Blicke im Text. Robert Walsers Gedicht «Renoir» im Kontext ... · Zeitschrift für Literatur 12...

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1 Mariana Prusák (Lausanne): Blicke im Text. Robert Walsers Gedicht «Renoir» im Kontext von Kunstrezeption und Wahrnehmungsdiskurs Vortrag an der Jahrestagung der Robert Walser-Gesellschaft, Winterthur, 13.10.2012 Im Mai des Jahres 1901 fand in Berlin die zweite Ausstellung der Berliner Sezession statt. Die Berliner Sezession wurde Ende des 19. Jahrhunderts als Abspaltung vom offiziellen Berliner Kulturbetrieb gegründet und hatte unter anderem – in Opposition zum konventionellen und historisierenden Kunstverständnis Wilhelms II. – die För- derung des Impressionismus zum Ziel. 1 Neben der erstmaligen Ausstellung von fünf Werken Vincent van Goghs in Deutschland wurde auf der Veranstaltung von 1901 auch Pierre Auguste Renoirs Gemälde «Lise», das 1867 entstanden ist, der Öffent- lichkeit präsentiert. 2 Renoirs «Lise» gilt als eines der Hauptwerke des frühen Impres- sionismus, dessen programmatische Ziele unter anderem die «Befreiung von Farbe» sowie die Abbildung von «Licht, Luft und Bewegung» 3 waren. Robert Walser be- suchte die Berliner Ausstellung im Sommer 1901 auf seiner zweiten Reise nach Berlin und wird einige Jahre später für kurze Zeit als Sekretär der Berliner Sezession tätig sein. 4 In Walsers Werk finden sich vielfältige Spuren der Zeit der Berliner Sezession. Thematisiert werden deren Ausstellungen und Künstler in mehreren Texten, auch wenn es sich dabei zum Teil nur um Andeutungen handelt. 5 In den folgenden Ausführungen soll gezeigt werden, wie das Verhältnis von Bild und Text bzw. von Malerei und Dichtung in Walsers Gedicht «Renoir» dargestellt ist 1 Die Berliner Sezession gilt als die wichtigste separatistische Kunstbewegung Deutschlands aus der Zeit, in der sich in ganz Europa Sezessionen bildeten. Als ‹Abspaltungen› (lat. secessio: «Trennung», «Spaltung», «Absonderung») des offiziellen Kunstbetriebs hatten diese Künstlervereinigungen das Ziel, frei von den Zwängen der Akademien zu sein. Die Berliner Sezession wurde im Mai 1898 ge- gründet, Max Liebermann war ihr erster Präsident und Walter Leistikow, erster Sekretär, gilt als ihre treibende Kraft. Der wichtigste und engagierteste Förderer der Berliner Sezession war ihr Ge- schäftsführer, der Verleger und Kunsthändler Paul Cassirer. Zur Berliner Sezession siehe Peter Pa- ret: «Die Berliner Secession. Moderne Kunst und ihre Feinde im Kaiserlichen Deutschland» [1980], übers. von D. Jacob, Berlin 1981 sowie Rudolf Pfefferkorn: «Die Berliner Secession. Eine Epoche deutscher Kunstgeschichte», Berlin 1972. Zur Bewegung des Sezessionismus allgemein siehe Hans- Ulrich Simon: «Sezessionismus. Kunstgewerbe in literarischer und bildender Kunst», Stuttgart 1976. 2 Renoir war mit diesem Werk, das auch als «Lise mit dem Sonnenschirm», «Lise mit dem Schirm» bzw. «Lise – La femme à l’ombrelle» bekannt ist, im «Pariser Salon» von 1868 vertreten. Es befindet sich heute im Museum Folkwang in Essen. 3 Siehe dazu und zu weiteren Bezügen von Walsers Texten zur bildenden Kunst das Nachwort in: «Robert Walser: Vor Bildern. Geschichten und Gedichte», hg. und mit einem Nachwort versehen von Bernhard Echte, Frankfurt am Main/Leipzig 2006, S. 103–113, hier: S. 107. 4 Ebd., S. 107f. 5 Zur Rezeption der Kunst der Berliner Sezession in Walsers Texten siehe der Aufsatz von Tamara Evans: «Ein Künstler ist hier gezwungen aufzuhorchen». Zu Robert Walsers Kunstrezeption in der Berliner Zeit, in: Anna Fattori u. Margit Gigerl (Hg.): »Bildersprache, Klangfiguren. Spielformen der Intermedialität bei Robert Walser», München 2008, S. 107–116.

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Mariana Prusák (Lausanne): Blicke im Text. Robert Walsers Gedicht «Renoir» im Kontext von Kunstrezeption

und Wahrnehmungsdiskurs Vortrag an der Jahrestagung der Robert Walser-Gesellschaft, Winterthur, 13.10.2012 Im Mai des Jahres 1901 fand in Berlin die zweite Ausstellung der Berliner Sezession statt. Die Berliner Sezession wurde Ende des 19. Jahrhunderts als Abspaltung vom offiziellen Berliner Kulturbetrieb gegründet und hatte unter anderem – in Opposition zum konventionellen und historisierenden Kunstverständnis Wilhelms II. – die För-derung des Impressionismus zum Ziel.1 Neben der erstmaligen Ausstellung von fünf Werken Vincent van Goghs in Deutschland wurde auf der Veranstaltung von 1901 auch Pierre Auguste Renoirs Gemälde «Lise», das 1867 entstanden ist, der Öffent-lichkeit präsentiert.2 Renoirs «Lise» gilt als eines der Hauptwerke des frühen Impres-sionismus, dessen programmatische Ziele unter anderem die «Befreiung von Farbe» sowie die Abbildung von «Licht, Luft und Bewegung»3 waren. Robert Walser be-suchte die Berliner Ausstellung im Sommer 1901 auf seiner zweiten Reise nach Berlin und wird einige Jahre später für kurze Zeit als Sekretär der Berliner Sezession tätig sein.4 In Walsers Werk finden sich vielfältige Spuren der Zeit der Berliner Sezession. Thematisiert werden deren Ausstellungen und Künstler in mehreren Texten, auch wenn es sich dabei zum Teil nur um Andeutungen handelt.5

