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Rechtsanwalt Dr. Reinhard Marx - Fachanwalt für Migrationsrecht - RA Dr. Reinhard Marx – Niddastr. 98 - 102 – 60329 Frankfurt am Main per Telefax 07221 - 9101382 Bundesverfassungsgericht Postfach 1771 76006 Karlsruhe Niddastr. 98 - 102 1.Stock, linke Seite 60329 Frankfurt am Main Mo.-Fr.: 9.00 - 12.00 Uhr Mo.,Di.,Do.:14.00 - 16.30 Uhr Telefon : 0049 / 69 /24 27 17 34 Telefax : 0049 / 69 /24 27 17 35 E- Mail: sekretariat@ramarx. de Interne t: http:// www.ramarx.de 3. Oktober 2017 M/S Bei Antwort und Zahlung bitte angeben Im Verfahren der Verfassungsbeschwerde des türkischen Staatsangehörigen ….. 2 BvR 841/17 wegen Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verb. mit Art. 1 Abs. 1, Art. 16a Abs. 1, Art. 19 Abs. 4, Art. 3 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1 und 2, 101 Abs. 1 Satz 2 und Art. 103 Abs. 1 GG. 1 --

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Rechtsanwalt Dr. Reinhard Marx - Fachanwalt für

Migrationsrecht -

RA Dr. Reinhard Marx – Niddastr. 98 - 102 – 60329 Frankfurt am Main

per Telefax 07221 - 9101382

BundesverfassungsgerichtPostfach 177176006 Karlsruhe

N i d d a s t r . 9 8 - 1 0 21 . S t o c k , l i n k e S e i t e60329 Frankfurt am MainMo. -Fr . : 9 .00 - 12 .00 UhrMo. ,Di . ,Do. :14.00 - 16.30 Uhr Telefon:

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3. Oktober 2017 M/S Bei Antwort und Zahlung bitte angeben

Im Verfahrender Verfassungsbeschwerdedes türkischen Staatsangehörigen …..2 BvR 841/17 wegen

Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verb. mit Art. 1 Abs. 1, Art. 16a Abs. 1, Art. 19 Abs. 4, Art. 3 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1 und 2, 101 Abs. 1 Satz 2 und Art. 103 Abs. 1 GG.

wird die bereits am 21. September 2017 förmlich erhobene Verfassungsbeschwerde

abschließend begründet. Es wird zunächst auf die bereits mit dem Antrag auf Erlass einer

Schiebeanordnung sowie dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung vorgelegten

Anlagen – insbesondere auf die angefochtenen behördlichen und gerichtlichen

Entscheidungen – hingewiesen. Im Blick auf den Fristablauf am 4. Oktober 2017 hinsichtlich

der Verfassungsbeschwerde gegen die ausweisungsrechtlichen Entscheidungen werden diese

diesem Schriftsatz nochmals beigefügt. Die weiteren nachfolgend zitierten Anlagen werden

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auf dem Postwege übermittelt. Mit Datum vom heutigen Tat wurde gegenüber dem Beschluss

des Verwaltungsgerichtes Gießen vom 21. September 2017 Anhörungsrüge (Anlage Nr. 18)

erhoben.

I.Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verb. mit Art. 1 Abs. 1 GG

Der Beschwerdeführer wird durch die behördlichen und gerichtlichen Entscheidungen im

asylrechtlichen und ausweisungsrechtlichen Verfahren in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2

Satz 1 in Verb. mit Art. 1 Abs. 1 GG verletzt.

1. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge verneint im angefochtenen Bescheid das

Vorliegen von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG im Blick

auf den Abschiebungszielstaat Türkei. Es begründet dies damit, dass aufgrund des

vorgebrachten Sachverhaltes nicht die Annahme einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit

gerechtfertigt ist, dass dem Beschwerdeführer in der Türkei menschenrechtswidrige

Maßnahmen drohten. Zwar könne es bei seiner Einreise zu Befragungen oder auch nur

kurzzeitigen Festnahme kommen. Dem Auswärtigen Amt sei in den letzten Jahren jedoch

kein Fall bekannt geworden, in dem ein aus der Bundesrepublik zurückgekehrter

Asylsuchender im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten gefoltert oder misshandelt worden

sei. Auch könne nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass

dem Beschwerdeführer bei einer möglichen Inhaftierung aufgrund der Anklage gegen ihn eine

Art. 3 EMRK zuwiderlaufende Behandlung drohe. Dabei werde nicht verkannt, dass die

Haftbedingungen in der Türkei im Allgemeinen „unter schwierigen Bedingungen“ ständen

(Bescheid, S. 5/6).

Das Verwaltungsgericht hat im asylrechtlichen Eilrechtsschutzverfahren keine eigenen

Feststellungen zu dieser Frage, vielmehr lediglich wortwörtlich die entsprechenden

Ausführungen des Hessischen Verwaltungsgerichtshofes im ausweisungsrechtlichen

Verfahren wiedergegeben. Im ausweisungsrechtlichen Eilrechtsschutzverfahren hat das

Verwaltungsgericht festgestellt, die befürchtete Gefahr von Folter in der Haft sei

unsubstantiiert und werde durch keine konkrete Gefahrenlage getragen. Weitere

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Ausführungen wurden in dem 16 Seiten umfassenden Beschluss zur drohenden Foltergefahr

nicht gemacht. Das Verwaltungsgericht hat bezweifelt, dass den türkischen Behörden der

gegen den Antragsteller durchgeführte Prozess vor dem Kammergericht bekannt geworden

sei. Diese Frage kann jedoch nach Bekanntwerden der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft

Kayseri (s. weiter unten) dahinstehen.

Der Verwaltungsgerichtshof hat im ausweisungsrechtlichen Verfahren mit Beschluss vom 31.

August 2017, auf den das Verwaltungsgericht sich – wie ausgeführt – im asylrechtlichen

Verfahren bezogen hat, festgestellt, es fehle an jeglichen Anhaltspunkten dafür, „dass die

Strafverfolgung wegen Unterstützung oder Zugehörigkeit zu einer terroristischen Vereinigung

wie Organisationen der Al Qaida oder des >Islamischen Staates< als Verfolgung kriminellen

Unrechts über die Ahndung der begangenen Straftaten hinaus die beachtliche Gefahr von

Folter oder menschenrechtswidriger Behandlung bedeutet.“ Er stützt sich dabei auf die wenig

aussagekräftigen Berichte des Auswärtigen Amtes, nicht jedoch auf andere Erkenntnisquellen.

Aus dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 19. Februar 2017 ergäben sich keine

Erkenntnisse, dass „Inhaftierte systematisch oder bei derartigen Verdachtsfällen generell der

Gefahr von Folter ausgesetzt“ seien. Es hat weiter ausgeführt, die Frage, ob es generell wieder

vermehrt zu Misshandlungen im Polizeigewahrsam komme, könne „derzeit nicht

abschließend werden“ (BA, S. 10).

Damit haben Behörden und Gerichte in beiden Verfahren wegen unterlassener Aufklärung der

Gefahr von gegen den Beschwerdeführer gerichteter Folter und wegen der Art. 3 EMRK

zuwiderlaufenden Anwendung des Prognosemaßstabes der beachtlichen Wahrscheinlichkeit

bereits im summarischen Eilrechtsschutzverfahren das Grundrecht des Beschwerdeführers aus

Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verb. mit Art. 1 Abs. 1 GG verletzt.

2. a) Zur gebotenen gerichtlichen Aufklärungspflicht wird in der Rechtsprechung des

Bundesverfassungsgerichtes insbesondere die Asylrelevanz drohender Foltermaßnahmen im

Herkunftsland behandelt und werden die Verwaltungsgerichte entsprechend § 86 Abs. 1

VwGO zu erhöhter Sorgfalt bei den entsprechenden Feststellungen angehalten (z.B. BVerfG

(Kammer), InfAuslR 1992, 59; BVerfG (Kammer), InfAuslR 1991, 133; BVerfG (Kammer),

InfAuslR 1991, 18 (19); BVerfG (Kammer), InfAuslR 1992, 231; BVerfG (Kammer),

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InfAuslR 1996, 318 (321); BVerfG (Kammer), BayVBl. 1997, 177 (178)). Auch wenn das

Begehren im Asylverfahren erfolglos geblieben ist, weil ein Verfolgungsgrund nicht dargelegt

wurde, kann dem Antragsteller die Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung

oder Bestrafung im Zielstaat drohen (BVerfG (Kammer), InfAuslR 1993, 176 (178) = NVwZ

1992, 660). Bei der Feststellung der Frage, ob tatsächlich Foltermaßnahmen drohen, haben

Behörde und Verwaltungsgericht diese Gefahr besonders sorgfältig aufzuklären. Dieser

Aufklärungspflicht kann in aller Regel nicht in einem summarisch angelegten

Eilrechtsschutzverfahren genügt werden. Vielmehr ist bei Hinweisen auf eine drohende Folter

dem Eilrechtsschutzantrag stattzugeben und sind die erforderlichen Tatsachen im

Hauptsacheverfahren aufzuklären und festzustellen. Das Bundesverfassungsgericht hat hierzu

in einem Verfahren, in dem es um die Anwendung von § 53 Abs. 4 AuslG 1990 in Verb. mit

Art. 3 EMRK – nach geltendem Recht § 60 Abs. 5 AufenthG in Verb. mit Art. 3 EMRK –

festgestellt, dass die Fachgerichte prüfen müssen, ob die Auskünfte des Auswärtigen Amtes

für die Beurteilung einer diesen Vorschriften zuwiderlaufenden Behandlung hinreichend

aussagekräftig sind (BVerfG (Kammer), NVwZ-Beil. 1996, 19 = AuAS 1996, 30). Diese

Aufklärungspflicht haben sowohl das Bundesamt wie auch – im ausweisungsrechtlichen

Eilrechtsschutzverfahren – das Verwaltungsgericht und der Verwaltungsgerichtshof verletzt.

b) Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte folgt aus

der Verantwortlichkeit des Vertragsstaats nach Art. 3 EMRK, dass bei der drohenden Gefahr

von Folter im Falle der Rückkehr des Betroffenen in sein Herkunftsland besonders sorgfältige

Aufklärungspflichten bestehen. Im Hinblick auf den »absoluten Charakter« von Art. 3 EMRK

und auf die Tatsache, dass diese Norm »einen der grundlegendsten Werte der demokratischen

Gesellschaften bildet, die sich im Europarat zusammengeschlossen haben«, muss die

Prognoseprüfung besonders streng sein (EGMR, NVwZ 1992, 869 (870) Rdn. 108 –

Vilvarajah). Der Betroffene muss nach Unionsrecht die Umstände und Tatsachen, die für die

vom ihm befürchtete Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung maßgebend

sind, von sich aus konkret, in sich stimmig und erschöpfend vortragen (Art. 4 Abs. 1 Satz 1,

Abs. 5 Buchst. c) RL 2011/95/EU). Ihn trifft insoweit eine Darlegungslast (Art. 4 Abs. 1

Satz 1, Abs. 5 Buchst. c) RL 2011/95/EU), § 25 Abs. 2 AsylG). Auch der Gerichtshof betont

die Pflicht des Antragstellers, Beweise beizubringen, dass es ernsthafte Gründe für die

Annahme gibt, im Falle der Abschiebung tatsächlich der Gefahr einer Art. 3 EMRK

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zuwiderlaufenden Behandlung ausgesetzt zu werden (EGMR, NVwZ 2008, 1330 (1331)

Rdn. 129 – Saadi). Die Darlegungspflicht begrenzt die behördliche Untersuchungspflicht. Die

Behörde hat die allgemeinen rechtlichen und politischen Verhältnisse im Herkunftsland

aufzuklären. Anschließend muss sie sich mit dem Vorbringen auseinandersetzen und

möglicherweise weitere Ermittlungen aufgrund des Sachvorbringens anstellen. Ist das

Vorbringen ausführlich, genau und folgerichtig und stützen Umstände die Glaubwürdigkeit,

geht die Beweislast auf die Behörde über (EGMR, NVwZ 2013, 631 (633) Rdn. 164 f. – El

Masri).

3. Der Beschwerdeführer ist im fachgerichtlichen – sowohl im ausweisungs- wie auch im

asylrechtlichen – Verfahren seinen ihm im Blick auf drohende Gefahren der Folterbehandlung

treffenden Darlegungspflichten gerecht geworden. Er hat in beiden Verfahren die Umstände

und Tatsachen, die für die von ihm befürchtete Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender

Behandlung maßgebend sind, von sich aus konkret, in sich stimmig und erschöpfend

vortragen. Er hat im fachgerichtlichen Verfahren mit Bezugnahme auf die obergerichtliche

Rechtsprechung darauf hingewiesen, dass diese unverändert davon ausgeht, dass eine

verfolgungsrelevante Rückkehrgefährdung in der Türkei für Personen bestehen kann, bei

denen Besonderheiten vorliegen, etwa weil sie in das Fahndungsregister eingetragen, gegen

sie Ermittlungs- oder Strafverfahren anhängig sind oder sie sich in besonders exponierter

Weise exilpolitisch betätigt haben, und deshalb in das Visier der türkischen

Sicherheitsbehörden geraten sind, weil sie als potentielle Unterstützer der PKK angesehen

werden (Nieders.OVG, EZAR Nr. 62 Nr. 93, mit zahlreichen Hinweisen auf die

obergerichtliche Rechtsprechung). Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht hebt

ausdrücklich hervor, dass es insoweit seine bereits 2010 entwickelte Rechtsprechung

beibehält und bezieht sich auf eine Reihe von obergerichtlichen Judikaten. Es stellt fest, dass

aufgrund der aktuellen Erkenntnismittel mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit schwerwiegende

Menschenrechtsverletzungen, insbesondere durch Anwendung physischer Gewalt sowie

diskriminierende polizeiliche und justizielle Maßnahmen drohen.

a) Zwar wird dem Beschwerdeführer nicht eine Zugehörigkeit zur PKK angelastet, jedoch

eine Zugehörigkeit zu Al Qaida bzw. dem IS. Im Asylverfahren wurde vorgetragen, dass der

Beschwerdeführer im Fahndungsregister eingetragen ist, er in polizeilicher Begleitung

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abgeschoben und den türkischen Polizeibehörden übergeben werden wird. Damit liegen die

Kriterien vor, welche die Rechtsprechung für die Rückkehrgefährdung hinsichtlich von Folter

und unmenschlicher Behandlung entwickelt hat. Ob die türkischen Behörden von ihnen als

Angehörige einer islamistischen Vereinigung verdächtigte Personen diese anders als

Anhänger der PKK behandeln, wurde im fachgerichtlichen Verfahren nicht aufgeklärt,

erscheint aber auch zweifelhaft, wie weiter unten ausgeführt werden wird. Jedenfalls hätten

die Verwaltungsgerichte entsprechend ihrer Aufklärungspflicht (s. auch weiter unten) dem

Eilrechtsschutzantrag stattgeben und anschließend im Hauptsacheverfahren aufklären müssen,

ob und in welchem Umfang Rückkehrer, die der Zugehörigkeit zu einer islamistischen

Vereinigung verdächtigt werden, wie der Beschwerdeführer, der dies durch Hinweis auf die

gegen ihn gerichtete Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Kayseri (Anlage Nr. 4) belegt hat,

im gleichen Umfang wie Anhänger der PKK von Foltermaßnahmen bedroht sind. Angesichts

des absoluten Charakters des Folterverbots ist auch eine weniger schwere Folterbehandlung

als die, die gegen Anhänger der PKK angewandt wird, zu beachten.

Der Beschwerdeführer hat ferner auf den derzeitigen Auslieferungsverkehr mit der Türkei und

auf das Urteil des Oberlandesgerichtes Frankfurt am Main vom 30. Mai 2017 hinwiesen,

welches festgestellt hat, dass die Auslieferung wegen der Gefahr, dass diese gegen Art. 3

EMRK verstößt, unzulässig ist. Dies wird damit begründet, dass das Auswärtige Amt bei

Auslieferungen in die Türkei seit dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 grundsätzlich

Zusicherungen zu konventionskonformen Haftbedingungen, zur Beachtung von Art. 3 EMRK

und zur Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens fordere. Berichte über mangelnden Zugang zur

medizinischen Versorgung von kranken Häftlingen seien besorgniserregend. Es bestünden

darüber hinaus auch erhebliche Bedenken, ob die vom Europäischen Gerichtshof für

Menschenrechte für erforderlich erachteten Haftbedingungen bereits im Hinblick auf die

Quadratmeterzahl, die einem Häftling zur Verfügung stehen müsse, gegenwärtig in der Türkei

eingehalten werden könnten (OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 30. Mai 2017 – 2 Ausl

A 29/16) genutzt.

b) Der Beschwerdeführer legt darüber hinaus die Auskunft von amnesty international vom 5.

September 2017 (Anlage Nr. 5), die zur Vorbereitung auf die Einreichung der

Verfassungsbeschwerde und der Beantragung einer einstweiligen Anordnung eingeholt und

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auch im asylrechtlichen Eilrechtsschutzverfahren eingeführt wurde, vor. Die Verfasserin des

Schreibens ist seit Jahrzehnten bei amnesty international für die Länderarbeit zur Türkei

zuständig, verfügt über zahlreiche Kontakte in der Türkei und beherrscht auch die türkische

Sprache. Die zunächst von ihr vorab übermittelte Auskunft wird nunmehr als offizielle

Auskunft (Anlage Nr.5).

