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Bildungsbürgerrecht

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Jörg Metelmann, Stefan Schwall (Hrsg.)

BildungsbürgerrechtErziehung als soziales Unternehmen

Waxmann 2011Münster / New York / München / Berlin

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ISBN 978-3-8309-2560-6

© Waxmann Verlag GmbH, 2011Postfach 8603, D-48046 Münster

[email protected]

Umschlaggestaltung: Christian AverbeckUmschlagfoto: Ferdag KocaerSatz: Stoddart Satz- und Layoutservice, MünsterDruck: Hubert & Co., Göttingen

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier, säurefrei gemäß ISO 9706

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Inhalt

Vorwort

Jörg Metelmann, Stefan SchwallBildungsbürgerrechtSchichtenerziehung, Schulverweigerung und der Unternehmer als Parasit ......................... 7

Einleitung

Stefan SchwallDas Modell apeiros – Strukturen für Praktiken ....................................................................... 15

Refl ections in Practice

Stefan SchwallSchulverweigerung als Ausdruck gesellschaft licher Denudation ........................................ 23

Markus StrauchStefan Schwall – Innenansichten eines SozialunternehmersDer narrativ-biografi sche Ansatz .............................................................................................. 43

Lars ReppSocial Value Measurement − Was bringt apeiros? ................................................................... 57

Heinrich RickingZentrale Aspekte im Umgang mit Schulbesuchsproblemen und Schulabsentismus ......... 79

Refl ections on Practice

Franz SchultheisTotem und TabuKindesmisshandlung als gesellschaft liches Dispositiv der Durchsetzung zivilisatorischer Standards ‚guter Erziehung‘ ................................................. 93

Dorthe Staunæs, Malou Juelskjær, Hanne KnudsenPsy-Management Drei Perspektiven auf neue Formen des (Schul-)Managements ........................................................................................................ 109

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Heinke RöbkenDilemmata im Umgang mit Schulverweigerung aus organisationstheoretischer Perspektive ........................................................................... 133

Jörg Metelmann„Bildung für alle!“ – ein Melodram? Über Ideale, Opfer und das Zuspät im deutschen Diskurs über Erziehung und Integration am Beispiel des Fernsehfi lms Zivilcourage (2010) ................................................................................ 147

Die Autorinnen und Autoren .................................................................................................. 173

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Jörg Metelmann, Stefan Schwall

BildungsbürgerrechtSchichtenerziehung, Schulverweigerung und der Unternehmer als Parasit

Die Bundesrepublik Deutschland kann jedoch als eine freie Gesell-schaft nur bestehen, wenn sie dem Wunder des wirtschaft lichen Auf-stiegs eine Politik der Entwicklung ihres Bildungswesens folgen läßt. Es ist also nicht wirtschaft liche Notwendigkeit und auch nicht eine in-ternationale Prestige-Konkurrenz der Abiturientenzahlen, die uns heu-te zu einer aktiven Bildungspolitik zwingt. Vielmehr läßt uns die Sor-ge um den Bestand der inneren Ordnung moderner Liberali tät keine andere Wahl als die Bildungspolitik zum Kernstück der zweiten Etap-pe westdeutscher Sozialentwicklung zu machen. Diese Bil dungspolitik wird aktiv bleiben, wenn sie sich das Versprechen unserer Verfassun-gen auf gleiche Bürgerrechte für alle zur Richtschnur nimmt. Dieses Versprechen zu erfüllen aber ist Pfl icht, Recht und Chance jedes Ein-zelnen. Bildung ist Bürgerrecht.

Ralf Dahrendorf (1965, S. 151)

Der Begriff „Bildungsbürgerrecht“, eine sprachliche Neuerung, ist die kürzeste Fas-sung des größten Problems und des hohen Anspruchs des deutschen Erziehungswe-sens. Bildung hat einen überaus starken Herkunft sindex und reproduziert insofern Schichtenungleichheit – dies bringt die Betonung auf „Bildungsbürgerrecht“ zum Ausdruck. Legt man den Akzent hingegen auf „Bildungsbürgerrecht“, dann wird der liberal-demokratische Anspruch der bundesrepublikanischen Gesellschaft aufgeru-fen, jeder und jedem über Bildung soziale Teilhabe zu ermöglichen.1

