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256 // Bibliotheken in Sachsen mals in Damaskus stand, aus ihrem gut 150-jährigen Dornröschenschlaf in Leipzig erweckt und für Wis- senschaftler und Leser im virtuellen Raum präsen- tiert. Eine sprachbegabte Datenbank als Grundlage Im anfänglichen Pilotprojekt, bei dem zwischen 2006 und 2008 rund 55 arabische, persische und osmanisch-türkische Handschriften aus dem reich- haltigen Fundus orientalischer Handschriften der Universitätsbibliothek digitalisiert worden sind, wurden Bilder und kodikologische Beschreibungs- daten in die parallel entwickelte Datenbank www.islamic-manuscripts.net eingegeben. Durch konsequente Umsetzung des unicode-Standards UTF-8 kann mit der Datenbank neben der Mög- lichkeit der direkten Eingabe der Metadaten in den Originalsprachen ein weiteres Problemfeld der Kata- logisierung fremdsprachlicher Texte gelöst werden: die vollständige Integration der wissenschaftlichen Transkriptionssysteme mit allen erforderlichen Son- derzeichen. Um die Eingabe all dieser fremdsprach- lichen Zeichen für den Nutzer der Suchfunktionen I n Deutschland boomt die Digitalisierung der Bibliotheken und Archive. Der Trend geht ein- deutig in Richtung virtuelle Bibliothek mit über das Internet abrufbaren Beständen. Auch die klei- nen „Orchideenfächer“ sind aktiv geworden. Erste Projekte zur Digitalisierung von orientalischen Handschriften, Papyri und Ostraka wurden bereits erfolgreich abgeschlossen. Mit der Digitalisierung geht meist auch eine datenbankgestützte (Neu-) Katalogisierung der Bestände einher. Dabei wirkte sich lange Zeit die Problematik der nichtlateini- schen Alphabete als Hemmschuh aus. Basierend auf den Vorarbeiten des Papyriprojekts der Universitä- ten von Halle, Jena und Leipzig (http://papyri.uni- leipzig.de) in Kooperation mit dem Universitätsre- chenzentrum und dem MyCoRe-Entwicklerkreis (www.mycore.de) konnte in einem von der DFG geförderten Pilotprojekt des Orientalischen Instituts und der Universitätsbibliothek Leipzig eine techni- sche Lösung erarbeitet werden, bei der alle Erforder- nisse einer mehrsprachigen Katalogisierung umge- setzt werden. Auf ihrer Grundlage wird nun die einzigartige Familienbibliothek Refaiya, die einst- Die Refaiya aus Damaskus Eine alte arabische Bibliothek geht in Leipzig online von THORALF HANSTEIN, VERENA KLEMM, BORIS LIEBRENZ und BEATE WIESMÜLLER Zeugnisse vom sozialen Leben einer Bibliothek: Leservermerke in den Refaiya-Handschriften

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mals in Damaskus stand, aus ihrem gut 150-jährigenDornröschenschlaf in Leipzig erweckt und für Wis-senschaftler und Leser im virtuellen Raum präsen-tiert.

Eine sprachbegabte Datenbank als GrundlageIm anfänglichen Pilotprojekt, bei dem zwischen2006 und 2008 rund 55 arabische, persische undosmanisch-türkische Handschriften aus dem reich-haltigen Fundus orientalischer Handschriften derUniversitätsbibliothek digitalisiert worden sind,wurden Bilder und kodikologische Beschreibungs-daten in die parallel entwickelte Datenbankwww.islamic-manuscripts.net eingegeben. Durchkonsequente Umsetzung des unicode-StandardsUTF-8 kann mit der Datenbank neben der Mög-lichkeit der direkten Eingabe der Metadaten in denOriginalsprachen ein weiteres Problemfeld der Kata-logisierung fremdsprachlicher Texte gelöst werden:die vollständige Integration der wissenschaftlichenTranskriptionssysteme mit allen erforderlichen Son-derzeichen. Um die Eingabe all dieser fremdsprach-lichen Zeichen für den Nutzer der Suchfunktionen

