Blickzähmung Und Augentäuschung - Leseprobe

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    Blickzähmung und Augentäuschung

    Zu Jacques Lacans Bildtheorie

    Herausgegeben vonClaudia Blümle und Anne von der Heiden

    diaphanes

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    2. AuflageISBN 978-3-935300-80-3

    ©diaphanes, Zürich-Berlin 2005/2009

    www.diaphanes.netAlle Rechte vorbehaltenLayout, Satz: 2edit, Zürich, www.2edit.deUmschlagabbildung: Jean-Honoré Fragonard: Les Baigneuses, Paris (Louvre),mit einer Kompositionszeichnung von Charles Bouleau.Druck: Mercedes Druck, Berlin

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    INHALT

    Claudia Blümle / Anne von der HeidenEinleitung 7

    DIE SPALTUNG VON AUGE UND BLICK

    Rose-Paule VinciguerraDas Gemälde, der Blick und das Phantasma 45

    Joseph VoglLovebirds 51

    Slavoj i ekDas präsubjektive Phänomen 65

    Joan CopjecDer Andere, wahrscheinlich 79

    SPIEGEL, TABLEAU UND IMAGE

    Sebastian LeikertLacan und die OberflächeZu einem Spiegelstadium ohne Spiegel 91

    Bernhard SiegertDer Blick als Bild-StörungZwischen Mimesis und Mimikry 103

    Philipp von Hilgers

    Die DiskursanalysemaschineHeimsuchung des blinden Flecks 127

    Helga Lutz / Daniel TyradellisJemands TodUnica Zürn und Jacques LacanAnagramme, Subjekt- und Rechenmaschinen 145

    Edda Hevers›Hinter dem Spiegel‹Lacan und die Abgründe der Malerei 163

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    LICHT, SCHIRM UND FLECK

    Peter BerzDie vier Verschiebungen des Blicks 183

    Andreas CremoniniÜber den GlanzDer Blick als Triebobjekt nach Lacan 217

    Ulrike Kadi»… Nicht so einen geordneten Blick«Bild, Schirm und drittes Auge 249

    Michael LüthyRelationale ÄsthetikÜber den ›Fleck‹ bei Cézanne und Lacan 265

    Ute Holl»Wohin man blickt, entsteht ein dunkler Fleck«Raum, Licht und Blick in Filmen Josef von Sternbergs 289

    TOPOLOGIEN

    Christine Buci-GlucksmannDie Sichtung oder das Auge des Phantasmas 319

    Walter SeitterLacans ›Barockismus‹ 337

    Annette Bitsch»Ex nihilo«Das Spiegelstadium in der Zeit von Lacan,Heidegger und Dalí 359

    Annette RunteDinge sehen dich an

    Die Melancholie des leeren Platzesin der metaphysischen Malerei 393

    Alenka Zupan iBlindekuh der Philosophen 425

    Bibliographie der Werke von Jacques Lacan 449

    Ausgewählte Schriftenzu Jacques Lacans Blick- und Bildtheorie 453

    Personenverzeichnis 465

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    Einleitung

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    »In unserem Verhältnis zu den Dingen, das konstituiert ist durch die Bahn desSehens und geordnet nach den Figuren der Vorstellung, gleitet, läuft und über-trägt sich von Stufe zu Stufe etwas, das jedoch immer bis zu einem gewissen Gradeumgangen wird – es ist das, was Blick heißt. Um Ihnen dafür ein Gefühl zu geben,gibt es mehr als einen Weg.«1 Auf diese Weise eröffnet Jacques Lacan in seinem