Die Schicht, so haben die PISA-Studien gezeigt, determiniert den Lebensweg, da-bei sollte es das Recht auf Bildung sein: Dieser Sammelband adressiert diese Kons-tellation mit dem Fokus auf Schulverweigerung und folgt dabei der Maßgabe, dass man die am Erziehungsprozess beteiligten Akteure nicht vorschnell aus der Pfl icht entlassen darf, dem Recht zur Geltung zu verhelfen. Erziehung ist ein soziales, ein gemeinsames Unternehmen, und das Unternehmerische daran muss sein, die beste-henden Realitäten im Sinne der gesellschaft lichen Problemlösung kritisch zu befra-gen, das heißt die Institutionen unter Berufung auf das Recht mit der Erfüllung des Anspruchs zu belasten – und nicht die Institutionen (z.B. Schule, Jugendamt) durch den Ausschluss von Kindern zu entlasten. Die Kinder sind Träger der Rechte, nicht die ermöglichenden Strukturen.

1 Diesen Zusammenhang hat vor kurzem der Soziologe Uwe Schimank (2010, S. 55) auch für das Hochschulwesen hergestellt.

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Dass dabei mit dem Th ema „Bildung“ oder „Erziehung“ kein Nebenkriegsschau-platz gesellschaft licher Aushandlungsprozesse bespielt wird, sondern am Herzen der Mechanismen sozialer Reproduktion operiert wird, das machen Begebenheiten wie in Hamburg deutlich, wo sich ausgewählte (meist) bildungsbürgerliche Kreise gegen die Entscheidungen des gewählten Souveräns (Parteien im Senat) stellen und mit professionellem Kampagnenwissen das Privileg des Gymnasiums gegenüber der an-geblich nivellierenden verlängerten Grundschule zu sichern versuchen – und damit im Referendum erfolgreich sind (das muss aus demokratietheoretischer Sicht zuge-standen werden). Bildung ist insofern, das zeigt dieses Beispiel überdeutlich, auch das Instrument der Legitimation gesellschaft licher (ungleicher) Reproduktion. Es geht, und das vermag der griffi ge Slogan „Wir wollen lernen“ der Hamburger Initi-ative geradezu prototypisch-ideologisch zu kaschieren, nicht um das Wissen selbst, sondern um Abschlüsse und deren biografi schen Wert.

Dieser Sammelband ist das Ergebnis eines längeren gemeinsamen Nachdenkens über die Zukunft des sogenannten dritten Sektors, also des zivilgesellschaft lichen Bereichs neben der Privatwirtschaft (Markt) und der öff entlichen Hand (Staat). Es beginnt Jahresende 2005 in Wuppertal im Bergischen Land, einer schrumpfenden Stadt, ei-ner ehemals reichen, bedeutsamen Stadt. Die Einkommen generierenden Indust-rien (Textil, Automobil) sind weg, die Menschen gehen weg, zumindest bestimm-te Schichten, denen die Friedrich-Engels-Geburtsstadt kein gutes Pfl aster mehr scheint. Wie symptomatisch wird etwas später die Schließung des Th eaters angekün-digt, in dem bis zu ihrem Tod Pina Bausch, das wichtigste kulturelle Markenzeichen der Stadt, getanzt hatte. Ein Feuilleton-Kommentar in der Zeit beschreibt die Situ-ation treff end: Wuppertal stehe nicht am Abgrund, aber von dort könne man ihn gut sehen.2 Zu dieser Zeit Mitte der Nullerjahre arbeitet Jörg Metelmann an einem von McKinsey entwickelten Ansatz der alternativen Arbeitslosenvermittlung mit, der das Individuum mit seiner Persönlichkeit bei der Suche nach Arbeit in den Vorder-grund stellt. Als Teil des im Auft rag der Agentur für Arbeit angebotenen Coaching-Programms besuchen die Arbeitslosen auf „Erfahrungsreisen“ durch die umgebaute Huppertsbergfabrik, in der das Programm angeboten wird, auch den Jugendhilfe-Träger Institut apeiros und kommen stets beeindruckt von den Informationsgesprä-chen mit Stefan Schwall wieder zurück: Der Ansatz sei neu, die Arbeit mit Schulver-weigerern mache Sinn, das Klima sei gut.

