Reiz und Elend der cremefarbenen Couch - Leseprobe

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Eine Psychoanalyse ist vielleicht das Persönlichste, was ein Mensch erleben kann. Benja Thieme berichtet in diesem Buch von der erfolgreichen psychoanalytischen Behandlung ihrer Essstörungen, an denen sie seit ihrer Kindheit leidet. Die Protagonisten der Erzählung sind Max Hirtberg, Psychoanalytiker, die Analysandin sowie die Figur der »Artistin«, bei der es sich um eine psychische Abspaltung der Essstörung handelt. Die Geschichte dokumentiert die analytische Behandlung von der ersten bis zur letzten Stunde. Sie basiert auf Notizen, die nach den Stunden angefertigt wurden, und auf Gedanken, die zwischen den Sitzungen in unregelmäßigen Abständen skizziert wurden. Während zunächst Rückblicke und beschreibende Passagen dominieren, gewinnt der Dialog zwischen dem Analytiker und der Analysandin rasch an Bedeutung, bis schließlich er es ist, der Erinnerungen und aktuelle Szenen dominiert. Benja Thieme hat ein faszinierendes Protokoll ihrer Heilung verfasst, das Betroffenen Mut macht und Behandlern ganz neue Blicke auf ihr Tun eröffnet.

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Benja Thieme

Reiz und Elend der cremefarbenen CouchTherapiegeschichte einer Essstörung

Vandenhoeck & Ruprecht

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ISBN 978-3-525-31707-5ISBN 978-3-647-40102-7 (E-Book)

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, GöttingenVandenhoeck & Ruprecht LLC, Oakville, CT, U.S.A.www.v-r.deAlle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany.

Satz: SchwabScantechnik, Göttingen

Druck und Bindung: a Hubert & Co. Göttingen

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Inhalt

Prolog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Hirtberg schweigt. Nicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10

Begegnung mit dem Zensor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

Das ist jetzt erst mal so . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

Empathie und Entlastung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39

Ein Teil des roten Fadens: Zweifel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48

Misshandlung und Verhöhnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56

Möglichkeit zum Veto? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62

Scampi-Pfanne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70

Stabilität in der Verlorenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77

Ganz nackt – einfach so . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

Sie müssen nicht sofort handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91

Herzausreißer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101

Experiment www . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114

Verwaiste Sehnsüchte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123

Ambivalenzprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133

Versuch zu reisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143

Vielfalt und Reichtum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164

Reiz und Elend der cremefarbenen Couch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175

Noch mehr Weib . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184

Verheddert in der Th emenlosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192

Doch nur ein Tagebuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202

Realitäten wie Sand am Meer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215

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Alltag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223

Es ist nicht gut, dass ich da bin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234

Das letzte Jahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244

Umzug, Stagnation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258

Mehr und mehr auf mich allein gestellt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267

Es geht um soziale Beziehungen, Verbindlichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280

Ambivalenz als Tor zur Humanität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294

Assoziationen und Einfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305

Die Katze beißt sich in den Schwanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318

Dazwischen, Zwischenzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333

Können wir jetzt mit der Analyse beginnen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341

Der Weg zurück in die Realität oder: Verzahnung der Welten . . . . . . . . . . . . 354

Traumkäfi g . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366

Irrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374

Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375

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Prolog

Sich einer psychoanalytischen Behandlung zu unterziehen, ist das eine; diese Behand-lung und deren Auswirkungen zu dokumentieren, das andere. Die Entscheidung, den analytischen Prozess schreibend zu begleiten, fi el unmittelbar nach der ersten Begegnung mit Max Hirtberg, meinem Analytiker. Das war im Spätsommer 2005. Die Datei trug den Namen Das-ist-jetzt-erst-mal-so.doc und stand in der Tradition einer Reihe älterer Dateien, die ich über die Jahre angelegt und denen ich die Aufgabe eines Tagebuches zugewiesen hatte. Zunächst ging es um nicht mehr als das stichwortartige Notieren von Gedanken, wurzelnd in dem Bedürfnis, jederzeit nachvollziehen zu können, ob, und wenn ja, welche Wirkung unsere Gespräche haben würden.

Der skizzenhafte Charakter meiner Notizen änderte sich, als ich dazu überging, Hirtbergs Schlüsselsätze wörtlich zu zitieren, weil sie sich wie Mantren in meinem Kopf einnisteten. Bis heute sind diese Sätze für mich von übergeordneter Bedeutung. Langsam, aber kontinuierlich geriet das Schreiben zu einem konstitutiven Element der Th erapie. Dies nicht zuletzt, weil es immer wieder Dinge gab, die, so sehr sie nach außen drängten, mir unaussprechlich, in ihrer vermeintlichen Unaussprechlichkeit jedoch zu wichtig schienen, um sie zu verschweigen. So ward das Unaussprechliche präzise beschrieben und hernach Hirtberg zur Lektüre angedient oder auch ihm vorgetragen.

Nach etwas mehr als einem Jahr – oder gut einhundert Stunden – drohten meine Notizen ihren zwar liederlichen, aber doch konsequent protokollierenden Charakter zu verlieren und zu verwässern, womit die Realisation der Idee bedroht war, Hirt-berg zum Abschluss der Analyse ein möglichst authentisches Verlaufsdokument zu übereignen. In dieser Phase dominierte Unlust, was meine Besuche bei Hirtberg, der Eindruck von Stagnation, was die Behandlung betraf – mit der Konsequenz, dass es ein Höchstmaß an Überwindung und Disziplin bedurfte, wenigstens zwei, drei Sätze festzuhalten.

Im Sommer 2008 bewilligte die Krankenkasse die letzten sechzig Stunden, womit mir die Endlichkeit der Th erapie drastisch vor Augen geführt wurde. In diesem letzten Jahr nahm das Schreiben eine neue Dimension an und wurde zu einer glei-chermaßen faszinierenden Begegnung wie irritierenden Auseinandersetzung mit dem bisher Geschehenen. Um Übersichtlichkeit bemüht, begann ich, meine Notizen zu gliedern und systematisch mit Zwischenüberschriften zu versehen. Und dann habe

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ich gestrichen, gerungen, geschludert, gefl ucht und gesucht, gespeichert, gelöscht, dokumentiert, rekonstruiert, korrigiert, ja, auch gelacht. Über Hirtberg, über mich.

Parallel dazu lief die Behandlung weiter, fand also jener Prozess seine Fortsetzung, der dazu geführt hatte, dass mein Symptom, die anorektische Bulimie, beinahe zur Gänze von einem Leben abgelöst worden war, in dem die zwanghafte Beschäftigung mit Körpergewicht und Kalorien einer Verschiebung der Prioritäten zu Gunsten einer zunehmenden Wachsamkeit gegenüber sozialen und berufl ichen Fragen gewichen war. Daran gewöhnt, kunstwissenschaftliche Fachtexte zu publizieren, erlaubte ich mir nun die tollkühne Idee, an eine Veröff entlichung der ganzen Angelegenheit zu denken. Das Schreiben oder besser gesagt: die Arbeit am Text wurde beinahe zum Lebensmittelpunkt, geriet zu einer Parallelwelt, in die ich mich zurückziehen, in der ich schwelgen konnte und in der ich mich bisweilen auch verlor. Systematisch, ja geradezu besessen eignete ich mir »das alles« noch mal an, wie Hirtberg sich aus-drückte, packte »einen Rucksack für später, wenn das hier« beendet sein würde. Ich bereitete nach – und mich gleichzeitig vor, ich materialisierte, verband mich mit Erkenntnissen, Inhalten, Wünschen und Träumen.