In Deutschland boomt die Digitalisierung derBibliotheken und Archive. Der Trend geht ein-deutig in Richtung virtuelle Bibliothek mit über

das Internet abrufbaren Beständen. Auch die klei-nen „Orchideenfächer“ sind aktiv geworden. ErsteProjekte zur Digitalisierung von orientalischenHandschriften, Papyri und Ostraka wurden bereitserfolgreich abgeschlossen. Mit der Digitalisierunggeht meist auch eine datenbankgestützte (Neu-)Katalogisierung der Bestände einher. Dabei wirktesich lange Zeit die Problematik der nichtlateini-schen Alphabete als Hemmschuh aus. Basierend aufden Vorarbeiten des Papyriprojekts der Universitä-ten von Halle, Jena und Leipzig (http://papyri.uni-leipzig.de) in Kooperation mit dem Universitätsre-chenzentrum und dem MyCoRe-Entwicklerkreis(www.mycore.de) konnte in einem von der DFGgeförderten Pilot projekt des Orientalischen Institutsund der Universitätsbibliothek Leipzig eine techni-sche Lösung erarbeitet werden, bei der alle Erforder-nisse einer mehrsprachigen Katalogisierung umge-setzt werden. Auf ihrer Grundlage wird nun dieeinzigartige Familienbibliothek Refaiya, die einst-

Die Refaiya aus DamaskusEine alte arabische Bibliothek geht in Leipzig online

von THORALF HANSTEIN, VERENA KLEMM, BORIS LIEBRENZ und BEATE WIESMÜLLER

Zeugnisse vom sozialen

Leben einer Bibliothek:

Leservermerke in den

Refaiya-Handschriften

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auf der Internetseite zu erleichtern, wurde ein on -screen-Keyboard entwickelt, über das auch aufComputern ohne Arabischaktivierung im Betriebs-system die Eingabe vorgenommen werden kann.Über eine zusätzliche Normalisierung der Sonder-zeichen kann eine umschriftneutrale Suche durch-geführt werden. Es besteht auch die Möglichkeit,direkt im Bestand über einen Index zu browsen.Gemäß den Ansprüchen der Entwickler ist MyCo-Re open source Software. Damit können andereProjekte diese Lösung kostenlos übernehmen bzw.sogar weiterentwickeln. Konkret wurde dies der Fall, als das deutsche Auswärtige Amt auf Antragdes Orientalischen Instituts der Finanzierung einesGroßprojekts zustimmte, bei dem die vor dem Tsunami von 2004 geretteten arabischen Hand-schriftenbestände der indonesischen Provinz Acehrestauriert, datenbankgestützt katalogisiert und digi-talisiert werden (www.manuscripts-aceh.org). Einneues gemeinsames Projekt des Orientalischen Insti-tuts und der Universitätsbibliothek widmet sich derin Leipzig lagernden einzigartigen Familienbiblio-thek Refaiya, die zweifellos zu den wissenschaftlichwertvollsten der im Verlauf des 19. und 20. Jahrhun-derts für deutsche Bibliotheken erworbenen ara-bisch-islamischen Handschriftensammlungen zählt.

Die Refaiya: Auf Dampfern und Kutschen nach SachsenDer in Damaskus wirkende preussische KonsulWetzstein, einstmals Student des europaweit be -kannten Arabisten Heinrich Leberecht Fleischer ander Universität Leipzig, erwarb 1853 die gut 450 Handschriften im Auftrag der sächsischenRegierung auf der Basis eines Kaufvertrags für70.000 Piaster – dies entspricht ca. 4.500 Talern undwar damit ein recht stattlicher Betrag gemessen amErwerbungsetat der Königlichen Bibliothek in Dres-den, der 3.000 Taler im Jahr betrug. Der Damasze-ner Besitzer der Bücher, von dem der Name UmarEfendi ar-Rifa’i überliefert ist, hatte vermutlich aus finanziellen Gründen beschlossen, sich des als Stiftung über Generationen hinweg vererbten undeigentlich unverkäuflichen Familienschatzes zu ent-ledigen. Wetzstein und Fleischer überzeugten dassächsische Kultusministerium in Dresden von demattraktiven Angebot. Danach ließ der Konsul dieBibliothek im Zeichen des beginnenden Krimkriegsauf einer zunehmend unsicheren Route über dieHäfen von Beirut und Triest schnellstmöglich nachLeipzig bringen. Unverzüglich dokumentierte derbegeisterte Philologe Fleischer den einzigartigenCharakter dieser Bibliothek: Hatte sie doch eineganz andere Zusammensetzung als die überwiegendmit religiösem Schrifttum ausgestatteten Bücher-sammlungen der Moscheen und islamischen Aus-bildungsstätten. Die Refaiya, wie sie nun inAnklang an den Namen der einstmaligen Besitzer -familie genannt wurde, offenbarte hingegen dieFülle und den Reichtum islamischen Schrifttums inganzer Breite: Es versammeln sich in ihr Werke der