    Seminar »Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse« von 1964, also knapp drei-ßig Jahre nach der ersten Fassung seiner Arbeit über das ›Spiegelstadium‹2, einForschungsfeld, innerhalb dessen der Frage nach dem Bild eine Schlüsselfunktionzukommt. Die daran anschließende Erläuterung der Divergenz von Auge undBlick zeigt die für Lacan spezifische Arbeitsweise, die ihre Argumente im Dialogmit so unterschiedlichen Disziplinen wie Phänomenologie und Gestaltpsycholo-gie, Optik und Sinnesphysiologie, Ethnologie und Zoologie und nicht zuletzt mitder Kunstgeschichte gewinnt. Auf diese Weise nimmt er Freuds Versuch auf, dieSpannung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften produktiv zu wenden, um

    seinen psychoanalytischen Diskurs zu entwickeln. Lacan nimmt indes nicht nurBezug auf Texte, sondern auch in starkem Maße auf Bilder – Gemälde, Photogra-phien oder wissenschaftliche Illustrationen, die er in Büchern, Zeitschriften oderauf Buchumschlägen findet – und sie in seinen Diskurs einführt. Er bringt sie inseine Seminare mit,3 verweist auf den Aufbewahrungsort der Originale und lässtbisweilen den Raum verdunkeln, um Diapositive, die er im Louvre ausgeliehen

    1. Lacan, Jacques: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Seminar XI , Weinheim/Berlin1996, S. 79; [frz., S. 70].2. Vgl. Lacan, Jacques: »Das Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion, wie sie uns in derpsychoanalytischen Erfahrung erscheint«, in: Ders., Schriften I , Weinheim/Berlin 1986, S. 61-70; [frz., S. 237-322] und Lacan, Jacques: »Die Familie«, in: Ders., Schriften III , Weinheim/Berlin 1986, S. 39-100; [frz., S. 23-84]. Zum Einstieg in das Werk und die Grundbegriffe vonJacques Lacan verweisen wir auf: Evans, Dylan: Wörterbuch zur Lacanschen Psychoanalyse,Wien 2002 und Pagel, Gerda: Lacan zur Einführung, Hamburg 1991. Eine Literaturauswahlzu Lacans Blick und Bildtheorie findet sich im Anhang des vorliegenden Bandes.3. Die kürzliche erschienene französische Neuausgabe des zehnten Seminars enthält erst-

    mals auch eine Auswahl der im Text angesprochenen Bilder: zwei Gemälde von Fransisco deZurbarán, eine Zeichnung der Patientin Isabella (vgl. Abb. 16) und die Photographie des gro-ßen Buddha aus dem japanischen Tempel Todai-Ji. Vgl. Lacan, Jacques: L’angoisse. Sémin-aire X , Paris 2004, Bildtafeln zwischen S. 200f. Bislang beschränkte sich die Reproduktionvon Bildern im Text der Lacan-Ausgaben (Seminare wie Schriften) auf seine selbstentwickel-ten Schemata. Lediglich auf den Buchumschlägen der Seminare wurden die besprochenenKunstwerke wiedergegeben.

    Die Abschnitte I-IV dieser Einleitung wurden von Claudia Blümle, die Abschnitte V-X vonAnne von der Heiden verfasst.

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    hat,4 projizieren zu können. Die Vorstellung, man könne über Bilder sprechen,ohne sich Bilder anzusehen, widerspricht zutiefst Lacans Denken, der die Fragenach dem Bild anhand von zahlreichen Kunstwerken entfaltet hat. An prominen-ter Stelle stehen Die Gesandten von Hans Holbein, Las Méniñas von Velázquez,Die weichen Uhren von Salvador Dalí oder Die heilige Theresia von Giovanni Lo-renzo Bernini. Mehrfach kreisen die Überlegungen um die Malerei von Cézanneund die Kunst der Surrealisten. Die lange Liste der genannten Maler umfasst un-ter anderem Francisco de Zurbarán, Francisco José de Goya y Lucientes, Peter

    Paul Rubens, André Masson, Hieronymus Bosch, Giuseppe Arcimboldo, PaoloUccello, Michelangelo Caravaggio, Albrecht Dürer, Henri Matisse, Vincent vanGogh, Edvard Munch, James Ensor und viele mehr. Lacan war selbst auch »alsZeichner«5 tätig, wenn er mit bunten Stiften borromäische Knoten skizzierte odermit Kreide seine Schemata entwarf. Das von Henri Bouasse in dem Band »Op-tique et photométrie dites géométriques«6 beschriebene Experiment mit Konkav-spiegel und Vase (Abb. 1) bildete den Ausgangspunkt für das optische Modell, dasauf Papier (Abb. 2) sowie auf der Wandtafel in den Seminaren gezeichnet7 und inseinen Schriften abgedruckt wurde.

