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BILL BRYSON Picknick mit Bären

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BILL BRYSON

Picknick mit Bären

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Buch

Anders als seine amerikanischen Landsleute, von denen Bill Brysonsüffisant feststellt, sie würden sich täglich nicht mehr als 300 Meter zuFuß bewegen, hat er sich Großes vorgenommen: Gemeinsam mit sei-nem alten Schulfreund Stephen Katz, der aufgrund seiner Leibesfülleund ausgesprochenen Leidenschaft für Unmengen von Snickers aller-dings nicht eben die besten Voraussetzungen mitbringt, plant er eineBezwingung des »Appalachian Trail« – jenes legendären längstenFußweges der Welt, der sich über 3000 Kilometer durch 14 Staatenhindurch an der Ostküste Amerikas entlangwindet und dem Wan-derer die spektakulärsten Naturschönheiten offenbart. Aber unbe-rührte Wälder, verwunschene Seen und atemberaubende Schluchtensind nicht das Einzige, was dieser Trip den beiden Wagemutigen be-schert: Von den Tücken einer mangelhaften Ausrüstung einmal abge-sehen, lauern allerhand Gefahren im Dickicht, und da selbst die ein-schlägige Fachliteratur keine verläßlichen Tips für den Fall einerBärenattacke zu geben vermag – außer, unter gar keinen Umstän-den Snickers bei sich zu führen –, nimmt das Bangen kein Ende. Unddann sind da auch noch die lieben Mitmenschen, die unvermeidli-cherweise ihren Weg kreuzen und sie in so manch fatale Situation

bringen …

Autor

Bill Bryson wurde 1951 in Des Moines, Iowa, geboren. 1977 ging ernach Großbritannien und schrieb dort mehrere Jahre u. a. für dieTimes und den Independent. Mit »Reif für die Insel« (GoldmannTaschenbuch 44279) gelang Bryson, der zuvor bereits Reiseberichtegeschrieben hat, der ganz große Durchbruch. Bill Bryson lebt heutemit seiner Familie in Hanover, New Hampshire. Weitere Werke des

Autors sind bei Goldmann in Vorbereitung.

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Bill BrysonPicknickmit Bären

Deutsch vonThomas Stegers

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eISBN 3-641-07923-9

Deutsche Erstveröffentlichung 9/99Copyright © der Originalausgabe 1998

by Bill BrysonCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1999

by Wilhelm Goldmann Verlag, Münchenin der Verlagsgruppe Bertelsmann GmbH

Satz: deutsch-türkischer fotosatz, BerlinDruck: Elsnerdruck, Berlin

Verlagsnummer: 44395Redaktion: Henriette Zeltner

CN · Herstellung: Peter Papenbrok

Die Originalausgabe erschien 1998unter dem Titel »A Walk in the Woods«

bei Broadway Books, New York

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Für Katz.Wen sonst.

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TEIL 1

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1. Kapitel

Kurz nachdem ich mit meiner Familie in eine Kleinstadt in NewHampshire gezogen war, entdeckte ich zufällig einen Wander-weg, der sich am Ortsausgang in einem Wald verlor.

Ein Schild verkündete, daß es sich hierbei nicht um einen ge-wöhnlichen Weg handelte, sondern um den berühmten Appala-chian Trail. Mit seinen über 3.300 Kilometern durch die maje-stätischen und verlockenden Appalachen, entlang der ameri-kanischen Ostküste, zählt der AT, wie er bei Kennern heißt, zuden Altvordern unter den Fernwanderwegen. Er führt vonGeorgia bis nach Maine, durch 14 verschiedene Bundesstaaten,über stattliche, reizvolle Berge, deren Namen – Blue Ridge, Smo-kies, Cumberlands, Catskills, Green Mountains, White Moun-tains – schon wie eine Einladung zum Spazierengehen klingen.Wer kann schon die Worte »Great Smoky Mountains« oder»Shenandoah Valley« aussprechen, ohne dabei nicht das Bedürf-nis zu verspüren, »einen Laib Brot und ein Pfund Tee in einenalten Rucksack zu werfen, über den Gartenzaun zu springenund loszuziehen«, wie es der Naturforscher John Muir aus-drückte.

Da war er also, der Weg, schlängelte sich – für mich ganz un-erwartet – verführerisch durch das friedliche Nest in New Eng-land, in dem ich mich gerade niedergelassen hatte. Die Vorstel-lung, ich könnte von zu Hause aufbrechen und 2.800 Kilometerweit durch einen Wald bis nach Georgia wandern, oder in die an-dere Richtung, 700 Kilometer nach Norden, über die rauhen undgebirgigen White Mountains klettern, bis auf den sagenhaftenburgähnlichen Gipfel des Mount Katahdin, die ganze Zeit überumgeben von Bäumen, durch eine Wildnis, die nur wenige Men-schen je zu Gesicht bekommen haben – diese Vorstellung er-

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schien mir so außergewöhnlich, daß sich eine leise Stimme inmeinem Inneren meldete: »Hört sich toll an! Das machen wir!«

Ich legte mir eine Reihe vernünftiger Gründe zurecht, diedafür sprachen. Es würde mich nach Jahren der Faulenzerei wie-der auf die Beine bringen. Es wäre eine interessante und besinn-liche Art, sich nach 20 Jahren im Ausland wieder mit der Größeund Schönheit meines Heimatlandes vertraut zu machen. Eswürde mir von Nutzen sein – wenn ich auch noch nicht wußtewie –, einmal zu lernen, mich in der Wildnis zurechtzufindenund für mich selbst zu sorgen. Ich brauchte mir nicht mehr wieein Schlappschwanz vorzukommen, wenn die Männer in Tarn-hosen und mit Jägerhüten im Four Aces Diner beisammensaßenund sich über ihre schaurigen Erlebnisse in der freien Natur un-terhielten. Ich wollte ein bißchen von der Großspurigkeit abha-ben, die sich einstellt, wenn man mit Granitaugen in die Ferneblickt und mit einem gedehnten, virilen Räuspern sagen kann:»Ja, ich kenne den Wald wie meine Westentasche.«

Es gab noch einen anderen, unwiderstehlicheren Grund. DieAppalachen sind die Heimat des größten Laubwaldes der Erde –der ausgedehnte Restbestand des üppigsten und abwechslungs-reichsten Waldgebietes, das je die gemäßigte Klimazone unseresPlaneten zierte –, und dieser Wald ist gefährdet. Sollte sich dieErdatmosphäre im Laufe der nächsten 50 Jahre um vier GradCelsius erwärmen, was durchaus wahrscheinlich ist, würde sichdie gesamte Wildnis der Appalachen südlich von New Englandin eine Savanne verwandeln. Das Baumsterben hat bereits er-schreckende Ausmaße angenommen. Ulmen und Kastanien sinddort längst verschwunden; der stattliche Schierling und der blü-tenreiche Hartriegel sind im Verschwinden begriffen; Rottanne,Frasertanne, Eberesche und Zuckerahorn sind als nächste dran.Wenn es jemals an der Zeit war, diese einzigartige Wildnis zu er-leben, dann jetzt.