In der Auskunft wird zunächst auf den Jahresbericht 2017 von amnesty international

hingewiesen. Danach häuften sich im Jahr 2016 „die Berichte über Folter und andere

Misshandlungen im Polizeigewahrsam aus den Regionen im Südosten, in denen eine

Ausgangssperre verhängt wurde, und unmittelbar nach dem Putschversuch verstärkt auch aus

Ankara und Istanbul. Zu den Foltervorwürfen eingeleitete Ermittlungen waren nicht

zielführend.“ In der Auskunft wird weiter ausgeführt, dass amnesty international zwar keine

eigenen Informationen über Folter und Misshandlung von Islamisten in der Türkei hat. Jedoch

wird auf ein in der türkischen Presse (T24, NTV) am 17. Januar 2017 veröffentlichtes Foto

des festgenommenen Islamisten Abdulkadir Masharipov Bezug genommen. Dieser soll in der

Silvesternacht 2016 einen Anschlag mit vielen Toten und Verletzten auf den Nachtclub Reina

in Istanbul verübt haben. Dessen Gesicht weise deutliche Spuren von Gewalt auf. Die

deutsche Sektion von amnesty international habe Ende Juli 2017 von Herrn Yasar S. aus

Bremen eine E-Mail mit dem Betreff „Lebensgefahr, Menschenrechtsverletzung, Notfall“

erhalten. In dieser habe Herr S. mitgeteilt, dass sein Sohn Adnan S. im Oktober 2016 in der

Türkei festgenommen worden sei. Er sei in ein Gefängnis in Ankara gebracht worden, wo er

zuerst gefoltert und geschlagen worden sei. Danach sei er wie auch die anderen Gefangenen

unter normalen Bedingungen inhaftiert gewesen. Vor etwa zwei Monaten sei er in das L-Typ-

Gefängnis in Corum gebracht worden. Anfangs seien er und die anderen Gefangenen zwar

normal behandelt worden, aber am 20. Juli 2017, dem Tag an dem er die E-Mail geschrieben

habe, habe er einen Anruf seines Sohnes erhalten, der gesagt habe, seit dem G 20-Gipfel in

Hamburg habe sich alles geändert. Man habe angefangen, ihn und die anderen etwa 50

Gefangenen extrem zu misshandeln und zu foltern. Jeden Morgen würden sie geschlagen und

gefoltert, bis sie in Ohnmacht fielen. Jegliche ärztliche Versorgung würde ihnen vollständig

verweigert. Nachts müssten sie in Zellen schlafen, die für Behinderte vorgesehen seien. Diese

wären voll mit menschlichen Fäkalien. Sie hätten vor drei Tagen einen Hunger-Streik

begonnen. Die ersten Streikenden seien bereits in Ohnmacht gefallen. Alle Insassen hätten die

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Botschaften ihrer Herkunftsländern in der Türkei kontaktieren wollen, dies wäre ihnen jedoch

nicht gestattet worden.

Die Verfasserin der Auskunft habe daraufhin den Vater Herrn Yasar S. angerufen und um

weitere Informationen gebeten, z.B. den Namen des Rechtsanwaltes in der Türkei. Der Vater

habe gesagt, er könne alle zwei Wochen mit seinem Sohn sprechen. Danach habe sie den in

der Türkei arbeitenden Türkei-Researcher von amnesty international, Andrew Gardner,

informiert und ihn gebeten, der Sache nachzugehen. Herr Gardner habe mit dem Anwalt von

Herrn S. telefoniert. Der habe erklärt, er sei Pflichtverteidiger von Adnan S. in Ankara

gewesen und habe den Mandanten nur einmal gesehen. Die Verwandten in Deutschland

würden ihn nicht bezahlen, deshalb würde er ihn in Corum nicht im Gefängnis besuchen. Der

Vater Yasar S. habe ihr berichtet, dass der Anwalt sehr hohe Geldforderungen gestellt habe,

die er nicht habe bezahlen können. Der Türkei-Researcher von amnesty international habe

daraufhin einen Anwalt suchen wollen, der bereit wäre, A.S. im Gefängnis von Corum zu

besuchen. Das dürfte aber in der gegenwärtigen Situation mit weit verbreiteten schweren

Menschenrechtsverletzungen nicht einfach sein. Die Zahl der Anwälte, die sich bei

Menschenrechtsverletzungen einsetze, sei begrenzt, und sie seien überlastet. Bisher habe kein

Anwalt Herrn Adnan S. im Gefängnis von Corum besucht. Etwa drei Wochen später habe die

Familie noch einmal angerufen. Die Mutter habe mitgeteilt, dass ihr Sohn am Telefon zwar

gesagt habe, dass es ihm jetzt besser gehe. Sie habe jedoch gehört, dass jemand im

Hintergrund türkisch gesprochen habe. Das Gespräch sei ihrer Meinung nach von der Polizei

mitgehört worden. Der Sohn habe sich deshalb wohl nicht getraut, etwas Kritisches zu sagen.

c) Die Erkenntnislage zu der Frage, welche Personengruppe in der Türkei in besonderem

Maße von der Anwendung von Folter betroffen und welche Methoden in welchem Umfang

hierbei eingesetzt werden, ist insbesondere hinsichtlich von Anhängern der PKK und als

solcher verdächtigter Personen hinreichend zuverlässig und wird durch unterschiedliche

Auskunftsstellen getragen. Die Anwendung von Folter gegen Personen, die der Unterstützung

oder der Zugehörigkeit zu islamistischen Vereinigungen beschuldigt werden, wird hingegen

derzeit zwar durch Einzelfälle belegt. Ob und welchem Umfang hiervon Angehörige dieses

Personenkreises betroffen sind, bedarf deshalb noch der näheren Aufklärung. Während die

Anwendung von Folter gegen Personen, die der PKK zugehörig sind oder als deren

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Unterstützer angesehen werden, deshalb besonders zuverlässig ist, weil diese seit dem Beginn

der bewaffneten Auseinandersetzung zwischen der PKK und der türkischen Armee im August

1984 durch eine Vielzahl von Einzelfällen belegt wird, sind die Berichte über die

Folteranwendung von Islamisten oder solche Verdächtigte ein neues Phänomen. Dies hat

seinen Grund darin, dass die AKP-Regierung zunächst den IS unterstützt haben soll und diese

Praxis erst in den letzten Jahren geändert wurde. Seit dem Putschversuch am 15. Juli 2016

werden aber insbesondere Anhänger der islamischen Gülen-Bewegung oder als solche

angesehene Personen schwerwiegenden Foltermaßnahmen ausgesetzt. Darüber hinaus ist zu

bedenken, dass angesichts der absoluten Schutzwirkung des Folterverbotes in einer derartigen

Situation die staatlichen Behörden und die Gerichte eine besondere Aufklärungspflicht trifft,

die im Fall des Beschwerdeführers verletzt wurde. Darüber hinaus gelten bei vorgebrachter

drohender Folterbehandlung besondere Prognosegrundsätze (s. weiter unten).

Es ist insoweit festzustellen, dass die berichteten Fälle der Anwendung von Folter durch die

Berichte über die Anwendung von Folter gestützt werden. So wird bereits zwei Tage nach

dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 in der Presse berichtet, dass der damalige

Wirtschaftsminister Nihat Zeybekei erklärt habe,

dass die „Verräter so hart bestraft“ werden, „dass sie um ihren Tod betteln werden.Wir werden sie dazu bringen, uns anzuflehen. Wir werden sie in solche Löcherstecken, dass sie nicht mehr in der Lage sein werden, die Sonne Gottes zu erblicken.Sie werden wie Ratten in diesen finsteren Löchern verrecken“ (Huffington Post vom17. Juni 2017 2017).

Ferner wird in dieser Pressemitteilung berichtet, dass ein weiterer türkischer Minister diese

„Hetzrede“ unterstützt und versprochen habe, „alle Anzeigen wegen Folter und

Menschenrechtsverletzungen ignorieren“ zu wollen. Darüber hinaus wird der Leiter einer

Schule der Gülen-Bewegung zitiert, der darüber berichtet hat, dass er unmittelbar nach seiner

Festnahme ungefähr eine Stunde lang in ein Bad mit eiskaltem Wasser gelegt und dabei „auf

brutalste Art verprügelt“ worden sei. Daraufhin habe sich sein Gesundheitszustand erheblich

verschlechtert und er sei zu einem Arzt gebracht worden, der ihm ohne irgendeine Erklärung

eine Spritze verabreicht habe, über deren Inhalt er keine Auskunft erhalten habe. Am nächsten

Tag hätten Polizisten seine Geschlechtsorgane „mit ihren Händen zerdrückt“ und ihn auf

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diese Weise über mehrere Tage hinweg gefoltert. Immer wieder sei er „im Genitalbereich

gefoltert und mit einem Schlagstock vergewaltigt“ worden. Er habe diese Folter nicht mehr

ertragen können und deshalb ein von den Beamten vorgefertigtes Geständnis unterschrieben.

Der Fall dieses Schulleiters sei „nur einer von tausend Folteropfern“ (Huffington Post vom

17. Juni 2016).

Das Komitee zur Verhütung von Folter des Europarates hat mit einer sechsköpfigen

Delegation nach dem bezeichneten Putschversuch die Türkei besucht und hunderte von

Personen, die in verschiedenen Polizeipräsidien in türkischen Städten inhaftiert waren

persönlich interviewt. Es sei ihm jedoch durch die türkische Regierung entsprechend dem

zugrundeliegenden Vertrag nicht erlaubt worden, einen Bericht über die Ereignisse seiner

Untersuchungen vor Ort zu veröffentlichen, obwohl bis dahin stets die Genehmigung erteilt

worden sei. Der Vorsitzende des Ausschusses habe aber erklärt, dass man „ziemlich gutes

Material“ haben, aus dem der Ausschuss Schlussfolgerungen ziehen“ könne (Huffington Post

vom 17. Juni 2017).

d) Aus diesen Umständen wird deutlich, dass der Beschwerdeführer seiner Darlegungslast,

konkret und nachvollziehbar Umstände und Tatsachen zu bezeichnen, dass ihm im Falle der

Rückkehr in die Türkei Folter und andere unmenschliche, grausame oder erniedrigende

Behandlung oder Bestrafung drohe, erfüllt hat. Das Verwaltungsgericht und der

Verwaltungsgerichtshof waren daher im ausweisungs- wie im asylrechtlichen Verfahren im

Blick auf die von ihnen eingeräumten offenen Beweisfragen verpflichtet, dem jeweiligen

Eilrechtsschutzantrag bzw. der Beschwerde stattzugeben und im Hauptsacheverfahren die

drohende Gefahr von Foltermaßnahmen aufzuklären. Durch die von ihnen gewählte

Verfahrensweise sind Behörde und Fachgerichte den verfassungsrechtlichen Anforderungen

an die Feststellung von Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Maßnahmen nicht gerecht geworden.

4. Der Beschwerdeführer ist zwar durch das Kammergericht wegen Unterstützung einer

terroristischen Vereinigung, der Junud al-Sham, in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe

von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt worden. Er befindet sich aufgrund dessen im

Strafvollzug, es wird ihm aber eine gute Sozialprognose attestiert. Das Verfahren wegen

Zugehörigkeit zu einer islamistischen Vereinigung in der Türkei beruht jedoch offensichtlich

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auf einem manipulierten Strafvorwurf (dazu weiter unten). Im Zusammenhang mit der

drohenden Verletzung seines Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verb. mit Art. 1 Abs. 1

GG kommt diesem Umstand jedoch keine rechtliche Bedeutung zu.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat ausdrücklich und wiederholt

festgestellt, dass der in Art. 3 EMRK gewährleistete Schutz vor Folter oder unmenschlicher

oder erniedrigender Strafe oder Behandlung ausnahmslos gilt. Der in Art. 3 EMRK gewährte

Refoulementschutz ist umfassender als jener in Art. 33 GFK (EGMR, EZAR 933 Nr. 4 =

InfAuslR 1997, 97 = NVwZ 1997, 1093 – Chahal; EGMR, InfAuslR 1997, 279 (281) =

NVwZ 1997, 1100 = EZAR 933 Nr. 5 – Ahmed; EGMR, InfAuslR 2014, 15 (16) – L.K.). Der

Refoulementschutz nach Art. 3 EMRK hat absoluten Charakter und steht nicht unter

Terrorismusvorbehalt (EGMR, NVwZ 1992, 869 (870) – Vilvarajah; EGMR, InfAuslR 1997,

97 (101) = NVwZ 1997, 1093 – Chahal; EGMR, InfAuslR 1997, 279 (281) = NVwZ 1997,

1100 – Ahmed). Vielmehr hat der EGMR in seiner ausländerrechtlichen Rechtsprechung an

seine traditionelle, bereits 1978 entwickelte Auffassung vom notstandsfesten Charakter des

Folterverbots nach Art. 3 EMRK (EGMR, EuGRZ 1979, 149 (155) – Nordirland) angeknüpft

und in gefestigter Rechtsprechung festgestellt, dass der aus dieser Norm herzuleitende

Abschiebungsschutz absolut ist (EGMR, InfAuslR 1997, 97 = NVwZ 1997, 97 (99) – Chahal;

EGMR, InfAuslR 1997, 279 (281) = NVwZ 1997, 1100 – Ahmed; EGMR, InfAuslR 2000,

321 (323) – T. I.).

Dabei hebt der Gerichtshof ausdrücklich die »immensen Schwierigkeiten« hervor, mit denen

»sich Staaten in modernen Zeiten beim Schutz ihrer Gemeinschaften vor terroristischer

Gewalt konfrontiert sehen«. Selbst aber unter diesen Umständen verbietet die »Konvention in

absoluten Begriffen Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe,

unabhängig vom Verhalten des Opfers« (EGMR, InfAuslR 1997, 97 (98) – Chahal; EGMR,

InfAuslR 1997, 279 (281) – Ahmed; EGMR, NVwZ 2013, 631 (635) Rdn. 195 – El-Masri;

BVerwGE 109, 12 (24) = EZAR 200 Nr. 34 = InfAuslR 1999, 366 = NVwZ 1999, 1349;

BVerwGE 132, 79 (94) = EZAR NF 68 Nr. 3). Die Große Kammer des Gerichtshofes hat mit

deutlichen Worten den Versuch der britischen Regierung zurückgewiesen, den Schutz nach

Art. 3 EMRK gegen staatliche Sicherheitsinteressen abzuwägen. Der Schutz gegen Folter und

unmenschliche oder erniedrigende Strafe oder Behandlung sei absolut und begründe einen

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Page 12: Blumenauer & Teubner€¦  · Web viewDer Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in der Vergangenheit und auch aktuell in einer Vielzahl von Verfahren festgestellt, dass

absoluten, durch keine Ausnahme durchbrochenen Schutz gegen Auslieferung und

Abschiebung. Die Auffassung, die Risiken, die dem Betroffenen im Zielstaat drohten,

könnten gegen seine Gefährlichkeit abgewogen werden, beruhe auf einem unzutreffenden

Verständnis von Art. 3 EMRK. Die Begriffe »Gefahr« (für den Betroffenen) und

»Gefährlichkeit« (für die Bevölkerung) könnten nicht gegeneinander abgewogen werden, weil

beide unabhängig voneinander festgestellt werden müssten. Die Gefahr, dass der Betroffene

eine Gefahr für die Allgemeinheit darstelle, reduziere nicht in irgendeiner Weise das ihm

drohende Risiko im Zielstaat. Ebenso wenig hat der Gerichtshof den zweiten Einwand der

britischen Regierung akzeptiert, dass bei Gefährdungen der Allgemeinheit die Prüfung des

konkreten Risikos, nach der Abschiebung einer Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung

ausgesetzt zu werden, weniger streng ausfallen könnte, wenn die Allgemeinheit durch den

Betroffenen gefährdet sei. Eine derartige Verfahrensweise sei unvereinbar mit der absoluten

Schutzwirkung von Art. 3 EMRK. Daher erklärte die Große Kammer ausdrücklich, dass sie

keinen Grund dafür sehe, den maßgeblichen Beweisstandard zu ändern (EGMR, NVwZ 2008,

1330 (1332) Rdn. 138 bis 140 – Saadi; EGMR, NVwZ 2012, 159 (160) Rdn. 47 – Toumi).

6. Nach alledem ist die Befürchtung des Beschwerdeführers, nach seiner Abschiebung in die

Türkei dort einer Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung ausgesetzt zu werden,

begründet und wird durch gewichtige und stichhaltige Tatsachen getragen. Da die zuständigen

Behörden und Fachgerichte einerseits die durch Art. 2 Abs. 1 Satz 1 in Verb. mit Art. 1 Abs.

GG und Art. 3 EMRK eingeräumten offenen Beweisfragen nicht aufgeklärt und die

Fachgerichte andererseits ein für das Eilrechtsschutzverfahren unangemessenen

Prognosemaßstab angewandt haben, wird er in seinen aus diesen Normen folgenden Rechten

verletzt.

II.

Verletzung von Art. 16a Abs. 1 GG

Der Beschwerdeführer wird durch den angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für

Migration und Flüchtlinge sowie den Bescheid des Verwaltungsgerichtes Gießen vom 21.

September 2017 in seinem Grundrecht auf Asyl aus Art. 16a Abs. 1 GG verletzt, weil gegen

12

Page 13: Blumenauer & Teubner€¦  · Web viewDer Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in der Vergangenheit und auch aktuell in einer Vielzahl von Verfahren festgestellt, dass

ihn ein Strafverfahren in der Türkei aufgrund eines offensichtlich manipulierten Strafvorwurfs

anhängig ist.