    Sein reges Interesse an der bildenden Kunst führte zu Freundschaften mit PabloPicasso, Paul Éluard, Salvador Dalí, Hans Bellmer, Georges Bataille oder AndréMasson.8 Er selbst bezog über den berühmten Kunsthändler Daniel Henry Kahn-

    4. Vgl. die Seminarsitzung vom 11. Mai 1966. Unveröffentlicht.5. Seitter, Walter: Lacan und …, Berlin 1984, S. 41-57.6. Bouasse, Henri: Optique et photométrie dites géométriques, Paris 1934, S. 84.7. Lacan, Jacques: L’angoisse. Séminaire X , Paris 2004, S. 140.8. Lacan kannte Bellmer und André Breton persönlich. Er beherbergte sie in den Jahren

    1940-41 in der Villa Bel Air. Mit Bataille war Lacan auch insofern persönlich verbunden, alser in zweiter Ehe die Frau Batailles – Sylvia Lacan – heiratete. Die Heirat mit Sylvia Batailleist auch für die Geschichte des Seminars XI relevant, da die Tochter von Sylvie und JacquesLacan – Judith – Jacques-Alain Miller, den Herausgeber der Seminare, heiratete. Im Juli 1929machte Lacan die Bekanntschaft mit Masson, dessen Bild Le Fil d’Ariane (Der Faden der Ari-adne) er über Kahnweiler abkaufte. Es folgten noch viele weitere, darunter auch Portraitsvon Jacques und Sylvia Lacan. Roudinesco, Elisabeth: Jacques Lacan. Bericht über ein Leben,

    Abb. 1:In: Bouasse, Henri: Optique et photo-métrie dites géométriques, Paris 1934,S. 86.

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    weiler Werke von Balthus, Masson, Picasso und Zao Wou-Ki.9 Allgemein bekanntist, dass Lacan 1955 das Bild L’origine du monde von Gustave Courbet erwarb, umes zunächst hinter einem Vorhang und später hinter einer Zeichnung von Massonzu verstecken.10 Dieses Spiel von Enthüllen und Verbergen, das Lacan hier mit

    diesem »wahre[n] und (indiskrete[n]) Kleinod«11 inszenierte, verweist bereits auf das Feld, auf dem sich Kunst und Psychoanalyse begegnen können: Statt in inte-resseloser Distanz zu verharren wird das Subjekt als sehendes und begehrendesvon den Bildern getroffen. Die fesselnde Faszination der Bilder rückt somit insLicht von Voyeurismus, Fetischismus, Exhibitionismus, Halluzination und Para-noia. Dies mag auch der Grund sein, weshalb Lacan für seine 1932 publizierte Dis-sertation Über die paranoische Psychose in ihren Beziehungen zur Persönlichkeit (De la psychose paranoique dans ses rapports avec la personnalité) mehr Beifallvon surrealistischer als von medizinischer und psychoanalytischer Seite erhielt.

    Die künstlerische Rezeption verstärkte sich ein Jahr später, als er über den Fallder Schwestern Papin schrieb, die als Dienstmädchen ihren Herrschaften, eben-falls ein Frauenpaar, die Augen ausgekratzt und sie anschließend bestialisch er-mordet hatten.12

    Um die verschiedenen Wege nachvollziehen zu können, die Lacan zu seinemTheorem der Spaltung von Auge und Blick geführt haben, ist es sinnvoll, sowohl

    9. Ebd., S. 218.10. Metken, Günther: Der Ursprung der Welt. Ein Lust Stück, München 1997; Damisch,Hubert: Le jugement de Pâris, Paris 1997.11. Dotzler, Bernhard: »Günther Metken: Der Ursprung der Welt. Ein Lust Stück« (Rezen-sion), in: Kaleidoskopien 3 (2000) ( 384. Körperinformation), S. 383.12. Vgl. Kadi, Ulrike: Bilderwahn. Arbeit am Imaginären, Wien 1999; Begierde im Blick: sur-realistische Photographie, Ausstellungskatalog, Ostfildern-Ruit 2005.