Ich faßte also den Entschluß, es zu machen. Vorschnell teilteich Freunden und Nachbarn meine Absicht mit, informierteselbstsicher meinen Verlag, sorgte für Verbreitung der Neuigkeit

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unter allen, die mich kannten. Sodann kaufte ich mir ein paarBücher und redete mit Leuten, die den Trail ganz oder ab-schnittweise gegangen waren, und allmählich wurde mir klar, daßdieses Unternehmen alles, aber wirklich alles übertreffen würde,was ich jemals angepackt hatte.

Fast jeder, mit dem ich mich darüber unterhielt, hatte eine Ge-schichte über irgendeinen arglosen Bekannten parat, der sich mitgroßen Hoffnungen und neuen Wanderschuhen auf den Weg ge-macht hatte und zwei Tage später mit einem Rotluchs als Hals-krause oder einem Hemdsärmel, aus dem nur noch ein bluttrie-fender Stumpf ragte, zurückgetorkelt kam und heiser flüsterte:»Bär!« bevor er in tiefe Bewußtlosigkeit versank.

Die Wälder waren voller Gefahren – Klapperschlangen undMokassinschlangen, Rotluchse, Bären, Kojoten, Wölfe undWildschweine; gemütskranke Hinterwäldler, durch den großzü-gigen Konsum von Maisschnaps und sündigen Sexualpraktikenüber Generationen aus der Bahn geworfen; tollwütige Stinktiere,Waschbären und sogar Eichhörnchen; unbarmherzige, roteAmeisen und wütende Kriebelmücken; gemeiner Giftsumach,kletternder Giftsumach, giftige Färbereiche und giftige Salaman-der; versprengte Elche, die von einem parasitären tödlichenWurm befallen sind, der sich in ihrem Gehirn einnistet und siedazu anstiftet, harmlose Wanderer über entlegene, sonnenbe-schienene Wiesen zu jagen und sie in Gletscherseen zu treiben.

Unvorstellbare Dinge konnten einem da draußen widerfahren.Ich habe von einem Mann gehört, der nächtens zum Pinkeln ausseinem Zelt trat und von einer kurzsichtigen Eule am Kopf ge-streift wurde – seinen Skalp sah er zuletzt von den Krallen des Vo-gels herabbaumeln, hübsch anzuschauen vor der Silhouette desVollmonds; und von einer jungen Frau, die von einem Kitzeln amBauch aufwachte, in ihren Schlafsack blickte und eine Mokassin-schlange entdeckte, die es sich in der Wärme zwischen ihren Bei-nen gemütlich gemacht hatte. Ich habe vier verschiedene Versio-nen – stets mit einem unterdrückten Lachen vorgetragen – vonein und derselben Geschichte über das Zusammentreffen von

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Wanderern und Bären gehört, die sich für einen kurzen, aufrei-benden Moment ein Zelt miteinander teilten; Geschichten vonLeuten, die auf einem Gebirgskamm, von einem plötzlichenSturm überrascht und von mannsdicken Blitzstrahlen getroffen,sich in Dampf auflösten (»es blieb nur noch ’n Brandfleck vonihm übrig«); Geschichten von Zelten, die von stürzenden Bäu-men zerschmettert, von strömendem Regen wie auf Kugellagernganze Abhänge hinuntergerollt, gleitschirmartig in ferne Tälergetragen oder von der Wasserwand einer Sturzflut weggespültwurden; von unzähligen Wanderern, deren letzter Gedanke imAngesicht der erzitternden Erde war: »Was um Himmels wil-len –?«

Bereits die oberflächliche Lektüre von Abenteuerbüchern undein Mindestmaß an Phantasie reichten aus, um sich Situationenauszumalen, in die ich unweigerlich geraten würde: umzingeltvon Wölfen, die der Hunger treibt; in die Flucht geschlagen vonbissigen Ameisen, taumelnd, mir die Kleider vom Leib reißendoder wie versteinert vom Anblick des zum Leben erwachten Un-terholzes, das wie ein Unterwassertorpedo auf mich zukommtund sich als schrankgroßes Wildschwein mit kalten, glänzendenAugen entpuppt, das mich, begleitet von markigen Grunzlauten,mit unstillbarem Appetit auf rosiges, schwabbeliges, vom Stadt-leben verweichlichtes Menschenfleisch lustvoll verzehrt.

Dann wären da noch diverse Krankheiten zu nennen, für dieder Mensch in der Wildnis anfällig ist – Giardiasis, östliche Pfer-deenzephalitis, Rocky-Mountain-Fleckfieber, Lymekrankheit,Ehrlichiosis, Bilharziose, Bruzellose und die bazilläre Ruhr, umnur eine kleine Auswahl zu nennen. Die östliche Pferdeenzepha-litis, durch einen Moskitostich hervorgerufen, greift Gehirn undZentralnervensystem an. Man kann von Glück sagen, wenn manden Rest seines Lebens im Sessel sitzend verbringen darf, mitLätzchen um den Hals – im allgemeinen ist die Krankheit töd-lich. Ein Gegenmittel ist nicht bekannt. Nicht weniger interes-sant ist die Lymekrankheit, die durch den Biß einer winzigenRotwildzecke übertragen wird. Unentdeckt kann das Virus jah-

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relang im menschlichen Körper schlummern, bis es sich in einemwahren Inferno Bahn bricht. Diese Krankheit ist etwas für Leute,die es wirklich wissen wollen. Zu den Symptomen zählen – ohneGarantie auf Vollständigkeit – Kopfschmerzen, Erschöpfungs-zustände, Fieberanfälle, Schüttelfrost, Kurzatmigkeit, Schwin-delgefühl, stechende Gliederschmerzen, Herzrhythmusstörun-gen, Gesichtslähmung, Muskelzuckungen, schwere geistigeSchäden, Verlust der Kontrolle über Körperfunktionen und –was niemanden überraschen wird – chronische Depression.