So beginnen die Gespräche über den Wert des Individuums und Interventionen im Sozialen, die den Ausgangspunkt für diesen Sammelband bilden. Sie drehen sich an-fangs um den französischen Denker Michel Foucault, um die philosophische Metho-de der Phänomenologie und die Einsichten der Systemtheorie, refl ektieren die his-torischen Errungenschaft en des Wohlfahrtsstaates ebenso wie die Sackgassen einer lähmenden Vollkaskomentalität, erörtern Prekarisierung und Modewörter wie „Em-

2 „Weggespart. Ein erster Th eatertod in der Krise: Das Beispiel Wuppertal“, in: Die Zeit, Nr. 49, 26.11.2009.

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powerment“ nicht abstrakt, sondern mit Bezug auf die tägliche Arbeit. Es geht um die richtige Distanz zur Arbeit, um den persönlichen Faktor und die Organisation eines Teams. Einen neuen Akzent erhält der Austausch mit dem Wechsel von Jörg Metelmann an die Universität St.Gallen (HSG), wo er ab Ende 2007 am Center for Leadership and Values in Society forscht. Die Perspektive auf das, was apeiros neu und anders macht, erhält stärker unternehmerische Züge und wird in Management- und Organisationstheorie eingebunden. Durch vielfältige Kontakte und intensive Diskussionen mit Kolleginnen und Kollegen kristallisieren sich schließlich Konturen des Sozialunternehmens apeiros um den Social Entrepreneur Stefan Schwall heraus, wird die Arbeit in Wuppertal, Essen und Remscheid lesbar als ein lokales Phänomen der globalen Erprobung von unternehmerischen Lösungen für Probleme im entste-henden Hybrid aus Markt, Staat und drittem Sektor. Dieser Sammelband möchte in der Interdisziplinarität seiner Beiträge auch den Reichtum der vielen Anregungen abbilden, die die Diskussion über apeiros bisher geprägt haben – die bündigste For-mel für diese facettenreichen Konstellationen liefert der Untertitel unseres Bandes: Erziehung als soziales Unternehmen.

Eine wiederkehrende Überlegung in unserem Austausch war und ist die Frage nach dem Einschluss durch eine Institution wie die Schule bzw. den Ausschluss daraus. Ein Begriff taucht immer wieder auf: der „Parasit“. Mit diesem Konzept des franzö-sischen Philosophen Michel Serres aus seinem gleichnamigen Buch (1987) bezeich-net der Soziologe Niklas Luhmann in seiner Systemtheorie die im (Erziehungs-)Sys-tem logisch unmögliche Stelle, auch jenseits der systemeigenen Selektionscodes im System zu operieren (1987, 210). Der Fall eines Kindes, das nicht mehr zur Schule geht (also offi ziell ausgeschlossen, exkludiert ist), jedoch über das Jugendamt in der Arbeit mit einem privaten Bildungsträger (wie z.B. apeiros) auf die Schule als Orga-nisation bezogen bleibt (Ziel: erneute Inklusion, angestrebter Schulabschluss), kann eigentlich nicht gedacht werden: Trotz Exklusion – örtlich oder durch Beurlaubung – inkludiert zu sein, ist im Rahmen der Logik des ausgeschlossenen Dritten (terti-um non datur) nicht denkbar.3 Der Parasit besetzt jedoch genau diese Position des ‚Drinnen-draußen‘ (vgl. Braten 1996, 195f.), er ist ein produktives Fragezeichen im System, er profi tiert und negiert im selben Moment. Mit dem Blick auf apeiros kom-men wir zu der Th ese, dass die Figur des Unternehmers ein Parasit in diesem Sinne ist. Es ist die Logik des Geschäft s, die die Grenzen des Systems Erziehung austestet. Das Unternehmen mit Profi tinteresse interveniert im Verbund der Akteure (Schu-le, Jugendamt u.a.), die „erziehen“ oder „Hilfe zur Erziehung“ geben, mischt sich ein ins System Schule, obwohl es selbst nicht Teil davon ist, mischt es auf, ohne es fun-damental zu ändern (und aus Eigeninteresse ändern zu wollen): Auch mit diesem Fokus passt der Begriff des „Parasiten“ mit seinen Assoziationen sehr gut. Das Pro-fi tinteresse ist jedoch kein Selbstzweck, sondern die ökonomische Doublette eines moralischen Auft rags und eines politischen Statements. Das macht den Unternehmer

3 Und führte im Falle von apeiros im Sinn der Systemlogik ganz folgerichtig zu Interventionen des Schulamtes, das dem Bildungsträger vorwarf, die dort beschulten Kinder von der Schul-pfl icht abzuhalten – ein Vorwurf, der von der übergeordneten Stelle entkräft et wurde.