    Abb. 2:Lacan, Jacques: L’angoisse. Séminaire X , Paris 2004,S. 140.

    Gesc c te e nes Den systems, Fran urt a.M. 1999, S. 218 un S. 251.

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    die Texte als auch die Bilder heranzuziehen, auf die er verweist. Auf diese Weise

    lassen sich einzelne Fäden aus seinem Argumentationsgewebe herauslösen undrekonstruieren, die seine Schemata und Überlegungen erhellen. Die Kenntnis derBilder und der Texte ermöglicht zudem, die von Lacan vorgenommenen struktu-rellen Umkehrungen subjekt- und sprachphilosophischer Positionen zu verste-hen, die oft selbst einen visuellen Charakter annehmen. So dreht er zum Beispielvor den Augen seiner Studenten auf der Wandtafel des Hörsaals das Schema ausdem Cours de linguistique générale (Grundfragen der allgemeinen Sprachwissen-schaft) von Ferdinand de Saussure (Abb. 3) um und stellt damit dessen Zeichen-theorie auf den Kopf (Abb. 4). Mit dem Argument, ein Signifikant (signifiant)

    komme sehr wohl ohne Signifikat (signifié) aus, aber nicht umgekehrt, errichtetLacan die Herrschaft des Signifikanten. Auch die Einheit des Zeichens, die bei deSaussure mit einem Kreis um die algebraische Formel veranschaulicht ist und dieman sich auch im Sinne eines Blatt Papiers vorstellen kann, beseitigt Lacan, umdie Aufmerksamkeit auf die Barre (den Bruchstrich) zu lenken, die die Trennungzwischen Signifikat (s) und Signifikant (S) betont.

    Auf die Betrachtung von Lacans Schemata sowie bei der Lektüre seiner Textefolgt oft der Ausruf ›Ich verstehe nichts‹. Dies liegt nicht nur daran, dass Lacanmit strukturellen Umkehrungen arbeitet, sondern auch an dem Umstand, dass er

    den Leser dazu verführt, ihn streng systematisch verstehen zu wollen, was abervon seinem Diskurs selbst immer wieder durchkreuzt wird. Auf diese Weise führter vor, wie Sprache und Begehren aufs engste miteinander verknüpft sind. Häufigwirft er in seinen Seminaren Fragen auf oder kündigt Thesen an, auf die er im Fol-genden nicht mehr eingeht. Stattdessen lenkt Lacan die Aufmerksamkeit in an-dere Richtungen, von wo aus er neue Überlegungen entwickelt. Dadurch pro-duziert der Herr und Meister immer wieder Momente der Unzufriedenheit. AchtSeiten oder zwei Jahre später lässt er dann zum Ärger der Vergesslichen plötzlichdie versprochenen Antworten und Thesen auftauchen, genau in dem Moment, in

    dem man es nicht mehr erwartet oder man die Fragestellung nicht mehr präsenthat. In nicht-hierarchischer, nicht-systematischer und nicht-linearer Weise wer-den Zusammenhänge gedacht und entwickelt, die sich fortwährend in verknote-ten Bewegungen verändern. Dabei arbeitet Lacan bewusst mit künstlich erzeug-ten Enttäuschungen, lässt den Hörer oder Leser alleine, so dass er gezwungen

    Abb. 3:In: de Saussure, Ferdinand: Cours de linguistique générale, Paris 1972, S. 158.

    Abb. 4:In: Lacan, Jacques: Schriften II , Weinheim/Berlin 1986, S. 21.