Nicht nur retrospektiv, sondern auch im Erleben war diese Zeit aus zwei Gründen die intensivste der vier Jahre umspannenden Behandlung: Erstens rekapitulierte ich das Vergangene, betrachtete es aus einem anderen Blickwinkel. Zweitens befand ich mich nun in einem Stadium, in dem es weniger um die Beseitigung eines Symptoms, sondern vielmehr darum ging, mit dem Damoklesschwert des absehbaren Abschlusses der Analyse fertig zu werden, mit dem Ausstieg aus dieser Welt, die mir allein gehörte, mit dem Abschied von meinem Bündnispartner. Das spiegelt sich in den letzten Kapiteln, in denen die Grund- oder Ausgangsproblematik von der Beschäftigung mit dem Ende überlagert wird, mit der Lösung von Max Hirtberg, den ich idealisierte wie einstmals Polyklet Doryphoros: bewusste Entscheidung einerseits, Resultat der Gegebenheiten andererseits, skizziert und geformt nach seinen Vorgaben im Rahmen der Behandlung, dieser Schnittmenge unserer Welten, dem Mikrokosmos, in dem wir uns begegnet sind.

Was ich meinem Bündnispartner zur dreihundertelften Stunde am 23. Dezember 2009 überreichen konnte, war kein objektiver, geschweige denn seinem Wesen nach wissenschaftlicher Bericht, kein Fachtext. Weder einer, der sich mit der Psychoanalyse als geeigneter oder ungeeigneter Th erapieform bei Essstörungen, noch einer, der sich mit Essstörungen und ihrer Th erapierbarkeit befasst – nicht mal einer, der eine ideale Analyse, falls es sie gibt, beschreibt. Es war das Manuskript zu diesem Buch, das andere ermutigen soll, die Reise zum eigenen Ich anzutreten, eine subjektive, in ihrer Subjektivität jedoch absolut authentische Refl exion eines, ja, ich möchte sagen: belebenden Erkenntnisprozesses.

Max Hirtberg möge die Niederschrift dieser Geschichte meiner – unserer – Ana-lyse vor allem als Dank begreifen, als Anerkennung und als »Liebeserklärung an die Psychoanalyse«. Die zurückliegenden Jahre waren, was meine bewusste Persönlich-keitsentwicklung betriff t, zweifellos die wichtigsten, auch die effi zientesten meines

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Lebens. Die Essstörung, mit der ich gekommen bin, stellt sich heute in einer Form dar, die meine Lebensqualität nur unwesentlich beeinträchtigt. Ein Behandlungserfolg, für den ich mehr als dankbar bin.

Dem Leser und Max Hirtberg erspare ich an dieser Stelle jeden theoretischen Dilettantismus die Frage betreff end, ob man überhaupt jemals als »geheilt« aus einer Analyse geht. Ein weites Feld, dass Berufenere als ich beackern. Festzuhalten gilt, dass ich auf dem Weg bin, den hier beschriebenen Lebensabschnitt als beendet zu akzep-tieren. Ja, ich bin auf dem Weg: ausgestattet – Fluch und Segen gleichermaßen! – mit einem völlig unerwarteten Plus an emotionaler Erlebensfähigkeit, Kreativität und Fantasie. Ein weiterer Behandlungserfolg. Der größte Gewinn jedoch ist, zu wissen und zu spüren, dass die Geschichte über das in der Analyse nicht Gewesene, über das nicht Erlebte, Erkannte, Etikettierte, Gesagte, Gedeutete noch zu schreiben ist.

Herr Hirtberg, sagen Sie jetzt nicht: »Sie gehen autonome Schritte und schauen sich um, ob Sie zurückkommen dürfen«. Auch das: eine kostbare, gleichwohl späte Erkenntnis. Sie haben alles – sorry: wohl das Meiste – richtig gemacht. Oder wir. Wie sonst sollte ich mir dieser Defi zite, meiner eigenen und derjenigen des analytischen Prozesses, bewusst sein? Der Existenz dieser Defi zite bin ich mir bewusst, ihre Inhalte ins Bewusstsein zu bringen, ist Aufgabe – ja, wessen?

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Hirtberg schweigt. Nicht.

Fünfzig Minuten lang lasse ich mich in unbekannte Sphären führen, spüre weichen Sand unter meinen bloßen, an unnachgiebigen Asphalt gewöhnten Füßen, erahne Weite jenseits aller Mauern, Lebendigkeit jenseits der Starre. Mein angeschlagenes Bild vom Psychotherapeuten erweist sich als korrekturbedürftig:

Hirtberg erfasst in dieser knappen Stunde mehr als alle anderen mir bekannten Vertreter seiner Zunft zusammen. Umgeben von einer beinahe magischen Aura, einer Mixtur aus Selbstbewusstsein, Empathie und Leichtigkeit, ist er geradezu prädesti-niert, Grenzen der Zeit zu überschreiten, Boden zu bereiten und mein enges Korsett behutsam zu lösen. Mit seinem Charisma, seiner Wortgewandtheit und seinem Sinn für Situationskomik springt er direkt in mein Herz.

Die Artistin erschrickt. Viel zu dicht war unsere Verstrickung, um dieses Expe-riment früher zu wagen, stattdessen halbherzige Kompromisse. Vor einer Analyse hatten wir beide Angst.

»Frag deine Freundin Anna nach einem guten Th erapeuten«, hatte Vincent am Telefon geraten, als ich im April endlich genügend Mut aufbrachte, ihn zu fragen, was ich, der Artistin überdrüssig, tun könnte. Mir ging es hundsmiserabel, erlebte ich doch seit Wochen nicht einen einzigen Tag, an dem ich mich wie ein normaler Mensch ernährte.

»Zentral ist meiner Einschätzung nach eine emotional klärende Behandlung«, sagte er, »vielleicht später sogar eine Psychoanalyse, mit möglichst vielen Stunden. Lass dich auf die Sache ein, erwarte keine schnellen Fortschritte, sei beharrlich. Ganz gleich, was du machst: Es wird lange dauern, mehrere Jahre, und es wird teilweise sehr schmerzhaft werden und vielleicht Änderungen im Privatleben mit sich bringen.«

Pause. Änderungen? Was für Änderungen?»Wie du weißt, arbeite ich mit der psychosomatischen Klinik in Bad Bramstedt

zusammen. Dort kannst du eine stationäre Akutbehandlung machen«, fügte er hinzu, er würde sich auch dafür einsetzen, dass ich schnell einen Platz bekomme.

»Vincent, wie stellst du dir das vor? Ich kann nicht einfach für ein paar Wochen aus meinem Job raus, … obwohl … nun … ehrlich gesagt: Ich bin seit Jahrzehnten reif für eine stationäre Behandlung … Wie lange dauert denn so was?«

Statt konkret auf meine herumgestotterte Frage nach der Dauer zu antworten, riet

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er mir von der Alternative ab, mich sofort, also ohne vorherige stationäre Behandlung, einer Analyse auszusetzen.

»Diese Idee, Benja, entschuldige, halte ich für ineffi zient. Ein Analytiker, der keine umfassenden Erfahrungen und Ambitionen auf dem Gebiet der Essstörungen hat, nützt vermutlich kaum etwas. Am Ende weißt du beim Adlerianer, dass du schon immer einen Minderwertigkeitskomplex und unsinnige Kompensationsbemühungen hattest. Ob sich das auf die Symptomatik auswirkt ist unklar. Am besten, du machst erst mal stationär Verhaltenstherapie, damit du aus dem Teufelskreis herauskommst. Wenn das gelingt, können wir gucken, was danach indiziert ist.«

Nicht zuletzt dank meines Hanges zum magischen Denken glaube ich an alles, was Hilfe verspricht. Notfalls an die katholische Kirche, an eine Wallfahrt nach Lourdes, ein purgatives Bad im Ganges oder eine Audienz bei Benedictus XVI. Allem vertraue ich mehr als mir selbst. Innerhalb weniger Tage fi el die Entscheidung zu Gunsten der Klinik, wobei das größte Problem darin bestand, eine Erklärung zu fi nden, warum ich sechs Wochen im Job ausfallen würde.