schönen Literatur, der Poesie, der Geschichte, derReiseliteratur, der Naturwissenschaften, der Astro-nomie, der Medizin und Pharmakologie, derMystik, der Magie, der Traumdeutung und der Erotik. Die älteste Handschrift wurde im 10. Jahr-hundert geschrieben, viele Handschriften stammenaus dem 15. Jahrhundert, der Großteil jedoch ist im16. und 17. Jahrhundert kopiert worden. AlleBücher sind mit orientalischen Ledereinbändenoder mit Einbänden mit Deckeln aus Pappe, Bunt-papier sowie marmoriertem Papier versehen. Nir-gendwo sonst in Europa stand und steht eine soreichhaltige, historisch gewachsene und überdiesbestens erhaltene arabische Privatbibliothek der For-schung zur Verfügung. Dennoch wurde es nach Fleischers ersten Bestands-aufnahmen schnell still um die Refaiya. 1906 wur-den ihre Handschriften im Katalog von Carl Vollersgemeinsam mit den anderen orientalischen Hand-schriften der Universitätsbibliothek erfasst. In demnach Gattungen und Themengebieten geordnetenKatalog hat die Refaiya jedoch ihre innere Ge -schlossenheit verloren und ist mit anderen Hand-schriften verschiedenen thematischen Kategorienzugeordnet. Erst hundert Jahre später entdeckte einTeam von Leipziger Arabisten ihren kulturhistori-schen Wert. Derzeit wird sie dort in einem von derDFG geförderten Projekt wissenschaftlich unter-sucht und in der mehrsprachigen Datenbank erfasstund digital präsentiert. Einer alten syrische Famili-enbibliothek, die ohne Wetzstein und FleischersInitiative wie viele andere private Büchersammlun-gen im spätosmanischen Nahen Osten zerstreutund verloren gegangen wäre, ist somit eine medialeRenaissance beschieden.

Vom Magazin ins InternetBuch für Buch verlässt die Refaiya derzeit dasMagazin der Universitätsbibliothek Leipzig. JederKodex geht durch die Hände der Kodikologin, dieihn gemäß den internationalen arabistischen Stan-dards in Hinblick auf seine äußere Beschaffenheitsowie nach Verfasser, Titel, Inhalt, Marginalnotizenund Buchschmuck in der Leipziger Handschriften-datenbank erfasst. Diese ermöglicht die Wahl zwischen den drei Navigationssprachen Deutsch,Arabisch und Englisch. Diese Dreisprachigkeit wirdmithilfe von wissenschaftlichen Übersetzern konse-quent auf alle Dialogfenster angewendet. Die vonder Kodikologin erfassten Daten können in Frei-textfelder als kürzere oder längere Beschreibungeneingegeben werden. Für eine Datenbank und vorallem für das Wiederfinden der darin enthaltenenInformationen ist es aber auch wichtig, die Einträgesoweit wie möglich zu normieren. In aufwendigenRecherchen wurden somit bereits vor Beginn derDatenbankprogrammierung all die Beschreibungs-daten eingeschränkt, die sich über konkrete, über-schaubare Auswahlmöglichkeiten bestimmen lassenkönnen. So wurden z.B. in einer so genannten Klassifikation schon im Vorfeld all die Sprachen

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aufgelistet, die in den Handschriften vorkommenkönnen. Somit braucht die Bearbeiterin bei derDateneingabe die betreffenden Felder nicht mehrmit Text zu füllen, sondern kann direkt aus der vor-gegebenen Liste auswählen. Die Nutzer der Daten-bank hingegen können bei der Suche über die Klas-sifikationen ihre jeweiligen Ergebnisse filtern, sodass sie z.B. sofort alle Handschriften in türkischerSprache aufgelistet bekommen. Weitere Kriterien,die der Filter bereithält, sind u.a. Thematik, Schrift-art, Beschreibmaterial sowie die Tintenfarbe.

Neben den o.g. Vorteilen gibt es weitere Spezifika-tionen, die eine Verwendung der MyCoRe-Daten-banklösung begründen. Besonders hervorzuhebenist der entscheidende Vorteil, dass mit diesemSystem eine optimale Kompatibilität mit bereitsvorhanden oder auch zukünftigen Projekten durchentsprechende Schnittstellen garantiert ist. Diese

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Zukunfts- und Migrationsfähigkeit wird durch Tren-nung von Daten und Programm erreicht. Hinzukommt ein flexibles, konfigurierbares Metadaten-modell. Aber auch gerade für die ansprechende Präsentation im Internet bietet die im Pilotprojektenwickelte Anwendung viele Vorteile. So konnteneben der cross-Systemfähigkeit (getestet mit meh-reren Versionsnummern von Win 95, 98, 2000, XP,Vista, Linux, MacOS) auch eine hochgradige cross-Browserfähigkeit (getestet mit mehreren Versions-nummern von Firefox, IE, Netscape, Opera, Safari,Konqueror) erreicht werden. Des Weiteren wurdeeine barrierearme bis -freie Seitengestaltung umge-setzt. Die Handschriftenbeschreibungen könnensofort als pdf generiert und gespeichert werden.