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zu einem Social Entrepreneur und die Überlappung der privat-kommerziellen und der privat-nichtkommerziellen Teile im Sozialunternehmen zu einer zukunft sweisen-den Melange im Neudenken des sozialen Miteinander. Dass es bei diesen Umwäl-zungen auch zur von Schumpeter benannten „kreativen Zerstörung“ kommt, macht die Dynamik und auch das Ketzerisch-Fragende dieser Interventionen aus, die man mit dem Konzept des „Parasiten“ zu konzeptualisieren beginnen könnte. Es bildet in-sofern eine Art Schattenriss der hier versammelten Beiträge unter den beiden Rubri-ken „Refl ections in Practice“ und „Refl ections on Practice“.

Diese Unterscheidung schreibt sich ein in die Diskussionen um das Potenzial von Refl exivität für die organisationale Praxis, wie sie in den letzten Jahren vermehrt ge-führt wird (vgl. etwa Schön, 1983; Reynolds & Vince, 2004; Cunliff e, 2009). Wenn man den Wert von Refl exivität oder besser: einer refl exiven Praxis („refl exive prac-tice“) darin sieht, durch Infragestellung der eigenen Grundannahmen über die Um-welt und sich selbst frisches Potenzial für verantwortlicheres, kreativeres und ethi-scheres Verhalten zu erschließen (Cunliff e, 2009, 413–417), dann ist klar, dass sich dieses Potenzial je nach Standpunkt in Quantität und Qualität unterscheidet. Die-se Diff erenz markieren die beiden Rubriken „Refl ections in Practice“ und „Refl ec-tions on Practice“: Während Erstere sehr nahe an den konkreten Konstellationen der Schulverweigerung und des Sozialunternehmens apeiros entlang und aus ihnen her-aus argumentieren, öff net das Nachdenken über die Praktiken im Feld der Erziehung im zweiten Beitragsblock den Horizont für weiter gefasste Beobachtungen, wobei alle eingenommenen Perspektiven – soziologische Erörterung des Missbrauchsbegriff s, neues Management von Schulen, Organisationsdilemmata des Schulsystems, mediale Diskurse über Erziehung – sich wieder auf die erste Rubrik beziehen lassen und sich wechselseitig ergänzen.

Methodisch lässt sich dieser Sammelband im Bereich „engagierter Forschung“ („En-gaged Scholarship“, Van den Ven, 2007) verorten, der es beim Blick in die Praxis um das Gespräch (hier auch: das zwischen den Beiträgen inszenierte) zwischen Th eo-rie und Phänomen(en) im Sinne der Problemlösung geht. Er ist dabei der Idee einer ausführlichen Einzelfallstudie (single case study) verpfl ichtet, die im besonderen Ein-zelfall die allgemeine Relevanz und breitere Repräsentativität für den größeren Kon-text, hier: des Erziehungswesens und der Organisation von Bildung, zu zeigen ver-sucht (vgl. Yin, 1994). Und apeiros und sein Gründer Stefan sind besonders: Das macht nicht zuletzt seine Aufnahme in den erlesenen Kreis von Ashoka Fellows im Sommer 2011 deutlich, der weltweit wichtigsten und renommiertesten Organisation von Sozialunternehmern. Drei Jahre lang unterstützt Ashoka nun den Versuch von Stefan Schwall, die Erkenntnisse aus der bisherigen Praxis auszuwerten und so die sozialunternehmerische Intervention, die apeiros vom eigenen Anspruch und reali-sierten Konzept her darstellt, auf eine neue Ebene zu heben. Insofern lässt sich die-ser Sammelband nicht nur als Summe bisheriger Überlegungen lesen, sondern auch als Startschuss zu einer ausgedehnteren Diskussion über die Zukunft der Erziehung und Bildung im Kreuzungspunkt unterschiedlicher Institutionen- und Akteurslogi-ken, der er vielleicht den einen oder anderen Anstoß zu geben vermag.