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    wird, die Schemata und Formeln (die lacansche Algebra) als relationale Modellenachzuvollziehen. In ähnlicher Weise lässt Lacan die eingeführten Kunstwerkenicht hinter einer Interpretation verschwinden, sondern präsentiert sie dem Be-trachter als Rätsel, deren eigener visueller Sprache es zu folgen gilt. So fordert er

    beispielsweise sein Publikum am Ende einer Seminarsitzung auf, sich umzudre-hen, um den sichtbar werdenden Widerspruch im Bild ›Die Gesandten‹ von HansHolbein erkennen zu können: »Gehen sie langsam aus dem Raum, in dem das BildSie gewiß lange festhielt. Dann, wenn Sie im Weggehen sich wenden […] – erbli-cken Sie – einen Totenschädel.«13 So werden Bilder in ihrer bedrängenden, un-heimlichen und dezentrierenden Funktion den Hörern im Auditorium entgegen-gehalten. Ihnen kommt damit keine illustrative Funktion zu, vielmehr bringen siedas ins Spiel, was Lacan den ›Blick‹ nennt, das heißt, etwas, was dem Subjekt ent-geht und es zugleich betrifft.

    II

    Eine vollständige Zusammenstellung der von Lacan in seinen Seminaren gezeig-ten und diskutierten Bilder steht noch aus und wird durch die Tatsache erschwert,dass man es im Text oft mit nur spärlichen Andeutungen zu tun hat.14 Ein präg-nantes Beispiel dafür ist die Tafel XLVI aus dem Miserere-Zyklus von Georges

    Rouault.15.

    Im Seminar XI ist nur die Rede von »ein[em] Bild« dieses Malers, dasin einem Buch des Künstlers Charles Bouleau16 einer Analyse unterzogen wird, dieLacan wiederum als Ausgangspunkt seiner Überlegungen dient. Es sei, so Lacan,»ein fesselndes Spiel, in einem Bild [tableau] die Komposition im eigentlichenSinne wieder aufzufinden, die vom Maler angelegten Linien, die die Oberflächeaufteilen, die Fluchtlinien, Kraftlinien, den Rahmen, der das Bild zum Bild[image] macht – ich muss mich wundern, daß diese Dinge in einem, im übrigenbemerkenswerten, Buch als bloßes ›Zimmermannswerk‹ bezeichnet werden…Eine Art Ironie macht, daß auf dem Rücken eben dieses Buchs dann doch ein Bild

    13. Lacan, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, S. 94-95; [frz., S. 83].14. Noch längst ist das Werk Lacans, das im Wesentlichen in der mündlichen Lehre einesüber den Zeitraum von fast 30 Jahren gehaltenen Seminars besteht, nicht vollständig publi-ziert. Seit 1953 beschäftigte Lacan eine Stenotypistin, um seine Seminare zu transkribieren,was ab 1962 auf Basis von Tonbandaufnahmen möglich wurde. Sein Schwiegersohn Jacques-Alain Miller übernahm 1972 die Aufgabe, die Seminare herauszugeben. Vgl. zur Geschichtedes Seminars und weshalb der kritische Apparat fehlt: Roudinesco, Elisabeth: Jacques Lacan.Bericht über ein Leben, Geschichte eines Denksystems, Frankfurt a.M. 1999, S. 605-626.

    15. Zu dem  Miserere-Zyklus vgl. Heuser August; Renn, Wendelin (Hg.): Georges Rouault. Miserere, (Ausstellungskatalog, Villingen-Schwenningen, Städtische Galerie), Osterfildern-Ruit 1998; Bahr, Carolin: Religiöse Malerei im 20. Jahrhundert. Am Beispiel der religiösenBildauffassung im gemalten Werk von Georges  Rouault (1871-1958), Stuttgart, 1996; Miserere.Georges Rouault,  (Ausstellungskatalog, Stuttgart, Landesgirokasse), Stuttgart 1987; Court-hion, Pierre: Georges Rouault , Köln 1980.16. Mit ganz herzlichem Dank an Moustapha Safouan (Paris).