»Sag deinen Leuten im Job, Quandt und der Königin, du hättest eine Reihe medi-zinischer Untersuchungen durchführen lassen mit dem Ergebnis, dass dein Hausarzt dringend zu Abklärung und Behandlung verschiedener psychosomatischer Symptome rät. Zu diesem Zweck überweise er dich in eine Klinik in Norddeutschland. Der Aufenthalt dort würde voraussichtlich sechs Wochen betragen. Punkt, aus.«

Der Versuch, mir Vincents diesbezüglichen Pragmatismus zu eigen zu machen, schei-terte immerhin nicht zur Gänze; und so verbrachte ich schließlich neun Wochen in Bad Bramstedt. Mit dem Ergebnis, am Ende zwar nicht geheilt, doch endlich reif zu sein für die Analyse, die mir als letzte Möglichkeit noch blieb.

Vincent hatte mich gewarnt: »Der Analytiker setzt sich erst mal hin und schweigt. Wenn’s sein muss, fünfzig Minuten lang.«

Hirtberg schweigt.Also erzähle ich. Von der Artistin, von Vincent, von Anna, von Silzer, die mir

sämtlich, mit Ausnahme der Artistin, nahe gelegt haben, im Anschluss an die stati-onäre Th erapie weiterzumachen.

»Und Sie?« Hirtberg bricht sein Schweigen.»Wie, ich?«»Was wollen Sie?«»Ach so. Ich will die Analyse, sehe in ihr den einzigen Weg zu echter Freiheit jen-

seits aller artistischen Attacken, deren Wurzeln in der Fixierung auf das Essverhalten liegen. Das wiederum verdeckt, was wirklich ist – wie beispielsweise das vage Gefühl, dass in der Beziehung zwischen Timo und mir etwas nicht stimmt.«

Vincent redete am Telefon von Scheidung. So weit bin ich noch lange nicht.

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Hirtberg schweigt. Nicht.Er hört mir zu. Das ist etwas ganz anderes. Er lächelt ab und zu, erfasst präzise die

Situation einer ihm vollkommen fremden Frau, beschreibt meine Situation am Ende unserer ersten fünfzig Minuten glasklar. An der Tür zum Sprechzimmer das Zitat von Carl Valentin: »Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit.«

In meiner Wohnung hocke ich auf dem Sofa. Hirtberg hockt in meinem Kopf. Und Jurij fehlt mir. Es gibt nichts, was ich mehr wünsche, als ein paar Tage wirklich mit ihm zusammen zu sein. Irgendwo, Paris, Moskau, New York, meinetwegen Gelsenkirchen-Buer, mit dem, wie Vincent in Verkennung des Ruhrgebietes meint, Wismar Ähnlichkeit habe.

Dort, in dieser pittoresken Hafenstadt, saßen wir, Vincent und ich, noch vor wenigen Wochen, am Vortag der Entlassung aus der Klinik, bei strahlendem Son-nenschein endlos lange am Hafenpier.

Mit diesem Erinnerungsbild fällt mir ein Gemälde von Yannik Kryzakovskiy ein, »Hafenpier im Winter«, 1979, was wiederum meine Gedanken zu Jurij führt.

Seit langer Zeit höre ich Musik. Laut. R.E.M. Sometimes, everybody hurts, sometimes everything is wrong, hold on, hold on …

Meine Gedanken schweifen von Jurij zurück zu Vincent, zu Hirtberg und schließ-lich zu Timo und Loschad.

Als wir uns Anfang der 1980er Jahre kennen lernten, studierte Vincent im achten oder neunten Semester Psychologie und stand kurz vor dem Examen. Ein bedäch-tiger, im Gespräch insistierender Typ mit einem kaum wahrnehmbaren Flattern der Augenlider, das er bis heute nicht verloren hat.

Ich erinnere mich an endlose Spaziergänge, er kannte sich in der Gegend um Münster gut aus, und wir stiefelten auf dem alten Treidelpfad den Kanal entlang bis zu einem im Wald gelegenen Moor, wo sich tote Stämme zackig in den morbiden Winterhimmel bohrten. Wir schlenderten die Werse entlang, die sich durch die westfälische Landschaft schlängelt, gesäumt von gelb und weiß gesprenkelten Wiesen. Wir fuhren hinaus ins Grüne, ins Blaue, redeten und tranken draußen nur Kännchen und ich prokelte Löcher in rot-weiß karierte Kunstfasertischtücher. Auf dem ovalen Tablett aus Edelstahl lag ein Deckchen aus gelblichem Plastik in Häkeloptik. Vincent führte mich in Lokale mit Regionalkolorit und urige Kneipen mit Eichentischen, Butzenscheiben und off enem Kamin, irgendwo weit draußen zwischen Kopfweiden und Acker, auf dessen fettglänzenden Schollen um Allerheiligen der erste Reif schim-merte und Krähen um die Überbleibsel des Herbstes zankten.

Stundenlang saßen wir in seiner Wohnung unter dem Dach im Hause seiner Eltern, einem ziemlich spießigen Einfamilienhaus in guter Gegend mit Ligusterhecken, Mag-nolienbäumen, Rhododendren und Garagenzufahrten aus Waschbeton. Er erzählte von Milton Erickson, Helm Stierlin, Jürgen Habermas, Humberto Maturana, Jürgen Kriz oder Paul Watzlawick. Selten besuchte Vincent mich in meinem Appartement,

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das im Süden der Stadt lag. Meistens lag ich rücklings platt auf seinem Teppich und ließ psychologische Experimente zu, ließ mich faszinieren und in andere Welten tra-gen von seinen Geschichten, die er mit seiner sanften, bisweilen etwas hellen Stimme erzählte, um die Imagination zu steuern.

Nach der Studienzeit verloren wir uns. Es hatte ihn in den Osten Deutschlands verschlagen, rund achthundert Kilometer von Assgart entfernt, meinem Empfi nden nach eine schier unüberwindliche geografi sche Distanz. Innerlich schloss ich mit ihm, mit unserer Freundschaft ab. Nicht weil mir Vincent gleichgültig geworden oder ich seiner überdrüssig geworden war: Es war die Resignation vor dem Raum. An diesem abgelegenen Ort schien Vincent nicht greifbar, nicht einmal im Notfall. Mit dieser – bei genauerer Betrachtung, der ich mich jedoch verweigerte – schmerz-haften Erkenntnis arrangierte ich mich und verfolgte zielstrebig meinen Weg der Unberührbarkeit. Ich schob Gedanken und Gefühle in die Rubrik Vergangenheit und schnürte mein Korsett noch etwas enger.

Für welchen der Analytiker, die ich parallel in probatorischen Sitzungen besuche, ich mich entscheiden werde, ist nur scheinbar off en. Nehmen würden mich alle drei. Ob das als Kompliment aufzufassen ist, sei dahingestellt.

Achterbach ist überhaupt nicht auf meiner Wellenlänge. Seine Praxis befi ndet sich im Dachgeschoß, ist folglich mit Schrägen ausgestattet, die dem Ganzen einen sehr engen Rahmen geben. Dieser Eindruck wird durch eine gewisse Makramee-Ästhetik gesteigert, die nicht nur das Ambiente, sondern in subtiler Art und Weise den ganzen Mann umspannt.

Der zweite, Hassler, ein soignierter älterer Herr, wirkt sehr akademisch, sensibel, fein und klassisch analytisch. Bei beiden Kandidaten tendiert die Gefahr, mich zu verlieben, gegen null.

Hirtberg, der dritte, ist nur wenig älter als ich und so faszinierend, dass ich spä-testens am Ende der ersten Begegnung fürchte, meine Gefühle nicht dauerhaft unter Kontrolle zu haben. Er ist frech, direkt und unkonventionell.

Ich denke über kaum etwas anderes nach als über die Frage, in wessen Hände ich mein Schicksal legen soll. Das Gefühl zieht mich zu Hirtberg, der Kopf treibt mich zu dem feinsinnigen Akademiker. Zu Hassler. Soll ich mich auf mein Bauchgefühl verlassen, wo ich doch mit dem Bauch so große Probleme habe? Gerade mit dem Bauch – im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. In ihm ist beides: Angst und Mut. Leere und Fülle. Beides ist unangenehm. Ein ausgeglichener Zustand ist mir fremd.