Die Digitalisierung der Handschriften wird größten-teils mit einem Buchscanner der Firma Zeutschel(OS12000) vorgenommen; nur Problemfälle – wiez.B. schwer zu öffnende Handschriften – werdenmit einer Spezialkamera (HIT) digitalisiert. Dazuwurden sie bereits im Vorfeld der Antragsstellung inder Restaurierungsabteilung der Universitätsbiblio-thek vorbehandelt. Jedes Einzelstück muss auf seineDigitalisierbarkeit geprüft werden. Hierbei zeigensich nicht selten die Dilemmata, welche die elektro-nische Erfassung alter Handschriften mit sich brin-gen: Denn nicht alle passen sich ohne weiteres denzur Verfügung stehenden Digitalisierungsgeräten an.Lässt sich das historische Dokument nicht wiegewünscht öffnen, bleibt nur die Wahl zwischenAufbinden – das heißt auch der mutwilligen Zerstö-rung seiner äußeren Form – oder Akzeptanz vonTextverlust auf dem digitalen Bild. Einigen wenigenHandschriften, die starke Papierschäden aufweisen,kann erst nach aufwendiger und intensiver Restau-rierung die Prozedur des Digitalisierens zugemutetwerden. Eine illuminierte Refaiya-Handschrift, de -ren Bindung eine Wölbung der Blätter bedingt,widersteht bislang der Technik ganz.

Forschungsfragen an die RefaiyaNeben der virtuellen Wiedererrichtung der Refaiya-Bibliothek wird auch das historisch-kulturelle Um -feld, in dem sie entstand und das in ihr seine Spu-ren hinterlassen hat, erforscht. Damaskus war einsteine für seine Gelehrsamkeit und Bibliothekenberühmte Stadt. Waren die Besitzer, welche dieRefaiya einstmals so individuell und wohlsortiertzusammenstellten und sodann an die nächste Gene-ration vererbten, Mitglieder der großen und weitvernetzen Rifa’i-Familie, welche über Damaskushinaus vor allem auch in den syrischen StädtenAleppo und Hama vertreten war? Waren sie Ange-hörige oder sogar Oberhäupter des alten und in derganzen islamischen Welt verbreiteten mystischenOrdens der Rifa’iya? Um die vielen Fragen zu klä-ren, welche die Identifikation der Besitzerfamilieund ebenso die Umstände des letztendlichen Ver-kaufs der wertvollen Familienstiftung mit sich brin-gen, wird seitens eines Projektmitarbeiters neben

Leipziger Pilotprojekt:

www.islamic-manu-

scripts.de

Arabische Startseite,

deutsche Startseite und

Onscreen-Keyboard zur

erleichterten Eingabe

von Sonderzeichen.

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Interesse eines breiten Publikums rechnen durfte.Interessant ist dabei die soziale Zusammensetzungder Nutzer, durch deren Hände seine Handschriftengingen: Nicht nur Gelehrte, auch Handwerker,Händler und Soldaten verschlangen die Bücher undkommentierten ihr Gefallen oder ihre Kritik daranauf der Eingangsseite.Somit ist es auch ein wichtiger Ertrag der Refaiya-Forschung, aus den Sekundärvermerken Informa-tionen über Personen zu erhalten, die es nicht indie Chroniken und biographischen Lexika geschaffthaben, weil sie nicht zur politischen oder intellektu-ellen Elite zählten oder weil sie religiösen Minder-heiten angehörten. Dabei hat sich sogar gezeigt,dass Muslime, Christen und Juden – zumindest aufnicht-religiösen Gebiet – die gleichen literarischenVorlieben und damit auch die gleichen Bücher teil-ten. Dies ist eine Erkenntnis, welche man aus derhistorischen und religiösen Literatur so nicht erwar-ten würde, erscheinen doch dort die Welten der ver-schiedenen Gemeinschaften schärfer getrennt als siees in der Realität oft waren.