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    von Rouault figuriert, das beispielhafter als andere ist«17. Gemeint ist Bouleaus

    »Charpentes. La géométrie secrète des peintres«18, das 1963, also ein Jahr vor demSeminar XI, in Paris erschienen ist.19

    Diese ›geheime Geometrie‹ der Maler ist eine Kunstgeschichte, in der die unter-schiedlichsten Kunstwerke, von der mittelalterlichen Buchmalerei über orna-mentale barocke Wandmalereien bis zu zeitgenössischen abstrakten Bildern, auf ihre Komposition hin untersucht, zerlegt und mit einem feinen graphischen Netzüberzogen werden, so auch das Gemälde aus dem Miserere-Zyklus von GeorgesRouault, auf das sich Lacan im Seminar XI bezieht. (Abb. 5) Dieses Bild überführt,wie Bouleau schreibt, die perspektivische Räumlichkeit in die Fläche und lässt sie

    auf diese Weise mit dem symmetrischen Schema zusammenfallen20, das sich wiefolgt charakterisieren lässt: »Die zwei, die Komposition des Werkes strukturie-renden Achsen, sind die vertikalen Projektionen der Spitzen des kleinen zentra-

    17. Lacan, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, S. 115; [frz., S. 99].18. Bouleau, Charles: Charpentes. La géométrie secrète des peintres, Paris 1963. Bis jetzt istdas Buch noch nicht auf deutsch erschienen, liegt jedoch in italienischer und englischerÜbersetzung vor. Dabei ist interessant, dass bei der Übersetzung der Titel »Charpentes«, also»Zimmermanswerk« (Lacan, Die Grundbegriffe der Psychoanalyse, S. 115), nicht aufgenom-

    men wurde: Bouleau, Charles: The Painter’s Secret Geometry. A Study of Composition in Art ,New York 1980; Bouleau, Charles: La geometria segreta die pittori, Milano 1988.19. Der Herausgeber der Schriften Lacans, François Wahl, wird von Bouleau in seiner Dank-sagung namentlich als »Verteidiger und aufmerksamer Kritiker dieses Buches«, erwähnt:»Nous remercions […] en particulier François Wahl, défenseur et critique vigilant de celivre«. Bouleau, Charles: Charpentes, Paris 1963, S. 6.20. Ebd., S. 232.

    Abb. 5:Georges Rouault: Le juste comme lebois de santal parfume la hache qui lefrappe. Zyklus: Miserere. Guerre, BildXLVI, 1922. (Mit Kompositionszeich-nung von Charles Bouleau. In: Bouleau,Charles: Charpentes. Le géométriesecrète des peintres, Paris 1963, S. 233.)

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    len Vierecks, das durch die Diagonalen der zwei übereinander liegenden Viereckegebildet wird. Ein großer Kreis verläuft durch die Schnittpunkte dieser Diagona-len und Vertikalen.«21 Was Lacan in Bouleaus Buch vorfand, war eine Form derBildbeschreibung, die ganz von der Ikonographie und der mimetischen Räum-lichkeit absah, um »eines der Charakteristika bei der Erschaffung von Gemälden[tableaux] , das anscheinend noch so gut wie unbekannt ist«22, vorzuführen. In

    dem von Bouleau in Rouaults Gemälde eingetragenen abstrakten Gerüst hebtsich, Lacan zufolge, »eine kreisförmige Zeichnung«23 (Abb. 6) ab, »die zeigt, wo-rum es sich [in der Malerei] im Wesentlichen handelt«. Die Erschaffung von Bil-dern erzeugt Sichtbarkeiten, in denen es nicht um eine Gleichsetzung mit derWahrnehmung in der Natur oder gar um einen visuellen Realismus geht. Er be-tont im Seminar VII: »Sicher, die Kunstwerke ahmen die Objekte, die sie darstel-len, nach, doch ihre Absicht ist gerade nicht, sie darzustellen. Indem sie eineNachahmung des Objekts geben, machen sie aus diesem Objekt etwas anderes.Also geben sie nur vor nachzuahmen. Das Objekt ist in ein bestimmtes Verhältnis