1. Der Beschwerdeführer hat mit Schriftsatz vom 15. August 2017 beim Bundesamt für

Migration und Flüchtlinge einen Asylantrag gestellt (Anlage Nr. 6). Da dieser Antrag nicht

beschränkt war, umfasst er auch den Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter nach

Art. 16a Abs. 1 GG (§ 13 Abs. 2 Satz 1 AsylG). Er wurde mit Schriftsatz vom 20. August

2017 damit begründet, dass der Beschwerdeführer bereits bei der Einreise in die Türkei

festgenommen und anschließend verhaftet werden wird, weil gegen ihn nach der

Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Kayseri ein Strafverfahren wegen Mitgliedschaft in der

Organisation „Al Qaida“ anhängig sei. Er sei jedoch niemals Mitglied einer

Terrororganisation gewesen. Der erhobene Vorwurf gegen den Beschwerdeführer sei damit

„aus der Luft gegriffen“ (Anlage Nr. 7). Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lehnte

diesen Antrag mit Bescheid vom 23. August 2017 als offensichtlich unbegründet ab,

begründete die Ablehnung der beantragten Anerkennung als Asylberechtigter jedoch nicht.

Vielmehr zitierte es lediglich den Text von § 3 AsylG und stellte fest, dass der

Beschwerdeführer kein Flüchtling sei (Anlage Nr. 1). Asylberechtigung und

Flüchtlingseigenschaft sind jedoch rechtlich voneinander unabhängige Regelungsbereiche und

dementsprechend Anspruchsgrundlagen (s. einerseits § 2 AsylG und § 60 Abs. 1 Satz 2

AufenthG, andererseits § 3 Abs. 4 Hs. 1 AsylG, Art. 13 RL 2011/95/EU), Insbesondere § 60

Abs. 1 Satz AufenthG regelt eindeutig, dass beide Ansprüche unabhängig voneinander

Geltung haben. Im Asylbescheid wird jedoch die Zurückweisung des Antrags auf Feststellung

der Asylberechtigung mit der Begründung abgelehnt, dass der Beschwerdeführer

„offensichtlich kein Flüchtling“ im Sinne von § 3 AsylG sei. Das Verwaltungsgericht zitiert

zwar § 30 Abs. 1 AsylG vollständig, erwähnt aber nicht die Voraussetzungen von Art. 16a

Abs. 1 GG, § 1 Abs. 1 Nr. 1 AsylG und demzufolge auch wie das Bundesamt den Begriff der

politischen Verfolgung nicht. Damit wird der Beschwerdeführer durch beide Entscheidungen

in seinem Grundrecht aus Art. 16a Abs. 1 GG verletzt. Darüber hinaus verletzen beide

Entscheidungen die bei der Anwendung von § 30 Abs. 1 AsylG vom

Bundesverfassungsgericht als unabdingbar aufgestellte besondere Begründungspflicht und

verletzt damit Art. 19 Abs. 4 GG (BVerfGE 67, 43 (62 f.) = EZAR 632 Nr. 1 = InfAuslR

1984, 215; BVerfGE 71, 276 (292 f.) = EZAR 613 Nr. 16 = BVerfG, (Kammer), InfAuslR

13

Page 14: Blumenauer & Teubner€¦  · Web viewDer Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in der Vergangenheit und auch aktuell in einer Vielzahl von Verfahren festgestellt, dass

1992, 257 (258); BVerfG, (Kammer), InfAuslR 1993, 146 (148 f.); BVerfG, (Kammer),

InfAuslR 1994, 41 (42)) .

2. Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass ein manipuliertes Strafurteil ein

Instrument politischer Verfolgung sein kann (BVerfGE 63, 197 (207)). Nach der

Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes spricht im Falle des Beschwerdeführers viel

für eine politische Verfolgung. Dies ist der Fall, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die

Strafverfolgung nicht auf die Ahndung von Übergriffen auf Rechtsgüter anderer Bürger zielt,

sondern eine Bestrafung allein deshalb erfolgt, weil der Betroffene für die politischen Ziele

einer oppositionellen Gruppierung eingetreten ist (BVerfG (Kammer) InfAuslR 1991, 97;

BVerfG (Kammer) InfAuslR 1992, 215). Darüber hinaus stellt nach der Rechtsprechung des

Bundesverfassungsgerichtes die Verfolgung wegen eines Staatsschutzdeliktes bzw.

Terrorismus wie hier, grundsätzlich politische Verfolgung dar. Die Verfolgung von Taten, die

sich gegen politische Rechtsgüter richten, stellen sich zwar dann nicht als politische

Verfolgung dar, wenn objektive Umstände darauf schließen lassen, dass diese nicht der mit

dem Delikt betätigten politischen Überzeugung als solche gilt, sondern einer in solchen Taten

zum Ausdruck gelangenden zusätzlichen kriminellen Komponente, deren Strafwürdigkeit in

der Staatenpraxis geläufig ist. Die Äußerung oder Betätigung kritischer, auch staatsfeindlicher

politischer Überzeugung als solche bleibt aber im Schutzbereich des Asylrechts (BVerfGE 80,

315 (338)).

a) Im fachgerichtlichen Verfahren wurde darauf hingewiesen, dass die Staatsanwaltschaft

Kayseri die Zulassung der Anklage gegen den Beschwerdeführer und andere wegen

Mitgliedschaft in der Al Qaida im Zeitraum von 2013 bis 2016 beantragt hat. Der gegen den

Beschwerdeführer erhobene Strafvorwurf beruht jedoch offensichtlich auf manipulierten bzw.

auf überhaupt keinen Beweisen. In diesem Zusammenhang wendet das Verwaltungsgericht

ein, es vermöge diesem Vorbringen bereits deshalb nicht zu folgen, weil der

Beschwerdeführer lediglich die ersten drei Seiten der Anklageschrift vorgelegt habe. Wegen

Verletzung der Mitwirkungspflicht brauche das Gericht daher auch nicht dem Beweisantrag

auf Einholung einer amtlichen Auskunft zu diesem Verfahren nachzugehen (s. hierzu im

Einzelnen im Abschnitt V).

14

Page 15: Blumenauer & Teubner€¦  · Web viewDer Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in der Vergangenheit und auch aktuell in einer Vielzahl von Verfahren festgestellt, dass

Der Beschwerdeführer hat hierzu während der persönlichen Anhörung im Asylverfahren am

21. August 2017 darauf hingewiesen, dass er die Anklageschrift erst am Tag der Anhörung

gesehen habe. Hätte es diese nicht gegeben, hätte ihn Rechtsanwalt Pfaff, der ihn im

Asylverfahren vertritt, nicht empfohlen, einen Asylantrag zu stellen (Anhörungsniederschrift,

S. 3, 6, Anlage Nr. 8). Der Strafverteidiger Ali Aydin, der den Beschwerdeführer im

Strafverfahren vor dem Kammergericht vertreten hat, hat mich am 25. September 2017

darüber informiert, dass dem Beschwerdeführer die Anklageschrift weder in der

Bundesrepublik Deutschland noch in der Türkei zugestellt worden sei. Ihm sei ein

Rechtsanwalt beigeordnet worden, ohne dass er überhaupt von einem Verfahren Kenntnis

erlangt habe. Rechtsanwalt Aydin hat erst durch ihm zugängliche Quellen in der Türkei von

diesem erfahren. Er habe daraufhin den türkischen Verteidiger des Beschwerdeführers

ermittelt. Dieser sei jedoch nicht verpflichtet, mit ihm über das Verfahren zu reden, da er nach

türkischen Recht nicht bevollmächtigt sei. Anwälte in der Türkei würden nur rechtmäßig

bevollmächtigt, wenn die Anwaltsvollmacht notariell unterzeichnet sei.

Nunmehr ist es Rechtsanwalt Aydin gelungen, die vollständige Fassung der Anklageschrift

(Anlage Nr. ?) zu beschaffen. Diese wurde mir am 27. September 2017 übermittelt.

Rechtsanwalt Aydin weist darauf hin, dass er den türkischen Verteidiger sehr lange

wiederholt und nachdrücklich, aber erfolglos um eine Zusendung der vollständigen Fassung

gebeten habe. Erst nachdem ein Bekannter des Beschwerdeführers den Verteidiger persönlich

aufgesucht und darum gebeten habe, habe dieser die vollständige Fassung der Anklageschrift

letzte Woche als Word-Dokument übermittelt. Die vollständige Fassung der Anklageschrift in

türkischer Fassung wird hiermit vorgelegt (Anlage Nr. 15). Zugleich wird eine deutsche

Übersetzung der Passagen, die den Beschwerdeführer betreffen (Anlage Nr. 16), vorgelegt.

Zwar ist die Übersetzung unzulänglich. Aufgrund der zeitlichen Dringlichkeit kann jedoch

eine korrekte Übersetzung derzeit nicht vorgelegt werden. Dies wird nachgeholt werden. Für

eine Manipulation des gegen den Beschwerdeführer gerichteten Strafvorwurfs spricht, dass

keine der in der Anklageschrift bezeichneten Personen im Urteil des Kammergerichtes

erwähnt werden.

b) Rechtsanwalt Pfaff hat während der persönlichen Anhörung im Asylverfahren geltend

gemacht, dass nach der Anklageschrift alle Angeklagten aus Kayseri stammten und der

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Page 16: Blumenauer & Teubner€¦  · Web viewDer Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in der Vergangenheit und auch aktuell in einer Vielzahl von Verfahren festgestellt, dass

Beschwerdeführer ihm gegenüber erklärt habe, dass er keinen der Angeklagten kenne und

sich nicht erklären könne, warum er in Verbindung mit den anderen Angeklagten gebracht

werde (Anhörungsniederschrift, S. 5). Hierzu war im asylrechtlichen Eilrechtsschutzverfahren

erklärt worden (Anlage Nr. 9), dass in dem dem Beschwerdeführer zugänglichen Teil der

Anklageschrift nicht im Ansatz aufgezeigt werde, dass er im Zusammenwirken mit den

anderen Angeklagten strukturiert und organisiert auf die Begehung von Verbrechen

hingearbeitet habe. Allein dies spreche schon gegen eine Mitgliedschaft in einer

terroristischen Vereinigung. Ein manipulierter Strafvorwurf sei aber ein gewichtiges Indiz

dafür, dass mit den Mitteln des Strafrechts in Wahrheit Verfolgung aus politischen Gründen

ausgeübt wird (BVerfGE 63, 197 (206)).

Angesichts der Tatsache, dass nach Aktenlage den türkischen Behörden die Verurteilung des

Beschwerdeführers durch das Kammergericht bekannt ist, sprechen diese Umstände dafür,

dass aus Anlass dessen Verurteilung in Deutschland in der Türkei ein Strafvorwurf konstruiert

wurde. Darüber hinaus spricht für eine Manipulation des Strafvorwurfs, dass die

Staatsanwaltschaft Kayseri in der Anklageschrift dem Beschwerdeführer die Mitgliedschaft in

der Al Qaida im Zeitraum von 2013 bis 2016 vorwirft. Für Auslieferungsersuchen gegen

türkische Staatsangehörige trifft dies häufig zu (so bereits BVerfGE 63, 197 (??) = EZAR 150

Nr. 3 = NJW 1983, 1723 = InfAuslR 148; zur aktuellen Rechtsanwendungspraxis

Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 20. 9.2016 – (1 53 AusLA 21/16,

11/16, Anlage Nr. 10).

c) Schließlich spricht für eine Manipulation des Strafvorwurfs und damit für eine in Wahrheit

gezielte Verfolgung aus politischen Gründen, dass das zu erwartende politische Strafverfahren

gegen den Beschwerdeführer gegen grundlegende Grundsätze eines rechtsstaatlichen und

fairen Verfahrens verstößt. Rechtsanwalt Pfaff hatte in seinem Schriftsatz an den Hessischen

Verwaltungsgerichtshof vom 22. Juli 2017 (Anlage Nr. 11), der dem Bundesamt mit

Schriftsatz vom 20. August 2017 vorgelegt wurde, auf den Lagebericht des Auswärtigen

Amtes vom 12. Juli 2017, S. 16 hingewiesen. Danach stellt das Auswärtige Amt fest, dass

anders als in Fällen gemeiner Kriminalität bei Verfahren mit politischen Strafvorwürfen bzw.

Terrorismusbezug unabhängige Verfahren kaum bzw. nicht durchgängig gewährleistet sind.

Mit unabhängigen Verfahren ist wohl gemeint, dass die Justiz nicht unabhängig ist.

16

Page 17: Blumenauer & Teubner€¦  · Web viewDer Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in der Vergangenheit und auch aktuell in einer Vielzahl von Verfahren festgestellt, dass

Dass die Justiz in der Türkei nicht unabhängig ist, ergibt sich bereits aus den gegen deutsche

Staatsangehörige durchgeführten Verfahren sowie aus der massenweisen Verfolgung von

Journalisten, die kritisch über die Politik der AKP-Regierung berichten, wie aber auch bei der

Durchführung von politischen Strafverfahren. Hierzu wird ein Beitrag aus dem Anwaltsblatt

2017, S. 876 vorgelegt (Anlage Nr. 12). Danach haben die türkische Rechtsanwältin Ayse

Bingöl und Dr. Zeynep Kivilcim die aktuelle Lage der türkischen Justiz anschaulich und

eindringlich dargestellt. Beide Juristen schildern den Rechtsstaat in der Türkei unter der

Geltung der nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 erlassenen Notstandsgesetze als

faktisch nicht mehr existent. Es fehle ein Zugang der Rechtsanwälte zu ihren Mandanten und

grundlegender Zugang der Bürger zum Recht. Hierauf hatte der Beschwerdeführer in seiner

persönlichen Anhörung beim Bundesamt hingewiesen. Nach den Erklärungen von Ayse

Bingöl und Dr. Zeynep Kivilcim können im Strafverfahren Akten nicht eingesehen werden

und werden Mandantengespräche, wenn sie denn überhaupt ermöglicht werden, per Video

überwacht.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in der Vergangenheit und auch aktuell

in einer Vielzahl von Verfahren festgestellt, dass in der Türkei in politischen und

Militärgerichtsverfahren den nach Art. 6 EMRK maßgeblichen Grundsätze eines fairen

Verfahrens zuwider gehandelt wird. Auch dies spricht dafür, dass die türkischen

Strafverfolgungsbehörden deshalb gegen den Beschwerdeführer vorgehen, weil sie ihm eine

gegen das herrschende Regime gerichtete politische Meinung unterstellen. In der

Entscheidung Ölalp, in der ein Herausgeber und Redakteur der Zeitschrift „Azadiya Welat“

wegen kritischer Berichte und der Forderung nach einer Amnestie für kurdische Kämpfer

verurteilt worden war, hat der Gerichtshof wegen der Verletzung der Grundsätze eines fairen

Verfahrens die Türkei nach Art. 6 EMRK verurteilt (EGMR, Urteil vom 18. Juli 2017 – Nr.

4853/07 und 53717/07 – Zilpzalp).

3. Das Bundesamt wie auch das Verwaltungsgericht wenden ein, dass der Beschwerdeführer

den Ausschlusstatbestand des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG erfülle. Das Verwaltungsgericht

verweist zusätzlich auf § 30 Abs. 4 AsylG, wonach ein Asylantrag offensichtlich unbegründet

sei, wenn die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG erfüllt seien und der

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Page 18: Blumenauer & Teubner€¦  · Web viewDer Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in der Vergangenheit und auch aktuell in einer Vielzahl von Verfahren festgestellt, dass

Beschwerdeführer durch das Kammergericht zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und

sechs Monaten verurteilt worden sei (BA, S. 4 f.).

a) § 3 Abs. 2 Satz 1 AsylG liegt Art. 12 Abs. 2 Buchst b) RL 2011/95/EU und diesem Art. 1 F

Buchst. b) GFK zugrunde. Es handelt sich damit um einen Ausschlusstatbestand bezogen auf

den geltend gemachten Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Diesem liegt

der Gedanke der Schutzunwürdigkeit zugrunde. § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG bezieht sich

stillschweigend auf Art. 33 Abs. 2 GFK, der im Asylverfahren gegen den Asylsuchenden

eingewandt werden kann. Dieser stellt aber nach Völkerrecht keinen Ausschlusstatbestand

dar. Vielmehr erlaubt er, einen anerkannten Flüchtling in das Herkunftsland abzuschieben und

durchbricht damit den Refoulementschutz (Abschiebungs-, Ausweisungs- und Schutz vor

Zurückweisung) nach Art. 33 Abs. 1 GFK. Allerdings ist in diesem Fall stets die absolute

Schutzwirkung von Art. 3 EMRK zu beachten, der damit deutlich über die Schutzwirkung

von Art. 33 GFK hinausgeht (EGMR, EZAR 933 Nr. 4 = NvwZ 1997, 1093 = InfAuslR 1997,

97 – Chahal; EGMR, InfAuslR, 279 (281) = NVwZ1997, 1100 = EZAR 933 Nr. 5 - Ahmad).

Zwar erlaubt der vom Unionsrecht vorgegebene Ausschlusstatbestand des § 3 Abs. 2 Satz 1

Nr. 2 AsylG die Versagung des begehrten Flüchtlingsstatus. § 30 Abs. 4 AsylG stimmt jedoch

mit Art. 14 Abs. 4 RL 2011/95/EU nicht überein, weil diese Norm nicht der Schutzgewährung

von vornherein entgegensteht, sondern lediglich deren Aberkennung erlaubt. Es ist daher

fraglich, ob § 3 Abs. 4 Hs. 2 AsylG in Verb. mit § 60 Abs. 8 AufenthG mit Völkerrecht und

Unionsrecht übereinstimmt. Letztlich kann eine Entscheidung dieser Frage jedoch

dahinstehen, weil dem Asylrecht des Art. 16a Abs. 1 GG ein „Ausschluss sogenannter

Asylunwürdiger fremd“ ist (BVerwGE 67, 184 (192) = NVwZ 1983, 674 = InfAuslR 1083,

228 zu Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG 1949; s. hierzu auch EuGH, InfAuslR 2011, 40 (43) Rdn.

