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Frühförderung und Sozialpädiatrie Armin Sohns Bioethische Aspekte in der Frühförderung und Sozialpädiatrie Veröffentlicht in: Biotechnologie in den Kontex- ten der Sozial- und Gesundheitsberufe. Profes- sionelle Praxen - Disziplinäre Nachbarschaften - Gesellschaftliche Leitbilder. Hg. von Susanne Dungs, Uwe Gerber, Eric Mührel. Frankfurt/Main: Lang, September 2008. Abgrenzung des Systems der interdiszipli- nären Frühförderung Bei der Frage, inwieweit die Implementierung aktueller biowissenschaftlicher Entwicklungen in die soziale Praxis der Gesellschaft hinein fortge- schritten ist und zu deren Veränderung beiträgt, drängt sich das Arbeitsfeld der Frühförderung einschließlich der Sozialpädiatrie zunächst nicht auf. Viel ist geschrieben innerhalb dieses Kapi- tels „Soziale Arbeit und Biotechnologien" über Auswirkungen auf die Heilpädagogik, die Pflege, die Biomedizin und über direkte oder indirekte Zwänge durch neue technologische Möglichkei- ten - v.a. im Bereich der Pränatal- und Präim- plantationsdiagnostik. Aber in der Frühförde- rung? Hier geht es primär darum, Kindern mit (drohenden) Behinderungen, sogenannten „Stö- rungen" oder Entwicklungsrisiken bis zur Ein- schulung entwicklungsfördernde Hilfen zukom- men zu lassen - durch gezielte Förderung der Kinder selbst oder durch die Begleitung und Be- ratung ihrer Bezugspersonen (vorwiegend der Eltern). "Grundanliegen der Sozialpädiatrie und der Frühförderung ist die Sicherung der körperli- chen, geistigen und psychoemotionalen Ge- sundheit von Kindern und Jugendlichen durch präventive, kurative, therapeutische und päd- agogische sowie beratende Maßnahmen. Dies geschieht unter Einbeziehung des sozialen Um- feldes und berücksichtigt psychosoziale Interak- tionen, die alle Entwicklungsverläufe mitbestim- men" (Weiß/Neuhäuser/Sohns 2004, 130). Die Abgrenzung der Frühförderung und ihren wesentlichen Arbeitsauftrag haben die Gesetz- geber (Bund und Länder) mit dem Rehabilitati- onsgesetz (SGB IX) 2001 und zur näheren Aus- gestaltung mit der Frühförderungsverordnung (FrühV) 2003 vollzogen: Hier sollen durch inter- disziplinäre Frühförderstellen und Sozialpädiatri- sche Zentren (§1 FrühV) sowohl heilpädagogi- sche Hilfen als auch Leistungen zur medizini- schen Rehabilitation angeboten werden (§2 FrühV). Dazu gibt es in Deutschland über 1.000 Frühfördereinrichtungen (Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung 2005) 1 . Ne- ben den eigenständigen Aufgabenfeldern der Früherkennung und Diagnostik sowie der Be- handlung und Förderung der Kinder sieht die FrühV (§ 5 Abs. 2 i.V. mit §6) für die Frühförder- stellen umfangreiche Aufgabenstellungen zur „Beratung der Erziehungsberechtigten" vor, bis hin zu Hilfen bei der Alltagsgestaltung oder der Unterstützung bei der Verarbeitung der Behin- derung oder Krankheit des Kindes. Insgesamt hat Frühförderung familienorientierte Hilfen in ei- nem interdisziplinär organisierten Gesamtsys- tem „unter Einbeziehung des sozialen Umfel- des" (§2 FrühV) anzubieten. Die über 130 Sozialpädiatrischen Zentren sollen auf ärztliche Überweisung einbezogen werden, wenn die Kinder auf Grund besonders schwer- wiegender Fragestellungen durch niedergelas- sene Ärzte oder interdisziplinäre Frühförderstel- len „nicht behandelt werden können" (§4). Sie sollen mit den niedergelassenen Ärzten und Frühförderstellen eng zusammenarbeiten (§119 SGB V). Alle drei Systeme sind entsprechend wesentlicher Bestandteil der Frühförderung. Prä- und postnatale Beratung - Relevanz für die Frühförderung? Wenn es nun aber zu den (gesetzlich fundier- ten) Grundsatzaufgaben von Frühförderung ein- schließlich der Sozialpädiatrie gehört, Eltern bei Unsicherheiten bzgl. der Entwicklung ihres Kin- des oder nach einer Diagnosemitteilung zu be- gleiten, müssen die Frühförderfachkräfte sich mit fundamentalen Fragen auseinandersetzen, z.B. 1 Wir schätzen, dass ihre Zahl sich seit der letzten Auflistung durch das Bundesministerium auf über 1.600 erhöht hat, insbesondere durch eine hohe Zahl sog. „Heilpädagogischer Praxen", die nach mehrfa- chen Änderungen des §93 BSHG in den 1990er Jah- ren in hoher Zahl regionale Leistungsvereinbarungen mit den örtlichen Sozialhilfeträgern abgeschlossen haben. Frühförderung und vorschulische Bildung - Fachtagung April 2008

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Frühförderung und Sozialpädiatrie

Armin Sohns

Bioethische Aspekte in der Frühförderung undSozialpädiatrie

Veröffentlicht in: Biotechnologie in den Kontex-ten der Sozial- und Gesundheitsberufe. Profes-sionelle Praxen - Disziplinäre Nachbarschaften -Gesellschaftliche Leitbilder. Hg. von SusanneDungs, Uwe Gerber, Eric Mührel.Frankfurt/Main: Lang, September 2008.

Abgrenzung des Systems der interdiszipli-nären Frühförderung

Bei der Frage, inwieweit die Implementierungaktueller biowissenschaftlicher Entwicklungen indie soziale Praxis der Gesellschaft hinein fortge-schritten ist und zu deren Veränderung beiträgt,drängt sich das Arbeitsfeld der Frühförderungeinschließlich der Sozialpädiatrie zunächst nichtauf. Viel ist geschrieben innerhalb dieses Kapi-tels „Soziale Arbeit und Biotechnologien" überAuswirkungen auf die Heilpädagogik, die Pflege,die Biomedizin und über direkte oder indirekteZwänge durch neue technologische Möglichkei-ten - v.a. im Bereich der Pränatal- und Präim-plantationsdiagnostik. Aber in der Frühförde-rung? Hier geht es primär darum, Kindern mit(drohenden) Behinderungen, sogenannten „Stö-rungen" oder Entwicklungsrisiken bis zur Ein-schulung entwicklungsfördernde Hilfen zukom-men zu lassen - durch gezielte Förderung derKinder selbst oder durch die Begleitung und Be-ratung ihrer Bezugspersonen (vorwiegend derEltern).

"Grundanliegen der Sozialpädiatrie und derFrühförderung ist die Sicherung der körperli-chen, geistigen und psychoemotionalen Ge-sundheit von Kindern und Jugendlichen durchpräventive, kurative, therapeutische und päd-agogische sowie beratende Maßnahmen. Diesgeschieht unter Einbeziehung des sozialen Um-feldes und berücksichtigt psychosoziale Interak-tionen, die alle Entwicklungsverläufe mitbestim-men" (Weiß/Neuhäuser/Sohns 2004, 130).