In den folgenden Ausführungen soll gezeigt werden, wie das Verhältnis von Bild und Text bzw. von Malerei und Dichtung in Walsers Gedicht «Renoir» dargestellt ist

                                                                                                               1 Die Berliner Sezession gilt als die wichtigste separatistische Kunstbewegung Deutschlands aus der

Zeit, in der sich in ganz Europa Sezessionen bildeten. Als ‹Abspaltungen› (lat. secessio: «Trennung», «Spaltung», «Absonderung») des offiziellen Kunstbetriebs hatten diese Künstlervereinigungen das Ziel, frei von den Zwängen der Akademien zu sein. Die Berliner Sezession wurde im Mai 1898 ge-gründet, Max Liebermann war ihr erster Präsident und Walter Leistikow, erster Sekretär, gilt als ihre treibende Kraft. Der wichtigste und engagierteste Förderer der Berliner Sezession war ihr Ge-schäftsführer, der Verleger und Kunsthändler Paul Cassirer. Zur Berliner Sezession siehe Peter Pa-ret: «Die Berliner Secession. Moderne Kunst und ihre Feinde im Kaiserlichen Deutschland» [1980], übers. von D. Jacob, Berlin 1981 sowie Rudolf Pfefferkorn: «Die Berliner Secession. Eine Epoche deutscher Kunstgeschichte», Berlin 1972. Zur Bewegung des Sezessionismus allgemein siehe Hans-Ulrich Simon: «Sezessionismus. Kunstgewerbe in literarischer und bildender Kunst», Stuttgart 1976.

2 Renoir war mit diesem Werk, das auch als «Lise mit dem Sonnenschirm», «Lise mit dem Schirm» bzw. «Lise – La femme à l’ombrelle» bekannt ist, im «Pariser Salon» von 1868 vertreten. Es befindet sich heute im Museum Folkwang in Essen.

3 Siehe dazu und zu weiteren Bezügen von Walsers Texten zur bildenden Kunst das Nachwort in: «Robert Walser: Vor Bildern. Geschichten und Gedichte», hg. und mit einem Nachwort versehen von Bernhard Echte, Frankfurt am Main/Leipzig 2006, S. 103–113, hier: S. 107.

4 Ebd., S. 107f. 5 Zur Rezeption der Kunst der Berliner Sezession in Walsers Texten siehe der Aufsatz von Tamara

Evans: «Ein Künstler ist hier gezwungen aufzuhorchen». Zu Robert Walsers Kunstrezeption in der Berliner Zeit, in: Anna Fattori u. Margit Gigerl (Hg.): »Bildersprache, Klangfiguren. Spielformen der Intermedialität bei Robert Walser», München 2008, S. 107–116.

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und wie sich in diesem Verhältnis eine Kunstrezeption und eine Ästhetik spiegeln, die wiederum Aussagen über die Poetologie von Walsers Text zulassen.6 Dabei wer-den drei Aspekte des Verhältnisses von Bild und Text im Gedicht «Renoir» hervor-gehoben: Zunächst wird die Art der Darstellung visueller Wahrnehmung im Gedicht erläutert. Zweitens werden jene Aspekte thematisiert, die über das Thema des Schauens auf das Bild bzw. über die Bildbeschreibung hinausgehen. Interessant ist hierbei die Frage, inwieweit die Art des Schauens auf das Bild den Text mitstruktu-riert. Zum Abschluss wird es drittens darum gehen, auf welche Weise Walsers Text das Bild Renoirs integriert und wie dabei eine Oberflächenästhetik im Text sichtbar wird.

I

Renoir 1 Ich denke in meinem Wirkungsfelde mit einem Mal an ein Gemälde; es hing vor Jahr’n in der Sezession, besaß einen bezaubernd milden Ton. 5 Ein Frauenbild war’s; am weißen Kleide fiel wie eine Augenweide eine breite, schwarze Schleife der Süßen unglaublich behaglich gemalt zu Füßen. Ein niedliches Hütchen bedeckte das Haar, 10 das von, ich weiß nicht, was für Farbe war. Der Rock berührte mit seinem Saum den Boden des Waldes; ich hatte noch kaum dazumal zu dichten angefangen; Frühling war’s; in den Straßen sangen 15 liebe Hauptstadtvöglein, es hörte sich an, als schlürfe man Wein. Durch das Kunstgebäude flanierte eine schicklichermaßen ein bißchen gezierte Menge von Menschen; vor dem Wald 20 sammelten sich viele gar bald, der traumhaft zart zu lächeln, grüßen schien; sie flüsterten: »Wir lieben ihn.« Ins reizend bewegte Sonntagsgedränge sandte das Bild harmonische Klänge.

                                                                                                               6 Dieser Vortrag ist eine verkürzte Darstellung des ersten Kapitels meiner Lizenziatsarbeit: «Visuelle

Wahrnehmung als Poetologie. Ekphrasis in Robert Walsers später Lyrik». Lizenziatsarbeit Univer-sität Zürich, eingereicht bei Prof. Dr. Wolfram Groddeck, November 2011.