Mit Hassler rede ich über Kreativität, über das Malen und Schreiben, erzähle von Jurij und der Artistin. Er fragt nach Träumen, ja sicher, die gibt es! Ich sehe Bilder, nicht Szenen, was ihm einleuchtet: Bilder ließen sich kontrollieren, Handlungen und Szenen weniger. Ganz knapp thematisiert er Religiosität und Glauben. Es ginge künftig um Sinnfragen, sagt er, und darum, das Chaos in mir zu lichten. Einver-standen. Ich will weg von Egozentrik hin zu Übergeordnetem. Nach der dritten probatorischen Sitzung bei dem schöngeistigen Akademiker geht dieser wohl davon

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aus, dass ich mich für ihn entscheiden werde. Er – im Gegensatz zu diesem dreisten Hirtberg – fragt nicht nach den Kollegen, die ich aufsuche, obwohl ich auch ihm gegenüber kein Geheimnis daraus mache.

Hirtberg hingegen erkundigt sich unverblümt nach den Namen, die ich ihm, wenngleich widerstrebend, nenne, um es dann doch in Ordnung zu fi nden.

Hassler, der Feinsinnige, spricht schnell über organisatorische und wirtschaftli-che Eckdaten: Frequenz drei Mal pro Woche, etwa drei Jahre lang, wobei es immer schwierig sei, das Ende zu fi nden. Um kassentechnisch Luft zu schaff en, schlägt er vor, dass ich eine Sitzung pro Woche privat bezahle – was ich mir zwar leisten kann, aber auch nicht ohne Weiteres. Die Idee an sich fi nde ich zwar befremdlich, aber nicht dumm: Ein solches Vorgehen würde ja angesichts der Kassenleistungen, die naturgemäß begrenzt sind, zeitlichen Spielraum schaff en. Er klärt mich auf über die Handhabung von Urlaubszeiten und Ausfallstunden, wobei er immerhin die Kulanz einräumt, dass unverschuldet versäumte Stunden – etwa bei Beinbruch oder Herz-infarkt – nicht von mir bezahlt werden müssten. An seiner Praxis komme ich jeden Tag mindestens zwei Mal vorbei.

Hirtbergs Praxis liegt im Süden der Stadt. Der Weg ist etwas weit, Parkplatzpro-bleme sind vorprogrammiert. Hirtberg schlägt einen Rahmen von zwischen ein- bis dreimal pro Woche vor, je nach Bedarf. Honorare und Kassenleistungen thematisiert er gar nicht.

»Ach, die Kassen …« Wegwerfende Handbewegung.Interessiert indes zeigt er sich an den Inhalten der Gespräche mit dem Feinsinnigen.

Er ist nicht nur unverschämt und selbstsicher, sondern auch unverblümt neugierig. Er interessiert sich für das Wesentliche.

Völlig durcheinander, weiß ich bald nicht mehr, was ich wem erzählt habe, geschweige denn, zu wem ich will. Anna hilft mir bei der Entscheidung, indem sie schlicht fest-stellt, Hirtberg hätte angebissen, wenn er mir schon weitere Termine gegeben hätte.

»Außerdem, Benja, nimm es mir nicht übel, aber du hast dich schon jetzt ein wenig in deinen künftigen Analytiker verguckt.«

Anna, ihres Zeichens Kinder- und Jugendanalytikerin, ist sehr direkt.»Nach gerade Mal vier Sitzungen? Du spinnst doch. Wie kommst du darauf?«

Meine Entrüstung fällt etwas dünn aus. »Noch leide ich nicht, liebe Anna. Und solange ich nicht leide, bin ich nicht verliebt.«

Was ich für mich behalte: Genau vor dem Leiden, dieser unendlichen Sehnsucht, habe ich panische Angst. Ich will das nicht. Kann man nicht irgendwie vorher die Notbremse ziehen? Bevor das Ganze in einer emotionalen Katastrophe endet? Anders gefragt: Was reizt mich an der emotionalen Katastrophe? Dass sie mich reizt, kann ich selbst vor mir nicht verbergen.

»Wie ist es Ihnen denn nach der letzten Stunde ergangen?«, fragt der Freche.»Nun, bereits in der zweiten Stunde fragten Sie, wie es mir nach der ersten Stunde

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ergangen ist. Meine Antwort war unvollständig, ich kam nicht auf den Punkt. Des-halb habe ich jetzt diese Karteikarte dabei, auf der ich notiert habe, was unter allen Umständen zur Sprache kommen muss.«

»Und das wäre?«»Beispielsweise eine Frage, die ich mir eigentlich selbst beantworten könnte …

Nun, ich bin unsicher«, druckse ich herum, »also: Wie off en darf oder soll ich sein?«Ohne seine Antwort abzuwarten, lasse ich ihn wissen, dass ich mich bereits bei

unserer ersten Begegnung verstanden fühlte, mehr noch: in gewisser Weise durch-schaut.

»Vor allem, als ich auf das Th ema Alkohol zu sprechen kam?«»Ja. Ehrlich gesagt fasziniert mich Ihre Art, Ihre Unverblümtheit, Ihre Ironie und

Ihr Humor – was mich, wie Sie wissen, nicht davon abgehalten hat, einige Ihrer Kollegen zu konsultieren.«

Mutig entschließe ich mich zu schonungsloser Off enheit, gestehe, dass ich diese Faszination als riskant und bedrohlich empfi nde, um sodann, gleichsam relativierend hinzuzusetzen, dass natürlich diese Faszination vermutlich nicht allein seiner Person gilt …

»Keine Ahnung«, plappere ich weiter, »ob Sie, Hirtberg, etwas erwarten oder nicht. Ich habe keine Ahnung, ob Sie, bliebe ich stumm, tatsächlich fünfzig Minuten schweigen würden. Das ist unfair: Sie sind Profi – im Schweigen und Aushalten. Können Sie mir nicht wenigstens sagen, ob Sie etwas erwarten, und wenn ja, was?«

Die ganze Situation macht mich extrem verlegen, und ich fürchte, dauerte sein Schweigen auch nur eine Minute länger, dass ich kommentarlos den Raum verlassen würde.

»Was bezwecken Sie damit? Sie müssen doch merken, dass mir das unangenehm ist. Noch etwas: Sie fragten, ob die Symptomatik nach den Besuchen bei Ihnen oder Hassler intensiver oder in zeitlichem Zusammenhang aufträte, was ich verneinte. Warum? Weil mir die Courage fehlte, zuzugeben, dass dem so ist … Es wird immer extrem schwierig sein, über diese Sache zu sprechen. Es ist wichtig, dass Sie verstehen: Es ist der peinlichste, der delikateste Punkt in meinem Leben – dicht gefolgt von Sex. Alkohol und Medikamente – Sie fragten nach der Quantität: Glauben Sie mir nicht? Ich bin clean.«

Seine Mimik studierend frage ich mich, warum er auf dem Bild im Internet jün-ger aussieht als in Wirklichkeit, mit dem vorläufi gen Ergebnis, dass es daran liegen wird, dass man das Foto angeschnitten hat, seine Augen und sein Lächeln damit bildbestimmend sind.

»Ist irgendwas?«, fragt er und reißt mich aus dem Tagtraum.Fühle mich ertappt. Darüber vergesse ich, ihn zu bitten, die Indikationen für die

Behandlung noch mal zusammenfassen. Da gibt es den Komplex um Schuld und Scham, was war noch? Sexualität? Und mein Pferd, Loschad? Oder wie?

Tränen tropfen auf die Tastatur. Seit langer Zeit weine ich. Etwas bemüht noch, aber

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immerhin. Sehne mich zurück nach dem, was mit Timo war. Ich meine, ihn zu lieben, begehre aber den Körper, den er früher hatte. Mir fehlt schon lange jede Lust auf Sex mit ihm. Das einzugestehen schmerzt umso mehr, als gleichzeitig mein Inneres nach Jurij kreischt, der anruft, um mich zu überreden, nach Brüssel zu kommen, wo er im Musée des Beaux Arts einen Vortrag halten wird.