Die Abgrenzung der Frühförderung und ihrenwesentlichen Arbeitsauftrag haben die Gesetz-geber (Bund und Länder) mit dem Rehabilitati-onsgesetz (SGB IX) 2001 und zur näheren Aus-gestaltung mit der Frühförderungsverordnung(FrühV) 2003 vollzogen: Hier sollen durch inter-disziplinäre Frühförderstellen und Sozialpädiatri-sche Zentren (§1 FrühV) sowohl heilpädagogi-

sche Hilfen als auch Leistungen zur medizini-schen Rehabilitation angeboten werden (§2FrühV). Dazu gibt es in Deutschland über 1.000Frühfördereinrichtungen (Bundesministerium fürGesundheit und Soziale Sicherung 2005)1. Ne-ben den eigenständigen Aufgabenfeldern derFrüherkennung und Diagnostik sowie der Be-handlung und Förderung der Kinder sieht dieFrühV (§ 5 Abs. 2 i.V. mit §6) für die Frühförder-stellen umfangreiche Aufgabenstellungen zur„Beratung der Erziehungsberechtigten" vor, bishin zu Hilfen bei der Alltagsgestaltung oder derUnterstützung bei der Verarbeitung der Behin-derung oder Krankheit des Kindes. Insgesamthat Frühförderung familienorientierte Hilfen in ei-nem interdisziplinär organisierten Gesamtsys-tem „unter Einbeziehung des sozialen Umfel-des" (§2 FrühV) anzubieten.

Die über 130 Sozialpädiatrischen Zentren sollenauf ärztliche Überweisung einbezogen werden,wenn die Kinder auf Grund besonders schwer-wiegender Fragestellungen durch niedergelas-sene Ärzte oder interdisziplinäre Frühförderstel-len „nicht behandelt werden können" (§4). Siesollen mit den niedergelassenen Ärzten undFrühförderstellen eng zusammenarbeiten (§119SGB V). Alle drei Systeme sind entsprechendwesentlicher Bestandteil der Frühförderung.

Prä- und postnatale Beratung - Relevanz fürdie Frühförderung?

Wenn es nun aber zu den (gesetzlich fundier-ten) Grundsatzaufgaben von Frühförderung ein-schließlich der Sozialpädiatrie gehört, Eltern beiUnsicherheiten bzgl. der Entwicklung ihres Kin-des oder nach einer Diagnosemitteilung zu be-gleiten, müssen die Frühförderfachkräfte sichmit fundamentalen Fragen auseinandersetzen,z.B.

1 Wir schätzen, dass ihre Zahl sich seit der letztenAuflistung durch das Bundesministerium auf über1.600 erhöht hat, insbesondere durch eine hohe Zahlsog. „Heilpädagogischer Praxen", die nach mehrfa-chen Änderungen des §93 BSHG in den 1990er Jah-ren in hoher Zahl regionale Leistungsvereinbarungenmit den örtlichen Sozialhilfeträgern abgeschlossenhaben.

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Bioethische Aspekte

Was ist Krankheit oder Behinderung?Was ist gesund oder normal? Kann mandies eindeutig abgrenzen?

Können sich Eltern mit ihrem Kind einerSolidarität und des Schutzes der Gesell-schaft sicher sein, oder gibt es eineGrenze, hinter der ein ethischer undrechtlicher Schutz von Menschen mitBehinderungen, als Neugeborene eben-so wie als Altersdemente, Pflegebedürf-tige und unheilbar Kranke, seine Wir-kung verliert?

Welche Ansprüche an Hilfen können siestellen?Welche Auswirkungen hat ein(subjektiver) ökonomischer Druck aufdie Solidarinstanzen unserer Gesell-schaft und wie wirken sich wissen-schaftliche Entwicklungen auf unserVerhältnis zum Menschen als „Person"aus? Wird Zeugung, Schwangerschaft,Geburt, Alter, Tod unter neue Maßstäbegestellt und „Normalität" neu definiert?

Frühförderfachpersonen müssen sich den be-sorgten Fragen von Eltern stellen - und nachgemeinsamen Antworten suchen - auch auf dieAuswirkungen neuer technologischer Entwick-lungen. Eltern stellen die gleichen Überlegungenan wie der ehemalige Bundespräsident Johan-nes Rau, als er sagte: „Wenn es erlaubt wäre,Embryonen gentechnisch zu prüfen und die aus-zusondern, die gentechnische Defekte haben,dann wäre es, so fürchte ich, nur noch einSchritt zur Frage: .Warum haben Sie ein behin-dertes Kind zur Welt gebracht? Das hätte dochnicht sein müssen.'" (Rau 2004, 14f). Das betrifftin der Tat Frühförderung, und ihre Fachperso-nen müssen auf diese Fragestellungen vorberei-tet und für Elterngespräche mit hohem reflektie-renden Anspruch ausgebildet sein.

Neben dem Aufgabenfeld der „Elternberatung"sieht der Gesetzgeber für die Frühförderungnoch ein zweites - in diesem Zusammenhangweithin unbekanntes und ungenutztes - Aufga-benfeld vor: Das Mitwirken an Schwanger-schaftskonfliktberatung. In §6 des Schwange-ren- und Familienhilfeänderungsgesetzes(SFHÄndG, 1995) heißt es: „Soweit erforderlichsind zur Beratung im Einvernehmen mit derSchwangeren ... Fachkräfte mit besonderer Er-fahrung in der Frühförderung behinderter Kinder... hinzuzuziehen". Ziel des Gesetzgebers ist es,„Hilfsmöglichkeiten für behinderte Menschenund ihre Familien (zu gewährleisten), die voroder nach der Geburt eines in seiner körperli-chen, geistigen oder seelischen Gesundheit ge-schädigten Kindes zur Verfügung stehen" (§2Abs. 2 Satz 5 SFHÄndG). Hintergrund dieser

Regelung ist die zeitgleich mit Verabschiedungdieses Gesetzes 1995 abgeschaffte „embryona-le Indikation", die Straffreiheit bei einemSchwangerschaftsabbruch nur bis zur 22.Schwangerschaftswoche zuließ (vgl. Sohns2000, 136). Die Vorgaben des Gesetzgeberslassen seit der Änderung des §219 StGB zweiunterschiedliche Wege zu: Einerseits hat Bera-tung „die Frau zur Fortsetzung der Schwanger-schaft zu ermutigen und ihr Perspektiven für einLeben mit dem Kind zu eröffnen". Andererseitsist bei einer sogenannten „medizinischen odersozialen Indikation" eine straffreie Abtreibung zubis zum Beginn der natürlichen Geburt möglich,falls „der Frau durch das Austragen des Kindeseine Belastung erwächst, die so schwer und au-ßergewöhnlich ist, dass sie die zumutbare Op-fergrenze übersteigt". Diese Möglichkeit „(wirft)nach der 22. bis 24. Schwangerschaftswocheneue Probleme auf, da ein lebensfähiges Kindgetötet werden muss" (Weiß/Neuhäuser/Sohns2004, 135). Die Beratung durch eine Schwan-gerschaftskonfliktberatungs- und - bei Bedarf -eine Frühförderstelle hat nun zur Aufgabe, El-tern bei ihrer schweren Entscheidung hilfreichzur Seite zu stehen - eine Entscheidung, die zu-nächst meist eine Grundsatzentscheidung füroder gegen das Weiterleben eines Embryos be-deutet.2 Ohne festes ethisch-fundiertes fachli-ches Fundament können die Fachpersonen derFrühförderung diesen Anforderungen nicht ge-recht werden.