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25 Wenn’s mir doch gelänge, dieser Friedlichkeit, dieser Ruhe, vom Gesicht herunter bis zum Schuhe, passenden Ausdruck jetzt zu verleihn. Wie käme ich mir fein 30 vor, und wie glücklich würd’ ich darüber sein! (Bd. 13, S. 170)7

Robert Walser verfasste das Gedicht «Renoir» im Februar oder März des Jahres 1927 und damit ein Vierteljahrhundert nach der Ausstellung des Gemäldes in Berlin.8 Die Bilder des Textes sind denn auch als erinnerte Bilder gekennzeichnet, die Beschrei-bung des Bildes und der Museumsszenerie sind im Präteritum formuliert.9 Auch der Beginn des Dichtens liegt in der Vergangenheit: «[I]ch hatte noch kaum / dazumal zu dichten angefangen», heißt es ab Vers 12. Dieser Verweis auf den Beginn des Dichtens erinnert an Walsers Prosastück «Das erste Gedicht», in dem ebenfalls das Sehen und das Dichten nebeneinander gestellt werden. Dort heißt es zu Beginn: «Ei-ner stand im Raum starkstill, schaute bloß herum. Ob er etwa dichtete? In der Tat kam er hierher, um sein erstes Gedicht hervorzubringen.» (SW 16, S. 252) 10 Ist der Walser’sche Dichter in diesen Texten also vielleicht einer, der sich vor allem durch seine Art der visuellen Wahrnehmung von anderen Figuren unterscheidet?

Im Gedicht «Renoir» spricht kein unbefangener, dilettantischer Kunstbetrachter, sondern hier spricht eine Figur, die den Kunstdiskurs der Zeit nicht nur einfließen lässt, sondern die diesen innerhalb seines eigenen «Wirkungsfelde[s]«, von dem hier in der ersten Zeile die Rede ist, genau umzusetzen weiß. Durch das dem «Wirkungs-felde» vorangestellte Possessivpronomen «meinem» wird zudem eine Grenze zu ei-nem anderen Bereich markiert: Das Wirkungsfeld des lyrischen Ichs ist das der Dich-tung. Innerhalb des Textes ist es das Schauen, das aus der Bildbeschreibung eine Darstellung eines Bildes macht, die im zeitgenössischen Kunstdiskurs verhaftet ist.

                                                                                                               7 Robert Walser: «Sämtliche Werke in Einzelausgaben», hg. von Jochen Greven, Frankfurt am Main

1985f. (Zitate aus dieser Ausgabe werden im Folgenden unter der Sigle SW und mit Angabe der Band- und Seitennummer nachgewiesen).

8 Veröffentlicht wurde der Text zuerst in der Morgenausgabe der «Prager Presse» vom 17. Juli 1927. Zudem ist das Gedicht auf einem Mikrogrammblatt aus der Reihe der Kalenderblätter überliefert (Kalenderblatt Nr. 227, Kalenderseite 69a Abbildung).

9 Wie alle späten Texte Walsers untersteht auch dieses Gedicht in der Forschung einem generellen Pathologieverdacht. Werner Weber verweist im einzigen bisher erschienenen Aufsatz zu diesem Gedicht darauf hin, dass das «Wirkungsfelde» des Autors Walser, auf das in der ersten Zeile hin-gewiesen werde, «damals in der Randzone der Krankheit, vielleicht schon in der Zone der Krank-heit» war. In Webers Interpretation erscheint daher die Erinnerung, welche im Text geschildert wird, als eine Art ‹Ausflucht› oder ‹Kur›. Werner Weber: «Robert Walser vor Bildern. II. Harmonie im Gedränge», in: «Neue Zürcher Zeitung», 30. Ju1i 1972.

10 Von Lothar Baier wurde dieser Text als «Aufsatz» interpretiert, was als Gattungsbezeichnung un-zureichend erscheint. Der Text trägt vielmehr Züge eines Essays, bei dem die Thematik des Glü-ckens bzw. Misslingens des Dichtens im Vordergrund steht und Dichten als ein ‹Versuch› darge-stellt wird. Lothar Baier: «Robert Walsers Landschäftchen. Zur Lyrik Robert Walsers», in: Text+Kritik. Zeitschrift für Literatur 12 [1966], S. 22–27, hier: S. 23.

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Es soll deshalb im Folgenden gezeigt werden, auf welche Art und Weise der Betrach-ter im Gedicht «Renoir» das Bild anschaut.

Pierre-Auguste Renoir: Lise, 1867. Öl auf Leinwand, 184 x 115 cm, Museum Folkwang, Essen

Der Titel des Gemäldes bleibt in Walsers Text ausgespart. Hinweise, dass es sich in der Beschreibung um Renoirs «Lise» handelt, finden sich vor allem im ersten Teil des