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Allen Beiträgen sind Zusammenfassungen vorangestellt, so dass sich die Leserinnen und Leser schnell einen Überblick über die darin verhandelten Inhalte verschaff en können. Wir möchten allen unseren Beiträgerinnen und Beiträgern an dieser Stelle für ihre Mitarbeit herzlich danken. Ohne ihr Engagement gäbe es den Band in dieser Form nicht. Gleiches gilt für die Einschätzungen, Hinweise und praktische Hilfe von Carmen, Christoph, Stephan Dietrich, Michael Gemperle, den Kollegen vom Center: Timon Beyes, Urs Jäger, Timo Meynhardt, Eric Schulze, weiterhin von Christine und Heidemarie Metelmann, Björn Müller, Diana Reiners, Sabine, Florian Schulz, vom Spunk und von Frau T.

St.Gallen und Wuppertal, im August 2011

Literatur

Braten, S. (1996). Th e third position: beyond artifi cial and autopoetic reduction. F. Gey-er & J. van der Zouwen (Hrsg.), Sociocybernetic Paradoxes. Observation, Control and Evolution of Self-Steering Systems (S. 193–205). London: Sage.

Cunliff e, A. L. (2009). Refl exivity, Learning and Refl exive Practice. In S. J. Armstrong & C. V. Fukami (Hrsg.), Th e SAGE Handbook of Management Learning, Education and Development (S. 405–418). Th ousand Oaks, CA, US: Sage Publications Inc.

Dahrendorf, R. (1968). Bildung ist Bürgerrecht. Plädoyer für eine aktive Bildungspolitik. (3. Aufl .). Hamburg: Christian Wegner Verlag (Original 1965).

Luhmann, N. (1987). Codierung und Programmierung. Bildung und Selektion im Erzie-hungssystem. In N. Luhmann, Soziologische Aufk lärung 4. Beiträge zur funktionalen Diff erenzierung der Gesellschaft (3. Aufl ., S. 193–213). Wiesbaden: VS Verlag für So-zialwissenschaft en.

Reynolds, M. & Vince, R. (Hrsg.) (2004). Organizing refl ection. An Introduction. Al-dershot: Ashgate.

Schimank, U. (2010). Humboldt in Bologna – falscher Mann am falschen Ort? In: Hoch-schul-Informations-System (Hrsg.): Perspektive Studienqualität (S. 44–61). Bielefeld.

Schön, D. A. (1983). Th e refl ective practitioner: How professionals think in action. Lon-don: Temple Smith.

Serres, M. (1987). Der Parasit. Frankfurt am Main: Suhrkamp.Van de Ven, A. H. (2007). Engaged Scholarship: A Guide for Organizational and Social

Research. Oxford: Oxford University Press.Yin, R. K. (1994). Case study research: Design and methods. Newbury Park, CA: Sage.

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Einleitung

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Das Modell apeiros – Strukturen für Praktiken 15

Stefan Schwall

Das Modell apeiros – Strukturen für Praktiken

Das Bildungsunternehmen apeiros arbeitet seit 6 Jahren mit Jugendlichen und Kin-dern, die die Schule verweigern. In dieser Zeit haben wir mehrere hundert Schüler mit dieser Problematik in allen phänotypischen und strukturellen Variationen ken-nengelernt und behandelt. Die ursprünglichen Überlegungen zum Umgang mit den Schülern, den Ursachen von Schulverweigerung und den Interventionstechniken ha-ben sich in der gesamten Zeit immer wieder gewandelt. Dieses wurde nötig, weil das Phänomen Schulverweigerung sehr unterschiedliche Gründe hat und wir selber überrascht waren über das Ausmaß an verweigernden Schülern.

Hatten wir noch zu Beginn der Arbeit in erster Linie schwänzende Jungen im Blick, die Gruppe, die wir heute als aktionistische Verweigerer beschreiben würden, wurden uns immer mehr Schüler geschickt, die diesem Bild nicht mehr entsprachen. In einer sehr langwierigen sowie aufwendigen Erfassung und Beschreibung der Fäl-le, in Auseinandersetzung mit den vorherrschenden Erklärungsansätzen, haben wir in kritischer Refl exion unsere Arbeit immer wieder überdacht, erneuert und in ihren Behandlungskonzepten abgewandelt.

War unser Ansatz zu Beginn eher individuell und auf Beziehung ausgerichtet, wandelte sich die Arbeit immer stärker hin zu einem systematischstrukturellen An-satz, der von der täglichen Anwesenheit der Schüler bei uns über die individuelle Behandlung der Störungen bis hin zur Arbeit mit den Eltern und Schulen führte.