Ansatz der Frühförderung ist es, in einer außer-gewöhnlichen Konfliktsituation vor dem Hinter-grund eines möglichen Wunsches nach demTod (Nicht-Entstehen) des eigenen Kindes,eventuelle spätere Alltagssituationen mit demKind transparent zu machen und damit eine Ent-scheidungsfindung zu erleichtern. Dies beinhal-tet auch ein Aufzeigen von gesellschaftlichenHilfen, mit denen sich neue Perspektiven für dieEltern eröffnen könnten und das Gefühl, mit denspezifischen Anforderungen ihres Kindes nichtallein zu bleiben. Hierzu gehört aber auch, offenzu sein für die Fragen nach den Einflüssen vongesellschaftlichen Faktoren, die ein Leben mit(einer möglichen) Behinderung in unserer Ge-sellschaft erschweren.

Folgen von Segregation und Tabuisierung

Ein solches Leben sieht sich in unserer Gesell-schaft trotz einer grundsätzlich vorhandenenHilfsbereitschaft auch konfrontiert mit einer weitverbreiteten Unsicherheit - mitunter auch Ab-scheu - gegenüber Menschen mit Behinderung

2 Damit unterstellt der Gesetzgeber bereits in der For-mulierung des §219, dass ein Kind ein Opfer mit sichbringt, dessen Belastungsgrenze auszuloten sei.

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Frühförderung und Sozialpädiatrie

- was nicht verwunderlich ist angesichts einerzumeist fehlenden Konfrontation und mangeln-den praktischen Erfahrungen in Gesellschafts-systemen, die weitgehend von einer frühen Se-gregation bereits im Kindertagesstättenalter ge-prägt ist. Diese Ausgrenzung bestärkt ein weit-gehendes Tabuisieren von Behinderung sowiederen mögliche Folgen. Konflikte werden imVerborgenen ausgetragen. In zwölf JahrenFrühfördertätigkeit erlebte ich es ein einzigesMal, dass sich ein Elternpaar an mich als Ein-richtungsleiter mit der Bitte um Beratung wand-te: Sie hätten am Vortag das Ergebnis einer Am-niozentese erhalten; demnach erwarteten sieein Kind mit Down-Syndrom. Sie hätten nun dieganze Nacht diskutiert und seien zu dem Ergeb-nis gekommen, sie möchten dieses Kind - trotzgegenteiliger Erwartung des Gynäkologen -nicht abtreiben lassen und sich stattdessen ge-meinsam mit der Frühförderstelle auf die Geburtund das Leben mit einem Kind mit Down-Syn-drom vorbereiten. Niemandem war zu diesemZeitpunkt klar, welches Verhandlungsgeschicksund bürokratischen Aufwandes es bedurfte,schließlich „auf Kulanz und als Ausnahmerege-lung" eine Kostenbewilligung für eine Frühför-derbetreuung eines Kind zu bekommen, dasnoch gar nicht geboren sei und noch keinenRechtsanspruch haben könne.

Eine ähnlich tabuisierende Mentalität zeigt sichbei einer zu leistenden Trauerarbeit von „ver-waisten Eltern", die ihr Kind in einem frühen Sta-dium während oder kurz nach der Schwanger-schaft verloren haben. Zwar wird ihnen mit Hilfetechnologischer Hilfsmittel häufig eine physiolo-gische Ursache für diese „Fehl-"geburt genannt,jedoch gibt es kaum fachliche Begleitung, wenigFachliteratur und noch weniger Forschungser-gebnisse zu den spezifischen Prozessen einersolchen Trauerarbeit und zu den entsprechen-den Hilfebedarfen (Künzer-Riebel/Lutz 1995,Schäfer 2003). Die Öffentlichkeit tabuisiert die-ses Thema. Lediglich in Internet-Portals findensich zahlreiche - positive, v.a. jedoch erschüt-ternde - Berichte, wie in Krankenhäusern mit El-tern nach dem Verlust eines Kindes umgegan-gen wurde (Schäfer 2005, im Internet: http://ww-w.kindergrab.de/. http://www.stillgeburt.de). Wirwissen spätestens seit Erikson (1966), wie sehrdie Schwangerschaft als Vorbereitungszeit aufdie Mutterrolle genutzt wird („Schwangerschafts-phantasien"), wie bereits in der Zeit vor derSchwangerschaft Bindungen angelegt werden.Käst (1995) und Beutel (1996) zeigen auf, dassverwaiste Eltern bei Frühgeborenen ähnlicheTrauerreaktionen zeigen wie Eltern, die ihr Kinderst später verloren haben. Ein Schwanger-schaftsabbruch ist (wie eine ungewollteSchwangerschaft) immer eine tiefgreifende In-tervention mit psychischen Nebenwirkungen.

Gibt es bei einem Schwangerschaftskonflikt imVorfeld einer Entscheidung ein etabliertes(Pflicht-) Beratungssystem, so fällt auf, wie we-nig Hilfeangebote in den tabuisierten Grauzonennach dem Tod eines Kindes etabliert sind undselbst Möglichkeiten eines einfühlsamen per-sönlichen Abschied-Nehmens häufig nicht ange-boten werden. Ähnlich wie eine Frühförderbera-tung von Eltern mit einem noch nicht geborenenKind auf bürokratische Hürden stößt, gilt diesauch nach dem Tod des Kindes. Der fachlicheAnspruch: „Nach dem Tod des Kindes muss denEltern die Möglichkeit offen stehen, mit vertrau-ten Personen der Frühförderstelle über den erlit-tenen Verlust und über mögliche Zukunftsper-spektiven im Zusammenhang mit einer geneti-schen Verursachung zu sprechen" (Weiß/Neu-häuser/Sohns 2004, 134f), trifft in der Realitäthäufig auf von der Verwaltung konstruierte juris-tische und administrative Hürden. Aufschluss-reich für eine Mentalität der staatlichen Institutio-nen sind auch die landesrechtlichen Bestimmun-gen zum Bestattungsrecht bei früh-, fehl- odertotgeborenen („stillgeborenen") Kindern. In eini-gen Ländern ist eine Bestattung von fehlgebore-nen Kindern überhaupt nicht vorgesehen (Bran-denburg, Saarland, Thüringen) oder erst bei ei-nem Geburtsgewicht von über 1.000 g (Bremen,Mecklenburg-Vorpommern), hingegen sind sie„einwandfrei zu beseitigen, wenn sie nicht fürmedizinische, pharmazeutische oder wissen-schaftliche Zwecke aufbewahrt oder verwendetwerden" (Sachsen, Thüringen).3 Veränderungenauf Bundesebene zur formalen Definition vonFehl-, Tod- oder Lebendgeburten im Personen-standsgesetz und Bestattungsrecht bedurftenerst einer Petition an den deutschen Bundestag(1.4.1994). Obwohl seitdem durch Bundesrechteine Grenze zwischen „Mensch und Person" beieinem Gewicht von 500 g festgelegt wird (Per-sonenstandsgesetz), folgen nicht alle Länderdiesen Vorgaben (bspw. bei still geborenen Kin-dern). Bereits die technokratische Abwertungwerdender Kinder als „Fehl- oder Totgeburten"in den Gesetzestexten erscheint als rhetorischeOffenbarung einer Entpersönlichung dieser Kin-der.