113 ff.- B. und D.) Zwar hat das Bundesverfassungsgericht sich zu dieser Frage bislang nicht

geäußert. Es trägt dem Gedanken der Schutzunwürdigkeit aber im Rahmen der Prüfung

Rechnung, ob die Voraussetzungen des Begriffs der politischen Verfolgung vorliegen.

b) Im Ausgangspunkt ist zunächst davon auszugehen, dass vorliegend wegen des

offensichtlich manipulierten Strafvorwurfs gegen den Beschwerdeführer die Voraussetzungen

des Tatbestands der politischen Verfolgung vorliegen. Die Straftat der Zugehörigkeit zu einer

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Page 19: Blumenauer & Teubner€¦  · Web viewDer Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in der Vergangenheit und auch aktuell in einer Vielzahl von Verfahren festgestellt, dass

terroristischen Vereinigung ist ein gegen den Bestand des Staates und seine Einrichtungen

gerichtetes, also ein „politisches Delikt“. Nach der Rechtsprechung des

Bundesverfassungsgerichtes bildeten die Auslieferungsverbote des 19. Jahrhunderts

zugunsten politischer Straftäter, also Strafträter, die ihre politische Überzeugung betätigt und

hierbei gegen Strafgesetzes verstoßen hatten, mit denen ihr Heimatstaat seine politische

Grundordnung und seine territoriale Integrität verteidigte, den „Kernbestand des Asylrechts”.

Der Parlamentarische Rat habe als ganz selbstverständlilch angenommen, dass poilitische

Straftäter, soweit ihnen Auslieferungsschutz zu gewähren sei, grundsätzlich auch

asylberechtigt seien (BVerfGE 80, 341 (336) = EZAR 201 Nr. 20 = NVwZ 1990, 151 =

InfAuslR 1990, 21; BVerfGE 81, 142 (152) =EZAR 200 Nr. 26 = NvwZ 1990, 453 =

InfAuslR 1990, 167). Das Bundesverwaltungsgericht hatte bereits zuvor festgestellt, dass die

Verfolgung wegen einer politischen Straftat „immer nur politische Verfolgung im Sinne des

Asylrechts” sei (BVerwGE 67, 184 (190) = NVwZ 1983, 674 = InfAuslR 1083, 228), wenn

und weil sie in Anwendung des Strafrechts erfolgten.

c) Zwar wird dem Beschwerdeführer vom türkischen Staat vorgeworfen, Mitglied einer

terroristischen Vereinigung zu sein und hat das Bundesverfassungsgericht eine Grenze der

Asylverheißung gezogen, wenn der Asylsuchende seine politische Überzeugung unter Einsatz

terroristischer Mittel betätigt hat (BVerfGE 80, 341 (339) = EZAR 201 Nr. 20 = NVwZ 1990,

151 = InfAuslR 1990, 21; BVerfGE 81, 142 (152) = EZAR 200 Nr. 26 = NVwZ 1990, 453 =

InfAuslR 1990, 167). Dies wird dem Beschwerdeführer nach der Anklageschrift der

Staatsanwaltschaft Kayseri aber nicht vorgeworfen, vielmehr – losgelöst von konkreten

terrroristischen Handlungen – seine angebliche Zugehörigkeit zur Al Qaida. Das

Kammergericht hat den Beschwerdeführer wegen Unterstützung einer terroristischen

Vereinigung im Ausland in zwei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Betrug,

verurteilt und begründet dies im Wesentlichen damit, dass er zur Vorbereitung seiner Reise

nach Syrien bei der Frankfurter Sparkasse einen bestimmten Geldbetrag zwecks

Unterstützung der terroristischen Vereinigung Junud al-Sham abgehoben, sich dort elf Tage

aufgehalten, seine Frankfurter Freunde getroffen und regelmäßigen Kontakt mit

verschiedenen Bewohnern eines syrischen Dorfes und Mitgliedern der bezeichneten

Vereinigung gehabt habe (KG, Urteil vom 6. Juli 2015 – (1) 2 StE 7/14-4 (1/15), UA, S. 2,

Anlage Nr. 13).

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Page 20: Blumenauer & Teubner€¦  · Web viewDer Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in der Vergangenheit und auch aktuell in einer Vielzahl von Verfahren festgestellt, dass

Dieses Verhalten wird zwar nach deutschem Recht als Unterstützung einer terroristischen

Vereinigung im Ausland gewertet. Als Betätigung seiner politischen Überzeugung unter

Einsatz terroristischer Mittel können diese Verhaltensweisen des Beschwerdeführers aber

nicht gewertet werden. Denn es fehlt ein sachbezogener Zusammenhang zwischen diesen

Handlungen und einer konkreten terroristischen Tat (s. hierzu auch § 3 Abs. 2 Satz 2 AsylG).

Auch soweit ihm eine Nachrichtenübermittlung zwischen Personen im Bundesgebiet und

Mitgliedern der Vereinigung vorgeworfen wird, wurde nicht festgestellt, dass diese der

Vorbereitung, Durchführung oder Nachbereitung einer oder mehrerer terroristischer

Handlungen dienten.

Im Ergebnis kann die Frage, ob in diesen Handlungen ein “Einsatz terroristischer Mittel”

gesehen werden kann, aber dahinstehen, weil die türkischen Behörden diese offensichtlich

nicht zum Anlass der Verfolgung des Beschwerdeführers nehmen. Denn nach den

Feststellungen des Kammergerichtes hat er diese Handlungen im Juni 2013 begangen,

während die Staatsanwaltschaft Kayseri ihm die Mitgliedschaft in einer terroristischen

Vereinigung bezogen auf den Zeitraum von 2013 bis 2016 vorwirft, er aber seit dem 31. März

2013 bis heute im Bundesgebiet in Haft ist. Verfolgt der türkische Staat den

Beschwerdeführer aber nicht wegen einer vom Bundesgebiet ausgehenden und im Ausland

fortgesetzten Handlung, sondern wegen einer nicht substanziierten Zugehörigkeit zu einer

terroristischen Vereinigung und bleibt dabei unklar, welchen territorialen Anknüpfungspunkt

diese hat, kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer wegen eines

Verhaltens verfolgt wird, das nach deutschem Recht strafbar ist. Es bleibt somit dabei, dass

die Verfolgung des Beschwerdeführers nicht auf den bereits abgeurteilten Sachverhalt

bezogen ist, sondern er vom türkischen Staat mit offensichtlich manipulierten Strafvorwüfen

aus politischen Gründen verfolgt wird. Die ihm in der Türkei drohende Verfolgung zielt also

nicht auf ein Verhalten, durch das die Grenze der Asylverheißung überschritten wird. Ihm

droht damit in der Türkei politische Verfolgung.

d) Der Behördenbescheid und der Eilrechtsbeschluss gehen davon aus, dass im Falle des

Beschwerdeführers die Voraussetzungen von § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG, also von Art. 12

Abs. 2 Buchst. b) BRL 2011/95/EU und damit von Art. 1 F Buchst. b) GFK (s. oben)

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Page 21: Blumenauer & Teubner€¦  · Web viewDer Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in der Vergangenheit und auch aktuell in einer Vielzahl von Verfahren festgestellt, dass

vorliegen. Allgemein wird in der völkerrechtlichen Literatur davon ausgegangen, dass die

Betonung auf nichtpolitisch in Art. 1 F Buchst. b) GFK nahelege, „politische Delikte“ im

Sinne des Auslieferungsrechts nicht in den Anwendungsbereich dieser Norm einzubeziehen

(Goodwin Gill/McAdam, The Refugee in International Law, 3. Aufl., 2007, S. 173- 176;

Hathaway/Foster, The Law of Refugee Status, 2. Aufl., 2014, S. 554 ff., mit Hinweisen auf

die Rechtsprechung der Vertragsstaaten der GFK; Zimmermann, DVBl 2006, 1478 (1483)).

Soweit in beiden Entscheidungen die Begründung für die Anwendung des § 3 Abs. 2 Satz 1

Nr. 2 AsylG auf die Verurteilung des Beschwerdeführers durch das Kammergericht gestützt

wird, (Behördenbescheid, S. 3; Gerichtsbeschluss, S. 5), wird verkannt, dass es – wie

ausgeführt – auf die Strafgesetze ankommt, mit denen der Heimatstaat seine politische

Grundordnung und seine territoriale Integrität verteidigt (BVerfGE 80, 341 (336) = EZAR

201 Nr. 20 = NVwZ 1990, 151 = InfAuslR 1990, 21; BVerfGE 81, 142 (151) = EZAR 200

Nr. 26 = NvwZ 1990, 453 = InfAuslR 1990, 167) also auf die in der Anklageschrift der

Staatsanwaltschaft Kayseri verfolgten Schutz des Bestandes des türkischen Staates und seiner

territorialen Integrität. Das Bundesverwaltungsgericht hat für die Anwendung von § 51 Abs. 1

AuslG (1990), also nach heutigem Recht von § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG in Verb. mit § 3

Abs. 4 Hs. 1 AsylG, auf den Verstoß gegen Straftaten des Herkunftsstaates abgestellt

(BVerwGE 109, 25 (27) = EZAR 043 Nr. 32 = NVwZ 1999, 1353 = InfAuslR 1999, 371;

BVerwGE 109, 12 (16) = EZAR 2000 Nr. 34 = NvVZ 1999, 1349 = InfAuslR 1999, 366).

Den Entscheidungen lagen Sachverhalte zugrunde, bei denen aufgrund der im Bundesgebiet

betätigten politischen Überzeugung der Herkunftsstaat den Betroffenen mit beachtlicher

Wahrscheinlichkeit verfolgt. Das Bundesverfassungsgericht hatte bereits zuvor seiner

Rechtsprechung diesen rechtlichen Ansatz zugrunde gelegt (BVerfG 81, 142 (149) = EZAR

200 Nr. 26 = NvwZ 1990, 453 = InfAuslR 1990, 938). Es kann aber nicht erkannt werden,

dass der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Kayseri diese Intention zugrundeliegt, weil sie

sich nicht auf die Zeit vor 2013, sondern auf die zeitliche Periode von 2013 bis 2016 bezieht.

Aufgrund dessen kommt bereits im Ansatz eine Ausnahme vom Grundsatz, dass die

Verfolgung wegen politischer Delikte zugleich eine politische Verfolgung darstellt, nicht in

Betracht.

e) Selbst wenn die türkischen Verfolgungsorgane dem Beschwerdeführer zu Recht den

Vorwurf der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung machen sollten, ist zu bedenken,

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Page 22: Blumenauer & Teubner€¦  · Web viewDer Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in der Vergangenheit und auch aktuell in einer Vielzahl von Verfahren festgestellt, dass

dass Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt

Aktionen des bloßen Gegenterrors, also den Einsatz brutaler Gewalt sowie besonders harte

und brutale Übergriffe im Gegenzug zu den Aktionen des Terrorismus rechtfertigen. Dies

wird angenommen, wenn diese Maßnahmen darauf gerichtet sind, die an einem Konflikt nicht

unmittelbar beteiligte zivile Bevölkerung – im Gegenzug zu den Aktionen des Terrorismus –

unter den Druck brutaler Gewalt zu setzen (BVerfGE 80, 315 (339) = EZAR 201 Nr. 20 =

NVwZ 1990, 151 = InfAuslR 1990, 21). Diese Ausnahme zielt wohl eher auf Maßnahmen,

die im Zuge bewaffneter Konflikte gegen die an diesem nicht unmittelbar beteiligte

Zivilbevölkerung durchgeführt werden, können jedoch auch auf Situationen – wie im Falle

des Beschwerdeführers – gemünzt sein, in denen auf terroristische Bedrohungen mit

manipulierten Strafvorwürfen gegen unbeteiligte zivile Personen reagiert wird. Auch wenn

eine derartige Annahme nicht zutreffen sollte, schlägt hier die dem Beschwerdeführer

drohende strafrechtliche deshalb in eine politische Verfolgung um, weil er – wie ausgeführt –

in der Polizeihaft mit überwiegender Wahrscheinlichkeit unmenschliche Behandlung

befürchten muss, die über das Maß hinausgeht, das in den türkischen Gefängnissen Personen

zu befürchten haben, die dort wegen krimineller Delikte inhaftiert sind (BVerfG 81, 142 (151)

= EZAR 200 Nr. 26 = NvwZ 1990, 453 = InfAuslR 1990, 938; BVerfG (Kammer), InfAuslR

1996, 318 (321); BVerfG (Kammer); InfAuslR 1991, 25 (28); BVerfG (Kammer), NVwZ

1991, 772).

Im Übrigen lassen objektive Umstände darauf schließen, dass der Beschwerdeführer wegen

eines asylerheblichen Merkmals verfolgt wird (Politmalus). Hierzu hat das

Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass dies insbesondere dann zu vermuten ist, wenn der

Betroffene eine Behandlung erleidet, die härter ist als die sonst zur Verfolgung ähnlicher –

nichtpolitischer – Straftaten von vergleichbarer Gefährlichkeit im Verfolgerstaat Übliche

(BVerfGE 80, 315 (337, 339f.) = EZAR 201 Nr. 20 = NVwZ 1990, 151 = InfAuslR 1990,

21). Ergibt sich, dass das ihm drohende Strafverfahren – wie für den Fall des

Beschwerdeführers ausgeführt – keine Unterstützungshandlungen zugunsten konkreter

terroristischer Aktivitäten zum Gegenstand hat, ist die Asylversagung nicht gerechtfertigt

(BVerfG (Kammer), InfAuslR 1991, 97 (99)). Vielmehr sind Feststellungen gefordert, die

hinreichend deutlich eine Teilnahme im strafrechtlichen Sinne an Terror- oder

Unterstützungshandlungen zugunsten terroristischer Aktivitäten ergeben (BVerfG (Kammer),

22

Page 23: Blumenauer & Teubner€¦  · Web viewDer Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in der Vergangenheit und auch aktuell in einer Vielzahl von Verfahren festgestellt, dass

InfAuslR 1991, 257 (260)). Derartige Feststellungen hat aber das Bundesamt nicht getroffen.

Darüber hinaus haben das Bundesamt und auch das Verwaltungsgericht den aufgezeigten

rechtlichen Zusammenhang zwischen der dem Beschwerdeführer drohenden Folter und damit

der Anknüpfung an ein asylerhebliches Merkmal nicht beachtet.

f) Der türkische Staat verfolgt den Beschwerdeführer auch wegen seiner abweichenden

politischen Überzeugung. Mangels Kenntnis der konkreten Umstände, die den Strafvorwurf

begründen, kann zwar nicht festgestellt werden, ob die Verfolgung des Beschwerdeführers

wegen Taten, die sich gegen politische Rechtsgüter richten, deshalb keine politische

Verfolgung ist, weil sie einer in diesen zum Ausdruck kommenden zusätzlichen kriminellen

Komponente gilt (BVerfGE 80, 315 (338) = EZAR 201 Nr. 20 = NVwZ 1990, 151 =

InfAuslR 1990, 21). Da hier jedoch offensichtlich auf der Grundlage manipulierter

Strafvorwürfe gegen den Beschwerdeführer vorgegangen wird, können die hierfür

erforderlichen Feststellungen nicht getroffen werden, sodass die Verfolgung wegen der ihm

unterstellten Zugehörigkeit zu einer terroristischen Vereinigung gegen die abweichende

politische Überzeugung des Beschwerdeführers gerichtet ist. Zwar zielt die Rechtsprechung

des Bundesverfassungsgerichtes auf den Straftäter, der seine politische Überzeugung betätigt

und hierbei gegen Strafgesetzes verstoßen hat (BVerfGE 80, 341 (338 ff.) = EZAR 201 Nr. 20

= NVwZ 1990, 151 = InfAuslR 1990, 21). Es kommt jedoch darauf an, ob der Herkunftsstaat

zu politischen Verfolgungsmaßnahmen greift, auch wenn das Vorhandensein einer politischen

Überzeugung für den Herkunftsstaat noch nicht erkennbar in Erscheinung getreten ist, Träger

dieser Überzeugung im Herkunftsstaat aber politische Verfolgung erleiden (BVerwGE 55, 82

(85) = EZAR 201 Nr. 3 = NJW 1978, 2463). Auch das Bundesverfassungsgericht stellt auf die

Verfolgung wegen des Verdachts einer abweichenden politischen Überzeugung ab und so

kommt dieser Ansatz auch in § 3b Abs. 2 AsylG in Umsetzung von Art. 10 Abs. 2 RL

2011/95/EU zum Tragen.

III.

Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG

Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge sowie der

Beschluss des Verwaltungsgerichtes Gießen vom 21. September 2017 verletzen den

23

Page 24: Blumenauer & Teubner€¦  · Web viewDer Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in der Vergangenheit und auch aktuell in einer Vielzahl von Verfahren festgestellt, dass

Beschwerdeführer in seinem Recht aus Art. 19 Abs. 4 GG, weil im Hinblick auf die

beantragte Asylberechtigung die Ablehnung überhaupt nicht und im Blick auf die qualifizierte

Antragsablehnung im Übrigen die Entscheidungen die besondere Begründungspflicht nicht

beachtet haben (Abschnitt 1) sowie darüber hinaus der bezeichnete Eilrechtsbeschluss und

auch der Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofes vom 31. August 2017 einen für

das summarisch ausgerichtete Eilrechtsschutzverfahren zu hohen Maßstab an die

Darlegungsanforderungen sowie die maßgeblichen materiellen Voraussetzungen der

begehrten Antragsziele angelegt haben (Abschnitt 2).