»Gott sei Dank, Wenja, chabe schon mehrmal angerufen, aber du warst nie zu Chause«, brüllt er, kaum das ich mich melde, »chörrrr bitte zu, du musst kommen, ich chabe dein Einladung, bitte komm …«

»Ach, ich weiß nicht …«Warum sage ich nicht einfach: Jurij, du kannst mich mal?Sehne mich, will aber hart sein, ihm heimzahlen, dass er in all den Jahren nie Zeit

und kein wirkliches Interesse an mir hatte. Vielleicht fi nden wir uns, eines Tages, wenn er endlich kürzer tritt … Aber dann ist da Bernie, seine Frau, die ihn auch will, und Timo, der mich will und den, so versuche ich mir einzureden, ich noch immer liebe.

Auf die Fahrt nach Brüssel verzichte ich und begleite stattdessen Timo zum Geburtstag meiner Mutter, die den etwas altmodischen Namen Dietlinde trägt. Es geht mir um ihn, Timo, nicht um meine Mutter. Nach Brüssel zieht es mich sowieso nicht, und mich in Frack und Fummel werfen? Nein, ich will das alles nicht. Was ich will, ist Jurij. Aber nicht um den Preis des bettelnden, kostümierten Hündchens.

Ergebnislos grübele ich, wie ich mir den Zensor, den Hirtberg ins Feld führt, konkret vorzustellen habe. Ein Zensor, der von mir verlangt, mich so oder so oder anders zu verhalten, der mich ständig straft, der viel zu viel und obendrein das Falsche von mir verlangt?

Es gelingt mir nicht, den Zensor von mir abzukoppeln. Er ist ich.Der Zensor und ich, wir sind wie siamesische Zwillinge miteinander verwachsen.

Allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass wir es nicht von Geburt an, sondern dass wir, der Zensor und ich, ursprünglich eigenständige Individuen waren. Wessen Forderungen habe ich so internalisiert, dass ich dem Trugschluss aufsitze, es seien meine eigenen? Sind diese Forderungen überhaupt jemals explizit formuliert worden?

Zerrissen in der Mitte des Lebens, traurig, unglücklich. Die Artistin hat mich längst eingeholt, was ich Vincent, mir selbst und auch Silzer, meinem Bad Bramstedter Bezugstherapeuten, dem ich versprochen hatte, von mir hören zu lassen, nicht ver-schweige.

Es sei der Verdienst der Verhaltenstherapie, schreibe ich ihm in einer Mail, dass jetzt endlich ich bereit sei für die Analyse, in der ich lerne wahrzunehmen und zu weinen, Musik zu hören und zu schreiben, statt mit Atosil Gefühle zu töten oder der Artistin zu erlauben, Brot nachzuschieben, dass ich Loschad nach Liefem holen und wieder reiten werde, obschon Timo vor der zeitlichen und emotionalen Belastung warnt, die auf mich zukommen wird, weil ich ebenso wenig wie früher ertragen werde,

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dass Loschad, statt auf üppigen Weiden mit Stuten zu fl irten, im Stall herumsteht und auf mich wartet.

Was Timo betriff t, komme ich nicht umhin, mir sehr gemischte Gefühle einzuge-stehen. Es tut weh und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll, dass ich an ihm hänge, er aber nicht mit mir redet, jedenfalls nicht richtig. Timo widersetzt sich konsequent einer ernsthaften Auseinandersetzung. Ich erkläre mich bereit, mit ihm wandern zu gehen – er wandert gern. Ich hasse wandern. Verlange, als Gegenleistung sozusagen, dass er endlich kreativ wird, fordere ihn auf, sich vorzustellen, was passiert, wenn wir uns nicht aufeinander zu bewegen: nämlich nichts.

»Lass uns im Gespräch bleiben«, sage ich. »Unsere Probleme löse ich nicht allein mit meinem Analytiker. Mit dieser Annahme machst du es dir zu leicht.«

Timo bildet seit sechzehn Jahren ein Gegengewicht zu meinen Sehnsüchten und innerem Aufbegehren, bewahrt mich vor Risiken, schützt mich vor dem, was sein kann, aber nicht sein darf.

In ihm fi nde ich Ergänzung und Widerpart, Unterstützung und Herausforderung. Wir geben uns Geborgenheit und Sicherheit und fühlen uns verantwortlich, einer für den anderen.

Wir planen unser gemeinsames Alter – so mich denn die Artistin nicht vorzeitig ins Gras zu beißen zwingt – und sorgen in gutbürgerlicher, konventionell-ehelicher Manier vor: Timo hat ein Mehrfamilienhaus in Jena kernsarniert und gut vermietet. Möglich, dass wir uns eines fernen Rententages in den Osten der Republik absetzen werden. Ein hübsches Haus in attraktiver Wohnlage, erbaut zu Beginn des 20. Jahr-hunderts, Jugendstil, nachweislich und eindeutig.

Mit wachsender Begeisterung und Sinn für ökonomische und ökologische Fragen kümmert sich Timo um Sparverträge, Geldanlagen, Zusatzrenten, Fördermittel. Wir träumen von einer kleinen, feinen Chocolaterie oder einem intellektuell angehauchten Café, in dem die Musik ausschließlich von Schallplatten käme und das gleichzeitig als Galerie für möglichst abgedrehte Kunst fungieren soll. Ich jedenfalls träume. Für Timo dann gleich mit.

Doch neben aller Freiheit und Gleichklang der Seelen brauche ich Lebendigkeit, Flexibilität, Fantasie und Kreativität. Ich wünschte mir einen Timo, mit dem ich schöpferisch sein würde, mit dem sich ein gemeinsames Buchprojekt realisieren, ein Resthof restaurieren oder eine Galerie betreiben ließe. Selbst schwimmen, laufen, kochen, stricken, was weiß ich, würde mir gefallen. Nur wandern eben nicht.

Das Wochenende habe ich für mich allein. Mit meinem kleinen Th erapeuten – Loschad – verfüge ich mich in den Liefemer Wald und erzähle ihm, wie übel die Artistin mit mir spielt, wie sehr sie mich in ihrer Gewalt hat, dass sie nun auch noch meinen Körper ins Visier nimmt, meinen Rachen zum Bluten bringt. Später, in der Box, erzähle ich ihm von Hirtberg.

Loschad genießt das Rascheln trockenen Laubes und hört aufmerksam zu, ohne

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etwas zu entgegnen, mich zu unterbrechen, mir Ratschläge zu erteilen, Richtli-nien vermitteln zu wollen. Lässt sich die Mähne kraulen und schnaubt, als ich ihn zum Galopp auff ordere, buckelt zweimal, sammelt sich dann und zieht an vor dem Baumstamm, der, quer liegend, uns den Weg zu versperren scheint, setzt über und ich fühle seinen Stolz, obwohl es für ihn keine große Leistung ist. Aber er ist stolz, kann Stolz empfi nden.

Im Gegensatz zu mir, die vor lauter Schuldgefühlen und innerer Unsicherheit die positiven Aspekte in der Beziehung zu Timo nicht sieht: Er restauriert die Holzfenster seiner Genossenschaftswohnung und ich gehe mit Loschad in den Wald. Ich male mir in meinem neuen Kelleratelier die Artistin vom Hals.

Wo ist das Problem? Ist es Dietlindes Stimme, die sich suggestiv erkundigt, ob das eine intakte Beziehung sei? Sind es die Stimmen der Medien, die der Psychologen und ich weiß nicht von wem, die mich glauben machen wollen, eine Beziehung sei nur intakt, wenn möglichst viel gemeinsam gelebt wird? Gebricht es mir an Mut und Selbstbewusstsein, unsere Beziehung nicht als solche in Frage zu stellen, sondern sie zu leben in eben den Zeitfenstern, die sich uns öff nen? Oder gebricht es uns an Liebe?