Die Auswirkungen neuer Technologien - Ein-scheidungsdruck auf die Beteiligten

Insofern ist es auch immer ein Eingriff in emotio-nale und Bindungsprozesse, wenn zu Beginn ei-ner Schwangerschaft medizinische Untersu-chungen und Interventionen stehen. WennSchäfer (2003, 98) aus den eigenen Befragun-

3 Im Gegensatz hierzu steht Bayern mit einer gesetzli-chen Verpflichtung der Gemeinden zur Bereitstellungvon Gräbern für fehlgeborene Kinder, ein (versuch-tes) Verhindern der Bestattung steht unter Strafe

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Bioethische Aspekte

gen an .verwaisten' Eltern herausliest, dass90% der befragten Frauen sich bereits im frühenSchwangerschaftsstadium subjektiv als Mutterfühlten (10% nicht), stellt sich die Frage, welcheEinflüsse durch die Anwendung Pränataler Dia-gnostikmethoden auf die Mutter-Kind-Beziehungund ein Sich-Einlassen der Eltern auf ihre neueElternrolle wirken. Oder anders formuliert: Wannist der Embryo „nur ein Zellklumpen", an demunbedenklich geforscht werden kann - ethisch,juristisch, emotional?

Die Bio-Technisierung mit den neuen Möglich-keiten der Pränatal-Technologie greift an die-sem Punkt in die Beziehungsstrukturen zwi-schen Eltern und Embryo ein, in dem sie eineDifferenzierung zur eigenen Bindung, Beziehungund Freude auf ein Kind provoziert - zumindestso lange, bis eine Entscheidung gefällt ist, obvon den Möglichkeiten einer Entscheidung ge-gen das Weiter-Leben des Embryos Gebrauchgemacht wird. Das Spannungsfeld zwischendem Bedürfnis nach emotionalen Bindungen ei-nerseits und dem Wunsch nach einer medizi-nisch erteilten Unbedenklichkeit verbunden mitgesellschaftlichen Erwartungen andererseits übteinen Druck auf die Beteiligten aus, bei dem El-tern nur verlieren können. Wie immer sie sichentscheiden: Entweder sie schränken ihre unge-teilte emotionale Zuwendung und das Sich-Ein-lassen auf ihr entstehendes Kind ein oder sieübergehen gesellschaftliche (und ggf. eigene)Normen, die mehr oder weniger unausgespro-chen Einfluss nehmen.

Ökonomisiertes Spannungsfeld gesellschaft-licher Erwartungen

In Zeiten Pränataler Diagnostik erhalten Elternimmer stärker ein „faktisches Recht", ihr Kindabzulehnen. Falls sie davon keinen Gebrauchmachen, müssen sie mit einem unterschwelligenUnverständnis und Druck der Gesellschaft, de-ren Solidarität eingefordert wird, rechnen. Die„behindertenfeindliche Normalität gesellschaftli-cher Leitbilder wie Gesundheit undIntelligenz" (Antor 1989, 21) drängen Eltern indie Rolle einer möglichen (moralischen) Haftbar-keit, in einen „präventiven Zwang" (Beck-Gerns-heim, 1991, 15). Es verstärken sich Tendenzeneiner „eugenisierten Gesellschaft" (Reyer 2003).

Speck (2005, 29ff) zeigt eine durchgängige Tra-dition der Segregation von der Eugenik der1920er Jahre auf bis hin zu der durch die Pisa-Studien offenbarten Aussonderung und Un-durchlässigkeit der deutschen Systeme. Er stelltfür eugenische Programme historisch drei zen-trale Motive in den Mittelpunkt (ebda., 46): Kos-tenersparnis, Heilung und Verbesserung desErbgutes. Diese Aspekte vermischen sich zu un-

terschiedlichen Hoffnungen und Motiven, die eingesellschaftliches Klima prägen - in welchemMaße scheint abhängig von den dieses Klimabeeinflussenden Interessen. Speck hat heraus-gearbeitet, dass auch führende Repräsentantenunserer tragenden Gesellschaftssäulen bis datounumstritten geglaubte ethische Grundlagendurchbrechen, in der Jurisdiktion wie in der Poli-tik: Wenn bspw. vom Oberlandesgericht Düssel-dorf (1989) die konsultierten Ärzte aufgefordertwurden, den Eltern in ihrer Konfliktsituation „un-mißverständlich klarzumachen", dass die Geburteines Kindes mit einer voraussichtlichen Behin-derung „zu unerträglichen und furchtbaren Be-lastungen führe, vielfach verbunden mit der Not-wendigkeit lebenslanger Pflege undBetreuung" (Speck 2003, 147, zit. nach Tolmein1993, 23), so schafft eine solche Rechtsspre-chung nicht nur ein einseitig abwertendes Bildvon Menschen mit Behinderungen („unerträglichund furchtbar"), sie ebnet auch den Weg in eineÖkonomisierung der pränatalen Entscheidungs-findung. Wenn ein Kind mit einer Behinderung inder Rechtssprechung als „vermeidbarer Scha-den" (ebda.) kategorisiert wird, ist der juristischeWeg offen in eine Schadensberechnung, ein fi-nanzielles Aufaddieren von gesellschaftlichenFolgekosten eines menschlichen Lebens undeine Abwägung der Zumutbarkeit: Eltern behin-derter Kinder werden zu Schuldnern, wenn sienicht alles tun, um das Leben ihres Kindes zuverhindern. Es gibt auch Tendenzen in der Poli-tik, diesen Gedanken weiter zu führen, wennbspw. der Ministerialdirigent (damals der BonnerBundesregierung) Dr. Wolfram Eberbach vonder Erzwingung einer „gesundheitsbewusstenLebensführung" der (Kranken-) Versichertenspricht und resümiert: „Insgesamt kann die gel-tende Gesetzeslage im Sozialrecht dazu benutztwerden, im Namen der Mitversicherten und ihrerKostenbelastung gesundheitsgerechtes Verhal-ten nunmehr auch auf der Grundlage der durchGenomanalyse gewonnenen Daten zu erzwin-gen" (ebda.). Eberbach benennt hier eine juristi-sche Grundlage, die utilitaristischen Tendenzendie Tür öffnet. Speck sieht uns dadurch (mit Be-zug auf Marcel 1957, 277) auf dem Weg zu ei-ner „Kollektiverpressung" (ebda., 148).