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Gedichts, in den Versen 5 bis 12.11 Auffallend an der Umsetzung des Betrachterblicks im Text ist der ständige Wechsel der Blickrichtungen – von oben nach unten und umgekehrt.12 Mit der Bezeichnung eines Gemäldes, das in der Sezession «hing» (V 3), wird zu Beginn auf einen nach oben blickenden Betrachter angespielt. In Vers 6 fällt der Blick des Betrachters nach unten, indem er «am weißen Kleide» entlang nun der «schwarze[n] Schleife» folgt, die dem «Frauenbild» «zu Füßen» «fiel» (V 5–8). Irritiert wird diese Blickrichtung nach unten jedoch durch den Begriff der «Augenweide», der durch den Verweis auf die Augen einen Blick nach oben – auf die Augen der Abgebildeten – andeutet. 13 Durch den eingeschobenen Vergleich der «breite[n], schwarze[n] Schleife», die «wie eine Augenweide» sein soll, wird aber nicht nur der Blick von oben nach unten irritiert, sondern die Störung wird verstärkt durch die Art des Vergleichs: Die «breite, schwarze Schleife» ist nämlich keine «Augenweide» an sich, sondern sie verhält sich lediglich wie eine Augenweide. Mit dieser medialen Reflexion, die durch den Verweis auf bloße Ähnlichkeit zustande kommt, zitiert das Gedicht das grundsätzliche Verhältnis von Bild und Text und wirft Fragen zu diesem auf: Denn ist es nicht eigentlich die Frau auf dem Gemälde, die eine Augenweide ist? Der Blick des Betrachters ist nun am unteren Teil des Gemäldes angekommen, und zwar «zu Füßen» (V 8). Darauf folgt ein Blick nach oben, auf ein «niedliches Hüt-chen», welches «das Haar» «bedeckte» (V 9). Während der Blick nach oben wandert, zeigt sich erneut eine Irritation dieser Blickrichtung durch das kontrastierende Ad-jektiv «niedlich», das durch die etymologische Verwandtschaft mit dem Adverb

                                                                                                               11 Bei der Frau im Gemälde handelt es sich um Lise Tréhot (1848–1922), die von ca. 1865 bis 1972

Renoirs bevorzugtes Modell war. Siehe das Kapitel: «Camille und ihre ‹Schwestern› – Ganzfigurige Frauenportraits als Programmbilder der modernen Malerei», Kat. 20: Pierre-Auguste Renoir (1841–1919), Lise, 1867, in: Dorothee Hansen u. Wulf Herzogenrath (Hg.): «Monet und Camille. Frauen-portraits im Impressionismus», München 2005, S. 104–107, hier: S. 104. In der von seinem Sohn Jean verfassten Biographie «Mein Vater Auguste Renoir» von 1962 wird Lise Tréhot nur kurz er-wähnt: «Bei meiner Schilderung der Jahre vor und nach dem siebziger Krieg habe ich Renoirs Be-ziehung zu zwei Menschen übergangen, die eine Rolle für seine Entwicklung spielten: den Maler Lecoeur und Lisa, eine reizende junge Frau, die für ihn und andere Maler Modell stand. Aus erster Hand weiß ich nichts über die Beziehungen des Trios, außer daß Renoir und Lecoeur einige Mona-te bei Lisas Eltern in Ville d’Avray lebten.» (Jean Renoir: «Mein Vater Auguste Renoir», übers. von Sigrid Stahlmann, München 1962, S. 127.) Renoir lernte Lise Tréhot 1865 kennen, «Renoirs Freund Jules Le Coeur, der Geliebte von Lises Schwester, muss die beiden miteinander bekannt gemacht haben, und wahrscheinlich waren auch Renoir und Lise ein Paar.» (Hansen/Herzogenrath: Monet und Camille, S. 104) Es gibt drei Versionen der Szene mit Tréhot im weißen Kleid mit schwarzer Schleife, von der dieses Gemälde das bekannteste ist.

12 Zwar ist von einem «Blick» selbst im Text nicht die Rede, jedoch zeigt sich hier ein bestimmtes Muster der visuellen Wahrnehmung.

13 Der Begriff der «Augenweide» findet sich auch bei Goethe: «süßer Anblick, Seelenfreude / au-genweid und herzensweide». «Süß» ist bei Goethe die Augenweide, bei Walser die Frauenfigur. Johann Wolfgang von Goethe: «Scherz, List und Rache. Ein Singspiel», in: ders.: «Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche», vierzig Bde., I. Abteilung, Bd. 5: Dramen 1776–1790, unter Mitarbeit von Peter Huber hg. von Dieter Borchmeyer, München 1988, S. 369–412, hier: S. 379. Die Goethe-Stelle wird zitiert in: Johann Christoph Adelung: «Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart». Zweyte vermehrte und verbesserte Ausgabe, Bd. 1, Leipzig 1793, Sp. 566.

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«nieder» die Bedeutung von «unten» besitzt.14 Im Anschluss auf den Blick nach oben erfolgt nun abermals ein Blick nach unten, auf den «Rock», der «mit seinem Saum / den Boden des Waldes» (V 11–12) berührte. An dieser Stelle endet vorläufig die Be-schreibung des Gemäldes durch den Text. Erst am Schluss wird die visuelle Wahr-nehmung des Betrachters wieder aufgenommen und zusammengefasst: «vom Ge-sicht herunter bis zum Schuhe» (V 27). Dieser vertikale Blick im Text lässt sich als eine Analogie zur vertikal dargestellten Frauenfigur im Gemälde verstehen. Die Dar-stellung des vertikalen Blicks auf diesen Körper innerhalb der Bildbeschreibung kon-trastiert durch die Irritationen jedoch mit der Beschreibung des Bildes als homogenes Ganzes, die am Schluss des Textes in der Wendung «vom Gesicht herunter bis zum Schuhe» enthalten ist. Der Blick auf den Körper der Betrachteten im Gedicht «Renoir» ist also ein unru-higer, mehrfach irritierter Blick: Während die Blickregie einer vertikalen Bewegung folgt, wodurch der Text eine Analogie zum Bild vollzieht, ist diese vertikale Bewe-gung charakterisiert durch mehrfache Wechsel der Richtungen. Damit kontrastiert der Betrachterblick zudem mit der im Text genannten «Friedlichkeit, dieser Ruhe» (V 26). Diese Beschreibung des Betrachtens kann als Hinweis darauf verstanden wer-den, dass der Text sich im ersten Teil zwar als Bildbeschreibung inszeniert, dass er dieses Versprechen jedoch nicht einhält. Wir begegnen hier einem wesentlichen Merkmal von Walsers Poetik, dem abschweifenden Erzählen. Der Blick des Betrach-ters in «Renoir» ist nicht nur ein unruhiger und einer, der in der vertikalen Bewe-gung des Schauens unterbrochen wird, sondern er schweift von der Frauenfigur ab und widmet sich der Umgebung. Was folgt ist ein Exkurs,15 ein ‹Herauslaufen› aus den Grenzen des Gemäldes.