Mit Hirtberg lässt sich so wunderbar lachen! Sein staubtrockener Humor geht Hand in Hand mit einem ausgeprägten Sinn für Ironie und Situationskomik – was bleibt ihm in seinem Job auch anders übrig.

»Ich konsultiere Sie nicht, um mich zu amüsieren.«»Vergnügen gehört nicht hierher? Wir sind ja auch nicht zum Spaß auf der Welt.

Erst die Arbeit, dann, wenn überhaupt, das Spiel.«»Trotzdem, ich fürchte, die Sache hier nicht mit hinreichender Seriosität anzu-

gehen. Wie kann ich sicher sein, dass Sie mich und meine Sorgen und Probleme so ernst nehmen, wie Sie mir sind?«

Mir ist es wichtig, ganz klar zu machen, dass es um eine Symptomatik geht, deren Behebung als Resultat unserer Psychochirurgie im Mittelpunkt zu stehen hat.

»Ich möchte, Hirtberg, den Eindruck vermeiden, etwas auf die leichte Schulter zu nehmen. Ich möchte Ernsthaftigkeit. Weder vordergründige noch tatsächliche Ver-gnügtheit bedeutet, dass Vergnügungssucht Motivation zur Analyse ist. Ich komme nicht mit dem Ansinnen, mich zu vergnügen!«

Vergnüge mich aber trotzdem.

Wir reden über Jurij, oder besser: Ich erzähle, dass ich ihn jahrelang entsetzlich ent-behrte, wie ich schreien wollte und weinen, toben und mich in der Luft zerreißen. Und wie ich, statt Letzteres zu tun, Schokolade in mich hinein stopfte, Kekse, Brot, mich des altbewährten Verhaltensmusters bediente, Wut, Enttäuschung und Ungeduld herunterschluckte. Während ich mich stopfend selbst betäubte, glaubte ich zu wissen, warum ich es tat und versuchte zu spüren, wie der Schmerz unerfüllten Begehrens der Betäubung wich.

Während Timo Pakete für den Hermes-Versand austrug, starrte ich auf den Fern-

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sehbildschirm und folge halbherzig den fl immernden Bildern aus einer besseren Welt. Statt zu verstehen, ging ich ins Bad und entledigte mich meiner Betäubung.

Ich erzähle von einem typischen Abend, an dem ich verdrossen Mineralwasser und eine Flasche Bier für Timo aus dem Keller holte und bei der Gelegenheit auf meine ersten russischen Lehrbücher stieß: bebilderte Fibeln, anhand derer ich mir autodidaktisch die Schrift und die einfachsten Redewendungen beigebracht habe. Im Fernseher lief eine meiner Lieblingsserien, nach kaum zehn Minuten schaltete ich den Apparat aus: Selbst trivialsten Handlungssträngen zu folgen, war ein Ding der Unmöglichkeit. Andere Leute lösen Kreuzworträtsel oder lernen Adressverzeich-nisse, rückwärts gelesen, auswendig, um sodann bei »Wetten, dass …?« zu brillieren. Ich lernte Kalorientabellen auswendig und russische Vokabeln. Es ging alles viel zu langsam, Ungeduld machte mir zu schaff en. Jahre später gab ich auf. Bis heute bin ich der russischen Sprache nicht mächtig.

Während die Hoff nung ungebrochen war, schwand der Glaube, dass Jurij anrufen würde, von Minute zu Minute. In diesem Gefühlscocktail aus Zorn, Enttäuschung und Ungeduld konnte nur Arbeit helfen. Entschieden schmiss ich mich aufs Sofa, korrigierte missmutig schlecht lesbare Druckfahnen und versuchte mich zu beruhi-gen, indem ich mich auf die Bedeutung der Organisation besann, in deren Auftrag immerhin ich dies tat: Sie würde mir noch viele Möglichkeiten, meine Lust auf die Welt zu befriedigen, bieten und dem Willen, Verantwortung zu übernehmen, Rechnung tragen.

Dass dem nie so sein würde, ahnte ich nicht.Russland stand für eine unendliche Sehnsucht nach einem aufregenden, anderen

Leben, für Lebenslust, Unabhängigkeit, Freiheit, Erleben, stand für do what you want wherever you want. Ich kostete jede Form von Abwechslung in vollen Zügen aus, war ungeheuer neugierig, beobachtete das Petersburger Leben, als hätte man mir soeben eine Augenbinde abgenommen.

Oft wünsche ich mir jemanden, der ähnlich guckt und denkt und fühlt, jemanden, der weniger passiv, rezeptiv und konservativ ist als Timo. Jurij entspricht diesem Bild: aktiv, mutig, kreativ, ständig unterwegs, voller Tatendrang.

Ich webte mein eigenes Netz von Vorstellungen aus kaleidoskopartigen Teilkennt-nissen der russischen Kultur, der Lektüre von Zeitungsartikeln und Romanen. Dos-tojewski, Nabokov, Bulgakov, Gorki. Nicht eine TV-Reportage ließ ich aus, Gerd Ruge war deutlich präsenter, als mein Vater es je war. Meine Fantasie spazierte durch eine mentale Tundra, die mir allein gehörte.

Die innere Anspannung sank in dem Maße, in dem ich begriff – ein Prozess übrigens, der sich über Jahre hinzog –, wie die Geschichte zwischen diesem Russen und mir lief: nämlich gar nicht. Ich wollte ihn nicht aus meinem Leben verbannen, als reale Person jedoch wollte ich ihn auch nicht unbedingt.

Was ich wollte, war diese Geschichte. Ganz für mich allein. Deswegen ist es so schwer, der Geschichte ein Ende zu setzen. Ich halte sie fest, die bittersüße Fantasie und bewege mich frei darin herum, wann immer es mir langweilig ist. Es war mein

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Geheimnis, doch ich weiß, es war nur eines: Das Leben hält genug davon parat, ich werde immer eines für mich fi nden.

Augen auf und Mund zu.

Wäre die Artistin nicht so viel früher als Jurij auf den Plan getreten, läge die Vermutung nahe, ihre Existenz stünde in ursächlichem Zusammenhang mit Jurijs Erscheinen – und dem damit verbundenen Gefühlschaos.

Andersherum wäre natürlich darüber zu spekulieren, ob sie sich, gleichsam frust-riert angesichts einer Partnerschaft in vermeintlicher Totalharmonie, verzogen hätte, wäre nicht Jurij aufs Parkett gekommen.

Dieser laienpsychologische Ansatz ist mir allerdings in seiner geballten Banalkau-salität zu schlicht, abgesehen davon – und jetzt kommt’s – sträubt sich in mir alles, dies zu glauben, weil es in Konsequenz bedeuten würde, einen von beiden in die Wüste schicken zu müssen.

Übrig bliebe ich allein, die Artistin hätte auch nichts mehr zu tun.

Fakt ist: Neben Timo gab es jemanden, mit dem mich zunächst nichts als Berufl iches verband. Jurij und ich wurden zu einem guten Team, verschachern uns gegenseitig Aufträge, realisieren Buch- und Ausstellungsprojekte und halten uns auf dem Laufen-den über das, worüber die Szene munkelt, wobei Jurij derjenige mit dem ultimativen Plus an mehr oder weniger aufregenden Informationen ist. Unsere persönliche Bezie-hung bewegte sich quantitativ auf einem Level, das sich bequem verschweigen ließ.

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Begegnung mit dem Zensor

Während ich über den Zensor nachdenke, den abzuspalten – um zu erkennen, wo mein Über-Ich agiert – mir partout nicht gelingen will, fällt mir auf, dass ich an anderer Stelle bereits eine Abspaltung praktizierte: indem ich die Artistin erschuf. Der Kampf gegen meine eigene Schöpfung hat eine neue Dimension gewonnen, besiegt ist sie damit noch nicht. Die Artistin beobachtet mich aus dem Hinterhalt, grinst hämisch und zwackt mir in den Hüftspeck.