Mit der Entwicklung und Verbreitung biotechno-logischer Innovationen entstehen auch Erwar-tungen bei Eltern, mit Hilfe pränataldiagnosti-scher Verfahren eine Versicherung zu erhalten,kein Kind mit einer „Schädigung" zu bekommen.Und falls dies doch geschieht, liegt der Gedankenah, Regressansprüche an die vermeintlich ver-antwortlichen Ärzte stellen zu können: Rifkin(1998, 21 Of) berichtet aus den USA von Hunder-ten von Schadenersatzklagen wegen „wrongfullife" oder „wrongful birth", mit denen Entschädi-gungen angestrebt werden für das künftige Leid

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Frühförderung und Sozialpädiatrie^^

des Kindes (als Schwerbehinderte) - weil esnoch lebt. Damit gelten „Behinderte als Unfälleder Medizin". Diese Ökonomisierung von Schä-digungen öffnet einem generellen Utilitarismusdie Eingangstür.

Die Angst der Gynäkologen vor solchen juristi-schen Nachspielen mit der Begründung, sie hät-ten Eltern nicht ausreichend über Diagnose- undAbtreibungsmöglichkeiten beraten, ist groß. Dashierdurch verstärkte Interesse der Ärzte, auf kei-nen Fall eine auf dem Markt befindliche Diagno-stikmethode zu versäumen, trifft auf einen in-dustriellen Markt mit gigantischen Umsatzsteige-rungen: Die Zahl der Wahrnehmung pränataldia-gnostischer Maßnahmen ist bereits zwischen1990 und 1995 um 50% gestiegen (Speck 2005,59) mit ständig ansteigenden Tendenzen - hierliegen enorme wirtschaftliche Potentiale und In-teressen.

Diese Interessen der Pharmaindustrie treffennun wiederum auf Interessen der Rehabilitati-onsträger (Krankenversicherungen, Renten- undArbeitslosenversicherungen wie staatliche Trä-ger der Eingliederungshilfe), vermeintliche Be-hinderungen und Behandlungsbedarf möglichstprophylaktisch zu verhindern. Hier werden bio-technologische Möglichkeiten als effektivsterAnsatz angesehen. Die Bundesärztekammerplädierte (1980) u.a. deshalb für die EtablierungHumangenetischer Institute, weil der Staat diewachsende Zahl an behinderten Menschen nichtmehr finanzieren könne (Müller-Erichsen 2002,86). Diese Intention scheint sich zu realisieren:Die Rate der neu geborenen Kinder mit Down-Syndrom hat sich um 1/3 verringert, 90-95% derim Zuge pränataler Diagnostiken als Embryosmit Trisomie 21 diagnostizierten Kinder werdenabgetrieben (Queißer-Luft 2002).

Damit eröffnen sich Türen, die vor knapp 100Jahren von der Politik nur als Visionen propa-giert wurden: Damals hatte der amerikanischePräsident gesellschaftliche Visionen aus derVererbungslehre abgeleitet und sich dagegenausgesprochen, „den Weiterbestand derfalschen Sorte Bürger zu erlauben. Das großeProblem der Zivilisation besteht darin, einen re-lativen Zuwachs der wertvollen zuungunsten derweniger wertvollen und störenden Elemente inder Bevölkerung zu sichern ... Dem Problemlässt sich nicht beikommen, ohne dass wir demungeheuren Einfluss der Vererbung voll gerechtwerden ... Ich wünschte sehr, dass es möglichwäre, die falschen Leute an der Fortpflanzungzu hindern; und wenn das üble Wesen dieserMenschen hinreichend verwerflich ist, sollte dasgeschehen. Kriminelle sollten sterilisiert werden,und Schwachsinnigen sollte es verboten sein,Nachkommen zu hinterlassen ... Das Hauptge-

wicht sollte darauf liegen, wünschenswerte Per-sonen zur Fortpflanzung zu veranlassen" (Theo-dore Roosevelt 1913, zit. n. Rifkin 1998, 182).

Heute sind technologische Möglichkeiten abseh-bar, die Visionen des amerikanischen Präsiden-ten in völlig neuen Dimensionen zu verwirkli-chen. Derartige Tendenzen bleiben nicht ohneAuswirkung auf eine allgemeine gesellschaftli-che Stimmung, sie setzen Eltern und Fachper-sonen unter Druck, eine offene Beratung durchFachpersonen der Frühförderung i.S. desSFHÄndG wird erschwert. Gleiches gilt für dieMedizin. Wenn das Überleben eines Säuglingsmit einer Behinderung als „Misserfolg der Medi-zin" anzusehen ist, dann verändert sich dasFundament medizinischen Denkens. Hier wer-den moderne Bio-Technologien als Hebel be-nutzt, Erwartungen zu erzeugen und die Akzep-tanz von neuen Forschungszweigen zu stärken.

Ethik als Legitimationswissenschaft?

Unterstellt man im Regelfall das Bestreben,Werte unseres Grundgesetzes auf ein breitesgesellschaftlich akzeptiertes Fundament zu stel-len, so scheinen sich Teile der Politik bewusstgegen eine breite Grundsatzdebatte zu stem-men (z.B. 1984 der damalige Bundes-For-schungsminister Riesenhuber [CDU], der derdeutschen Wirtschaft empfahl, „die ethische Dis-kussion um Gentechnologie und Embryonen-schutz strikt intern zu führen. Es könnten sonstGrundsatzdiskussionen ausbrechen", zit. n.Fuchs 1998, 131). Gerade mit dem aktiven Ver-hindern einer breiten Diskussion über Imple-mentierung und mögliche Risiken und Neben-wirkungen neuer Technologien stützt Politik den„technologischen Imperativ", „die innere Logikaller Technologien", die darauf zielt, „zu tun, wasgetan werden kann" (Grewel 1998, 93). Men-schen gestalten nicht mehr selbst den Fort-schritt, sondern haben sich ihm anzupassen.

In der Alltagspraxis der Frühförderung ist mirdies klar geworden, als in unserem Team dieanwesenden Ärzte bei einem dreijährigen(schwerbehinderten) Kind zur weiteren Diagnos-tik eine Kernspintomographie vorschlugen, underst der von mir zur Durchführung angesproche-ne Neuropädiater der Kinderklinik dessen Sinnmit den Worten in Frage stellte: „Vielleicht findenwir neue diagnostische Anhaltspunkte, aber fürdie Therapie wird dies keine Auswirkungen ha-ben. Wollen Sie das dem Kind und seinen Elternwirklich zumuten?" MUSS alles getan werden,was technisch möglich ist?Grewel zeigt auf, wie sich ethische Leitlinien (imRahmen einer Legitimationsethik) auf neueideologische Leitgedanken technologischenDenkens einstellen oder gar von ihnen prägen

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Bioethische Aspekte

lassen (ebda., 93f). Er stellt dagegen eine Erfah-rungsethik: Der Mensch wird als Mit-Mensch de-finiert, der kein Recht zu Töten hat, sondern sicheiner Verantwortung zum Leben(-Erhalten)stellt. Das Menschenrecht erfüllt sich nicht durchden Wert von Leistungen, sondern aus der Ehrezur Menschengemeinschaft zu gehören (ebda.,99).