1. a) Wie bereits im Antrag auf Erlass einer Schiebeanordnung vorgebracht wurde, verletzt

der Behördenbescheid Art. 16a Abs. 1 GG auch deshalb, weil er in seiner Begründung nicht

klar erkennen lässt, weshalb der Asylantrag nicht als schlicht unbegründet, sondern als

offensichtlich unbegründet abgelehnt worden ist (BVerfGE 67, 43 (57); 71, 276 (293 f.);

BVerfG (Kammer), NVwZ 2007, 1046; BVerfG (Kammer), Beschluss vom 7. November

2008 – 2 BvR 629/06 – BeckRS 2008, 41129). Das Verwaltungsgericht sieht über diesen

verfassungsrechtlichen Mangel hinweg, obwohl er im Eilrechtsschutzantrag ausdrücklich

gerügt wurde (Anlage Nr. 9, 2 ff.). Die Ablehnung des Antrags auf Feststellung der

Asylberechtigung wurde überhaupt nicht begründet. Die Behörde behauptet lapidar, dass die

Voraussetzungen für die Zuerkennung des internationalen Schutzes und die Anerkennung als

Asylberechtigter (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) nicht vorliegen, begründet dies im unmittelbaren

Anschluss an diese Feststellung aber ausschließlich mit auf die Ablehnung der Zuerkennung

des internationalen Schutzes (§ 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG) gerichteten Ausführungen. Da der

Beschwerdeführer im Bundesgebiet geboren wurde und seit seiner Geburt im Bundesgebiet

lebt, können die Voraussetzungen von Art. 16a Abs. 2 GG in Verb. mit § 26 AsylG von

vornherein nicht vorliegen. Das Verwaltungsgericht wiederholt die entsprechenden

Ausführungen im Bescheid des Bundesamtes und behandelt ebenfalls nicht die für Ablehnung

des Antrags auf Feststellung der Asylberechtigung erforderlichen Voraussetzungen (BA, S. 4

ff.).

b) Der besonderen Begründungspflicht wird der bloß formelhafte Hinweis – wie vorliegend –

auf die Offensichtlichkeit der Unbegründetheit des Asylbegehrens nicht gerecht (BVerfGE

71, 43 (57); BVerfG (Kammer), InfAuslR 1993 (148 f.); BVerfG (Kammer), InfAuslR

24

Page 25: Blumenauer & Teubner€¦  · Web viewDer Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in der Vergangenheit und auch aktuell in einer Vielzahl von Verfahren festgestellt, dass

1994/41 (42); BVerfG (Kammer), NVwZ 2007, 1046; BVerfG (Kammer), Beschluss vom 7.

November 2008 – 2 BvR 629/06 – BeckRS 2008, 41129). Diese vom

Bundesverfassungsgericht für die qualifizierte Klageabweisung nach § 78 Abs. 1 AsylG

entwickelten Grundsätze gelten auch für das Verwaltungsverfahren und damit für § 30 AsylG

(Hailbronner, Ausländerrecht, § 78 AsylG Rdn. 32; Marx, Kommentar zum AsylG, 9. Aufl.,

2017, § 30 Rdn. 33). Was bereits für das – gerichtliche – Kontrollverfahren gilt, muss erst

recht für den Gegenstand dieses Überprüfungsverfahrens, das Asylverfahren, gelten.

Erforderlich ist eine detaillierte Auseinandersetzung mit den materiellen Kriterien des

Offensichtlichkeitsbegriffs anhand der Umstände des konkreten Einzelfalles (BVerfG

(Kammer), Beschluss vom 23. 2.1989 – 2 BvR 1415/88).

Zwar hat das Bundesamt vorliegend den Asylantrag nach Maßgabe des § 30 Abs. 4 AsylG als

offensichtlich unbegründet abgelehnt. Aber auch in diesem Fall ist eine besonders sorgfältige

Auseinandersetzung mit den Kriterien des § 3 Abs. 2 AsylG in Verb. mit § 60 Abs. 8 Satz 2

AufenthG und eine dementsprechende besondere Begründung erforderlich. Demgegenüber

erschöpfen sich die Ausführungen in den angegriffenen Entscheidungen überwiegend in der

Wiedergabe des Textes der Normen § 60 Abs. 8 AufenthG und § 3 Abs. 2 und § 4 Abs. 2

AsylG und erwähnen Geldleistungen des Beschwerdeführers, ohne diese hinsichtlich des

Verwendungszweckes zu spezifizieren. Die angeführte Sachleistung wird im Urteil des

Kammergerichtes (UA, S. 25 ff.) nicht erwähnt. Das Bundesamt und das Verwaltungsgericht

stützen sich für die Anwendung des § 3 Abs. 2 bzw. § 4 Abs. 2 AsylG ausschließlich auf das

Urteil des Kammergerichtes, ohne eigene Feststellungen zu treffen. In der Anhörung des

Beschwerdeführers am 21. August 2017 (Anlage Nr. 8) wurde dieser Sachkomplex überhaupt

nicht aufgeklärt.

c) Die Behörde mag sich zwar für ihre Entscheidung auf strafrichterliche Feststellungen

beziehen. Diese entfalten indes für das Verwaltungsverfahren keine Bindungswirkung,

ersetzen damit für die Behördenentscheidung nicht eigene Feststellungen. Nach der

Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes haben strafrichterliche Feststellungen

lediglich Indizwirkung für die ausweisungsrechtliche Prognose (BVerwG, InfAuslR 2013,

217 (219) = EZAR NF 19 Nr. 64). Das Bundesverfassungsgericht erachtet hingegen eine

Abweichung von strafrichterlichen Feststellungen nur dann für zulässig, wenn die

25

Page 26: Blumenauer & Teubner€¦  · Web viewDer Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in der Vergangenheit und auch aktuell in einer Vielzahl von Verfahren festgestellt, dass

Ausweisungsbehörde über bessere oder zusätzliche Möglichkeiten zur Beurteilung des

Sachverhalts verfügt (BVerfG (Kammer), NVwZ 2011, 35 (37)). Es liegt nahe, diese für das

gefahrenabwehrrechtlich ausgerichtete Ausweisungsrecht entwickelten Grundsätze auch auf

das Asylverfahren anzuwenden, weil jedenfalls der Ausschlussgrund des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr.

2, § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG und § 60 Abs. Satz 1 und 3 AufenthG in Anlehnung an Art.

1 F Buchst. b) bzw. Art. 33 Abs. GFK präventiven gefahrenabwehrenden Charakter hat.

Die Behörde erwähnt lediglich das Urteil des Kammergerichtes und gibt dessen Inhalt in

lediglich einem Satz wieder und – wie erwähnt – im Hinblick auf die „Sachleistungen in Form

eines Geländewagens“ darüber hinaus unzutreffend. Sofern grundsätzlich von einer

Bindungswirkung der strafrichterlichen Feststellungen ausgegangen wird, setzt sich die

Behörde damit über diese hinweg, ohne hinreichend deutlich zu machen, woher sie ihre

zugrundeliegenden Erkenntnisse hat. Darüber hinaus erwähnt sie Nr. 2 von § 3 Abs. 2 Satz 1

AsylG, behandelt dessen Voraussetzungen nachfolgend jedoch nicht. Das Verwaltungsgericht

setzt sich ausschließlich mit den Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AsylG

auseinander (BA, S. 5 f.) und behandelt § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG ebenfalls nicht. Wenn

auch hinsichtlich der alternativen Wirkung der Ausschlussgründe des § 3 Abs. 2 Satz 1, § 4

Abs. 2 Satz 1 AsylG die Anwendung lediglich eines von diesen die Entscheidung

grundsätzlich zu tragen mag, rechtfertigt dies grundsätzlich aber lediglich die einfach

unbegründete Ablehnung des Asylantrags.

d) Zwar knüpft der Gesetzgeber die Verpflichtung zur qualifizierten Antragsablehnung an das

Vorliegen der Voraussetzungen von § 3 Abs. 2 AsylG oder von § 60 Abs. 8 AufenthG (§ 30

Abs. 4 AsylG). Es ist aber fraglich, ob dadurch das Bundesamt und die Verwaltungsgerichte

von der besonderen Begründungspflicht befreit werden. Hiergegen spricht, dass nach § 3 Abs.

2 Satz 1 Hs. 1 und § 4 Abs. 2 Satz 1 Hs. 1 AsylG erforderlich ist, dass „aus schwerwiegenden

Gründen die Annahme gerechtfertigt ist“, dass einer der nachfolgenden Ausschlussgründe

vorliegt. Hierzu sind jedoch besondere Feststellungen geboten, die sich nicht lediglich in der

Wiedergabe der entsprechenden Normen und einer kurzen Bezugnahme auf ein

strafrichterliches Urteil beziehen dürfen. Insbesondere im Hinblick auf den hohen

verfassungsrechtlichen Rang des Asylrechts und des internationalen Schutzes sowie des

gefährdeten Rechts auf Leben und der körperlichen und psychischen Unversehrtheit (Art. 2

26

Page 27: Blumenauer & Teubner€¦  · Web viewDer Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in der Vergangenheit und auch aktuell in einer Vielzahl von Verfahren festgestellt, dass

Abs. 2 Satz 1 GG) einerseits und der tiefgreifenden Auswirkungen der Ausschlussgründe in

die Rechte des Betroffenen andererseits bedarf die qualifizierte Antragsablehnung für die

Anwendung des § 30 Abs. 4 AsylG einer besonderen Begründung (BVerfG (Kammer),

NVwZ 2007, 1046; BVerfG (Kammer), Beschluss vom 7. November 2008 – 2 BvR 629/06 –

BeckRS 2008, 41129), die über die lediglich formelhafte Wiedergabe des Normtextes und der

kurzen Bezugnahme auf strafrichterliche Feststellungen erschöpfen darf. Das

Bundesverfassungsgericht bezieht diese Anforderungen nicht ausschließlich auf die

Asylberechtigung und den Flüchtlingsschutz, sondern darüber hinaus auch auf das Recht auf

Leben sowie körperliche und psychische Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG

(BVerfG (Kammer), NVwZ 2007, 1046). Dieses ist hier sowohl durch den Schutz nach § 60

Abs. 5 AufenthG, darüber hinaus aber auch aufgrund von Art. 16a Abs. 1 GG wie auch § 3

Abs. 4 Hs. 1 und § 4 Abs. 1 AsylG betroffen, weil das Recht auf Leben und körperliche sowie

psychische Unversehrtheit immanenter Bestandteil des Begriffs der politischen Verfolgung,

der Verfolgungshandlung im Sinne von § 3a Abs. 1 AsylG sowie des ernsthaften Schadens

(§ 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG) ist.

Die Behörde hat dabei zu bedenken, dass ihre Entscheidung nach § 30 Abs. 4 AsylG eine

Abschiebung vor der Durchführung des gerichtlichen Hauptsacheverfahrens zur Folge hat, die

nur durch den Erfolg in einem summarisch angelegten Eilrechtsschutzverfahren abgewendet

werden kann. Dies aber erfordert im vorausgehenden behördlichen Feststellungsverfahren die

Anwendung besonders strenger Untersuchungs- und Begründungspflichten, deren

Nichtbeachtung Art. 19 Abs. 4 GG verletzt. Das Verwaltungsgericht hat zu bedenken, dass in

einer nur summarisch angelegten Prüfung im Eilrechtsschutzverfahren der Behördenbescheid

nicht einer tiefgreifenden Kontrolle unterzogen werden kann, sodass es bereits bei geringen

Zweifeln am Vorliegen der Voraussetzungen der Ausschlussgründe verpflichtet ist, dem

Eilrechtsschutzantrag stattzugeben, um die gebotene besonders strenge Prüfungspflicht gemäß

§ 86 Abs. 1 VwGO im Hauptsacheverfahren durchführen zu können.

Das Verwaltungsgericht vertritt hingegen die Auffassung, dass auch im

Eilrechtsschutzverfahren die Ausschlussgründe nicht eng auszulegen seien und verletzt damit

Art. 19 Abs. 4 GG. Es verkennt dabei insbesondere, dass § 3 Abs. 4 AsylG sich auf § 60 Abs.

8 Satz 3 AufenthG bezieht, damit aber voraussetzt, dass der Asylsuchende als eine „Gefahr

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für die Allgemeinheit“ anzusehen ist. Die deshalb gebotene gefahrenabwehrrechtliche

Begründung erfordert damit eine besonders strenge Prüfung. Die Auffassung, die

Ausschlussgründe seien nicht eng auszulegen, bezieht sich zwar auf die materiellen

Voraussetzungen der Ausschlussgründe. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Prüfung der

Voraussetzungen keiner strengen Prüfungspflicht unterliegen. Auch wenn man die

Ausführungen des Verwaltungsgerichtes lediglich auf die Voraussetzungen der in § 3 Abs. 2

AsylG bezeichneten Ausschlussgründe beziehen wollte, liegt § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG

ein mit § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG identisches präventivpolizeirechtlicher Zweck zugrunde

und stellt damit erhöhte Voraussetzungen an die Prüfungspflicht.

2. Darüber hinaus verletzen das Verwaltungsgericht und der Verwaltungsgerichtshof Art. 19

Abs. 4 GG, weil sie im summarisch geprägten Eilrechtsschutzverfahren an die Darlegung der

Foltergefahr einen Beweismaßstab anlegen, der für das asylrechtliche Hauptsacheverfahren,

jedoch nicht bereits für das Eilrechtsschutzverfahren maßgebend ist. Denn sie verlangen, dass

die für die Prognose der drohenden Folterbehandlung des Antragstellers maßgebenden

Tatsachen „mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit“ feststehen müssen (Beschluss des

Verwaltungsgerichtes vom 21. September 2017, BA, S. 9, 12; Beschluss des

Verwaltungsgerichtshofes vom 31. August 2017, BA, S. 6, 7). Die Anwendung eines derart

hohen Maßstabes für das Eilrechtsschutzverfahren verletzt nicht nur das Grundrecht des

Antragstellers aus Art. 2 Abs. 1 Satz 1 in Verb. mit Art. 1 Abs. 1 GG, sondern auch Art. 19

Abs. 4 GG, weil damit der gebotene wirkungsvolle Rechtsschutz versagt wird (BVerfG

(Kammer), NVwZ 2007, 1046).

Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet, dass durch die normative Ausgestaltung des gerichtlichen

Verfahrens die umfassende Nachprüfung des Verfahrensgegenstandes in tatsächlicher und

rechtlicher Hinsicht und eine dem Rechtsschutzbegehren angemessene Entscheidungsart und -

wirkung sichergestellt wird (BVerfGE 60, 253 (297)). So wie Art. 19 Abs. 4 GG der

unzumutbaren Erschwerung des Zugangs zum Berufungsverfahren entgegensteht (BVerfG

(Kammer), NVwZ 2011, 547 (548)), steht er auch der unzumutbaren Erschwerung des

Zugangs zum erstinstanzlichen Hauptsacheverfahren durch Zurückweisung des

Eilrechtsschutzantrags entgegen, wenn dadurch ein wirksamer Zugang zum

Berufungsverfahren mit dauerhafter Wirkung – wie hier durch Abschiebung des

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Page 29: Blumenauer & Teubner€¦  · Web viewDer Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in der Vergangenheit und auch aktuell in einer Vielzahl von Verfahren festgestellt, dass

Beschwerdeführers und seine wahrscheinliche Inhaftierung auf nicht absehbare Zeit nach

seiner Ankunft im Abschiebungszielstaat – ausgeschlossen wird.

3. Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auch auf der genannten Grundrechtsverletzung.

Es ist nicht auszuschließen, dass Behörde und Verwaltungsgericht bei hinreichender

Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Vorgaben zu einer anderen, dem

Beschwerdeführer günstigen Entscheidung gelangt wären.

IV.

Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG

Die Entscheidungen der Behörde und des Verwaltungsgerichts im asylrechtlichen Verfahren

verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG, weil sie den von

diesem angestrebten Schutz nach Art. 16a Abs. 1 GG nicht beachtet haben.

1. Unter dem Gesichtspunkt des Gleichheitssatzes nach Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Bedeutung

als Willkürverbot kommt ein verfassungsgerichtliches Eingreifen dann in Betracht, wenn die

Rechtsanwendung bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden

Gedanken nicht mehr verständlich ist. Eine zweifelsfreie fehlerhafte Rechtsanwendung an

sich begründet zwar noch keine Verletzung des Willkürverbotes. Die Willkürgrenze ist aber

überschritten, wenn z.B. eine offensichtlich einschlägige Norm – wie hier – nicht

berücksichtigt oder der Inhalt einer Norm in krasser Weise missdeutet wird (BVerfGE 66, 324

(330); 80, 48; 87, 273 (278 f.); 89, 1 (14); BVerfG (Kammer), NVwZ 1994, 60).

2. Als unhaltbar und objektiv willkürlich erweist sich darüber hinaus die durch das

Bundesamt wie auch das Verwaltungsgericht vorgenommene rechtliche Gleichsetzung der

Voraussetzungen der Asylberechtigung mit denen des internationalen Schutzes. Unter diesen

Voraussetzungen geht das Bundesverfassungsgericht von einem Verstoß gegen das

Willkürverbot aus (BVerfG (Kammer), NVwZ 1994, 60). Die Ausführungen zu Art. 16a Abs.

1 GG in beiden Entscheidungen können entweder dahin verstanden werden, dass über die

bloße Bezeichnung des Art. 16a Abs. 1 GG hinaus diese Norm nicht berücksichtigt wurde

oder aber, dass ihr Inhalt krass fehlerhaft mit dem Inhalt des internationalen Schutzes

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Page 30: Blumenauer & Teubner€¦  · Web viewDer Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in der Vergangenheit und auch aktuell in einer Vielzahl von Verfahren festgestellt, dass

rechtlich gleichgesetzt wird. In einem wie im anderen Fall verletzen das Bundesamt wie auch

das Verwaltungsgericht das Willkürverbot im Sinne von Art. 3 Abs. 1 GG. Insoweit kommt

erschwerend hinzu, dass das Verwaltungsgericht mit Bezugnahme auf das Asylrecht wie auch

auf den internationalen Schutz die Ausschlussgründe des § 3 Abs. 2, § 4 Abs. 2 AsylG

anwendet, obwohl dem Asylrecht – wie im Abschnitt I ausgeführt – der Ausschluss wegen

Schutzunwürdigkeit fremd ist. Damit wird der Inhalt von Art. 16a Abs. 1 GG krass fehlerhaft

interpretiert und angewandt.