Hinzu kommt die kaum bekannte Familie der Organismen, dieman als Hantaviren bezeichnet. Sie tummeln sich mit Vorliebe inden Mikroschwaden, die sich über Mäuse- und Rattenkot bilden,und werden in die menschlichen Luftwege eingesogen, wenn derBetreffende versehentlich eine der Atemöffnungen in die Nähehält – indem er sich beispielsweise auf ein Schlafpodest bettet,unter dem kürzlich ein paar Mäuse herumgetollt sind. 1993 ka-men durch eine einzige Hantavirusepidemie im Südwesten derVereinigten Staaten 32 Menschen ums Leben, und im Jahr daraufforderte die Krankheit ihr erstes Opfer auf dem AT. Ein Wande-rer hatte sie sich in einer »nagetierbefallenen Schutzhütte« zuge-zogen, wobei gesagt werden muß, daß alle Schutzhütten auf demAppalachian Trail von Nagetieren befallen sind. Von den be-kannten Viren garantieren nur noch die Tollwut, das Ebolavirusund das HIV einen sicheren Tod. Auch für das Hantavirus gibtes kein Gegenmittel.

Zu guter Letzt gibt es immer noch die Möglichkeit, ermordetzu werden – wir leben schließlich in Amerika. Seit 1974 sind min-destens neun Wanderer auf dem AT ermordet worden, wobei dietatsächliche Zahl schwankt, je nachdem, welche Quelle man kon-sultiert und was man unter dem Wort Wanderer versteht.Während ich den AT entlangwanderte, starben jedenfalls zweiFrauen.

Aus diversen praktischen Gründen, die im wesentlichen mitden langen, zermürbenden Wintern im nördlichen New Englandzu tun haben, stehen jedes Jahr nur entsprechend wenige Monate

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zum Wandern zur Verfügung. Beginnt man die Wanderung imNorden, am Mount Katahdin in Maine, muß man bis Ende Mai,Anfang Juni abwarten, damit aller Schnee geschmolzen ist. Be-ginnt man dagegen in Georgia und arbeitet sich Richtung Nor-den vor, gilt es, die Wanderung zeitlich so zu legen, daß man vorMitte Oktober, wenn der erste Schneefall einsetzt, am Ziel ange-langt ist. Die meisten wandern mit Beginn des Frühjahrs von Sü-den nach Norden und halten idealerweise immer einen Vor-sprung von einigen Tagen vor der schlimmsten Hitze und den lä-stigen und Krankheiten übertragenden Insekten ein. Ich beab-sichtigte, Anfang März im Süden aufzubrechen und rechnetesechs Wochen für die erste Etappe.

Die Frage nach der exakten Länge des Appalachian Trail bleibtein interessantes Rätsel. Der U.S. National Park Service, der sichimmer wieder durch diverse Ungereimtheiten hervortut, bringtes fertig, die Länge des Weges in einem einzigen Prospekt mal mit3.468 Kilometer, mal mit 3.540 Kilometer anzugeben. Die Appa-lachian Trail Guides, der offizielle Wanderführer, ein Schuber mitelf Büchlein, von denen jedes einen bestimmten Bundesstaat odereinen Abschnitt behandelt, spricht nach Belieben von 3.450,3.455, 3.474 und einmal von »über 3459 Kilometern«. Die Appa-lachian Trail Conference legte 1993 die Länge des Wanderwegsauf genau 3.454,6 Kilometer fest, ging dann für ein paar Jahre zuder vagen Angabe »mehr als 3.460 Kilometer« über und kehrteerst kürzlich selbstbewußt zu der präzisen Angabe von 3.467,4Kilometern zurück. Ebenfalls 1993 gingen drei Leute die gesamteStrecke mit einem Meßrad ab und kamen auf eine Distanz von3.483,97 Kilometern. Ungefähr zur gleichen Zeit ergab eine sorg-fältige Überprüfung, die auf Karten der U.S. Geological Surveybasierte, eine Gesamtlänge von 3.408,98 Kilometern.

Eins ist sicher: es ist ein langer Wanderweg, und er ist, egal, anwelchem Ende man startet, weiß Gott nicht leicht. Die Gipfelentlang des Appalachian Trail sind nicht gewaltig, im Vergleichzu den Alpen etwa – der höchste, Clingmans Dome in Tennessee,erreicht gerade mal 2.042 Meter –, aber sie wollen dennoch er-

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klommen werden, und es bleibt nicht bei einem Berg. Mehr als350 Gipfel am AT sind über 1.500 Meter hoch, und in der Um-gebung befinden sich noch einmal tausend weitere. Insgesamtveranschlagt man etwa fünf Monate und fünf Millionen Schritte,um von einem Ende des Trails zum anderen zu kommen.

Natürlich muß man alles, was man unterwegs braucht, auf demRücken mitschleppen. Für andere mag das selbstverständlichsein, aber für mich war es ein kleiner Schock, als mir klar wurde,daß eine Wanderung entlang des AT nicht im entferntesten miteinem gemächlichen Spaziergang in den englischen Cotswoldsoder im Lake District zu vergleichen ist, zu dem man mit einerProvianttasche aufbricht, die ein Lunchpaket und eine Wander-karte enthält, und von dem man am Ende des Tages in einegemütliche Herberge zurückkehrt, zu einem heißen Bad, einemherzhaften Abendessen und einem weichen Bett. Auf dem ATschläft man draußen und kocht sich sein Essen selbst. Kaum ei-nem gelingt es, das Gewicht des Rucksacks auf weniger als 18 Ki-logramm zu reduzieren, und wenn man so viel mit sich herum-schleppt, spürt man jedes einzelne Gramm, das kann ich Ihnenversichern. 3.000 Kilometer zu wandern ist eine Sache, 3.000 Ki-lometer mit einem Kleiderschrank auf dem Rücken sind etwasganz anderes.

Eine erste Ahnung davon, was für ein waghalsiges Unterneh-men das werden würde, bekam ich in unserem DartmouthCo-Op, als ich dort hinging, um mir eine Ausrüstung zu kaufen.Mein Sohn hatte gerade angefangen, nach der Schule in dem La-den zu jobben, ich hatte also strengste Anweisung, mich gut zubenehmen. Vor allem sollte ich nichts Blödes sagen oder tun,nichts anprobieren, wozu ich meinen Bauch hätte entblößenmüssen, nicht sagen: »Wollen Sie mich verarschen?«, wenn mirder Preis eines Artikels genannt würde, betont unaufmerksamtun, wenn mir ein Verkäufer die richtige Pflege oder Nachbe-handlung eines Produktes erläuterte, und unter gar keinen Um-ständen irgend etwas Unpassendes anziehen, zum Beispiel eineSkimütze für Damen aufsetzen, nur so aus Spaß.