II Auf die Bildbeschreibung in «Renoir» folgt eine Referenz auf den Wahrnehmungs-diskurs der damaligen Zeit:                                                                                                                14 «Niedlich» ist mit «nieder» verwandt und hat die Bedeutung von «klein und fein». Das Adverb

«nieder» geht zurück auf indogerm. *ni für «nieder, unten». Friedrich Kluge: «Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache», bearb. von Elmar Seebold, 24., durchges. und erw. Aufl., Ber-lin/New York 2002, S. 652.

15 Während der Begriff der ‹Abschweifung› in der Forschung als zentrales Element in der Poetik Walsers behandelt wird (siehe z.B. Jochen Greven: «Poetik der Abschweifungen. Zu Robert Walsers Prosastück ‹Die Ruine›», in: Wolfram Groddeck u.a. (Hg.): «Robert Walsers ‹Ferne Nähe›. Neue Beiträge zur Forschung», München 2007, S. 177–186), ist für die hier behandelte Thematik der Begriff des ‹Exkursiven› (lat. excursus: «das Auslaufen») vorzuziehen, da der Begriff der ‹Ab-schweifung› vor allem das Verlassen eines Themenstrangs betont, und weniger den Prozess der Bewegung, welcher in einer Überschreitung der Themengrenzen liegt.

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Frühling war’s; in den Straßen sangen 15 liebe Hauptstadtvöglein, es hörte sich an, als schlürfe man Wein.

Die Schilderung der sinnlichen Wahrnehmung in den Versen 14–16 wirkt so chao-tisch wie die Großstadt selbst.16 Auffallend an der Darstellung von Wahrnehmung ist zudem, dass die visuellen Eindrücke an dieser Stelle in den Hintergrund gerückt werden, während die anderen Sinne konzentriert und simultan auftreten. Das Adjek-tiv «reizend» (V 23) wird hier bereits vorweggenommen. Das Vermischen der Wahr-nehmungsebenen zeigt sich im Text an mehreren Stellen durch den Verweis auf In-termedialität: «Ins reizend bewegte Sonntagsgedränge / sandte das Bild harmoni-sche Klänge» (V 23–24). An dieser Stelle findet eine Verdichtung der rhetorischen Figuren statt. Durch die Personifikation des «Bild[es]» wird eine Überschneidung der Medienbereiche konstatiert, indem das Bild zum Sender von «harmonische[n] Klän-ge[n]» (V 24) wird. Nicht nur die «harmonische[n] Klänge», die dem Bild zuge-schrieben werden, entstammen dem Bereich der Musik, sondern auch der «bezau-bernd milde[ ] Ton» (V 4). «Klänge» und «Ton» besitzt auch die Sprache, und der Dichter wird so zum ‹Tonsetzer›, wie auch im bereits zitierten Prosastück «Das erste Gedicht», in dem es heißt: «Jetzt zog er sein Taschen- oder Tagebuch aus der Rock-tasche hervor. Ein passender Bleistift war bereits gespitzt, und so konnte er ansetzen und jeden Augenblick mit Tonsetzen beginnen.»17 In der Thematisierung des Dichtens erscheint auch in «Renoir» die Vermischung der Künste und Sinneswahrnehmungen als zentrales Charakteristikum und die Wahrnehmung des Bildes wird in Zusam-menhang mit Synästhesie beschrieben.

Auch wenn eine Harmonie zwischen den Künsten an dieser Stelle in «Renoir» möglich erscheint, gibt es im Text weitere Hinweise auf eine Störung dieser Harmo-nie. Das zeigt auch eine Analyse der Reimstruktur: Der Großteil des Gedichts ist paargereimt («-felde», «Gemälde», «Sezession», «Ton» usw.). An zwei Stellen reimen sich drei Verszeilen. Auffällig dabei ist, dass sich die erste Abweichung vom Paar-reimschema exakt beim Wort «Klänge» befindet:

Ins reizend bewegte Sonntagsgedränge sandte das Bild harmonische Klänge.

                                                                                                               16 Peter Utz verwendet den Begriff der «Ohralität», der sich auch für die Analyse dieser Textpassage

eignet, insofern als hier die «akustische Nähe Walsers zum Stimmengewirr seiner lautstarken Epo-che», sein «feines Ohr für die Sprachklänge der Zeit» deutlich werden. Peter Utz: «Tanz auf den Rändern. Robert Walsers «‹Jetztzeitstil›», Frankfurt am Main 1998, S. 13.

17 SW 16, S. 252.

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25 Wenn’s mir doch gelänge, dieser Friedlichkeit, dieser Ruhe, vom Gesicht herunter bis zum Schuhe, passenden Ausdruck jetzt zu verleihn.

Der Bruch in der Reimstruktur lässt sich verstehen als Störung der Harmonie, welche das Paarreimschema bewirkt. Dadurch stellt sich der Text in Opposition zu den «harmonische[n] Klänge[n]», die er dem Bild zuschreibt. Die Abweichung vom Reimschema befindet sich zudem genau an der Grenze zwischen den beiden thema-tischen Bereichen des Textes: dem Bereich des «Bild[es]» und dem Bereich des Dich-tens, der hier beginnt mit «Wenn’s mir doch gelänge«. Der Exkurs aus den Grenzen des Gemäldes hat jedoch noch eine weitere Funktion: Er dient als Reflexion über das Verhältnis von Dichtung zur bildenden Kunst. Indem die Bildbeschreibung nur ei-nen Teil des Textes ausmacht, wird gleichzeitig die Literatur als ein Medium, das über diesen Bildbereich hinausgeht, gekennzeichnet. Das Verhältnis von Bild und Text wird in «Renoir» auch auf der Ebene der Materialität verhandelt, wie der fol-gende Abschnitt zeigen wird.