Das schmerzhafteste Wort, das Hirtberg an diesem Tag gebraucht, ist Verwahrlosung. Das Schlüsselwort ist Bestandsaufnahme. Erst mal gucken, was ist. Sein Eindruck: Intimität gebe es zwischen Timo und mir nicht. Meiner ist anders, aber darüber werden wir noch sprechen.

»Timo ist zu dick«, würge ich das Unsägliche hervor.Nicht genug, dass ich mich für meine eigene vermeintliche Dickleibigkeit schäme,

ich schäme mich auch noch für die meines Partners.»Angenommen, er wäre bis März wieder knackig und stellte dann entsprechende

Forderungen. Vielleicht wird es Ihnen gar nicht recht sein. Sie haben ein Arrange-ment«, stellt Hirtberg sachlich fest. »Wenn Sie verrückt wären nach dem Mann und er nach Ihnen: Sie fänden einen Weg, zusammen zu leben.«

»Wir wollen das aber nicht.«Was wollen wir eigentlich? Ein Paar sein? Freunde? Ein erneuter Versuch, mit

Timo zu reden, ist fällig.

Mir ist alles zu viel. Tatsächlich: alles. Einerseits erschlagen von Problemen, die sich in den verschiedenen Th emenkreisen wie Partnerschaft, Sex, Job, Pferd, Kreativität verbergen, will ich andererseits alle, am besten sofort, lösen, was Hirtberg durch seine Gesprächsführung allerdings eff ektiv zu verhindern weiß: Jedes Detail gerät zum Selbstläufer, zu einem in sich wiederum verzweigten Komplex.

Die großen Th emen gehen unter. Erst mal.»Da ist er, der innere Zensor«, triumphiert Hirtberg, »Ihre Probleme bleiben

ungelöst, Sie müssen auch hier etwas leisten, wir sind ja schließlich nicht zum Ver-gnügen hier … eine sehr protestantische Weltsicht übrigens. Sie haben noch keinen roten Faden.«

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Natürlich höre ich den Vorwurf: Sie haben ja immer noch keinen roten Faden! »Meine Aussage ist wertfrei: Sie haben noch keinen roten Faden. Punkt. Nicht mehr und nicht weniger. Ich helfe Ihnen jetzt mal: Es gibt zwei Ebenen, auf denen Sie sich bewegen, mit denen Sie agieren. Die eine ist die des authentischen Ichs, die andere die des Über-Ichs, die der Zensor als seine Plattform nutzt …«

»… und auf der rede ich in der zweiten Person Singular: Du hängst vor dem Fernseher, anstatt zu malen, zu reiten, zu lesen oder sonst etwas Sinnvolles zu tun.«

»Was ist denn so sinnvoll am Malen, Lesen oder Reiten?«, fragt Hirtberg und bringt mich damit massiv ins Schleudern.

»Weiß ich nicht … Es kommt etwas dabei heraus.«»Was denn?«»Nun, Lesen beispielsweise dient der Bildung – vorausgesetzt, die Lektüre ist von

entsprechendem Niveau –, Reiten der Konstitution des Pferdes, vielleicht auch meiner eigenen … Beim Malen entsteht bekanntlich ein Bild. Das kann man im Gegensatz zu Bildung und Körperkonstitution auch noch sehen und anfassen. Jedenfalls han-delt es sich am Ende um eine messbare Leistung oder um ein bewertbares Produkt. Fernzusehen indes macht dick, doof und träge, aber was erzähle ich Ihnen …«

»Das sagt der Zensor. Was sagen Sie denn dazu? Was sagt Ihr authentisches Ich?«»Weiß ich auch nicht.«Um nicht völlig sprachlos dazusitzen, versuche ich zu formulieren, was ich nur

schemenhaft und äußerst formlos wahrnehme: die enge Verknüpfung nämlich von lustvollem Erleben – beispielsweise im kreativen Tun – und dem gleichzeitigen Gefühl der Verpfl ichtung zum Schreiben, zum Lesen, zum Reiten und letztlich auch zum Lieben.

»Der innere Zensor verlangt die systematische Abarbeitung eines vorgeschriebenen Programms«, übersetzt Hirtberg mein Gestammel. »Die von Ihnen beschriebene Ver-zahnung entspricht der Verkoppelung von Ich und Über-Ich. Ihre Über-Ich-Strenge überlagert alles, auch das lustvolle Erleben.«

Beeindruckt von seiner klaren Sicht auf die Verhältnisse sitze ich stumm und staunend da.

»Jetzt haben Sie den roten Faden«, sagt er und lächelt mit den Augen. »Das ist der rote Faden, um den es immer wieder, in allen anderen Th emenbereichen, gehen wird. In unserer Begegnung projizieren Sie die Erwartungen und Anforderungen Ihres Über-Ichs auf mich, womit Sie den Zensor externalisieren. Unter psychohygienischen Gesichts-punkten ist das positiv: Die extrem enge Kongruenz von Ich und Über-Ich ist damit zumindest temporär und partiell aufgehoben, wodurch es möglich wird, die Identifi ka-tion des Ich mit dem Über-Ich zu hinterfragen. Projektion und Übertragung bedeutet Entlastung des Ich, indem Sie die Forderungen des Über-Ichs als Forderungen Ihres Gegenübers interpretieren, womit sie, die Forderungen, außerhalb Ihrer selbst sind.«

»Hmm, möglicherweise handelt es sich ja so gesehen bei dem magischen Denken um eine erfundene und irrationale Größe außerhalb meiner selbst, um eine Art Kontrollinstanz?«

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Wir kommen nicht mehr dazu, das Th ema zu vertiefen.»Ist es in Ordnung, wenn ich Ihnen per Mail zukommen lasse, was ich über mein

magisches Denken geschrieben habe?«»Ja. Das ist in Ordnung. Wenn es ein längerer Text ist, werde ich den Zeitaufwand

zur Lektüre als Stunde verrechnen«, fügt er hinzu und greift damit meinen Vorschlag auf, das so zu handhaben.

Ein Fest im Stall, der Mais steht hoch und schützt, stolpernd in den Sonntag. Früh-stück in der Sonne, dann: allein. So wohlig müde nach dem Reiten, so schwer, so leicht – zugleich. Die Blutung, Erklärung und Markstein in der Grübelwüste. Heiligenkalender, Gedenktage. Schwarz, kraus, rau. Krude Suche nach einer magi-schen Legitimation für den Anfang eines selbstbestimmten Lebens: ab Neujahr … Weihnachten, Ostern, Geburts- und Namenstag – Augen auf, es gibt doch mehr: Allerheiligen, Pfi ngsten, Himmelfahrt, Fronleichnam, Geburts-, Namens-, Weltspar-, Weltfrauen-, Weltgesundheitstag, Tag der Deutschen Einheit, Nationalfeier- und persönliche Jahrestage, singuläre Ereignisse, die sich jähren oder ob ihres einzigar-tigen Charakters unvergesslich sind, erster, zweiter, dritter, vierter Advent … Jeder Feiertag verfügt über Erinnerungspotenzial und magische Kräfte, Reformationstag, datumsgleich mit Halloween, Allerheiligen, Allerseelen, Totensonntag …

Zahlen, Diagramme, ja grafi sche Muster, die sich aus der tabellarischen Visuali-sierung von Gedanken und Handlungen ergeben. Das Gelingen eines Tages hängt davon ab, ob sich der Haken in der grafi sch-tabellarischen Dokumentation des Ess-verhaltens ästhetisch plausibel zu anderen Zeichen – etwa denen einer Sporteinheit – verhält. Rote Punkte für das Blut, Haken für jeden Sieg in rhythmischem Wechsel mit blauen Punkten für jede Niederlage. Nichts passt: weder ein Haken noch ein Punkt und am allerwenigsten die Jeans. Je häufi ger die Siege, umso zwanghafter das verzweifelte Zerren am Netz von Absolution und Vergebung – ein Gedanke, der mir im Schwimmbad, Bahn 68, kommt, Stöpsel im Ohr, nichts hören als den Herzschlag, Chlor in den Augen, nichts sehen als das Blau und fühlen, auf der Haut, am Körper, so leicht, nichts als das Wasser … Das bittersüße Spiel mit Ereignissen und Zahlen – mentales Stützgerüst, es hält und schützt.