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Ich sollte nach einem gewissen Dave Mengle fragen, weil ergroße Abschnitte des Weges selbst gegangen war und so etwaswie ein wandelndes Lexikon in Sachen Outdoor-Bekleidung seinsollte. Mengle entpuppte sich als ein freundlicher, rücksichtsvol-ler Mensch, der schätzungsweise vier Tage lang ununterbrochenund mit großem Interesse über jeden Aspekt einer Wanderaus-rüstung dozieren konnte.

Ich war noch nie so beeindruckt und gleichzeitig so verwirrtworden. Wir gingen einen ganzen Vormittag lang sein Lagerdurch, und Dave konnte dabei Sätze loslassen wie etwa folgen-den: »Der hier hat einen 70 Denier, verschleißresistentenReißverschluß mit hoher Dichte und Doppelzwirnnaht. Ande-rerseits, und in dem Punkt will ich ehrlich zu Ihnen sein« – wo-bei er sich zu mir hinüberbeugte, seine Stimme senkte und einenfreimütigeren Ton anschlug, als wollte er mir eröffnen, besagterReißverschluß sei einmal zusammen mit einem Matrosen auf ei-ner öffentlichen Bedürfnisanstalt verhaftet worden –, »die Nähtesind bandisoliert statt diagonal versetzt, und das Vestibül ist einbißchen eng.«

Da ich beiläufig erwähnt hatte, daß ich in England ein bißchengewandert sei, unterstellte er mir eine gewisse Kompetenz. Ichwollte ihn nicht beunruhigen oder enttäuschen, so daß ich, als ermich fragte, »Was halten Sie eigentlich von Kohlenstoffasern?«nur mit einem mitleidigen Lächeln den Kopf schüttelte, ange-sichts dieses heiklen Dauerthemas, und antwortete: »Wissen Sie,Dave, ich bin in dem Punkt immer noch zu keinem abschließen-den Ergebnis gekommen. Was meinen Sie?«

Gemeinsam diskutierten wir über Kompressionsriemen, er-wogen ernsthaft die relativen Vorteile von Schneeschürzen,Klettverschlüssen, Lastentransferausgleich, Belüftungskanälen,Gewebeschlaufen und Kopfmulden für größere Bewegungsfrei-heit. Das wurde bei jedem Artikel durchexerziert. Selbst bei ei-nem Kochgeschirr aus Aluminium ließen sich Überlegungenhinsichtlich Gewicht, Kompaktheit, Thermodynamik und allge-meiner Nützlichkeit anstellen, die den Verstand stundenlang be-

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schäftigen konnten. Zwischendurch bot sich immer wieder Ge-legenheit, über das Wandern ganz allgemein zu plaudern, wassich jedoch auf die Risiken beschränkte, als da wären Steinschlag,Begegnungen mit Bären, Kocherexplosionen und Schlangen-bisse, die Dave mit einem verschleierten Blick hingebungsvollbeschrieb, bevor er sich wieder dem eigentlichen Thema wid-mete.

Wie gesagt, er redete viel, besonders viel über Gewicht. Mir er-schien es eine Idee zu pingelig, einen bestimmten Schlafsack ei-nem anderen vorzuziehen, weil dieser ein paar Gramm leichterwar, aber immer mehr Ausrüstungsgegenstände türmten sich umuns herum auf, und immer deutlicher wurde mir vorgeführt, wieaus vielen Gramm ganz allmählich ein Kilo wird. Ich hatte nichtdamit gerechnet, so viel zu kaufen – ich besaß bereits Wander-schuhe, ein Schweizer Offiziersmesser und eine Kartentasche ausPlastik, die man an einer Kordel um den Hals trug; ich dachte, ichsei eigentlich bestens ausgestattet – aber je länger ich mit Dave re-dete, desto klarer wurde mir, daß ich dabei war, mich für eine Ex-pedition auszurüsten.

Was mich dann wirklich schockierte, war zum einen, wie teueralles war – jedesmal, wenn Dave ins Lager sprang oder loszog, umdas Gewicht des Gewebes in der Maßeinheit Denier zu überprü-fen, warf ich einen verstohlenen Blick auf die Preisschildchen undwar ausnahmslos entsetzt – und zum anderen, daß jeder Ausrü-stungsgegenstand unweigerlich den Erwerb eines weiteren erfor-derlich machte. Wenn man einen Schlafsack kaufte, brauchte maneinen Packbeutel für den Schlafsack. Der Packbeutel kostete 29Dollar. Für diese Nötigung hatte ich zunehmend weniger Ver-ständnis.

Als ich mich schließlich nach reiflicher Überlegung für einenRucksack entschieden hatte – einen sehr hochwertigen Gregory,vom Allerfeinsten, nach dem Motto: es bringt nichts, hier zuknausern –, fragte Dave: »Was für Gurte wollen Sie dazu haben?«

»Wie bitte?« erwiderte ich und merkte auf der Stelle, daß ichmich am Rand einer gefährlichen Krise befand, auch als Kon-

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sumverweigerung bekannt. Ab jetzt konnte ich nicht mehr un-bekümmert von mir geben: »Packen Sie nur ruhig gleich sechsStück davon ein, Dave. Und wenn ich schon mal dabei bin – vonden anderen Dingern nehme ich acht Stück. Ach, was soll’s,warum nicht gleich zwölf? Man gönnt sich ja sonst nichts.« DerHaufen Klamotten, der mir eben noch verschwenderisch vorge-kommen war und mich irgendwie ganz aufgeregt gemacht hatte –alles neu! alles meins! –, erschien mir plötzlich erdrückend undübertrieben.

»Gurte«, erklärte Dave. »Um Ihren Schlafsack draufzuschnal-len und Sachen festzubinden.«

»Gehören die Gurte nicht dazu?« sagte ich leicht gereizt.»Nein.« Er ließ seinen Blick über eine Wand, vollbehängt mit

Kleinkram, schweifen. »Jetzt brauchen Sie natürlich auch nocheinen Regenschutz.«

Ich sah ihn verständnislos an. »Einen Regenschutz? Wozu dasdenn?«

»Gegen den Regen.«»Ist der Rucksack denn nicht wasserdicht?«Er verzog das Gesicht, als müßte er einen höchst schwierigen

Sachverhalt klären. »Na ja, nicht hundertprozentig …«Das fand ich höchst seltsam. »Wirklich? Ist dem Hersteller nie

in den Sinn gekommen, daß die Kunden ihre Rucksäcke gele-gentlich auch mal mit nach draußen nehmen wollen? Vielleichtsogar über Nacht draußen zelten wollen? Wieviel kostet derRucksack eigentlich?«

»250 Dollar.«»250 Dollar? Wollen Sie mich verarsch…«Ich unterbrach mich und schlug einen anderen Ton an. »Soll

das heißen, man zahlt 250 Dollar für einen Rucksack, der keineGurte hat und nicht wasserdicht ist?«

Dave nickte.»Hat er wenigstens einen Boden?«Mengle grinste verlegen. Kritik an der unerschöpflichen, viel-

versprechenden Welt der Wanderausrüstung oder gar Überdruß

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gehörte nicht zu seinem Wesen. »Die Gurte gibt es in sechs ver-schiedenen Farben«, bot er mir zur Versöhnung an.

