wir haben es hier gleichsam mit einem Gegenentwurf zur Gnosis zu tun: Der dort beschworenen „Gefahr des Wohnens“, nämlich ein Bleiben in der profanen Welt auszubilden, wird nun getrotzt, indem das Bleiben und die Bleibe als Inbegriffe des Wohnens gedeutet werden. Auch kann damit dem Dasein seine Hauptbedeutung der „Wanderung“ durch die vielen Räume der Welten genommen werden. Es wird vielmehr gerade dieses dauernde Verweilen als ein Festsetzen an einem geschützten Ort („Haus“) als Flucht vor dem Panischen des Erlebens jener „Raum-Zeit-Angst“ gedeutet, die Jonas an den mandäischen Schriften herausge-stellt hat. Der Religionsphilosoph Paul Tillich hat ganz in diesem Sinne das Wohnen in einem Haus gegen das Fremde und Abgründige des Draußen gestellt: „Um dem Unheimlichen zu entfliehen, sucht der Mensch sich heimisch zu machen im Dasein, sucht er dem Dasein das Fremde, das Drohende zu nehmen. Ein hervorragendes SymboldiesesWillens ist dasHaus. […] ImHausewird einStückdesDaseinsheimisch gemacht, zur Vertrautheit gebracht.“73

72 Ebd.73 Paul Tillich, Die technische Stadt als Symbol (1928). In: Ders., Die religiöse Substanz der Kul-tur. Schriften zur Theologie der Kultur. GW Band IX. Stuttgart 1967, S. 308 [Hervorhebungen A.H.].