    zum Ding gebracht, was getan wird, um gleichzeitig einzukreisen, zu vergegen-wärtigen und Abwesenheit zu erzeugen.«24 Das Ding in seiner stummen Realität,das im Seminar VII außerhalb der Sprache steht und im Register des Realen ver-ankert ist, wird aufgrund seiner Beschreibung als verlorenes Objekt der Sprache,das kontinuierlich wiedergefunden werden muss, im Seminar XI in Objekt kleina umbenannt. Die Kunst verdeutlicht, wie Lacan in den Seminaren VII, XI, XIIund XX zeigt, dass sich das Sehen über das Begehren und Genießen strukturiert.Physiologisch gesehen funktioniert das Sehen über den Fokus, das heißt, es gibtnur eine Stelle die aufgrund der Akkommodation am schärfsten ist, doch in der

    Malerei kann dieser Punkt nur abwesend sein und durch ein Loch ersetzt werden,»hinter dem der Blick ist. Folglich, und insofern das Bild in ein Verhältnis zumBegehren tritt, ist der Platz eines zentralen Schirms [écran]  immer markiert«.Deswegen, so Lacan, »gehört das Bild [tableau] nicht ins Feld der Vorstellung«.25

    Bouleaus ›Gerüst‹ oder ›Gerippe‹, wie man charpente neben ›Zimmermanns-werk‹26 auch übersetzen kann, macht eine Bildstruktur sichtbar; es lassen sich mitdiesem ›Gerüst‹ die nicht-räumlichen geometrischen Formen, ihre Proportions-

    21. Ebd., S. 233.22. Lacan, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, S. 115; [frz., S. 99].23. Ebd.24. Lacan, Jacques: Die Ethik der Psychoanalyse. Seminar VII , Weinheim/Berlin 1996;S. 173f.; [frz., S. 169].25. Lacan, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, S. 115; [frz., S. 99].26. Ebd.

    Abb. 6:Lacan, Jacques: Die vier Grundbegriffe der Psycho-

    analyse. Seminar XI , Weinheim/Berlin 1996, S. 115;[frz., S. 99].

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    verhältnisse und ihre Verteilung in der Fläche untersuchen. Die Kombinationunterschiedlichster Formen wie Kreise, Viertelkreise, Dreiecke, Rechtecke, Dia-gonalen, S-Linien, Pentagone oder Oktogone eröffnen ein geometrisches Bezie-hungsgeflecht, das von Bouleau gemäß der jeweiligen mathematischen Kennt-nisse auch historisch erläutert und in algebraische Formeln übertragen wird. DieBilder entstehen aus einer Art geometrischem Schematismus, der so diskret ope-riert, dass er manchmal völlig in Vergessenheit geraten kann (»cette charpente estdiscrète; quelquefois, même, elle se fait totalement oublier«27). Charpentes, »dasist die Studie über die interne Konstruktion der Kunstwerke, das ist die Suchenach den Formeln, die im Laufe der Jahrhunderte die Verteilung der plastischenElemente regiert haben.«28 

    Im Fall des Gemäldes »Les Baigneuses« von Jean-Honoré Fragonard (Umschlag-abbildung und Abb. 7) macht Bouleau die geometrische Dynamik, das Kräfte-

    verhältnis, wie folgt sichtbar: Zwei Kreise, die den Durchmesser der kurzen Seitedes rechteckigen Gemäldes haben, verlaufen tangential zu den Bildrändern, so

    27. Bouleau, Charpentes, S. 9.28. Ebd.

    Abb. 7:Jean-Honoré Fragonard: Les Baigneuses, Öl auf Leinwand, 64 x 80 cm, 1772-75, Paris(Louvre). Kompositionszeichnung von Charles Bouleau. In: Bouleau, Charles: Charpentes.La géométrie secrète des peintres, Paris 1963, S. 141.