Biotechnologische Leckerbissen || Wimpern mit Nebenwirkungen

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Botox war zuallererst ein obskures Gift aus Bakterien, die Lebens- mittel verderben. Die US-Firma Allerga machte es zum Anti-Falten-Blockbuster. Nun will die Firma den Erfolg wiederholen – mit einem Mittel, das längere und dichtere Wimpern verspricht. Wohlgemerkt gewachsen, nicht mit Mas- cara verstärkt! Das moderne Wundermittel heißt Latisse und ist das Er- gebnis einer Arzneimittel-Nebenwirkung bei der Glaukom-Be- handlung. Glaukom, auch Grüner Star genannt, ist eine der häufigsten Erkrankungen des Sehnervs. Man verliert dabei Nervenfasern. Als Folge entstehen charakteristische Gesichts- feld-Ausfälle und im Extremfall eine Erblindung. Wichtigster Risikofaktor ist ein zu hoher Innendruck im Auge. Rund 500000 Deutsche leiden an einem erhöhten Augeninnen- druck. Zehn Prozent davon droht eine Erblindung. Insgesamt sind in Deutschland etwa eine Million Menschen vom Glau- kom betroffen. Eine erschreckende Zahl. Behandelt wird Glaukom mit verschiedenen Substanzen, die überwiegend als Augentropfen verabreicht werden: Beta- Blocker (wie bei hohem Blutdruck) und Prostaglandine. Diese vermindern die Produktion des Kammerwassers aus dem Glas- körper, erhöhen dessen Durchlässigkeit und steigern den so genannten nichtkonventionellen Abfluss der Flüssigkeit. Der Druck sinkt. Ein solches Medikament ist Lumigan. Bei der Therapie damit trat ein verblüffender Nebeneffekt auf: Die Wimpern der Patientinnen und Patienten wuchsen dichter und länger! 120 US-Dollar monatlich würde eine solche »Behandlung« kosten! Ob die Damen das bezahlen? Immerhin werden jähr- lich weltweit fünf Milliarden für gewöhnliche Wimperntusche 34 Wimpern mit Nebenwirkungen 28.08.10 R. Renneberg, V. Berkling, Biotechnologische Leckerbissen, DOI 10.1007/978-3-642-37111-0_9, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

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Botox war zuallererstein obskures Gift ausBakterien, die Lebens-mittel verderben. DieUS-Firma Allergamachte

es zum Anti-Falten-Blockbuster. Nun will die Firma den Erfolgwiederholen – mit einem Mittel, das längere und dichtereWimpern verspricht. Wohlgemerkt gewachsen, nicht mit Mas-cara verstärkt!

Das moderne Wundermittel heißt Latisse und ist das Er-gebnis einer Arzneimittel-Nebenwirkung bei der Glaukom-Be-handlung. Glaukom, auch Grüner Star genannt, ist eine derhäufigsten Erkrankungen des Sehnervs. Man verliert dabeiNervenfasern. Als Folge entstehen charakteristische Gesichts-feld-Ausfälle und im Extremfall eine Erblindung. WichtigsterRisikofaktor ist ein zu hoher Innendruck im Auge. Rund500000 Deutsche leiden an einem erhöhten Augeninnen-druck. Zehn Prozent davon droht eine Erblindung. Insgesamtsind in Deutschland etwa eine Million Menschen vom Glau-kom betroffen. Eine erschreckende Zahl.

Behandelt wird Glaukom mit verschiedenen Substanzen,die überwiegend als Augentropfen verabreicht werden: Beta-Blocker (wie bei hohem Blutdruck) und Prostaglandine. Diesevermindern die Produktion des Kammerwassers aus dem Glas-körper, erhöhen dessen Durchlässigkeit und steigern den sogenannten nichtkonventionellen Abfluss der Flüssigkeit. DerDruck sinkt. Ein solches Medikament ist Lumigan. Bei derTherapie damit trat ein verblüffender Nebeneffekt auf: DieWimpern der Patientinnen und Patienten wuchsen dichterund länger!

120 US-Dollar monatlich würde eine solche »Behandlung«kosten! Ob die Damen das bezahlen? Immerhin werden jähr-lich weltweit fünf Milliarden für gewöhnliche Wimperntusche

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ausgegeben. Botox verkaufte sich 2007 für ca. 600 MillionenDollar! David E. I. Pyott, Vorstandsvorsitzender von Allergan,hofft deshalb, mit Latisse weltweit über 500 Millionen US-Dol-lar umzusetzen. Die Wimpern-Verlängerung kostet nicht mehrals vier Dollar täglich, also etwa so viel wie eine Tasse Kaffee.

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Viele Frauen sind (noch) skeptisch. Ob Latisse auch unan-genehme Nebenwirkungen hat? Rote Augen, Juckreiz unddunklere Färbung der Augenlider?

Bei Glaukom-Patienten wurde nach sechs bis zwölf Mona-ten Behandlung die grüne oder braune Iris permanent dunk-ler, blaue Augen wurden bräunlich.

280 Freiwillige haben Latisse für 6 bis 16 Wochen täglichgetestet. Die Wimpern verlängerten sich um 25 Prozent, wur-den 106 Prozent dicker und 18 Prozent dunkler.

Nur 3,6 Prozent der Versuchspersonen litten unter dem er-wähnten Juckreiz und den geröteten Augen, niemand »ver-lor« seine blaue Augenfarbe.

Parallel dazu hat auch L’Oreal in Paris zu Wimpern ge-forscht. Während menschliches Haar bis zu drei Jahre langwächst, tun Wimpern das gerade mal drei Monate. Als Wuchs-mittel benutzten die Forscher Zitronensäure, die AminosäureArginin und Extrakte der Pflanze Centella asiatica (Tigergras).

Bei 32 risikobereiten Damen wuchsen die Wimpern damitum 20 Prozent, und 30 Prozent erfreuten sich auch einer grö-ßeren Dichte. Beachtlich!

Inzwischen, so hört man, nehmen die Forscher die Au-genbrauen ins Visier – für viele Damen mindestens genausowichtig wie die Wimpern beim ersten Blickkontakt.

Zusatz nach Veröffentlichung:Einige männliche Biolumne-Leser fragten an, ob Latisseauch „Halbglatzen“ zum Verschwinden bringt. Ich bin sicher, die Firma hat das schon probiert.

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