Der Radius der kulturellen Beziehungen, in wel-chem die Bibliothek eingebunden war, äußert sichauch in den Wasserzeichen. Die aus Metalldrähtengeformten und auf das Schöpfsieb genähten Mar-ken sind ein charakteristisches Kennzeichen euro-päischen Papiers, das vom 14. Jh. an immer häufigerim Vorderen Orient importiert wurde. Im 17. Jh.wurde denn auch im Osmanischen Reich der über-wiegende Teil der Handschriften auf solchem Papierangefertigt. Trotz seiner kulturgeschichtlichen Rele-vanz ist Wasserzeichenpapier in orientalischenSammlungen ein bisher wenig beachteter Untersu-chungsgegenstand gewesen. Die systematischeErfassung und Auswertung der vorhandenen Was-serzeichen in den Refaiya-Hand-schriften kann zur Bereitstellungund Dokumentation neuen Beleg-materials beitragen, von dem auchdie interdisziplinäre Forschungzum ökonomischen, sozialen undkulturellen Umfeld von Papier, des-sen Produktionsstätten und trans-mediterranen Handelswegen profi-tieren kann.

Als kulturelles Archiv einer vormo-dernen arabisch-islamischen Ge lehr- ten-, Wissens- und Buchtraditionträgt die Refaiya somit Spuren ihrerGeschichte, der Geschichte ihrerBesitzer und Nutzer. Die in Leipzigentwickelte Technik zur Erfassungund Präsentation orientalischerHandschriften schenkt der altenFamilienbibliothek eine zweite,moderne Geschichte, in der sie fürLeser und Forscher aus aller Weltgeöffnet ist ([email protected]).

der Suche in arabischen historiographischen undbibliographischen Werken Forschung im überausreichhaltigen Damaszener Nationalarchiv durchge-führt. Dort durchforstet er mithilfe eines syrischenStudenten alte Gerichtsdokumente (wie Kaufverträ-ge, Erbangelegenheiten und Stiftungsurkunden)systematisch nach möglichen Hinweisen und Infor-mationen. Auch andere Archive bieten wertvollesMaterial. So konnte in Dresden der amtliche Brief-wechsel zwischen Fleischer und dem Ministeriumfür Kultus und öffentlichen Unterricht identifiziertund für das Projekt nutzbar gemacht werden. VieleDetails des Transportes, der Geldbeschaffung in denFonds der sächsischen Behörden, der Überzeu-gungsarbeit, welche Fleischer hierfür leisten musste,traten dadurch ans Licht.

Inhaltlich bietet die Refaiya aber auch genügendSubstanz, um sie ergänzend zu familiengeschicht -lichen Fragen unter vielfältigen buchhistorischenPerspektiven zu untersuchen. Ergiebig erscheintdabei vor allem, die Handschriften selbst zum Spre-chen zu bringen: Hunderte von sekundären Einträ-gen zeugen vom „sozialen Leben“ der Bibliothek.Sie zeigen, wer die Bücher gelesen und besessen hat,durch welche Hände sie im Laufe ihrer teilweisejahrhunderte langen Lebensgeschichte gegangensind – und manchmal sogar, wie viel Geld manbereit war, für sie auszugeben. Dadurch erlauben sieeinen Blick in die kulturelle Umwelt, in welcher dieRefaiya geformt wurde, und in der ihre Besitzer undNutzer lebten. Bei der Erfassung und Erforschungorientalischer Handschriften sind diese auf denersten Blick unscheinbaren Notizen bisher meistübersehen worden. Denn neben illustren Gelehrtenund bekannten Persönlichkeiten finden sich meistweniger oder gar nicht bekannte Namen, die nochdazu oft mühsam oder unvollständig zu entziffernsind. Aber auch Personen, von denen wir aus derLiteratur gar nichts wissen, können durch ihreBücher zu uns sprechen. Sie können z.B. helfen,Handschriften zu datieren, die dann wiederum überden Geschmack und die Bildung, vielleicht sogarden Reichtum ihres Besitzers Auskunft geben.

Die Refaiya als kulturelles ArchivWelche Bücher befanden sich in alten arabischenPrivatbibliotheken und welche Wege nahmen sie?Erste Antworten, welche die Refaiya auf diese Fra-gen gibt, reichen weit über sie hinaus. Denn manch-mal ist es möglich, ganze Reihen von Büchern einerPerson zuzuordnen und so Privatbibliotheken, dielängst nicht mehr existierten, zu rekonstruieren. Sokonnten schon jetzt in der Refaiya über 40 Bändeaus der Bibliothek eines Moscheevorstehers ausAleppo identifiziert werden, von dessen Bücherneinzelne über Leipzig hinaus in drei andere europäi-sche Bibliotheken gelangten. Dabei erscheint derAleppiner Bücherfreund als Liebhaber ausgespro-chener Unterhaltungsliteratur, die nach dem Zeug-nis der Leservermerke auch mit dem lebhaften

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