Zum Schluß hatte ich so viel Ausrüstung beisammen, daß icheinen ganzen Treck Sherpas hätte beschäftigen können: Zelt füreinen Drei-Jahreszeiten-Einsatz; Isoliermatte, die sich selbst auf-bläst; Kombitöpfe und -pfannen; Klappbesteck; Plastikteller und-tasse; Wasserfilter mit einem komplizierten Pumpsystem; Pack-beutel in allen Regenbogenfarben; Nahtdichter; Klebeflicken;Schlafsack; Spanngurte; Wasserflaschen; wasserdichter Poncho;wasserfeste Sturm-Zündhölzer; Regenschutz; ein niedlicherSchlüsselanhänger mit eingebautem Minikompaß und Thermo-meter; ein kleiner, zusammenklappbarer Kocher, der eindeutigÄrger zu machen versprach; Gaskartusche und Ersatzkartusche;eine Taschenlampe, die man sich wie eine Grubenlampe auf dieStirn setzt, so daß die Hände frei sind (die gefiel mir sehr gut); eingroßes Messer, um Bären und andere Hinterwäldler abzumurk-sen; Thermo-Unterwäsche; lange Unterhosen und Unterhem-den; vier große Tücher, auch als Stirnbänder zu benutzen, undjede Menge anderer Sachen, für die ich extra nochmal in den La-den zurückgehen mußte, um zu fragen, wozu sie eigentlich gutwaren. Bei einem Designer-Zeltboden für 59,95 Dollar war beimir Schluß, weil ich wußte, daß es im Supermarkt Zeltplanen fürfünf Dollar gab. Ein Erste-Hilfe-Set, ein Nähset, ein Schlangen-biß-Set, eine Trillerpfeife für zwölf Dollar und einen kleinenorangefarbenen Spaten, um seine Hinterlassenschaft zu verbud-deln, ließ ich ebenfalls links liegen mit der Begründung, daß dieseDinge nicht nötig und zu teuer seien oder man sich damit derLächerlichkeit preisgeben würde. Besonders der kleine orange-farbene Spaten schien mir zuzurufen: »Grünschnabel! Schlapp-schwanz! Ist sich zu fein für die eigene Scheiße!«

Um gleich alles in einem Aufwasch zu erledigen, ging ich nochnach nebenan in den Buchladen von Dartmouth und kaufteBücher – The Thru-Hiker’s Handbook, Walking the Appala-chian Trail, diverse Bücher über wildlebende Tiere und wild-wachsende Pflanzen, naturwissenschaftliche Werke, einen histo-

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rischen Abriß über die geologische Entwicklung des Appala-chian Trail von einem Autor mit dem köstlichen Namen V. Col-lins Chew, und die bereits erwähnte, vollständige Sammlung deroffiziellen Appalachian Trail Guides, die elf Taschenbücher und59 Karten umfaßt, letztere allesamt von unterschiedlicher Größeund Aufmachung und mit verschiedenen Maßstäben. Diese An-thologie stellt den gesamten Weg vom Springer Mountain biszum Mount Katahdin dar und ist zu dem stolzen Preis von 233,45Dollar zu haben. Beim Hinausgehen fiel mir ein Buch auf, Bären:Jäger und Gejagte in Amerikas Wildnis. Ich schlug es wahllos auf,las den Satz: »Hier haben wir ein typisches Beispiel für den nichtselten auftretenden Fall, daß ein Schwarzbär einen Menschen er-blickt und beschließt, ihn zu töten und zu fressen«, und warf esgleich mit in die Einkaufstüte.

Ich brachte den Krempel nach Hause und trug ihn in mehre-ren Etappen runter in den Keller. Es war ungeheuer viel, und mitder ganzen Technik der Ausrüstung war ich absolut nicht ver-traut; es war spannend und gleichzeitig beängstigend, hauptsäch-lich beängstigend. Ich setzte die Stirnlampe auf, nur so zumSpaß, zog das Zelt aus der Plastikhülle und baute es auf. Ich rolltedie Isomatte aus, die sich selbst aufblies, schob sie ins Zelt undkroch dann selbst mit meinem neuen Schlafsack hinein. Dannschlüpfte ich in den Schlafsack und blieb eine ganze Weile so lie-gen. Dabei versuchte ich, mich in der teuren, arg begrenzten,noch seltsam neu riechenden, gänzlich ungewohnten Räumlich-keit, die schon bald mein Zuhause fern von zu Hause sein würde,zurechtzufinden. Ich versuchte mir vorzustellen, ich läge nicht ineinem Keller, neben dem gemütlichen Heizungskessel mit seinemgezähmten Gebrumm, sondern draußen, auf einem hohen Ge-birgspaß, lauschte dem Wind und dem Blätterrauschen, dem ein-samen Heulen hundeähnlicher Geschöpfe, dem heiseren Flü-stern, aus dem unüberhörbar der Dialekt aus den Bergen von Georgia herausklang: »He, Virgil, hier liegt einer. Hast du an dasSeil gedacht?« Es wollte mir nicht gelingen.

Seit ich im Alter von ungefähr neun Jahren aufgehört hatte, aus

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Decken und Spieltischen Hütten zu bauen, hatte ich mich nichtmehr in so einer Umgebung aufgehalten. Es war sogar ziemlichurig, und wenn man sich erstmal an den Geruch, von dem ich na-iverweise annahm, er würde sich im Laufe der Zeit verflüchtigen,und an die kränklich blaßgrüne Färbung gewöhnt hatte, die dasMaterial allen Dingen um einen herum wie der Schein einesleuchtenden Radarschirms verlieh, war es gar nicht so furchtbar.Vielleicht ein bißchen klaustrophobisch, komisch riechend, aberdennoch gemütlich und urig.

Es würde schon nicht so schlimm werden, redete ich mir ein.Aber insgeheim wußte ich, daß ich mich gründlich irrte.

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2. Kapitel

Am 5. Juli 1983 schlugen drei erwachsene Aufseher und eineGruppe Jugendlicher an einer bei Wanderern beliebten Stelle amLake Canimina mitten in einem würzig riechenden Kiefernwaldwestlich von Quebec, ungefähr 130 Kilometer nördlich von Ot-tawa, in einem Park, der sich La Vérendrye Provincial Reservenennt, nachmittags ihr Lager auf. Sie kochten sich ein Abendes-sen und verstauten anschließend ihre Lebensmittelvorräte, wie essich gehört, in einen Beutel, trugen diesen etwa 100 Meter weit inden Wald hinein und hängten ihn zwischen zwei Bäumen auf, ineiner Höhe, die für Bären nicht zu erreichen war.