Bei dem Versuch der Erziehungswissenschaft,einen solchen Gegenpol zur Legitimationsethikaufzubauen, ist die angewandte Pädagogik inden letzten Jahren zunehmend in die Defensivegeraten. Ob durch eine vermeintliche Über-macht von „Verhaltensstörungen", ein Ausufernder Jugendhilfe-Kosten, eine zunehmende De-klaration von „Unerziehbaren" oder die Diskussi-on um eine „verlorene Generation" der KinderLaissez-faire-geprägter Eltern: Der fachliche Rufder Pädagogik scheint davon geprägt, keinedurchgreifenden Lösungen für Probleme derheutigen Gesellschaft anbieten zu können. DasHeil wird damit umso mehr in medizinisch-phar-makologischen Interventionen gesucht - geför-dert von den Umsatzinteressen vermarktenderKonzerne.

Mit der Hoffnung auf neue medizinisch-pharma-kologische Methoden steigt auch die Erwartungan ein Heil-Bringen durch die pränatale For-schung. Habermas (2001) sieht künftig embryo-nale Forschung als Norm und in der Folge eineVeränderung der kulturellen Wahrnehmung vonvorgeburtlichem Leben. Es steigt die Wahr-scheinlichkeit einer Abstumpfung gegenüberethischen Fundamenten unter dem Primat einesKosten-Nutzen-Kalkulierens und der medizi-nisch und ökonomisch begründeten Lockerungder sozio-moralischen Fesseln an den bio-tech-nischen Fortschritt. Dies beeinflusst auchGrundlagen des (moralischen und juristischen)Rechts der Unantastbarkeit und Unverfügbar-keit. Die Folge ist eine schleichende Eingewöh-nung in eine liberale Eugenik. Autonomie deseinzelnen steht in Frage, die Differenz zwischen„Gewachsen" und „Gemacht" wird aufgeweicht.

Weiter führende Konsequenz wäre das Katego-risieren „minderwertiger Menschentypen, phy-sisch-mental-moralisch Ungeeigneter und eineLast der Schwachsinnigen", wie sie insbesonde-re in den USA während der ersten Eugenik-Wel-le Anfang 20. Jahrhunderts ausgemacht wur-den. Der Unterschied auch zum späteren Horrorder Nazi-Eugenik läge darin, dass nicht mehrdas negative Ausmerzen von „Ballast-Existen-zen" (Binding/Hoche 1920) Mittelpunkt der Argu-mentation wäre, sondern verheißungsvolle Ver-sprechungen einer „gesünderen Gesellschaft"durch die Errungenschaften von Medizin undPharmazie. Die ehemalige Leitlinie Rassentheo-

rie wird von neuen Parametern ersetzt: Erhö-hung der ökonomischen Effizienz, Optimierungvon Leistungsstandards, Verbesserung der Le-bensqualität. In der Diskussion unterliegen „mo-ralische" Maßstäbe den Bedürfnissen des Mark-tes und den Wünschen der Verbraucher, die vonden wirtschaftlichen und kommerziellen Interes-sen beeinflusst werden.

Rolle der Medien

Bei der Einflussnahme auf gesellschaftliche Er-wartungen kommt den Medien eine zentraleRolle zu, oder wie Sigrid Graumann (2003, 39)als Konsequenz ihrer Medienanalyse folgert:„Medien schaffen Wirklichkeitsentwürfe". Heuti-ge Medien zeichnet eine Tendenz aus, Sensa-tionen in den Mittelpunkt zu stellen, um so Auf-merksamkeit auf sich zu ziehen. Auch im Be-reich der Frühförder-Beratung verändern spek-takuläre Neuigkeiten das Eltern-Berater-Verhält-nis. Das Allgemeinwissen interessierter Elternkonzentriert sich auf Spektakuläres, weniger aufAllgemeines; in die Erwartungen werden Hoff-nungen einbezogen, aktuelle - und über Medienpublizierte - Forschungsansätze sollten sofort inPraxis überführt werden, unabhängig davon, obder Wissensstand für eine bedenkenlose Opera-tionalisierung ausreicht. Gleichzeitig steigt in derRisikogesellschaft die Risikobereitschaft. Dieswird auch sichtbar an einer größeren „Gelassen-heifbei Medikamenteneinnahmen - auch bzgl.einer generellen pharmakologischen Unterstüt-zung für Kinder. (Butcher 2003, Bachmann2005)

Dies bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die El-tern-Kind-Beziehung. Wenn Pharmaka - bspw.beim sogenannten ADHS-Syndrom - als stabili-sierende Säule vor die Rolle von Erziehung tre-ten sollen und bio-medizinische Erklärungen Er-ziehungsprozesse überlagern, greift dies auch indie tragende Rolle der erziehenden Bezugsper-sonen ein, in dem diese an Bedeutung verliert.Je mehr sich Medien auf spektakuläre Informa-tionen fokussieren, desto mehr nehmen sie da-bei eine Katalysatorfunktion ein.

Beziehungsethik als Gegenpol zur Legitima-tionsethik?

Nachdem klar ist, dass sich mit philosophischenMitteln Embryonenschutz kaum begründen lässt(Jantzen 2003), bleibt lediglich ein allgemein ak-zeptierter ethischer Ansatz, um den sich die Dis-kussion konzentriert. Wiesemann verweist in ih-rem Ansatz auf Probleme, die aus jeweils abge-grenzten Blickwinkeln einzelner Systeme undder Konstruktion theoretischer Zusammenhängezwischen diesen isolierten Systemen herrühren.„Wenn nur mehr von Keimzellspendern und Em-

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Frühförderung und Sozialpädiatrie

bryonen und nicht von Eltern und ihren Kinderndie Rede ist, dann könnte dies auf ein grundle-gendes Problem hindeuten. Die bedenklichsteTendenz dieser Abstraktion liegt darin, alleAspekte menschlicher Beziehung aus den Be-griffen zu eliminieren. So werden diebeteiligten .Parteien' - die Keimzellspender, diebefruchtete Eizelle und die Ärzte - jeweils alsvoneinander abhängige Größen betrachtet, de-ren moralischer Anspruch gegeneinander aufge-wogen werden muss" (Wiesemann 2006, 13f).Die Abstraktion der jeweiligen Definitionen vomlebensbezogenen Kontext ab: Frau oderSchwangerschaft wird als „Milieu", „Umgebungs-faktor" reduziert, entsprechend wird auch dermoralische Status des Embryo isoliert und vonder Lebensnähe abgehoben. Wiesemann setztdem entgegen: „Man kann den Begriff .Embryo'aber - und ebenso den Begriff ,Kind' - als eineBezeichnung verstehen, die ein fundamentales,leiblich vermitteltes Verhältnis zu anderen Men-schen beschreibt" (ebda., 14). Die konsequenteTrennung von Einzelsystemen in der Ethikde-batte, u.a. Mutter und Kind, verkennt, dass diesekeine unabhängigen Vertragspartner sind. Liebeund Zuneigung lassen sich als Basis eines El-tern-Kind-Verhältnisses nicht unterordnen. Da-mit entstehe für die Eltern auch eine „besondereVerantwortung".