V.

Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG

Der Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 21. September 2017 verletzt den

Beschwerdeführer in seinem Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG, weil das Verwaltungsgericht dem

Antrag auf Einholung einer Auskunft des Auswärtigen nicht nachgegangen ist und die

eingeführte Auskunft von amnesty international vom 6. September 2017 nicht berücksichtigt

hat. Darüber wird der Anspruch auf Gewährleistung rechtlichen Gehörs verletzt, weil das

Bundesamt sowie das Verwaltungsgericht die Ablehnung des Antrags auf Anerkennung als

Asylberechtigter nicht begründet haben.

1. a) Im Eilrechtsschutzantrag im asylrechtlichen Verfahren sowie im vorangegangenen

Asylverfahren war beantragt worden, zur Aufklärung der Behauptung des Beschwerdeführers,

dass das Kammergericht berücksichtigt habe, dass er tatsächlich Hilfsgüter nach Syrien

gebracht habe, die dort an die notleidende Bevölkerung verteilt worden sei, die Akte des

Kammergerichtes wie auch die Justizvollzugsanstalt Butzbach und die der Ausländerbehörde

beizuziehen. Darüber hinaus war beantragt worden, eine Auskunft des Auswärtigen Amtes zu

der Beweisfrage einzuholen, welches Beweismaterial dem Vorwurf der Staatsanwaltschaft

Kayseri gegen ihn zugrunde liege. Es wurde in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen,

dass nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfGE 94, 166 (206)) bei

schwerwiegenden Verfahrensfehlern im Verwaltungsverfahren – wie hier – im asylrechtlichen

Eilrechtsschutzverfahren erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen

Bescheides bestehen und Anlass sein kann, im Eilrechtsschutzverfahren den

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Page 31: Blumenauer & Teubner€¦  · Web viewDer Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in der Vergangenheit und auch aktuell in einer Vielzahl von Verfahren festgestellt, dass

Beschwerdeführer persönlich im Rahmen eines Erörterungstermins (§ 87 Abs. 1 Satz 2

VwGO) persönlich anzuhören.

Das Verwaltungsgericht hat weder den Vortrag zur Beiziehung der erwähnten Akten noch

zum schwerwiegenden Verfahrensfehler noch zur persönlichen Anhörung des

Beschwerdeführers im Eilrechtsschutzverfahren zur Kenntnis genommen und damit

angesichts der Entscheidungserheblichkeit der unter Beweis gestellten Tatsachenfragen für

die Feststellung von Ausschlussgründen dessen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt. Den

Antrag auf Einholung einer amtlichen Auskunft hat es mit der Begründung abgelehnt, dass

der Beschwerdeführer lediglich die ersten drei Seiten der Anklageschrift vorgelegt habe, aus

der tatsächlich lediglich hervorgehe, dass der Beschwerdeführer dort unter Nummer 15 von

insgesamt 18 Angeklagten genannt werde. Weitere Informationen weder zum Tatvorwurf

noch zu einem diesem zuzurechnenden Tatbeitrag ließen sich dem Dokument nicht

entnehmen. Das Gericht sei nicht verpflichtet, bei der Aufklärung des Sachverhalts

mitzuwirken. Die Aufklärungspflicht des Gerichtes beginne erst dort, wo die

Darlegungspflicht und Beibringungsmöglichkeiten des Antragstellers erschöpft seien. Der

Beschwerdeführer habe es indes versäumt, die Anklageschrift vollständig vorzulegen. Aus

dem Dokument ergebe ich nämlich, dass das vollständige Dokument in der Datenbank der

türkischen Justizbehörden eingesehen werden könne. In der Fußzeile der Anklageschrift sei

der Zugangsschlüssel aufgeführt, mit dem sich der Beschwerdeführer Zugang zu dem

Dokument verschaffen könne (BA, S. 8).

b) Das Verwaltungsgericht wählt damit für die Beweisablehnung eine Begründung, die in der

Prozessordnung nicht vorgesehen ist und verletzt damit aus einem weiteren Grund den

Anspruch des Beschwerdeführers auf Gewährung rechtlichen Gehörs. Zwar kann im

Eilrechtsschutzverfahren mangels Durchführung einer mündlichen Verhandlung der

Beweisantrag nicht förmlich gestellt werden, sodass das Verwaltungsgericht den Antrag in

dieser auch nicht ablehnen kann (§ 86 Abs. 2 VwGO). Es ist jedoch allgemein anerkannt, dass

beim Verzicht auf mündliche Verhandlung der Beweisantrag vor oder nach der

Anhörungsmitteilung auch schriftlich begründet werden kann und dadurch die gerichtliche

Bescheidungspflicht ausgelöst wird (BVerwG, NVwZ 1992, 890 (891)). Auch wird bei einem

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nach dem Verzicht auf Durchführung der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisantrag

§ 86 Abs. 2 VwGO für entsprechend anwendbar gehalten (BVerwGE 15, 175 (176)).

In alle diesen Fällen kann der Beweisantrag aber nur schriftlich gestellt werden, es fehlt also

an der Möglichkeit der förmlichen Antragstellung in der mündlichen Verhandlung.

Gleichwohl wird der Antrag prozessual nicht als bloße Beweisanregung behandelt. In

prozessualer Hinsicht ist die Situation im Eilrechtsverfahren keine andere, weil über den

gestellten Eilrechtsschutzantrag im schriftlichen Verfahren entschieden wird. Das

Verwaltungsgericht hat hier aber begründet, warum es der beantragten Beweisaufnahme nicht

nachgegangen ist, den Beweisantrag damit nicht als prozessual unzulässig behandelt.

c) Soweit das Verwaltungsgericht die beantragte Beweisaufnahme mit dem Hinweis auf die

Verletzung der Mitwirkungspflichten des Beschwerdeführers abgelehnt hat, verkennt es die

Anforderungen an den Beweisantritt, in diesem Zusammenhang den Umfang der

Darlegungspflichten, und so kommt darüber hinaus in dieser Begründung selbst eine

eigenständige Gehörsverletzung zum Ausdruck.

aa) Das Verwaltungsgericht ist zur Aufklärung verpflichtet, wenn das Vorbringen einen

tatsächlichen Anhaltspunkt zu weiterer Sachaufklärung bietet, das Beweisthema hinreichend

konkretisiert und der Beweisantrag auch im Übrigen hinreichend substanziiert ist (BVerwG,

MDR 1983, 869 (870)). Diesen Anforderungen ist der Beschwerdeführer gerecht geworden.

Er hat bereits im Verwaltungsverfahren und anschließend im Eilrechtsschutzverfahren unter

Hinweis auf eine Vielzahl von Umständen und Tatsachen schlüssig vorgebracht, dass die

gegen ihn gerichtete Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Kayseri auf einem manipulierten

Strafvorwurf beruht. Das genügt für die Bezeichnung des Beweisthemas. Als Beweismittel

hat er die Einholung einer amtlichen Auskunft beantragt. Darüber hinaus hat er damit eine

„gewisse Möglichkeit“ aufgezeigt, dass die Beweistatsachen vorliegen können. Mehr kann

vom Beweisführer beim Beweisantritt nicht verlangt werden (BGHSt 21, 118 (125)). Diese

vom Beschwerdeführer erfüllten Anforderungen nimmt das Verwaltungsgericht nicht zur

Kenntnis und verletzt auch aus diesem Grund den Anspruch des Beschwerdeführers auf

rechtliches Gehör.

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Eine Verletzung der Mitwirkungspflichten kann dem Beschwerdeführer nicht vorgeworfen

werden noch kann aus diesem Grund die beantragte Beweisaufnahme abgelehnt werden,

wenn der Beweisführer – wie hier – den Antrag substanziiert gestellt hat. Die Aufklärung

durch das Gericht setzt ein entsprechendes Sachvorbringen – hier die vorgebrachte

Behauptung einer auf manipulierten Tatsachen beruhenden Anklageschrift – voraus. Ein

damit aufgezeigtes Ermittlungsdefizit löst aufgrund dessen die gerichtliche

Aufklärungspflicht aus. Dem Verwaltungsgericht muss sich die Notwendigkeit weiterer

Ermittlungen aufdrängen, wenn das Vorbringen – wie hier – tatsächliche Anhaltspunkte

hierfür bietet (BVerwG, InfAuslR 1990, 38 (39)). Unter diesen Umständen kann die

Ablehnung der beantragten Beweisaufnahme nicht mit der Verletzung der

Mitwirkungspflichten abgelehnt werden. Denn die Mitwirkungspflichten beim Beweisantrag

bestehen in der Substanziierungspflicht des Beweisthemas, der der Beschwerdeführer

nachgekommen ist. Auch kann ihm nicht vorgehalten werden, dass sein Vorbringen insgesamt

durch nicht auflösbare Widersprüche geprägt sei. Ob es glaubhaft ist, soll ja erst die

beantragte Beweisaufnahme ergeben.

bb) Der Beschwerdeführer hat zu dieser Tatsachenfrage nicht seine Mitwirkungspflichten

verletzt. Das Verwaltungsgericht überspannt mit diesem Einwand die Anforderungen an die

Darlegungslast des Beschwerdeführers sowie berücksichtigt nicht die zur Beschaffung der

Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Kayseri im Verwaltungsverfahren abgegebenen

Erklärungen und verletzt bereits aus diesem Grund mit der Begründung der Beweisablehnung

den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör:

Um einer Überspannung der Grundsätze zur Darlegungslast zu Lasten Asylsuchender

vorzubeugen, hatte das Bundesverwaltungsgericht bereits zu Beginn der 1980 Jahre zwischen

persönlichen Erlebnissen und Erfahrungen des Antragstellers einerseits sowie den

allgemeinen Verhältnissen in seinem Herkunftsland andererseits differenziert (BVerwG,

InfAuslR 1982, 156 (156 f.); BVerwG, InfAuslR 1983, 76 (77); BVerwG, InfAuslR 1984,

129; BVerwG, DÖV 1983, 207; BVerwG, BayVBl. 1983, 507; BVerwG, InfAuslR 1989, 350

(351); BVerwG, EZAR 630 Nr. 8). Danach trifft den Asylsuchenden im Hinblick auf seine

persönlichen Erlebnisse eine erhöhte Darlegungslast, welche den Untersuchungsgrundsatz

begrenzt. Das Bundesamt und das Verwaltungsgericht brauchen in keine Ermittlungen

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einzutreten, die durch das Sachvorbringen nicht veranlasst sind. Mit Blick auf die allgemeinen

Verhältnisse im Herkunftsland ist der Asylsuchende dagegen in einer schwierigen Situation.

Seine eigenen Kenntnisse und Erfahrungen sind häufig auf einen engeren Lebenskreis

begrenzt und liegen stets einige Zeit zurück. Auch befindet er sich hinsichtlich der

allgemeinen Verhältnisse in einer „Beweisnot“, der gemäß Art. 19 Abs. 4 GG bei der

Gestaltung des Asylverfahrens Rechnung zu tragen ist (BVerfGE 94, 115 (133)). Seine

Mitwirkungspflicht würde überdehnt, würde auch insofern ein lückenloser Tatsachenvortrag

gefordert, der im Sinne der zivilprozessualen Verhandlungsmaxime schlüssig zu sein hätte.

Insoweit muss es genügen, um zu weiteren Ermittlungen Anlass zu geben, wenn der

Tatsachenvortrag des Antragstellers die nicht entfernt liegende Möglichkeit – wie hier –

ergibt, dass ihm bei Rückkehr in seinen Herkunftsstaat Verfolgung oder ein ernsthafter

Schaden droht.

Dem entspricht die unionsrechtlich geregelte Darlegungslast. Danach hat der Antragsteller

alle zur Antragsbegründung erforderlichen Angaben darzulegen (Art. 4 Abs. 1 RL

2011/95/EU), hingegen hat die Behörde alle mit dem Herkunftsland verbundenen Tatsachen,

die im Entscheidungszeitpunkt relevant sind, einschließlich der Rechts- und

Verwaltungsvorschriften des Herkunftsland und der Weise, in der sie angewandt werden, zu

prüfen (Art. 4 Abs. 3 Buchst. a) RL 2011/95/EU). Der Antragsteller hat persönliche

Umstände, Verhältnisse und Erlebnisse, die seiner Ansicht nach zu Repressalien Anlass geben

oder Abschiebungsverbote begründen können, schlüssig sowie mit Blick auf zeitliche,

örtliche und sonstige Umstände detailliert und vollständig darzulegen. Welcher Art diese

Repressalien sind, welche Beweise die Verfolgungsbehörden gegen ihn vorbringen, warum

sie gegen ihn Verfolgungsmaßnahmen eingeleitet haben und mit welcher Wahrscheinlichkeit

diese drohen, ist dagegen nicht Teil seiner Darlegungslast. Diesen offenen Beweisfragen ist

vielmehr von Amts wegen nachzugehen. Es ist daher prozessual fehlerhaft, wenn dem

Antragsteller die Darlegungslast für die Beschaffung von Urteilen etc. aufbürdet, sofern er

hierzu nicht in der Lage ist. Folgt aus dem schlüssigen Sachvortrag, dass gegen ihn im

Herkunftsland strafrechtliche Verfolgungen durchgeführt werden, liegt die Beschaffung von

Nachweisen nicht in seinem Verantwortungsbereich. Keinesfalls ist es zulässig, wegen nicht

vorgelegter Nachweise den Antrag abzuweisen (Marx, Kommentar zum AsylG, 9. Aufl.,

2017, § 25 Rdn. 5 und 6).

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Page 35: Blumenauer & Teubner€¦  · Web viewDer Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in der Vergangenheit und auch aktuell in einer Vielzahl von Verfahren festgestellt, dass

cc) Das Verwaltungsgericht verkennt mit der Begründung seiner Beweisablehnung nicht nur

den Umfang der Darlegungslasten des Beschwerdeführers und damit auch die hieraus

folgenden Verpflichtungen für den Beweisantritt. Vielmehr nimmt es mit seiner Begründung

das Vorbringen des Beschwerdeführers zu den Schwierigkeiten, die vollständige Fassung der

Anklageschrift beschaffen zu können, nicht zur Kenntnis und verletzt damit seinen Anspruch

auf Gewährung rechtlichen Gehörs. Der Beschwerdeführer hat in der persönlichen Anhörung,

deren Niederschrift dem Verwaltungsgericht bekannt ist, darauf hingewiesen, dass er die

gegen ihn in der Türkei vorliegenden Anklageschrift am Tag der Anhörung zum ersten Mal

gesehen habe. Daraufhin hat Rechtsanwalt Pfaff das Bundesamt während der Anhörung

darauf hingewiesen, dass die Anklageschrift in der Datenbank UYAP eingesehen werden

kann und für den Fall, dass das Bundesamt von dieser Möglichkeit Gebrauch machen sollte,

Akteneinsicht beantragt (Anlage Nr. 14, S. 3, 4). Das Bundesamt ist im angefochtenen

Bescheid auf diese Anregung nicht eingegangen. Auch das Verwaltungsgericht setzt sich

damit nicht auseinander und behauptet stattdessen, dass der Beschwerdeführer die

Beibringungspflicht treffe.

Insoweit hat Rechtsanwalt Pfaff im Verwaltungsverfahren, dessen Akte dem

Verwaltungsgericht vorliegt, mit Schriftsatz vom 20. August 2017 an das Bundesamt (Anlage

Nr. ?) unter Beifügung des Schriftsatzes an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof vom 29.

Juni 2017 darauf hingewiesen, er habe von dem Strafverteidiger des Beschwerdeführers

erfahren, dass gegen diesen in der Türkei ein Ermittlungsverfahren anhängig sei und zu dieser

Behauptung eine eidesstattliche Versicherung des Verteidigers beigefügt. Zugleich hat er mit

diesem Schriftsatz die elektronische Mitteilung des Verteidigers vom 19. Juli 2017 vorgelegt,

dass er die Informationen über das Ermittlungsverfahren von einem „Freund aus dem

Konsulat“ habe. Damit war für das Verwaltungsgericht erkennbar, dass es dem

Beschwerdeführer nur über Beziehungen seines Strafverteidigers zu türkischen Stellen, die

zum Schutz der Informationsquelle nicht preisgegeben werden dürfen, gelungen ist, Kenntnis

über das gegen ihn anhängige Ermittlungsverfahren in der Türkei zu erlangen. Wenn in

Kenntnis dieser Umstände das Verwaltungsgericht dem Beschwerdeführer gleichwohl unter

Hinweis auf die in der Anklageschrift angegebene türkische Datenbank vorhält, er habe das

vollständige Dokument nicht vorgelegt und deshalb die Beweiserhebung ablehnt, verletzt es

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damit nicht nur in besonders schwerwiegender Weise dessen Anspruch auf Gewährleistung

rechtlichen Gehörs, sondern auch das Willkürverbot nach Art. 3 Abs. 1 GG.

2. Dem Verwaltungsgericht wurde – zeitgleich mit der hierauf bezogenen Einführung dieses

Dokuments in das Verfahren beim Bundesverfassungsgericht – mit Schriftsatz vom 5.

September 2017 die Auskunft von amnesty international in der ursprünglichen, noch nicht

offiziell mit einem Briefkopf dieser Organisation versehenen Form, übermittelt (Anlage

Nr. ?). Im angefochtenen Beschluss erwähnt das Verwaltungsgericht diese für den

Beschwerdeführer bedeutsame Erkenntnisquelle nicht und setzt sich demzufolge auch in

Beweiswürdigung hiermit nicht auseinander. Vielmehr stellt es trotz Vorliegens gewichtiger

Hinweise auf eine dem Beschwerdeführer drohende Folterbehandlung in der Türkei im

Rahmen des gegen ihn gerichteten Ermittlungsverfahren fest, es bestehe keine beachtliche

Wahrscheinlichkeit, dass gegen diesen derartige Maßnahmen ergriffen werden würden.