Um Mitternacht strich ein Schwarzbär am Rand des Lagersherum, entdeckte den Beutel und holte ihn herunter, indem er aufden Baum kletterte und einen Ast abknickte. Er plünderte denVorrat und verschwand, kehrte aber eine Stunde später wiederzurück und betrat diesmal das Lager, angezogen von dem Geruchgebratenen Fleischs, der noch in den Kleidern und Haaren, denSchlafsäcken und Zelten der Leute hing. Es sollte eine langeNacht für die Gruppe am Lake Canimina werden. Zwischen Mit-ternacht und halb vier stattete der Bär dem Lager dreimal einenBesuch ab.

Stellen Sie sich, falls Sie Masochist sind, vor, Sie liegen mutter-seelenallein im Dunkeln in einem kleinen Zelt, zwischen Ihnenund der kalten Nachtluft nur eine Nylonmembran von ein paartausendstel Millimeter Dicke, und draußen rumort dieser zent-nerschwere Koloß. Stellen Sie sich vor, Sie hören sein leises Grun-zen und unerklärliches Schniefen, das Schmatzen und Nagen, dasTapsen der Ballen unter den Tatzen, den schweren Atem, dasGeräusch, wenn er sich an Ihrer Zeltwand reibt, das Klappernvon gestapeltem Kochgeschirr, wenn er dagegentritt. Stellen Sie

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sich vor, was für ein heißer Adrenalinschub durch Ihren Körpergeht, wie es in Ihren Achselhöhlen kribbelt – dann der plötzliche,rauhe Stoß der Schnauze des Tieres gegen die Wand am FußendeIhres Zeltes, das alarmierend wilde Flattern Ihrer dünnhäutigenHülle, wenn das Tier Ihren Rucksack durchwühlt, den Sie un-achtsamerweise am Eingang aufgebockt haben und in dessen Sei-tentasche sich, wie Ihnen siedendheiß einfällt, ein Snickers befin-det. Bären sind geradezu versessen auf Snickers, haben Sie malgehört.

Und dann das dumpfe Gefühl – ach, du meine Güte –, daß Sieden Snickers-Riegel mit ins Zelt genommen haben, daß er hier ir-gendwo liegt, zu ihren Füßen oder unter Ihnen, oder – ach, duScheiße, hier ist er ja! Der nächste Stoß der Schnauze, begleitetvon einem Grunzen, gegen das Zelt, diesmal unweit Ihrer Schul-ter. Wieder das Flattern der Zeltwand. Dann Stille, eine lang an-haltende Stille, und – Moment, psssst! … jawohl! – die unsägli-che Erleichterung, als Ihnen klar wird, daß der Bär hinüber aufdie andere Seite des Lagers geschlurft ist oder sich zurück in denWald verzogen hat.

Ich sage Ihnen, ich würde das nicht aushalten.Nun stellen Sie sich vor, wie erst dem kleinen zwölfjährigen

David Anderson zumute gewesen sein mußte, als um halb viermorgens, bei dem dritten Übergriff, sein Zelt urplötzlich mit ei-nem Tatzenhieb aufgeschlitzt wurde und der Bär, von dem star-ken, in der Luft liegenden Geruch nach Hamburgern zur Rase-rei getrieben, seine Zähne in ein hastig zurückzuckendes Beinschlug und den brüllenden, strampelnden Knaben durch das La-ger schleppte, hinein in den Wald. In den wenigen Sekunden, dieseine Kameraden brauchten, um sich aus ihren Sachen zu schälen.Und stellen Sie sich weiter vor, was es heißt, sich aus plötzlich vo-luminösen Schlafsäcken herauszuwühlen, nach den Taschenlam-pen zu kramen, sich einen provisorischen Knüppel zu schnap-pen, die Zeltverschlüsse hochzuziehen und hinter dem Tier her-zujagen – in diesen wenigen Sekunden hauchte der arme kleineDavid Anderson sein Leben aus.

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Und nun stellen Sie sich vor, Sie läsen ein Sachbuch, in dem esnur so wimmelt von solchen Geschichten – wahren Geschichten,nüchtern erzählt –, kurz bevor Sie allein zu einer Wanderungdurch die nordamerikanische Wildnis aufbrächen. Das Buch, vondem hier die Rede ist, heißt Bären: Jäger und Gejagte in Ameri-kas Wildnis, und der Verfasser ist der kanadische WissenschaftlerStephen Herrero. Wenn das Buch nicht das letzte Wort in dieserAngelegenheit ist, dann möchte ich das letzte Wort lieber nichterfahren. Während sich draußen in New Hampshire der Schneeauftürmte und meine Frau friedlich neben mir im Bett schlum-merte, verbrachte ich ganze Nächte damit, mit angstvoll aufge-rissenen Augen klinisch exakte Berichte über Menschen zu lesen,die in ihren Schlafsäcken zu Brei zermalmt, die wimmernd vonBäumen heruntergeholt worden waren, an die die Bestie sichgeräuschlos herangepirscht hatte – ich wußte nicht, daß so etwasvorkam –, als sie gerade unbedarft durchs Laub schlendertenoder ihre Füße in einem kalten Gebirgsbach baumeln ließen.Über Menschen, die den verhängnisvollen Fehler begangen hat-ten, sich wohlriechendes Gel ins Haar zu schmieren, ein saftigesStück Fleisch zu essen, sich für später einen Snickers-Riegel indie Brusttasche zu stecken, sich sexuell zu betätigen, zu men-struieren oder die Geruchsempfindlichkeit des hungrigen Bärenin sonstwie unachtsamer Weise zu reizen. Oder deren Verhäng-nis, auch das gab es, schlicht darin bestand, außerordentlichgroßes Pech zu haben – um eine Kurve zu gehen und auf einhungriges Bärenmännchen zu treffen, das den Weg versperrt, denKopf erwartungsvoll hin und her wiegt, oder darin, nichts Bösesahnend in das Revier eines Bären zu tapern, der, bedingt durchAlter und Trägheit, zu alt war, um flinkere Beute zu jagen.