III Der Blick auf einen (künstlerischen) Körper und die ‹Übertragung› dieses Körpers auf den Text ist auch von anderen Gedichten Walsers bekannt. In der Forschung wird diese poetische Technik Walsers mit dem vom Autor selbst stammenden Begriff der ‹Gedichtkörperbildung› bezeichnet. Im Brief an Max Rychner vom 18. März 1926 schreibt Walser:

Das schöne Gedicht hat meiner Ansicht nach ein schöner Leib zu sein, der aus den gemesse-nen, vergeßlich, fast ideenlos auf’s Papier gesetzten Worten hervorzublühen habe. Die Worte bilden die Haut, die sich straff um den Inhalt, d. h. den Körper spannt. Die Kunst besteht da-rin, nicht Worte zu sagen, sondern einen Gedicht-Körper zu formen, d. h. dafür zu sorgen, daß die Worte nur das Mittel bilden zur Gedichtkörperbildung […].18

Als programmatisches Beispiel für diese ‹Gedichtkörperbildung› gilt Walsers «Sonett auf eine Venus von Tizian».19 In diesem Text aus dem Jahr 1925 geschieht die Ver-bindung von (Bild)-Körper und Text- bzw. Gedichtkörper auch mittels der Darstel-                                                                                                                18 Robert Walser: «Das Gesamtwerk», 12 Bde., hg. von Jochen Greven, Bd. XII, 2: Briefe, hg. von Jörg

Schäfer unter Mitarbeit von Robert Mächler, Genf/Hamburg 1975, S. 266. 19 SW 13, S. 161. Zur «Gedichtkörperbildung» im «Tizian-Sonett» siehe Wolfram Groddeck: «Liebes-

blick. Robert Walsers ‹Sonett auf eine Venus von Tizian›», in: Konstanze Fliedl (Hg.): «Kunst im Text«», unter Mitarbeit von Irene Fußl, Frankfurt am Main/Basel 2005, S. 53–66.

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lung einer Blickregie, die den Blick des Betrachters von links nach rechts – und damit in Leserichtung – wandern lässt.

In «Renoir» ergibt sich die Übertragung des Körpers aus dem Bild in den Text, wie bereits gezeigt wurde, aus der Analogie des vertikalen Frauenkörpers im Bild und dem vertikalen Blick des Betrachters im Text. Die Übertragung zeigt sich aber auch auf der Ebene der Farben. In einem Brief an Frieda Mermet vom 27. Dezember 1928 bezieht sich Walser auf die Darstellung von Farben in Prosastücken:

Ich machte folgende Erfahrung auf dem Gebiet meiner Schriftstellerei: am farbigsten wirken Prosastücke gerade dann, wenn nichts von Farben darin gesagt wird. [...] Das[,] was man nicht erwähnt, lebt am lebhaftesten, weil jedes Erwähnen[,] Andeuten irgend etwas von dem Betref-fenden wegnimmt, ihn’s [sic] angreift, mithin vermindert.20

Eine Tilgung von Farben hat also unter Umständen den Effekt, dass eine Verbindung zwischen Bild und Text intensiviert wird. In «Renoir» findet eine Reduktion auf die Farben Schwarz und Weiß – und somit auf die traditionellen Farben der Textproduk-tion – statt. Rot (die Schleife im Haar) und Grün, die Farbe, die neben Weiß den meisten Raum im Bild einnimmt, werden ausgespart. Zudem wird die Farbe Weiß auf der Wortebene materialisiert, während sie auf der semantischen Ebene getilgt wird. In Vers 9 heißt es:

Ein niedliches Hütchen bedeckte das Haar, 10 das von, ich weiß nicht, was für Farbe war.

Durch das Homonym «weiß» wird ein Spiel des Textes mit der Anwesenheit von Farbe durch seine Abwesenheit in Gang gesetzt. Der Text vollzieht damit in seinem Verhältnis zum Bild eine ‹Entfärbung›. Indem mit der Homonymie des Wortes «weiß» eine Verschränkung von Text und Bild ermöglicht wird, wird eine weitere mediale Reflexion inszeniert.21

Der Verlust von Farben im Text erweist sich als besonders interessant mit einem Seitenblick auf die zeitgenössische Rezeption des Gemäldes. Im Vergleich zu ande-ren Werken dieser Epoche erscheint Renoirs Bild der Lise dem damaligen Publikum «von einer erstaunlichen Helligkeit».22 Die Lichteffekte und Farben im Bild galten den zeitgenössischen Kritikern als deutlicher Hinweis für dessen besondere Qualität

                                                                                                               20 GW XII/2, 335. 21 Das Wortspiel mit dem Homonym »weiß« ist bei Walser verbreitet. Siehe zu dieser Thematik

Wolfram Groddeck: «‹Weiß das Blatt, wie schön es ist?› Prosastück, Schriftbild und Poesie bei Ro-bert Walser», in: TEXT. Kritische Beiträge 3 (1997), S. 23–41.