Mit der Benutzung des Terminus „menschlichesIndividuum" ohne klare Definition hat sich jedochdie Individualethik weitgehend durchgesetztund findet Anwendung für Konflikte in Schwan-gerschaft und Fortpflanzungsmedizin. Durch dieEtablierung biotechnologischer Möglichkeitenals feste Option für das Entstehen neuenmenschlichen Lebens wird dieses Auseinander-reißen von Kind und Eltern in der Diskussion umembryonalethische Aspekte verstärkt. Die physi-sche Einheit von Mutter-Kind wird aufgehoben -mit weitreichenden Auswirkungen auf den Be-ziehungsaspekt. Wiesemann ist sich bewusst,dass ein beziehungsorientierter Ansatz auch mitfeministischen Argumentationen in der Abtrei-bungsdebatte mit Betonung der Besitzrechte derFrau („Mein Bauch gehört mir") kollidiert. Sie ori-entiert sich hingegen am Begriff der „prospekti-ven Verantwortung" (Werner 2006) und forderteine Ethik der Elternschaft, bei der der isoliertemoralische Status des Embryos in den Hinter-grund gestellt wird zugunsten des Fokus auf einerweitertes Blickfeld: Wie weit gehen Reichweiteund Grenzen elterlicher Verantwortung? „Gehörtdie Optimierung der biologischen Ausstattungdes Kindes zu den Aufgaben von Eltern?" (Wie-semann 2006, 98). Welchen Schutz hat die Be-ziehung Eltern-Kind? Und: Welche Vorstellun-gen bestehen in einer Zeit, in der „Kinder unter-schiedliche genetische, biologische und sozialeEltern haben können" (ebda.), von Herkunft und

Abstammung? Wiesemann fordert statt der Indi-vidualethik die Aufwertung einer „Gare-Ethik",die der Verantwortung von Eltern einen hohenStellenwert einräumt. Dabei ist Elternschaftdurch vier zentrale Kriterien definiert: Zunei-gung, persönliche Verantwortung, eine auf Dau-er angelegte sorgende Beziehung und (i.d.R.)ein leibliches Verhältnis. D.h.: Auf der Grundla-ge von Liebe und Zuneigung zum Kind (in einempersönlichen Verhältnis) haben Eltern das Ziel,mit Hilfe einer fortlaufenden Interaktion Wachs-tum, Sozialisation und Enkulturation ihres Kin-des zu fördern (Wiesemann 2006, 99f).

Das Annahmepostulat als moralischer Druckauf Eltern und Fachpersonen

Diese moralischen Vorgaben für eine Eltern-schaft sehen als zentrales Kriterium die Bereit-schaft und Kompetenz zur Übernahme dieserRolle voraus. Es bleibt daher die Frage, ob die-se beziehungsethische Definition brauchbar istfür die bioethische Debatte. Gerade bei (drohen-den) Behinderungen eines werdendes Kindeswirkt dieses „Annahme-Postulat" (Weiß/Neuhäu-ser/Sohns 2004, 137ff) möglicherweise als Be-lastung, das einem tabuisierten Wunsch der El-tern, das entstehende Kind möge sterben, un-aussprechlich werden lässt. Hier führt ein (ver-meintlicher) Arbeitsauftrag an die Berater derFrühförderung, zur „unbefangenen Annahme"des Kindes durch Eltern beizutragen, zu einemunausgesprochenen Druck, der das Verhältniszu den Beratenen beeinträchtigt. Ein morali-scher Anspruch zur „Liebespflicht" (bereits nachKant ein Widerspruch in sich) kann keine Bera-tungsgrundlage darstellen.

Grundlagen bioethischer Aspekte

Brauchen wir also für den Bereich der Frühför-derung auch bioethische Grundprinzipien? DasFeld der bioethischen Aspekte ist weit. Dieseumfassen „sittliche Fragen von Geburt, Lebenund Tod, insbesondere im Hinblick auf neuereEntwicklungen und Möglichkeiten der biolo-gisch-medizinischen Forschung und Therapie.Sie untersucht u.a. die sittliche Problematik vonAbtreibung, Sterilisation und Geburtenregelung,(Gen-)Manipulation, Sterbehilfe/Euthanasie undHumanexperimenten, auch den Tier-schutz" (Hoffe 2008, 26). Dederich (2003, 9ff)verweist auf die Problematik der engen Verbin-dung der Bioethik mit der Bio-Politik, d.h. die Im-plementierung und Absicherung biotechnischerTechniken und Praktiken (weit über die Felderder modernen Medizin hinaus, z.B. in der mo-dernen Nahrungsmittelproduktion). Problema-tisch erscheint auch die enge Verbindung bio-spezifischer Ansätze der Bio-Wissenschaftenund der sie vorantreibenden Interessen, von

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Bioethische Aspekte

ökonomischen, politischen bis hin zu individuel-len Karriereinteressen. In diesem Kontext wirken„Behinderte" selbst innerhalb pädagogischerKonzepte wie dem .Autonomie-Konzept' als Mi-nusvarianten (Dederich, 10). Die Biomedizinverstärkt diese Tendenz und drängt Ethik zu-rück. Bioethik wird dann problematisch, wennsie sich auf diese Ordnungen einlässt. Sie musssich davon lösen und auf einer allgemeinenEthik fundieren. Dazu gehört auch ein Hinterfra-gen der zentral-dominierenden „Ethik des Hei-lens" als Ursache der „tief verankerten negati-ven Behindertenbilder" (ebda., 11). Heilen (inbio-ethisch festzulegenden Grenzen) ist mora-lisch geboten; aber die dahinter stehende „nor-mative und normierende Macht" - Maßstäbe,Ordnungsvorstellungen, Soll-Zustände - entwi-ckelt eine hierarchisierende Ordnung mit einerAbwertung alles Kranken und Unnormalen incl.physischer Schäden und Funktionsstörungen.Eine Bio-Ethik kann diese Dynamiken nicht un-reflektiert-affirmativ übernehmen. Sie muss sichals „kritische Disziplin" herausarbeiten.

Die Bedeutung bioethischer Aspekte für dieFrühförderung

In einer Konstellation, in der „die neuen Chan-cen einer biotechnischen Verbesserung desMenschen im wesentlichen von Privatinteressengetragen und aus dem Recht auf Selbstbestim-mung abgeleitet werden, tritt die Frage nach dengesellschaftlichen Folgen, auch die nach den in-direkten Auswirkungen auf Menschen mit ir-gendwelchen Behinderungen, in den Hinter-grund. Sie wird als nicht aktuell für den Einzel-nen oder im Hinblick auf die Notwendigkeit ei-nes Selbstschutzes verdrängt. Nicht realisiertwird dabei, dass sich mit dieser Privatisierungder Interessen die sozialen Verbindlichkeiten lo-ckern, ohne die eine persönliche und gleichzei-tig soziale Lebensgestaltung nicht möglichist" (Speck 2005, 15).