Ich will gleich klarstellen, daß die Wahrscheinlichkeit einesschweren Übergriffs durch einen Bären am Appalachian Trailäußerst gering ist. Zunächst einmal wütet der wirklich gefährli-che amerikanische Bär, der Grizzly – Ursus horribilis, wie er an-schaulich und korrekterweise bezeichnet wird –, nicht östlich desMississippi, was immerhin von Vorteil ist, denn Grizzlys sind

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riesig, stark und geraten schnell in Wut. Als Meriwether Lewisund William Clark zu Beginn des letzten Jahrhunderts zu ihrerExpedition in die Wildnis aufbrachen, stellten sie fest, daß nichtsdie eingeborenen Indianer mehr zermürbte als ein Grizzlybär.Und das ist nicht weiter erstaunlich, denn man kann einenGrizzly mit Pfeilen durchlöchern, ihn buchstäblich damitspicken, so daß er aussieht wie ein Stachelschwein – er wird im-mer noch nicht aufgeben. Selbst Lewis und Clark zeigten sich er-staunt und verunsichert über die Fähigkeit des Grizzlys, ganzeGeschützsalven zu verkraften, ohne auch nur leicht ins Wankenzu geraten.

Herrero berichtet von einem Fall, der die Robustheit desGrizzlys sehr schön veranschaulicht. Die Geschichte handelt voneinem erfahrenen Jäger in Alaska, Alexei Pitka, der sich durchden Schnee an ein großes Männchen herangeschlichen und es miteinem gezielten Schuß ins Herz aus einem großkalibrigen Ge-wehr niedergestreckt hatte. Pitka hätte vorher noch einmal in denVerhaltensregeln nachlesen sollen. »Erst überprüfen, ob der Bärauch wirklich tot ist. Dann Waffe ablegen.« Er näherte sich be-hutsam und beobachtete ein, zwei Minuten lang, ob der Bär sichnicht rührte. Als er keine Regung feststellen konnte, lehnte ersein Gewehr gegen einen Baum (schwerer Fehler!) und trat vor,um seine Beute zu beanspruchen. Gerade wollte er das Fellberühren, da sprang der Bär auf, legte ihm seine breiten Tatzenum den Kopf, als wollte er ihm einen Kuß geben, und riß ihm miteinem Ruck das Gesicht weg.

Pitka überlebte wie durch ein Wunder. »Ich weiß auch nicht,wieso ich das Scheißgewehr an den Baum gestellt habe«, sagte erspäter. (Eigentlich war nur »Mnnnpfffnnnndgnnn« zu verstehen,da Pitka weder über Lippen, Zähne, Nase, Zunge noch über einanderes Stimmorgan mehr verfügte.)

Sollte ich betätschelt und angeknabbert werden – was mir im-mer wahrscheinlicher erschien, je mehr ich las –, dann von einemSchwarzbären, Ursus americanus. Es gibt ungefähr eine halbeMillion Schwarzbären in Amerika, vielleicht sogar eine dreivier-

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tel Million. Sie sind sehr verbreitet in den Bergen entlang des Ap-palachian Trail, ja sie benutzen den Weg sogar gern, weil er so be-quem ist, und ihre Zahl ist im Steigen begriffen. Die Zahl derGrizzlybären dagegen beläuft sich, bezogen auf ganz Nordame-rika, auf höchstens 35.000; davon entfallen gerade einmal 1.000auf das Herzland der Vereinigten Staaten, hauptsächlich auf denYellowstone National Park und Umgebung. Schwarzbären sindin der Regel kleiner (das ist allerdings relativ zu sehen, denn einSchwarzbärmännchen kann immer noch 300 Kilo auf die Waagebringen), und sie sind eindeutig zurückhaltender.

Schwarzbären greifen selten von sich aus an, aber manchmaleben doch. Alle Bären sind behende, schlau und unglaublichstark, und sie haben immer Hunger. Sie können einen Menschentöten und fressen, wenn sie wollen, und sie tun es auch – wennsie wollen. Es kommt nicht oft vor, aber – und das ist der sprin-gende Punkt: einmal reicht. Herrero gibt sich alle Mühe, daraufhinzuweisen, daß Schwarzbärattacken zahlenmäßig selten sind.Für den Zeitraum von 1900 bis 1980 konstatierte er lediglich 23Tötungen von Menschen durch einen Schwarzbären (das sindhalb so viele Tötungen wie durch Grizzlybären), und die meistenereigneten sich im Westen oder in Kanada. In New Hampshirehat jedenfalls seit 1784 kein unprovozierter tödlicher Übergriffeines Bären auf einen Menschen mehr stattgefunden, und in Ver-mont sogar noch nie.

Ich hätte mich von diesen quasi Versprechungen ja gerne trö-sten lassen, aber mir fehlte es an der nötigen Glaubenskraft. DerAussage, daß zwischen 1960 und 1980 500 Menschen vonSchwarzbären angegriffen und verletzt wurden – 25 Übergriffepro Jahr, bei einer Population von mindestens einer halben Mil-lion Bären –, fügt Herrero hinzu, die meisten Verletzungen seiennicht schwer gewesen. »Die typischen, von einem Bären zuge-fügten Verletzungen«, schreibt er kühl, »sind nur geringfügigerNatur und beschränken sich für gewöhnlich auf ein paar Kratzeroder leichte Bißwunden.« Was, bitteschön, ist eine leichteBißwunde? Geht es hier um spielerische Ringkämpfe und Na-

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senstüber? Wohl kaum. Und sind 500 nachgewiesene Übergriffetatsächlich eine so bescheidene Zahl, wenn man bedenkt, daß nurwenige Menschen die Wälder Nordamerikas je betreten? Undwie blöd muß man sein, damit einen die Information, in Vermontund New Hampshire sei seit 200 Jahren kein Mensch mehr voneinem Bären getötet worden, beruhigen kann? Die Angriffe blie-ben ja nicht aus, weil die Bären ein Abkommen mit den Men-schen ausgehandelt hatten. Es spricht nichts dagegen, daß sienicht schon morgen ein kleines Massaker anrichten.

Stellen wir uns also vor, ein Bär in der Wildnis hätte es auf unsabgesehen. Wie soll man sich verhalten?