Die Ausweitung unserer diagnostischen Kompetenz ermöglichte weitere Interventi-onsansätze, so dass es uns gelang, die meisten Schüler, wegen der wir angefragt wur-den, in unser Setting zu integrieren. Damit verschob sich auch die ursprünglich an-gedachte Klientengruppe. Immer stärker wurden wir im Rahmen von elementarer Versorgung und im Zusammenhang mit der Beratung für Eltern eingeschaltet.

Die Notwendigkeit, die Ursachen von Schulverweigerung zu erkennen, nötigte uns geradezu, ein Diagnoseinstrument zu entwickeln, das grundsätzliche Probleme im Bereich Erziehung oder Sozialisation abbilden kann. Gleiches gilt für unsere In-terventionstechniken und Einschätzungsskalen für Erfolg oder Nicht-Erfolg.

Wir gehen davon aus, dass die Schülerinnen und Schüler grundsätzlich zur Schu-le gehen würden, dass aber interne oder externe Gründe sie davon abhalten und sie über die Zeit ein Abwehrmuster entwickelt haben, welches meist schon zum Teil ih-rer Persönlichkeit geworden ist und das auch die gesamte Familie mit beeinfl usst. Die Folgen sind abhängig vom jeweiligen Typus und reichen von totaler Isolation, beispielsweise bei Angst vermeidenden Schülern, bis hin zur Delinquenz bei akti-onistischen Verweigerern. Die Langzeitfolgen sind ebenso dramatisch. Ohne Ab-schluss und ohne minimale strukturelle Fähigkeiten im Bereich Tagesablauf, An-strengung und Verlässlichkeit ist die Aufnahme einer geregelten Arbeit unmöglich. Dieses ist auch den Betroff enen bewusst und deshalb steht die Familie meist eben-so unter Druck und gibt diesen Druck an das Kind weiter. Aus diesem Grund ist für

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uns die Elternarbeit ebenso wichtig wie die Arbeit mit den Kindern. Da die Schule der Ort ist, an dem das Kind eigentlich sein sollte, besteht ein weiterer Teil unserer Arbeit darin, die Schulen entsprechend zu begleiten, damit diese ihre systemimma-nente Aufgabe übernehmen und damit aus unserer Sicht eine Wiedereingliederung erfolgreicher werden lassen. Das Gleiche gilt für die Einforderung der rechtlichen Aspekte, sowohl bei Gerichten, Schulen und Jugendämtern.

Systematisch-struktureller Ansatz

Unserer Arbeit bezieht sich sehr stark auf die Überlegungen von Karheinz Th imm (2000), der aus unserer Sicht mit seiner Arbeit „Schulverweigerung“ eine erste, über-haupt praktisch umsetzbare Sichtweise auf Schulverweigerung vorlegte. Der Berliner Professor für Soziale Arbeit beschreibt das Phänomen Schulverweigerung anhand von äußeren Merkmalen, also wie Schüler die Schule verweigern: alleine oder in Gruppen, im Paar, fehlen sie plötzlich oder nur sporadisch etc. Diese auf das „Wie“ bezogene Herangehensweise bietet für die praktische Arbeit eine Fülle von Interven-tionsmöglichkeiten, da die Ursachenforschung im Sinne einer individuell bezogenen biografi schen zunächst keine Lösungen anbietet. Betrachtet man dagegen, wie das Kind die Schule verweigert, können die Ausweichbewegungen in die Behandlung der Symptomatik eingebunden werden.

Auf dieser Basis arbeiteten wir zunächst streng an den verschiedenen Formen der Schulverweigerung, die Th imm klassifi ziert hat. Im Verlauf der Arbeit zeigte sich aber, dass es immer mehr Kinder gab, die nicht so genau einzuordnen waren und deren ursprüngliche Motivation nicht mehr auf Basis ihres jetzigen Verhaltens zu ergründen war. Wir sprachen von „Mischformen“. Darüber hinaus zeigte sich ein sehr wichtiger Faktor für die Einschätzung der Verweigerung: die Dauer der Verwei-gerung. Kinder und Jugendliche, die schon über eine längere Zeit die Schule nicht mehr besuchten, zeigen eine oft mals von der Dauer des Fernbleibens abhängige, starke Verhaltensauff älligkeit. Diese bezeichneten wir als strukturelle Schwächung. Sie erschwerte eine Rückführung in das System Schule erheblich, da die systembe-dingten Anforderungen an Struktur und Anstrengung für diese Kinder nicht mehr zu bewältigen war. Diese Gruppe von Kindern und Jugendlichen nahm im Laufe un-serer Tätigkeit immer stärker zu.