4. Im Eilrechtsschutzantrag vom 30. August 2017 wurde vorgebracht, dass der

Ausschlussgrund des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG nicht vorliegt, weil der Verurteilung des

Beschwerdeführers wegen Zugehörigkeit zu einer terroristischen Vereinigung ein „politisches

Delikt“ oder jedenfalls ein konnex-gemischtes Delikt zugrunde liegt, es sich damit nicht um

eine von § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG in Umsetzung von Art. 12 Abs. 2 Buchst. b) RL

2011/95/EU geforderte nichtpolitische Straftat handelt (Anlage Nr. ?, S. ). Das

Verwaltungsgericht nimmt dieses auch aus seiner rechtlichen Sicht entscheidungserhebliche

Vorbringen nicht zur Kenntnis. Es handelt sich damit nicht um einer mit der Gehörsrüge nicht

angreifbare fehlerhafte Rechtsanwendung, sondern um die Nichtberücksichtigung

entscheidungserheblichen Vorbringens und damit um eine Gehörsverletzung.

Darüber hinaus wurde zugunsten des Beschwerdeführers vorgebracht, dass diese nach der

maßgeblichen Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union durch die vom

Kammergericht festgestellten Handlungen nicht die Voraussetzungen für eine den Anspruch

auf Zuerkennung des internationalen Schutzes entgegenstehende Unterstützung einer

terroristischen Vereinigung erfüllt habe. Hierbei sei die Rolle, welche der Betroffene bei der

Verwirklichung der betreffenden Handlung tatsächlich gespielt habe, seine Position innerhalb

der Organisation, der Grad der Kenntnis, die er von deren Handlungen hatte oder haben

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musste, die etwaigen Repressionen, denen er ausgesetzt gewesen wäre oder andere Faktoren,

die geeignet gewesen wären, sein Verhalten zu beeinflussen, zu berücksichtigen. Nur bei einer

hervorgehobenen Person in einer „sich terroristischer Mittel bedienender Organisation" könne

vermutet werden, dass der Betroffene „eine individuelle Verantwortung für von dieser

Organisation im relevanten Zeitraum begangene Handlungen trägt." Dieses befreie aber nicht

von der Prüfung sämtlicher "erheblicher Umstände" (EuGH InfAuslR 2011, 40 (43) Rdn. 113

ff. - B. und D.) Eine hervorgehobene Position in einer terroristischen Vereinigung werde dem

Beschwerdeführer nicht vorgeworfen. Ob er lediglich humanitäre Hilfe geleistet oder – wie

vom Bundesamt behauptet – finanzielle Leistungen an eine terroristische Organisation

geleistet habe, sei umstritten. Die Aufklärung dieses Gesichtspunktes hätte eine Beiziehung

der Akten des Kammergerichtes vorausgesetzt sowie auch eine gezielte Befragung der hierfür

maßgeblichen Umstände in der persönlichen Anhörung. Beide verfahrensrechtlichen

Erfordernisse seien nicht erfüllt worden, sodass auch wegen dieses schwerwiegenden

Verfahrensfehlers dem Eilrechtsschutzantrag stattzugeben oder ein Erörterungstermin nach

§ 87 Abs. 1 S. 1 S. 2 Nr. 1 VwGO im Eilrechtsschutzverfahren zur informatorischen

Befragung des Klägers erforderlich ist. Zwar könne sich § 3 Abs. 2 Nr. 3 AsylG auch auf

Personen erstrecken, die die Anwerbung, Organisation, Beförderung oder Ausrüstung von

Personen vornehmen, die in einen Staat reisen, der nicht der Staat ihrer Staatsangehörigkeit

ist, um insbesondere terroristische Handlungen zu begehen, zu planen oder vorzubereiten

(EuGH, InfAuslR 2017, 155 (158) Rdn. 69 – Lounani). Derartige Handlungen würden dem

Beschwerdeführer aber weder vom Kammergericht noch in der Ausweisungsverfügung

vorgeworfen. Zwar habe er auf Fotos mit Handfeuerwaffen posiert. Zugleich habe das

Kammergericht aber berücksichtigt, dass er – wie vom ihm selbst auch in der persönlichen

Anhörung beim Bundesamt vorgebracht – tatsächlich Hilfsgüter nach Syrien gebracht habe,

die dort an die notleidende Bevölkerung verteilt worden seien. Ganz offensichtlich erfüllten

diese Handlungen nicht den Tatbestand der Anwerbung, Organisation, Beförderung oder

Ausrüstung von Personen, die terroristische Handlungen durchführen wollten. Im Übrigen

bedürften die näheren Umstände dieses Sachkomplexes einer näheren Aufklärung im

Hauptsacheverfahren. Die strafgerichtlichen Feststellungen würden insoweit keine

Bindungswirkung für das Verwaltungsstreitverfahren entfalten.

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Zwar behandelt das Verwaltungsgericht die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3

AsylG. Es wirft dem Beschwerdeführer hierbei aber vor, er habe eine terroristische

Vereinigung durch andere Formen der Unterstützung als durch deren Finanzierung, Planung

oder Vorbereitung unterstützt (Anlage Nr. 14, S. 6/7). Zwar mag es sich bei dieser Würdigung

um einen Rechtsanwendungsfehler handeln. Dem steht jedoch entgegen, dass das

Verwaltungsgericht bei seiner Würdigung auf das aufgezeigte Sachvorbringen überhaupt

nicht eingeht und zur Aufklärung dieses Umstandes die Beiziehung der Akten des

Kammergerichtes wie auch eine gezielte Befragung der hierfür maßgeblichen Umstände in

der persönlichen Anhörung beantragt worden war und diese Anträge vom Verwaltungsgericht

stillschweigend übergangen wurden.

5. Die vom Verwaltungsgericht prozessordnungswidrig unterlassene Beweiserhebung betrifft

auch aus seiner rechtlichen Sicht entscheidungserhebliche Beweistatsachen. Darauf deutet die

Begründung für die Beweisablehnung hin. Im Übrigen kommt es hierauf in diesem Fall

wegen der absoluten Schutzwirkung des Folterverbots (Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 3 EMRK) nicht

an. Denn der Beschwerdeführer hat vorgebracht, das ihm im Ermittlungsverfahren eine

Folterbehandlung drohen wird. Deshalb sind die zu diesem Ermittlungsverfahren unter

Beweis gestellten Tatsachen mittelbar auch für die behauptete drohende Folter von

Bedeutung. Soweit das Verwaltungsgericht die erwähnte Auskunft von amnesty international

nicht berücksichtigt hat, steht dies angesichts des Aussagegehalts dieser Auskunft im

unmittelbaren Zusammenhang mit der drohenden Folterbehandlung. Angesichts der

Auseinandersetzung des Verwaltungsgerichts mit den Ausschlussgründen des § 3 Abs. 2

AsylG, § 60 Abs. 8 AufenthG kann auch davon ausgegangen werden, dass die Frage, ob die

Verurteilung aufgrund eines politischen Deliktes auch aus seiner rechtlichen Sicht eine

entscheidungserhebliche Frage aufwirft. Andernfalls hätte es im Hinblick auf Art. 101 Abs. 1

Satz 2 GG diese Frage dem Gerichtshof der Europäischen Union zur Klärung im

Vorabentscheidungsverfahren (Art. 267 Abs. 3 AEUV (hierzu nachfolgend) vorlegen müssen.

Auch wenn die bezeichneten Ausschlussgründe alternative Wirkung haben, kann nicht

ausgeschlossen werden, dass die Gründe, die gegen das Vorliegen des Ausschlussgrundes

nach § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG sprechen, auch Auswirkungen auf die anderen

Ausschlussgründe Auswirkungen haben.

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5. Weitere prozessuale Maßnahmen waren für den Beschwerdeführer im Hinblick auf den

schriftlichen Charakter des Eilrechtsschutzverfahrens sowie auch der Unmöglichkeit, weitere

Beweismittel für die Erhebung des beantragten Beweises zu beschaffen, und auch der bereits

im Verwaltungsverfahren hierzu abgegebenen Erklärungen nicht mehr verfügbar.

6. Der angefochtene Beschluss des Verwaltungsgerichts beruht auch auf den dargelegten

Gehörsverletzungen. Denn es ist nicht auszuschließen, dass das Verwaltungsgericht im Falle

der Berücksichtigung des Vorbringens zum politischen Delikt der Beiziehung der Akten des

Kammergerichts, der Justizvollzugsanstalt und der Vollzugsanstalt Butzbach sowie der

Ausländerbehörde des Wetteraukreises wie auch des Sachvorbringens zum

flüchtlingsrechtlich relevanten Unterstützungsbegriff im Blick auf eine terroristische

Vereinigung eine andere, für den Beschwerdeführer günstigere Entscheidung zum Vorliegen

von Auschlussgründen getroffen, jedenfalls dem Eilrechtsschutzantrag zwecks Aufklärung

der entsprechenden Beweisfragen im Hauptsacheverfahren stattgegeben hätte sowie bei

Berücksichtigung der bezeichneten Auskunft von amensty international eine für den

Beschwerdeführer günstigere Entscheidung zu einer ihm drohenden Folterbehandlung in der

Türkei getroffen und deshalb den beantragten Eilrechtsschutz gewährt hätte.

VI.

Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG

Der Beschwerdeführer wird durch den angegriffenen Beschluss des Verwaltungsgerichtes in

seinem Grundrecht aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt.

1. Im Eilrechtsschutzantrag vom 30. August 2017 wurde vorgebracht, dass der

Ausschlussgrund des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG nicht vorliegt, weil der Verurteilung des

Beschwerdeführers durch das Kammergericht wegen Zugehörigkeit zu einer terroristischen

Vereinigung ein „politisches Delikt“ oder jedenfalls ein konnex-gemischtes Delikt zugrunde

liegt, es sich damit nicht um eine von § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG in Umsetzung von Art.

12 Abs. 2 Buchst. b) RL 2011/95/EU geforderte nichtpolitische Straftat handelt (Anlage Nr.

9). Auch das in der gegen den Beschwerdeführer gerichteten Anklageschrift der

Staatsanwaltschaft Kayseri ihm vorgeworfene Delikt der Zugehörigkeit zu einer

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terroristischen Vereinigung stelle ein politisches, jedenfalls konnex-gemischtes Delikt dar.

Das Eilrechtsschutzverfahren sei nicht der prozessuale Ort, wo diese Zweifel aufzuklären

sind. Der Gerichtshof der Europäischen Union habe über diese Frage noch nicht entschieden.

Werde jedoch eine unionsrechtliche Zweifelsfrage – wie hier – aufgeworfen, sei dem

Eilrechtsschutzantrag stattzugeben, um im Hauptsacheverfahren diese dem Gerichtshof zur

Klärung vorzulegen (Art. 267 AEUV). Dementsprechend habe auch das

Bundesverfassungsgericht entschieden, dass im Blick auf Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG und

unter Berücksichtigung von § 80 AsylG Eilrechtsschutz zu gewähren ist, um im

Hauptsacheverfahren ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV einzuholen

(BVerfG (Kammer), Beschluss vom 14. November 2016 – 2 BvR 31/14 – Asylmagazin 2017,

41; ebenso BVerfG (Kammer), InfAuslR 2017, 159 (160)). Unter diesen Voraussetzungen

verletze die Zurückweisung des Eilrechtsschutzantrags ohne Klärung der unionsrechtlichen

Zweifelsfrage auch Art. 19 Abs. 4 GG (BVerfG (Kammer), InfAuslR 2017, 159 (161)). Auf

dieses Sachvorbringen geht das Verwaltungsgericht nicht ein und verletzt damit den Anspruch

des Beschwerdeführers aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.

2. Eine unanfechtbare Klageabweisung kann den Weg zum EuGH als „gesetzlichem Richter“

im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG sperren und eine Grundrechtsverletzung darstellen.

Der Gerichtshof der Europäischen Union ist gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1

Satz 2 GG (BVerfGE 73, 339 (366 f.); BVerfG (Kammer), NVwZ 2012, 426 (427) =

InfAuslR 2012, 7). Eine Vorlagepflicht kann nur bei dem Gericht eintreten, das

letztinstanzlich über die Zulassung des Rechtsmittels zu entscheiden hat (BVerfG (Kammer),

NVwZ 2012, 426 (427) = InfAuslR 2012, 7). Vorliegend wurde zwar nicht die Klage, jedoch

der Eilrechtsschutzantrag mit unanfechtbarer Wirkung (§ 80 AsylG) zurückgewiesen und

droht – wie ausgeführt – dem Beschwerdeführer deshalb die Abschiebung in die Türkei auf

ungewisse Dauer. Da er für die Dauer von zehn Jahren ausgewiesen wurde, ist deshalb die

Möglichkeit der Fortführung des Hauptsacheverfahrens ohne Bedeutung. Eine Wiedereinreise

nach Ablauf des Einreise- und Aufenthaltsverbotes dürfte dem Beschwerdeführer im Hinblick

auf den Ausweisungsanlass und die Tatsache, dass er mangels Bindungen, die eine

familienbezogene Aufenthaltnahme im Bundesgebiet ermöglichen, dauerhaft im Ausland

bleiben muss. Der Grundsatz des wirksamen Rechtsschutzes erfordert daher, auch im

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asylrechtlichen Eilrechtsschutzverfahren eine Vorlagepflicht anzunehmen, wenn eine

unionsrechtliche Zweifelsfrage aufgeworfen wird.

Liegt zu einer entscheidungserheblichen Frage des Unionsrechts einschlägige Rechtsprechung

des Gerichtshofes der Europäischen Union noch nicht vor, hat eine vorliegende

Rechtsprechung die entscheidungserhebliche Frage möglicherweise noch nicht erschöpfend

beantwortet oder erscheint eine Fortentwicklung der Rechtsprechung des Gerichtshofes nicht

nur als entfernte Möglichkeit, wird Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt, wenn das

Verwaltungsgericht den ihm in solchen Fällen notwendig zukommenden Beurteilungsrahmen

in unvertretbarer Weise überschritten hat. Dies kann insbesondere der Fall sein, wenn

mögliche Gegenauffassungen zu der entscheidungserheblichen Frage des Unionsrechts

gegenüber der vom Gericht vertretenen Meinung eindeutig vorzuziehen sind (BVerfG

(Kammer), NJW 1994, 2017, mit Verweis auf BVerfGE 82, 159 (192 ff.); BVerfG (Kammer),

NVwZ 2012, 426 (427) = InfAuslR 2012, 7). Vorliegend hat das Verwaltungsgericht das

Vorbringen zur unionsrechtlichen Zweifelsfrage überhaupt nicht zur Kenntnis genommen,

sodass bereits deshalb die Vorlagepflicht verletzt wurde. Die aufgeworfene Rechtsfrage ist in

der Rechtsprechung des Gerichtshofes bislang auch nicht erschöpfend geklärt.

3. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat sich bislang nicht erschöpfend mit der

aufgeworfenen unionsrechtlichen Zweifelsfrage befasst. Zwar hat er einige Auslegungsfragen

zu Art. 12 Abs. 2 Buchst. b) RL 2004/38/EG (nunmehr Art. 20 Abs. 2 Buchst. b) RL

2011/95/EU) bereits geklärt, so etwa die Kriterien für die persönliche Zurechnung bei

Zugehörigkeit zu einer terroristischen Organisation (EuGH InfAuslR 2011, 40 (43) Rdn. 113

ff. – B. und D.; EuGH, InfAuslR 2017, 155 (158) Rdn. 69 – Lounani). Konkrete Handlungen

des Beschwerdeführers, die nach diesen Kriterien zur Anwendung des Ausschlussgrundes

führen, sind im fachgerichtlichen Verfahren und auch im Strafverfahren jedoch nicht

festgestellt worden. Insbesondere ist ungeklärt, ob in seinem Fall Art 12 Abs. 2 Buchst. b) RL

2011/95/EU und damit § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG von vornherein keine Anwendung

findet, weil der Verurteilung wegen Zugehörigkeit zu einer terroristischen Vereinigung ein

„politisches Delikt“ zugrunde liegt. Ohne eine Klärung dieser Frage kann im

fachgerichtlichen Verfahren jedoch nicht über die vom Beschwerdeführer geltend gemachten

Ansprüche entschieden werden.

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VII.

Art. 2 Abs. 1 und Art. 6 GG

Der Beschwerdeführer wird durch den die angegriffene Verfügung des Wetteraukreises, den

Beschluss des Verwaltungsgerichtes Gießen vom 29. Mai 2017 sowie den Beschluss des

Herssischen Verwaltungsgerichtes vom 31. August 2017 aufgrund der fehlerhaften

Abwägung der Ausweisungsinteressen gegen seine Bleibeinteressen in seinem Grundrechten

aus Art. 2 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 und 2 GG verletzt.