Interessanterweise sind die empfohlenen Tricks bei Grizzly-beziehungsweise Schwarzbärattacken genau gegensätzlich. Beidem Überfall eines Grizzlybären sollte man den nächsten hohenBaum aufsuchen, da Grizzlys keine guten Kletterer sind. Wennkein Baum in Reichweite ist, sollte man langsam rückwärts gehenund dabei den Blickkontakt vermeiden. Alle Bücher raten einem,auf keinen Fall zu rennen, wenn der Grizzly auf einen zukommt.Solche Ratschläge können nur von Schreibtischtätern kommen.Lassen Sie sich gesagt sein: Wenn Sie sich in einem offenenGelände befinden und keine Waffe dabei haben, dann nehmen Siebesser die Beine in die Hand. Was bleibt Ihnen schon anderesübrig? So haben Sie in den letzten sieben Sekunden Ihres Lebenswenigstens etwas zu tun. Sollte der Grizzly Sie jedoch einholen,was mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der Fall seinwird, lassen Sie sich auf den Boden fallen und stellen Sie sich tot.An einem schlaffen Körper knabbert der Grizzly nur einbißchen herum, im allgemeinen verliert er nach wenigen Minu-ten die Lust und schlurft davon. Bei Schwarzbären dagegen istder Trick, sich tot zu stellen, vergeblich, denn sie knabbern wei-ter an einem herum, bis auch der beste plastische Chirurg späternichts mehr ausrichten kann. Auf einen Baum zu klettern wäreebenfalls ziemlich töricht, denn Schwarzbären sind geschickteKletterer, und man würde den Kampf gegen den Bären lediglichauf den Baum verlagern, wie Herrero trocken feststellt.

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Am besten, schlägt Herrero vor, sollte man einen Höllenlärmveranstalten, um einen aggressiven schwarzen Bären zu vertrei-ben, auf Töpfe und Pfannen schlagen, mit Stöcken und Steinenwerfen und »auf den Bär zulaufen«. (Bitte. Wenn Sie als erster ge-hen, Herr Professor!) Andererseits, fügt er vernünftigerweisehinzu, könnten diese Tricks »den Bären erst recht provozieren«.Vielen Dank auch. An anderer Stelle empfiehlt Herrero, als Wan-derer solle man daran denken, gelegentlich Krach zu machen,zum Beispiel ein Lied zu singen, um einen Bären vor seiner An-wesenheit zu warnen, da ein überraschter Bär höchstwahr-scheinlich wütender sein wird. Doch dann mahnt er ein paar Sei-ten weiter, daß »es gefährlich sein könnte, Krach zu machen«, daer einen hungrigen Bären anlocken könnte, der einen sonst über-sehen hätte.

Tatsache ist: Keiner kann einem sagen, was man machen soll.Bei Bären weiß man vorher nie, wie sie reagieren, und was beidem einen klappt, ist bei dem anderen vielleicht verhängnisvoll.Im Jahre 1973 hatten sich zwei Teenager, Mark Seeley undMichael Whitten, zu einer Wanderung durch den YellowstoneNational Park aufgemacht und gerieten unterwegs unabsichtlichzwischen eine Schwarzbärmutter und ihre Jungen. Nichts bringteine Bärenmutter mehr in Rage als Menschen, die sich in derNähe ihrer Brut aufhalten. Wütend drehte sie sich um und eröff-nete die Jagd – trotz des etwas tapsigen Gangs können Bären biszu 60 Stundenkilometer schnell laufen – und die beiden Jungenerkletterten den nächsten Baum. Der Bär sprang Whitten hin-terher, faßte mit dem Maul seinen rechten Fuß und zog ihn lang-sam und geduldig von seinem Hochsitz herunter. (Spüren Sie daauch, wie sich Ihre Fingernägel in der Rinde verkrallen, oder gehtdas nur mir so?) Auf der Erde fing der Bär an, den Jungen übelzuzurichten. Seeley versuchte, das Tier von seinem Freund weg-zulocken und brüllte es an, worauf es losließ und auch ihn vonseinem Baum herunterholte. Beide Jungen stellten sich daraufhintot – nach den Verhaltensmaßregeln genau das Verkehrte –, undder Bär verschwand.

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Ich möchte nicht behaupten, daß ich wie besessen von demThema war, aber es beschäftigte meine Gedanken während derMonate, in denen ich darauf wartete, daß endlich der Frühlingkäme. Mein besonderer Schrecken – die lebhafte Phantasie, diemich Nacht für Nacht die Baumschatten an der Schlafzimmer-decke anstarren ließ – war die Vorstellung, ich läge in einem klei-nen Zelt, allein in der pechschwarzen Wildnis, hörte draußen ei-nen Bär, der auf Futtersuche wäre, und hätte keine Ahnung, waser nun vorhatte. Vor allem ein Amateurfoto in Herreros Buch fas-zinierte mich. Es war spät nachts von einem Camper auf einemLagerplatz irgendwo im Westen der USA mit Blitzlicht aufge-nommen worden. Der Fotograf hatte vier Schwarzbären er-wischt, die sich darüber den Kopf zerbrachen, wie sie an einenVorratsbeutel kommen sollten, der von einem Ast herunterhing.Die Bären wirkten zwar überrascht – von dem Blitzlicht vermut-lich –, aber sie waren nicht im geringsten erschrocken. Es war we-niger die Größe oder das Verhalten der Bären, was mich beunru-higte – sie sehen komischerweise völlig harmlos aus, wie vierjunge Männer, deren Frisbeescheibe im Baum gelandet war – alsihre Zahl. Bis dahin hatte ich mir nicht klargemacht, daß Bärenauch in Rudeln herumstrolchen konnten. Was um Himmels wil-len sollte ich machen, wenn plötzlich vier von diesen Ungeheu-ern in mein Lager kämen? Na, was schon? Ich würde natürlichsterben. Buchstäblich tausend Tode sterben, mir in die Hose ma-chen vor Angst, mir den Schließmuskel aus dem Hintern pusten,so wie die Luftschlangen, die man auf Kindergeburtstagen be-kommt – ich glaube, es würde das Tier nicht im geringsten be-eindrucken – und in meinem Schlafsack jämmerlich verbluten.

Herreros Buch erschien 1985. Seit damals haben, nach einemArtikel in der New York Times, die Übergriffe durch Bären inNordamerika um 25 Prozent zugenommen. In dem Artikel hießes außerdem, Bären gingen im Frühjahr nach einer schlechtenBeerenernte wesentlich häufiger auf Menschen los als sonst. DieBeerenernte im Vorjahr war katastrophal ausgefallen. Das gefielmir alles nicht.

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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Bill Bryson

Picknick mit Bären

eBookISBN: 978-3-641-07923-9

Goldmann

Erscheinungstermin: Dezember 2011

Bill Bryson will es seinen gehfaulen Landsleuten zeigen:Gemeinsam mit seinem Freund Katz, der aufgrund gewaltiger Leibesfülle und einerfestverwurzelten Leidenschaft für Schokoriegel nicht gerade die besten Voraussetzungen dafürmitbringt, will er den längsten Fußweg der Welt, den "Appalachian Trail", bezwingen. Eineabenteuerliche Reise quer durch zwölf Bundesstaaten der USA beginnt... Ein Reisebericht der etwas anderen Art - humorvoll, selbstironisch und mit einem scharfen Blickfür die Marotten von Menschen und Bären!