22 Hansen/Herzogenrath (Anm. 11), S. 104.

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und Modernität.23 Betont wird in den Rezensionen die auffällige Helligkeit und Do-minanz des Kleides. Der Künstler, so die Kritiker, «verkehrte damit auch die inhaltli-chen Schwerpunkte», denn im Gegensatz zu einem Porträt, das eine Charakterstudie sein soll, treten die Gesichtszüge in Renoirs Gemälde bewusst in den Hintergrund.24 Dieser Oberflächenästhetik entspricht nun auch der Text Walsers. Die Beschreibung der Frauenfigur ist eben gerade nicht ein Porträt im Sinne einer Charakterstudie, sondern die Beschreibung beschränkt sich auf Äußerliches, auf das «weiße[ ] Kleid[ ]», die «breite, schwarze Schleife»,25 das «Hütchen» sowie den «Rock». Auch findet keine Einbettung der Figur in die Landschaft statt. Die Oberflächenästhetik ist im Text auch auf der Ebene des Klangs wirksam. Die in den Rezensionen betonte Hel-ligkeit des Gemäldes ist in der auffälligen Häufung des Diphthongs «ei» vor allem zu Beginn des Gedichts – und damit in der Bildbeschreibung an sich – umgesetzt: «mei-nem» (V 1), «einem» (V 2), «ein» (V 2); «[e]in» (V 5), «weißen Kleide» (V 5) «eine Au-genweide» (V 6), «eine breite, [...] Schleife» (V 7); «[e]in» (V 9). Nicht zuletzt ist der Diphthong auch in der Farbe «[W]eiß» (V 10) enthalten. Gehäuft tritt der Diphthong wieder in den letzten drei Versen des Gedichts auf:

passenden Ausdruck jetzt zu verleihn. Wie käme ich mir fein 30 vor, und wie glücklich würd’ ich darüber sein!

Der Schluss des Textes betont mit dem Temporaladverb «jetzt» die Augenblicklich-keit der Darstellung, womit auch ein Verweis auf den Beginn des Gedichts und die Wendung «mit einem Mal» gegeben ist. Somit thematisiert der Text nicht nur mit der Fokussierung auf die subjektive visuelle Wahrnehmung, sondern auch mit der Beto-nung des Momenthaften zwei zentrale Charakteristika der impressionistischen Male-rei.26

                                                                                                               23 Der französische Kunsthistoriker und -kritiker Théophile Thoré integriert in seine Kritik über das

Gemälde Renoirs nach dessen Ausstellung im Salon eine Beschreibung, die sich vor allem dem weißen Kleid widmet. Dieses strahle «im vollen Licht, aber es wird leicht grünlich verfärbt durch die Reflexe der Blätter [...]. Der Effekt ist so natürlich und so wahr, dass man ihn für falsch halten könnte, denn man ist es gewohnt, die Natur in konventionellen Farben darzustellen [...]. Aber hängt nicht die Farbe von dem Umfeld ab, das sie umgibt?» (Etienne-Joseph-)Théophile Thoré(-Bürger): «Salon de 1868», in: «L’Indépendence belge», 29. Juni 1868, übers. nach Rodolphe Walter: «Critique d’art et vérité: Emile Zola en 1868», in: «Gazette des Beaux-Arts 73», 1969, S. 225–234, hier: S. 230, zit. in: Hansen/Herzogenrath (Anm. 11), S. 190.

24 Hansen/Herzogenrath (Anm. 11), S. 190. Die Autoren verweisen auch auf das entscheidende In-strument der Lichtregie, den zierlichen Sonnenschirm, den Lise in der linken Hand hält: «Er wirft einen Schatten auf Gesicht und Schultern, während das weiße Kleid die hellen Sonnenstrahlen re-flektiert.»

25 Es handelt sich dabei um eine schwarze Seidenschärpe, welche die «hohe Taillenlinie markiert» und dekorativen Charakter besitzt. Siehe Hansen/Herzogenrath (Anm. 11), S. 107.

26 Vgl. die Beschreibung des Impressionismus im «Lexikon der Kunst»: «Die Impressionisten er-schlossen der Kunst neue Realitätsbereiche und Aspekte. Ihre Bilder veranschaulichten auf sensua-

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Renoirs «Lise» steht in der Tradition der Ganzfigurenbilder. In den sechziger Jah-ren des 19. Jahrhunderts wurde diese Gattung des «ganzfigurigen, lebensgroßen Frauenporträts» von zahlreichen jungen, ambitionierten Künstlern wie Éduard Ma-net, James McNeill Whistler und Auguste Renoir aufgegriffen und neu interpretiert.27 Ein gemeinsames Thema dieser Ganzfigurenporträts ist die Abbildung der Frau, die steht und nach der neuesten Mode gekleidet ist.28 Der Hintergrund der Tradition des Gemäldes erscheint relevant für die Art der Darstellung der Frauenfigur im Text. Indem das Bild nur einen Teil des Textes ausmacht, wird gleichzeitig die Literatur als etwas, das über diesen Bildbereich hinausgeht, beschrieben. Der Text sprengt mehr-fach den Rahmen des Bildes. Der Schluss des Gedichts lautet:

25 Wenn’s mir doch gelänge, dieser Friedlichkeit, dieser Ruhe, vom Gesicht herunter bis zum Schuhe, passenden Ausdruck jetzt zu verleihn.