Frühförderung einschließlich der Sozialpädiatriemuss die gesellschaftlichen Auswirkungen aufMenschen mit Behinderungen als zentralenAspekt ihres Handelns im Auge behalten. Sie istwie alle anderen medizinisch-sozialen SystemeGrundprinzipien ethischen Handelns unterwor-fen. Oberstes Prinzip ist gemäß Art. 1 unseresGrundgesetzes die „Menschenwürde". „DieMenschenwürde gilt nach unserer Rechtsauffas-sung mit Beginn des Lebens, folglich ab derVerschmelzung von Ei- und Samenzelle. Sie istunabdingbar an das menschliche Sein geknüpftund kann nicht durch eine Behinderung oder an-dere Störung eingeschränkt oder modifiziertwerden" (Weiß/Neuhäuser/Sohns 2004, 130).Im Gegensatz zu Moral, die eine Einhaltung vongesellschaftlich präferierten Verhaltensnormen

und ein „sittliches" Einhalten von Rechten undPflichten anstrebt, „sucht Ethik als philosophi-sche Reflexion nach allgemeingültigen Moral-prinzipien, prüft die normativen Ansprüche desEinzelnen sowie der Gesellschaft und fragt nachgutem Leben und verantwortlichemHandeln" (ebda., 131). Es ist Aufgabe auch derFrühförderung, eine solche Verantwortungs-ethik in eine Handlungsethik für die Praxis zuüberführen. Bereits bei der Differenzierung zwi-schen aktiver und passiver Euthanasie zeigtsich die Notwendigkeit ethisch abgewogenerKompromisse (zu Beginn wie zum Ende einesLebens, vgl. ebda., 132f) mit vielfältigen Ein-flussfaktoren auf die jeweiligen Entscheidungs-prozesse. Diese Interpretierbarkeit - und sei esunter verantwortungsvollen Ansprüchen - birgtGefahren dahingehend, dass im Zuge gesell-schaftlicher Stimmungen Grenzen und ethischeTabus überschritten werden. Mit Bezug auf dieBiotechnologie stellt sich die Frage: Stehen wirheute (wieder) an einem solchen Punkt?

Was bedeutet in diesem Zusammenhang nochNormalität? Ist es wirklich noch das primäre Zielbio-medizinischer Forschung, zur Gesundheitbeizutragen? Oder ist das Ziel schon, besser zusein als gesund? Ist die wirkliche Zielsetzungbio-technischer Eingriffe, als Ausleseinstrumentfür „herausragende" Menschen zu füngieren inBezug auf gesellschaftlich erstrebenswerte Wer-te: Kraft, Schönheit, Intelligenz, Ausdauer, Be-lastbarkeit? Wie ändern sich unsere Ansprücheund Werte und damit die Ziele der Interventio-nen? Wird was heute noch als „gesund" und„normal" gilt morgen schon „behindert" sein?

Die Kompetenz der Fachpersonen in derFrühförderung

Die Fachpersonen, die mit Eltern kooperieren,die in die Fänge solcher Entscheidungszwangegeraten, müssen sich ihrer eigenen Position zubio-ethischen Grundlagen bewusst sein. Früh-förderung befindet sich im Spannungsfeld zwi-schen einem klassisch medizinischen Modell mitdem zentralen Ziel, Leid zu verhindern oder zulindern und Krankheitsbelastungen abzubauen,und einem sozialen Modell von Behinderung,das im Zuge von „disability studies" gesellschaft-liche Barrieren und ihre Folgen für eine Inklusionund Exklusion analysiert. Hier stellt sich der Be-zug zur (reflexiven) Qualifikation der Frühförder-fachpersonen: Wenn es zu den zentralen Aufga-ben von Frühförderung gehört, im Sinne des §4SGB IX zu einer Inklusion von ausgegrenztenMenschen in unserer Gesellschaft beizutragen,benötigen die Experten die Kompetenz, diekomplexen gesellschaftlichen Interessen undZusammenhänge zu reflektieren. Je wenigerqualifiziert eine Fachperson hierfür ist, um so

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Frühförderung und Sozialpädiatrie

eher werden sie sich auf ein ausschließlich kind-zentriert-förderndes Sichtfeld konzentrieren undihre Kompetenzentwicklung auf ein Erlernen vontherapiegeleiteten Übungsbehandlungen kon-zentrieren. Dies schließt die heilpädagogischeTradition mit ein, die sich lange Zeit auf eine„Ancilla-Funktion" (Kobi) - als Erfüllungsgehilfinmedizinischer Vorgaben - konzentrierte.Gröschke (2003) weist zu Recht darauf hin, wietief Heilpädagogik in dem medizinisch-politi-schen Prozess verwurzelt ist („biomedizinischeHypothek"). Gleichzeitig gestaltete sie ihre Sys-teme (v.a. im Sonderschulwesen) so aus, dasseine selektive Bezugsauslese im Mittelpunktsteht, in der das Kind den Systemen gerechtwerden muss und nicht umgekehrt.

Auch wenn es dem Sonderschulsystem gelun-gen ist, ein mächtiges System gegen die Bot-schaft „Bildung bei Behinderten lohnt sich nicht"aufzubauen und ein gleiches Recht auf Bildungauch für Schwerbehinderte aufrecht zu erhalten(Antor/Bleidick 1995), beschränkt sich dies bis-lang auf das Schulsystem. Auch die außerschu-lische Fachperson der Frühförderung müsstesich den hohen Anforderungen an ihre Abstrakti-ons- und Reflexionskompetenz stellen, aberauch der unmittelbaren Konfrontation mit betrof-fenen Eltern: „Sie müsste Äußerungen von Wut,Enttäuschung, Schuld, Verzweiflung aushalten,sie als Ausdruck von Not in redlicher Weise ste-hen lassen und die Eltern ermutigen (nicht be-drängen), die ,dünken' Seiten ihrer ambivalen-ten Befindlichkeit auszusprechen und sich den-noch darin akzeptiert zu fühlen" (Weiß/Neuhäu-ser/Sohns 2004, 138f). Wenn einerseits der An-spruch besteht an ein umfassend qualifiziertesHilfesystem mit hoher Verantwortung, bleibt dieFrage, wie dieses System für diese Aufgabeausgestattet wird. Das System der prospektivenPflegesätze stellt die Referenten der Rehabilita-tionsträger und die Vertreter der Frühförderungals Tarifpartner gegenüber. Für die Referentenund Amtsleiter der Rehabilitationsträger gilt esals Erfolg, ein Lohndumping erfolgreich durch-gesetzt zu haben. Sie erreichen dies, indem einMarkt mit einer hohen Nachfrage nach Arbeits-stellen im Sozialwesen durch weibliche Fach-personen genutzt wird mit der Bereitschaft, sichweit „unter Wert" zu verkaufen. Gleichzeitig gibtes keine einheitlichen Qualitätskriterien undAusbildungsansprüche, in der Folge z.T. nichteinmal angemessene Ausbildungen. SolangeFachkräfte, die diesen Aufgaben gerecht wer-den sollen, teilweise unter dem Einkommen lie-gen, das für andere Branchen (mit nicht-akade-mischen und kaum ausgebildeten Fachperso-nen) politisch als „Mindestlohn" diskutiert wird,wird offenbar, welchen Stellenwert unsere Ge-sellschaft der Förderung von Kindern mit Ent-wicklungsrisiken und der Beratung von Eltern,

die in einer schwierigen Lebenslage dringendqualifizierte Hilfe benötigen, beimisst.

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Professor Dr. Armin Sohns - FachhochschuleNordhausen

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