Schulverweigernde Kinder und Jugendliche zeigen aus unserer Erfahrung sehr unterschiedliche Formen der Verweigerung in Verbindung mit unterschiedlichen strukturellen Schwächen, die wiederum auf sehr unterschiedliche Systeme treff en, die mitverantwortlich sind. Auf diese Herausforderung, alle diese Elemente aufmerk-sam zu beobachten und zu berücksichtigen, suchen wir mit dem Modell apeiros eine Antwort zu geben.

Um auch den systematisch-strukturellen Aspekten Rechnung zu tragen, überprü-fen wir an vier Orten die Ressourcen und Defi zite, um zu schauen, was gestärkt, was kompensiert, was neutralisiert werden muss. Aus diesem Grund wird eine Diagnos-

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Das Modell apeiros – Strukturen für Praktiken 17

tik durchgeführt, die zum Teil über die gesamte Dauer der Maßnahme weitergeführt und vor Abschluss der Maßnahme in Teilen wiederholt wird, um zu überprüfen, ob und inwieweit der Schüler eine Entwicklung gemacht hat. Grob eingeteilt führen wir eine Leistungsdiagnostik, eine Verhaltensdiagnostik und eine Erziehungsdiagnostik sowie eine Analyse der sozialen und institutionelle Umgebung durch.

Nach einer ersten Diagnostik erhalten wir eine Übersicht über die Defi zite und Ressourcen, die die verschiedenen Ebenen des sozialen Lebens des Kindes abbildet:• Ressourcen und Defi zite im gesellschaft lichen Rahmen (Schule, Jugendamt, Ge-

richt, Polizei)• Ressourcen und Defi zite in der näheren Umgebung (Verwandtschaft , Nachbar-

schaft , Vereine)• Ressourcen und Defi zite in der Familie• Ressourcen und Defi zite des Selbst

Die Forschung umschreibt vier Grundbedürfnisse, die befriedigt werden müssen, da-mit eine gesunde Entwicklung möglich sein kann: • Orientierung und Kontrolle – wird über die tägliche und starke Präsenz der

Erwachsenen bei uns ermöglicht, ebenso durch die Hierarchisierung, das Interve-nieren, wenn der Schüler nicht kommt, Klarheit in den Konsequenzen und Sank-tionen.

• Lust/Unlust-Ausgleich – wird über die Anforderung ermöglicht, zu uns zu kommen, drei Stunden ruhig zu sitzen, unangenehme Aufgaben zu erledigen etc.

• Beziehung und Bindung – wird durch die bei apeiros arbeitenden Personen er-reicht, die eine bestmögliche Beziehungsgestaltung ermöglichen.

• Selbstwert – wird durch das zunächst vorsichtige, dann immer fordernder wer-dende inhaltliche Lernen sowie Hospitieren, Praktika, Aufgaben und schließlich den täglichen Interventionen in Konfl ikten und Krisen gesteigert.

Wir überprüfen, inwieweit die elementaren Grundbedürfnisse befriedigt werden kön-nen, wie die Motivationslage ist und welche Ressourcen und Defi zite das Kind hat. Da nicht immer genau zu erfassen ist, welche Bedürfnisse denn nun befriedigt sind oder nicht, haben wir unser gesamtes Setting auf diese Bedürfnisse abgestimmt.

Organisatorische Ebene

Die Ebene der näheren Umgebung wird in unserer Arbeit durch den Ort apeiros selbst gestaltet. Dieses ist auch der formale und systemische Unterschied zur Schu-le. Da wir kein Zwangssystem wie die Schule sind, können wir diese auch formal nicht ersetzen. Wir bilden also den dritten Kreis ab und bereiten auf den vierten, die Ebene der Zwangsinstitution Schule und Arbeit, vor. Die Schüler lernen hier, neue Kontakte zu knüpfen, Konfl ikte und Krisen mit anderen (Schülern und Erwachse-nen) zu bewältigen, und erfahren Solidarität und Stabilität. Die Jugendlichen werden