Am Ende des Textes wird die Idee des Ganzkörperporträts in der Wendung «vom Gesicht herunter bis zum Schuhe» genannt. Dem Text ist als Ziel gegeben, «passen-den Ausdruck jetzt zu verleihn». Das Thema der Ekphrasis, mittels Sprache Bilder zu erzählen, wird dabei im Konjunktiv genannt.29 Im Bereich der Kunst wird der «Aus-druck» für mimetische Vorgänge verwendet und ist bei Winckelmann definiert als «nachahmung des wirkenden und leidenden zustandes unserer seele und unseres körpers und der leidenschaften sowol als der handlungen».30 Dem «passenden Aus-druck» innerhalb der Rhetorik entspricht das Aptum, die Kategorie der ‹Angemes-senheit‹, die eine der vier Stilqualitäten der sprachlichen Gestalt der Rede bildet.31 In diese Thematik des «passenden Ausdruck[s]» integriert der Text Walsers nun einen

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                         list. und spontane, aber reflektierte Weise nur die von ihnen selbst gesehene Umwelt [...].» Harald Olbrich u.a. (Hg.): «Lexikon der Kunst. Architektur, bildende Kunst, angewandte Kunst, Industrie-formgestaltung, Kunsttheorie», Leipzig 1991, Bd. III, 406.

27 Dorothee Hansen: «Das Porträt als Kunstwerk – Monets Camille und das Ganzfigurenbild in der französischen Malerei des 19. Jahrhunderts», in: Hansen/Herzogenrath (Anm. 11), S. 16–20, hier: S. 20. Zum Ganzfigurenbild siehe im selben Band auch der Aufsatz von Uwe Fleckner: «In voller Le-bensgröße. Claude Monet und die Kunst des ganzfigurigen Porträts», S. 42–51.

28 Hansen (Anm. 27), S. 20. 29 Zur Definition der Ekphrasis siehe Gottfried Boehm: «Bildbeschreibung. Über die Grenzen von

Bild und Sprache», in: Gottfried Boehm u. Helmut Pfotenhauer (Hg.): «Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart», München 1995, S. 23–40.

30 Johann Joachim Winckelmann: «Werke I–VIII«», hg. von Carl Ludwig Fernow, Heinrich Meyer, Johann Schulze, Dresden 1808–1820, IV, 55, zit. in: Jacob und Wilhelm Grimm: «Deutsches Wörter-buch», Leipzig 1854–1954, Nachdruck, 33 Bde., München 1984, Bd. 1, Sp. 846.

31 Wolfram Groddeck: «Reden über Rhetorik. Zu einer Stilistik des Lesens», Frankfurt am Main/Basel 1995, S. 57 u. 103. Traditionellerweise werden vier Stilqualitäten als Kriterien für die sprachliche Gestalt einer Rede angeführt: Neben dem Aptum (vierte Stilqualität) sind dies Puritas («Reinheit»), Perspicuitas («Klarheit») und Ornatus («Schmuck») (ebd., S. 103).

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Wechsel in der Metrik. Während in den anderen Versen des Gedichts hauptsächlich Jamben vorkommen, verhält es sich mit diesem Vers anders: Der Vers

— ‿ ‿ — — — ‿ ‿ — passenden Ausdruck jetzt zu verleihn

besteht aus zwei Daktylen, dazwischen liegt ein Trochäus; der Vers besitzt eine männliche Kadenz. Dieser Wechsel in der Metrik lässt sich als eine weitere Reflexion der Differenz von harmonischem Ausdruck des Bildes und disharmonischer Darstel-lung des Geschauten im Text verstehen. Auf die selbe Art und Weise, wie sich das Gesicht der Abgebildeten im Gemälde im Schatten befindet, womit ein Zurücktreten der Individualität verdeutlicht wird, bekennt sich somit auch der Text zu einer Ästhetik der Oberfläche. Das Ver-schwinden des Ichs im Bild zeigt sich aber nicht nur durch die Umsetzung einer Oberflächenästhetik, sondern unter anderem auch durch das Verschwinden des Namens «Lise» im Text. In Walsers Gedicht ist dieser durch den Namen des Produ-zenten ersetzt. An die Stelle des Namens tritt im Gedicht lediglich die saloppe Be-zeichnung der Figur als einer «Süßen».

*** Walsers prägnante Beschreibung der Lise integriert somit die Wirkung des Bildes und dessen Charakterisierung im Kontext der zeitgenössischen Rezeptionen. Dass Walsers Kunstbetrachter-Figuren nicht nur als unbeteiligte Museumsbesucher fun-gieren, sondern stark in den Kunstdiskurs der jeweiligen Zeit eingebunden sind, ist in den letzten Jahren zunehmend in den Blick der Walser-Forschung geraten. Auch im Gedicht «Renoir» ist der Kunstbetrachter als eine Figur dargestellt, die dem Leser nicht nur das Gesehene anhand einer Bildbeschreibung mitteilt, sondern die sich vor allem durch ein spezifisches Wissen über das Gesehene, über eine charakteristische Art des Schauens und eine Auseinandersetzung mit dem kunstgeschichtlichen Kon-text auszeichnet. Mit dieser Interpretation wurde versucht, dem Text Walsers auch methodisch gerecht zu werden, indem der Blick – wie auch im Gedicht selbst – erweitert und auf Aspekte gelenkt wurde, die über den Text hinausgehen. Dabei sollte die Aufmerksamkeit weniger auf Tendenzen Walsers zu einem bestimmten Stil oder einer bestimmten Kunstgattung gelenkt werden, wie dies in der bisherigen For-schung zur bildenden Kunst in Walsers Werk häufig vorgenommen wurde, sondern

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vielmehr die vielfältigen Beziehungen zwischen Text und Bild herausgearbeitet wer-den. Das Gedicht «Renoir», dessen komplexes Verhältnis von Bild und Text hier nur in Ansätzen aufgezeigt werden konnte, stellt das Dichten bzw. die Dichterfigur und dessen Wahrnehmung ins Zentrum. Mit dieser Zentrierung des Künstlersubjekts ist der Text ein programmatisches Beispiel für eine Dichtung, in der die Auseinander-setzung der Sprache mit dem Wahrnehmungsdiskurs der Moderne zum Ausdruck kommt.