Obschon der Suche nach Daten und magischen Zusammenhängen extrem über-drüssig, versuche ich zu eruieren, wie lange das genau mit der Artistin schon geht. Weil mir der Beginn des Dilemmas nur schemenhaft in Erinnerung ist, krame ich alte Tagebücher hervor. Doch so sehr ich mich auch mühe: Das Datum, an dem eine Entdeckung zum Auftakt eines Jahrzehnte dauernden Martyriums geraten sollte, hat sich aufgelöst in einer Erinnerung, die keine ist. Den Recherchen zu Folge gab es im Sommer 1982 bereits massive Verhaltensauff älligkeiten, idealer Nährboden für eine sich schleichend und heimtückisch entwickelnde bulimische Symptomatik.

»Waren Sie am Montag im Krankenhaus?«, erkundigt sich Hirtberg unvermittelt, so dass ich zunächst überhaupt nicht verstehe, worauf er hinaus will.

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»Warum? Ich weiß nicht … Nein, war ich nicht.« Im Geiste prüfe ich sicherheits-halber, ob ich wirklich nicht im Krankenhaus war. Es hätte ja sein, ich einen Filmriss haben können …

Hirtberg hat meine Notizen tatsächlich gelesen, es darf natürlich keine Kollision geben – darauf will er hinaus: Offi ziell, also zur Abrechnung für die Krankenkasse, hatten wir einen Termin. Auf der Couch liegt der Ausdruck, rote Schrift. Ich frage mich, ob es von Bedeutung ist, dass er die Farbe nicht geändert hat, so wie er mich zuvor fragte, ob es eine Bedeutung hätte, dass ich in Rot geschrieben habe.

»Sie verschaff en sich Stabilität und Sicherheit durch Ihr magisches Denken, weil Sie sich selbst nicht vertrauen. Haben Sie heute Abend einen Essanfall?«

»Ich weiß nicht.«»Waren Sie am Montag im Krankenhaus? Sie vertrauen sich selbst nicht.«»Deshalb trage ich dieses magische, mentale Korsett, anderenfalls würde ich zer-

fl ießen, meine Grenzen würden sich aufl ösen. Das magische Denken hält mich, schützt mich davor, mich komplett zu verlieren, dämpft allzu große Anspannung.«

»Achten Sie doch mal auf Ihre Atmung, wenn Sie wieder so angespannt sind, und machen Sie sich das Atosil zunutze, das Silzer Ihnen verordnet hat.«

»Wie kommen Sie denn auf den Quatsch? Das passt überhaupt nicht zu Ihnen.«»Was?«Na, mir eine konkrete Handlungsanweisung zu geben, noch dazu eine, die ich

mehr als befremdlich fi nde. Sorry, Sie sind doch kein Verhaltenstherapeut. Na ja, wie dem auch sei, nein, ich möchte das Zeug eigentlich nicht, weil es extrem müde macht. Es geht nicht von jetzt auf gleich. Es ist, wie es ist. Hirtberg, mir ist das alles zu viel, was Sie machen. Was hier geschieht, ist ein gigantischer emotional overkill. Ich kann nicht so schnell …«

Ich fühle mich gehetzt. Hirtberg ist es nicht, der mich hetzt. Im Gegenteil. Ruhig abwartend sieht er mich an.

»Und jetzt müssen Sie hier auch schon wieder was leisten … Wissen Sie, wann Sie geheilt sind? Wenn Sie herkommen, sich hinsetzen und sagen: Ach, heute habe ich gar nix Besonderes, jetzt bin ich erst mal da und das ist schön und dann sehen wir, was es sonst noch gibt.«

Dem Universum bin ich näher als dieser Gelassenheit!»Der innere Zensor sagt: Wenn du jetzt nicht …, dann bist du im Alter einsam,

wenn du jetzt nicht bei Timo sein willst, kannst du gleich zum Scheidungsanwalt!«»Und dazwischen gibt es nichts?«Ich beneide ihn um seine Fähigkeit, scheinbar komplexe Sachverhalte auf eine

geniale Art und Weise herunterzubrechen, auf das, was sie sind, nämlich oft genug ganz simpel.

»Wie machen Sie das?«»Ich oszilliere lediglich zwischen Identifi kation und Distanz«, erklärt er. »Und: Es

geht nicht um Timo. Es geht darum, wie Sie mit Ihrem Gewissen umgehen. Vielleicht

ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen

Benja Thieme, Reiz und Elend der cremefarbenen Couch

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betrachten Sie es erst mal, werden ruhig, identifi zieren den inneren Zensor und gehen dann adäquat mit ihm um.«

Eine interessante Strategie. Hoff entlich lerne ich im Laufe dieser Veranstaltung, wie mit einem Zensor adäquat umzugehen ist.

»Wo ist der rote Faden geblieben?«, frage ich, als es plötzlich um meinen Umgang mit Nahrungsmitteln geht.

»Vordergründig ist es Ihr Umgang mit Nahrungsmitteln, tatsächlich – hintergrün-dig, wenn Sie so wollen – geht es um Fülle.«

»Allein das Wort – Nahrungsmittel – verursacht das quälende Gefühl des Vollseins.«»Es geht nicht um physische, sondern um geistige und seelische Fülle, die sich in

Form von Gedanken, Ideen und Gefühlen ausdrückt, die im kreativen Prozess eine Transformation erfährt und als Text oder Bild Gestalt gewinnt. Damit kann man sich dann auseinandersetzen.«

Die sich assoziativ aufdrängende Parallele zum physiologischen Verdauungsprozess von Nahrungsmitteln bringt mich nicht weiter. Trotzdem fühle ich mich in meiner ganzen Abgedrehtheit auf eine sehr diff use Art und Weise verstanden, ernst genom-men. Hirtberg bringt mir Respekt entgegen.

Es ist etwas in Bewegung gekommen, wogt in mir und wabert wie Nebel um mich herum. Ein Eff ekt von gerade mal zehn, zwölf Stunden?

»Wenn das so weitergeht, bin ich die Artistin schneller los, als mir lieb ist, und verliere mit ihrem Verschwinden jede Legitimation, mit Ihnen zu reden.«

»Ist das nicht so ähnlich wie mit Ihrem Essverhalten? Kaum geht es ein paar Tage gut, wissen Sie nicht mehr, worum Sie kämpfen sollen. Ihr Denken ist bestimmt vom Ringen um Gesundheit, gleichzeitig fürchten Sie die Normalität. Sie wollen etwas, das Sie aber doch nicht wollen.«

Noch mal: Wo ist der rote Faden geblieben?

Zu Hause setze ich mich an den Rechner und wühle mich durch Dateiverzeichnisse. Gut organisiert und dank einer gewissen Zwanghaftigkeit fi nde ich mühelos das Gesuchte. Manche Dateien sind so alt, dass ich sie erst konvertieren muss. Doch, hier habe ich sie digital, fortgesetzte Versuche, den Hintergründen meiner Neurose auf die Spur zu kommen. Natürlich wird das ganze Elend in der Kindheit wurzeln, doch off enbar verfügte keiner meiner Th erapeuten über geeignetes Werkzeug, um tief genug zu graben. Was mir blieb, war Resignation auf der ganzen Linie.

Erst mal.Noch wenige Monate bevor ich mich entschied, in die Klinik zu gehen, waren mir

die Ursachen schnuppe, die Suche zu anstrengend, die Ergebnisse zu wenig konkret. Die Artistin fürchtete ihren Rausschmiss, riet mir von jeder wie auch immer gearteten Th erapie nachdrücklich ab und ich pfl ichtete ihr nur zu gern bei. Außer der Essstörung hatte ich keine nennenswerten Probleme. Vor dem Hintergrund dieser Überzeugung konnte ich keinen Th erapeuten gebrauchen, der in meinem Inneren herumbuddelt

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Benja Thieme, Reiz und Elend der cremefarbenen Couch

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