1. Im Rahmen der Abwägung erkennt die zuständige Ausländerbehörde an, dass der

Beschwerdeführer „durchaus ein inniges Verhältnis“ zu seinen Söhnen habe. Andererseits

habe er unter dem Vorwand, humanitäre Hilfe der notleidenden Bevölkerung in Syrien leisten

zu wollen, beide Kinder im Alter von nur fünf und achtzehn Monaten wie auch deren Mutter

– die Ehefrau des Beschwerdeführers - in ein Bürgerkriegsland in die dortigen katastrophalen

Lebensbedingungen mitgenommen. Er selbst habe angeblich nicht gewusst, was ihn in Syrien

erwarte. Er befinde sich seit dem 31. März 2014 in Haft und hätte deshalb seine beiden Söhne

in deren prägenden Kindheitsphase nicht zur Seite stehen können. Seine Ehefrau lebe mit

seinen Kindern nach wie vor in der Wohnung ihrer Eltern, sodass sie bei der Bewältigung des

Alltags mit seinen Kindern nicht allein dastehe. Diese Umstände in Verbindung mit der

Tatsache, dass sich der Beschwerdeführer in salafistischen Kreisen bewegt und zunehmend

radikalisiert habe, ließen Rückschlüsse auf eine Beeinträchtigung des Kindeswohls bei einem

weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet zu. Es werde andererseits nicht verkannt, dass die

Ausweisung ihn hart treffe, da er sich offensichtlich auf ein Leben in der Bundesrepublik

eingerichtet habe. Es werde auch nicht verkannt, dass sein Lebensmittelpunkt in der

Bundesrepublik Deutschland sei. Zweifel seien jedoch wegen seines nicht gesetzestreuen

Verhaltens im Hinblick auf seine Integration angebracht. Angesichts dieser Umstände stelle

seine Ausweisung keine unangemessene Folge seines Verhaltens dar (Anlage Nr. 2, S.16 f.).

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2. Das Verwaltungsgericht weist zwar auf die zugunsten des Beschwerdeführers wirkenden

individuellen Bleibeinteressen abstrakt hin, berücksichtigt diese im Folgenden aber nicht

einmal im Ansatz. Bei der Identifizierung der Ausweisungsinteressen erwähnt es zwar, dass er

sich „beanstandungsfrei“ in der Haftanstalt führe, eine Einzeltherapie bei einem externen

Therapeuten absolviere und in der Zeit von Ende Juli 2016 bis Januar 2017 „regelmäßig und

hochfrequentiert“ Gespräche mit Mitarbeitern des Violence Prevention Centers geführt habe,

darüber hinaus im Vollzug als „freundlicher und höflicher Gefangener“ beschrieben werde

und der ihn betreuende Psychologe seine vorzeitige Entlassung in Verbindung mit der

Auflage, die therapeutische Behandlung fortzusetzen, für verantwortbar erachte, wenn auch

seine Persönlichkeitsentwicklung als „noch nicht abgeschlossen erscheine, wobei dessen

'deutliche Naivität zum Deliktzeitpunkt' imponiere.“ Nach Einschätzung des Diplom-

Psychologen Bosch seien die Ursachen der Delinquenz „weniger in radikal-religiösen

Einstellungen und Überzeugungen als vielmehr in den selbstunsicheren

Persönlichkeitsanteilen zu lokalisieren“ (Anlage Nr. 2, S. 6/7). Diese Umstände werden dem

Beschwerdeführer jedoch nicht bei der Identifizierung und Gewichtung seiner individuellen

Bleibeinteressen zugerechnet. Vielmehr dienen sie dem Verwaltungsgericht als Beleg für

seine Feststellung, dass – angesichts seiner leichten Beeinflussbarkeit und seiner noch nicht

ausreichenden Stabilität in Verbindung mit seiner Weigerung, gegenüber den Behörden

andere belastende Aussagen zu machen, um nicht als „Verräter“ dazustehen – vom

Beschwerdeführer eine Wiederholungsgefahr ausgehe (Anlage Nr. ?, S. 6/7). Das

Verwaltungsgericht beruft sich für seine Wertung auf das Urteil des Kammergerichtes vom 6.

Juli 2015, berücksichtigt dabei jedoch nicht, dass dieses die nachträgliche von ihm selbst

beschriebene günstige Sozialprognose noch gar nicht in seine strafrichterliche Würdigung der

Persönlichkeitentwicklung des Beschwerdeführers einstellen konnte.

Der Verwaltungsgerichtshof schließt sich ohne insoweit eigenständige Wertung der

erstinstanzlichen Würdigung an und sieht auch keinen Anlass zu einer abweichenden

Würdigung wegen der Stellungnahmen des Hessischen Landeskriminalamtes vom 15. Mai

und vom 8. Juli 2017, dass die in der Ausweisungsverfügung festgestellte offensichtliche und

konkrete Gefahr der Vorbereitung eines terroristischen Anschlags in Deutschland nicht mit

der notwendigen Offensichtlichkeit „herleiten lassen mag“ (Anlage Nr. 3, BA, S. 5), gemeint

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könnte wohl sein, dass sie diese Gefahr nicht ausschließen. Individuelle Bleibeinteressen, wie

etwa die Geburt des Beschwerdeführer und sein Aufenthalt in der Bundesrepublik

Deutschland, die Ehe und drei Kinder werden nicht einmal festgestellt, geschweige denn in

ihrem Gewicht identifiziert und mit den öffentllichen Interessen abgewogen.

3. Die angegriffenen gerichtlichen Beschlüsse beruhen auf dem Mangel einer Abwägung der

Ausweisungs- mit den individuellen Bleibeinteressen und insbesondere einer

verfassungsrechtlich nicht tragfähigen fehlerhaften Gewichtung der Interessen der zwei

Kinder des Beschwerdeführers an dessem Verbleib im Bundesgebiet.

a) Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes ist die Ausweisung ein Eingriff

in das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit. Der aus diesem Recht folgende

Schutz vor Eingriffen ist nur in dem durch Art. 2 Abs. 1 G gezogenen Rahmen, insbesondere

in den Schranken der verfassungsmäßigen Ordnung gewährleistet (BVerfG, (Kammer),

NVwZ 2007, 1300, mit Hinweis auf BVerfGE 35, 382 (399); 49, 168 (180)). In materieller

Hinsicht bietet – vorbehaltlich besonderer verfassungsrechtlicher Gewährleistungen – wie hier

Art. 6 Abs. 1 und 2 GG - der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz den allgemeinen

verfassungsrechtlichen Maßstab. Zwar ist die einzelfallbezogene Würdigung der für die

Ausweisung sprechenden öffentlichen Belange und der gegenläufigen Interessen des

Betroffenen und deren Abwägung gegeneinander den Verwaltungsgerichten übertragen. Das

Bundesverfassungsgericht kann die gerichtlichen Entscheidungen nicht in allen Einzelheiten,

sondern nur auf die Beachtung der verfassungsrechtlichen Maßstäbe überprüfen (BVerfG,

(Kammer), NVwZ 2007, 1300, mit Hinweis auf BVerfGE 27, 211 (219).

Wie ausgeführt – wurde vorliegend eine derartige Abwägung überhaupt nicht vorgenommen,

sodass bereits deshalb Art. 2 Abs. 1 wie auch Art. 6 Abs. 1 und 2 GG verletzt werden.

Darüber hinaus sind die Umstände der Tat und die persönlichen Verhältnisse des Betroffenen

von Amts wegen sorgfältig zu ermitteln und eingehend zu würdigen. Ohne die Kenntnis von

Einzelheiten der Tatbegehung und der persönlichen Situation des Betroffenen können in der

Regel die Auswirkungen der Ausweisung auf die Individualinteressen nicht hinreichend

sicher festgestellt und in einer einzelfallbezogenen Abwägung den die Ausweisung

erfordernden Interessen gegenübergestellt werden. Im Regelfall ist deshalb die Einsicht in die

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Strafakten ebnenso unerlässlich wie genaue Feststellungen zu den Bindungen des Betroffenen

an die Bundesrepublik Deutschland (BVerfG, (Kammer), NVwZ 2007, 1300 (1301)).

Die Ausländerbehörde hat zwar eine derartige Abwägung vorgenommen, jedoch das Gewicht

der gegen die Ausweisung sprechenden individuellen Interessen des Beschwerdeführers

fehlerhaft identifiziert und den Ausweisungsinteressen von vornherein – wie nach altem

Ausweisungsrecht – ein überwiegendes Gewicht zuerkannt. Insbesondere hat sie ungeachtet

eines hierauf bezogenen Antrags die Strafakten nicht beigezogen. Die Verwaltungsgerichte

haben weder eine Abwägung vorgenommen, noch die für die Prüfung der

Wiederholungsgefahr maßgebenden tatsächlichen Umstände fehlerfrei gewertet noch die

Strafakten beigezogen.

b) Das Bundesverfassungsgericht berücksichtigt bei der von Art. 2 Abs. 1 GG und anderen

verfassungsrechtlichen Gewährleistungen geforderten Abwägung auch Art. 8 Abs. 1 EMRK,

also das Recht auf Achtung des Privatlebens und damit die Summe der persönlichen,

gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden

Menschen konstitutiv sind und denen angesichts der zentralen Bedeutung dieser Bindungen

für die Entfaltung der Persönlichkeit eines Menschen bei fortschreitender Dauer des

Aufenthalts wachsende Bedeutung zukommt (BVerfG (Kammer) InfAuslR 2007, 275 (277) =

NVwZ 2007, 946 = EZAR NF 42 Nr. 5; BVerfG (Kammer), NVwZ 2007, 1300 (1301) =

InfAuslR 2007, 443 = EZAR NF 42 Nr. 6; BVerfG (Kammer), NVwZ-RR 2011, 420 (421) =

InfAuslR 2011, 236). Das Recht auf Achtung des Privatlebens ist weit zu verstehen und

umfasst seinem Schutzbereich nach u.a. das Recht auf Entwicklung der Person und das Recht

darauf, Beziehungen zu anderen Personen und der Außenwelt zu knüpfen und zu entwickeln

und damit auch die Gesamtheit der im Aufenthaltsstaat gewachsenen Bindungen.

Entscheidend ist, ob der Betroffene dort über intensive persönliche und familiäre Bindungen

verfügt (OVG NW, NVwZ-RR 576 (577); Nieders.OVG, InfAuslR 2006, 329 (330)). Diese

Rechtsprechung beruht auf der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für

Menschenrechte, der das Recht auf Privatleben sehr weit versteht und es nicht abschließend

definiert hat.

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Page 46: Blumenauer & Teubner€¦  · Web viewDer Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in der Vergangenheit und auch aktuell in einer Vielzahl von Verfahren festgestellt, dass

Das Kammergericht hat hierzu festgestellt, dass der Beschwerdeführer in Rüsselsheim

geboren wurde und hier seitdem – also nunmehr seit 30 und einundhalb Jahren – seinen

gewöhnlichen Aufenthalt hat, er seit dem 2. April 2003 eine Niederlassungserlaubnis besitzt

und seine Eltern und beiden Schwestern ebenfalls in Deutschland leben und die Schwestern

deutsche Staatsangehörige sind. Ab dem 1.März 2007 war er bis zur Vertragsaufhebung am

24. Juli 2013 nach Durchlaufen eines zweijährigen Jugendprogramms am Frankfurt Flughafen

als Gepäckfahrer tätig und hatte vorher im Rahmen des Projekts „Jugend mobil“ eine

Maßnahme zum Abbau von Jugendarbeitslosigkeit absolviert. Er ist seit dem 11. Februar

2008 mit einer türkischen Staatsangehörigen verheiratet. Aus dieser Ehe sind ein inzwischen

fünf Jahre und zwei Monate sowie ein vier Jahre und zwei Monate alter Sohn hervorgegangen

(Anlage Nr. 13, UA. S. 3/4). Zusätzlich wird in der behördlichen Verfügung festgestellt, dass

der Beschwerdeführer eine zweijährige Ausbildung als Elektrotechniker absolviert hat, die er

mit einem der mittleren Reife vergleichbaren Abschluss beendet hat.

c) Die Behörde hat bei der Abwägung insbesondere das subjektive Recht der Kinder des

Beschwerdeführeres auf Umgang mit dem Beschwerdeführer (§ 1684 Abs. 1 Hs 1 BGB) nicht

zutreffend gewürdigt. Die Verwaltungsgerichte haben es überhaupt nicht berücksichtigt,

geschweige denn zutreffend gewichtet. Die Behörde räumt selbst ein, dass der

Beschwerdeführer ein „inniges Verhältnis“ zu seinen Kindern habe, wendet jedoch ein, dass

er die Kinder in ein Bürgerkriegsgebiet mitgenommen habe. Auch stehe seine Ehefrau nach

seiner Abschiebung in die Türkei mit den gemeinsamen Kinder nicht allein da.

Die Behörde übersieht bei ihrer Wertung, dass das zuständige Jugendamt keine Maßnahmen

gegen den Beschwerdeführer unternommen hat, also dessen verantwortliche Wahrnehmung

seiner Erziehungsaufgabe nicht in Frage steht. Darüber hinaus kommt es aus

verfassungsrechtlicher Sicht nicht darauf an, ob die von einem Familienmitglied tatsächlich

erbrachte Lebenshilfe auch von anderen Personen erbracht werden könnte. Dabei ist auch in

Rechnung zu stellen, dass der spezifische Erziehungsbeitrag des Vaters nicht durch die

Betreuung des Kindes durch die Mutter oder durch andere Personen oder durch soziale bzw

kirchliche Einrichtungen entbehrlich wird (BVerfG (Kammer), AuAS 2006, 26 (27) =

InfAuslR 2006, 122; BVerfG (Kammer), NVwZ 2006, 682 (683); OVG Hamburg, InfAuslR

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2006, 463 (464); OVG NW, NVwZ 2006, 717 = InfAuslR 2006, 126; VG Magdeburg,

InfAuslR 2005, 315 (316)).

d) Schließlich werden durch die Verwaltungsgerichte die für die Annahme einer

Wiederholungsgefahr maßgebenden Tatsachen unzutreffend gewürdigt. Wie ausgeführt,

räumt das Verwaltungsgericht zwar ein, dass der Beschwerdeführer sich im Vollzug

„beanstandungsfrei“ führe, eine Einzeltherapie absolviere, „regelmäßig und hochfrequentiert“

Gespräche mit Mitarbeitern des Violence Prevention Centers geführt habe und der ihn

betreuende Psychologe seine vorzeitige Entlassung in Verbindung mit der Auflage, die

therapeutische Behandlung fortzusetzen, für verantwortbar erachtet sowie die Ursachen seiner

Delinquenz „weniger in radikal-religiösen Einstellungen und Überzeugungen als vielmehr in

den selbstunsicheren Persönlichkeitsanteilen“ lokalisiert werden. Diesen Umständen kommt

aber bei der Gewichtung der individuellen Bleibeinteressen insbesondere im Hinblick auf Art.

6 Abs. 1 und 2 GG erhebliches verfassungsrechtliches Gewicht zu. An einer derartigen

Gewichtung fehlt es aber im angefochtenen Beschluss des Verwaltungsgerichtes.

Der Verwaltungsgerichtshof bewertet in diesem Zusammenhang insbesondere den Beschluss

des Kammergerichtes vom 21. Juli 2017 einseitig zulasten des Beschwerdeführers, obwohl

dieses die sehr positive Entwicklung des Beschwerdeführer hervorhebt. Seit dem letzten

Beschluss vom 28. Dezember 2016 habe diese sich fortgesetzt. Nach der bereits in der

Hauptverhandlung „glaubhaft bekundeten Abkehr von seiner radikalen Einstellung habe er

auf mehrere Kontaktversuche aus islamistischen Kreisen weiterhin nicht reagiert“ (Anlage Nr.

17, BA, S. 6). Demgegenüber übergeht der Verwaltungsgerichtshof diese seine

Gefahrenprognose in Frage stellende Einschätzung und hält ihm zur Begründung seiner

angenommenen Wiederholungsgefahr die fehlende Zusammenarbeit mit den

Strafverfolgungsbehörden vor. Das Kammergericht weist ausdrücklich darauf hin, dass die für

erforderlich erachteten Vollzugslockerungen nicht wegen Fehlverhaltens oder fehlenden

Anstrengungen des Beschwerdeführers unterblieben seien, sondern wegen der hessischen

Rechtslage, die keine Vollzugslockerungen erlaube. Zugunsten des Beschwerdeführers ist

insbesondere der Hinweis des Kammergerichtes zu bedenken, der zware insoweit seine

Unzuständigkeit hervorhebt, den Vollzugsbehörden aber empfiehlt, „zeitnah mit den

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Entlassungsvorbereitungen zu beginnen, um den bevostehenden Übergang in die Haft nach

der Haftentlassung zu erleichtern.“

Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass sich nach einer

Strafaussetzungsentscheidung eine relevante Wiederholungsgefahr nur dann bejahen lässt,

wenn die ausländerrechtliche Entscheidung auf einer breiteren Tatsachengrundlage als

derjenigen der Strafvollstreckungsgerichts getroffen wird (BVerfG(Kammer), EZAR NF 40

Nr. 22). Zwar ist vorliegend noch keine Strafaussetzungsentscheidung getroffen worden. Dies

ist aber allein darin begründet, dass die hessische Rechtslage dem entgegensteht, wie das

Kammergericht ausdrücklich hevorhebt. Der Verwaltungsgerichtshof hat diese Entscheidung

jedoch einseitig zulasten des Beschwerdeführers interpretiert, ohne überhaupt auf diesen

Gesichtspunkt einzugehen.

e) Nach alledem ist festzustellen, dass die Behörde wie auch die Verwaltungsgerichte die vom

Gesetzgeber gewollte ergebnisoffene Abwägung der öffentlichen gegen die individuellen

Interessen nicht (Verwaltungsgerichtshof) oder nur einseitig zugunsten der öffentlichen

Ausweisungsinteressen (Verwaltungsgericht) vorgenommen haben. Verfassungsrechtlich

besonders ins Gewicht fallende Interessen, wie das Recht des Kinder auf Beachtung des

Kindeswohls, die weiteren persönlichen und familiären Bindungen des Beschwerdeführer

sowie vor allem die Einschätzung des Kammergerichtes, dass nur die hessische Rechtslage

der Gewährung von Vollzugslockerungen entgegensteht, wurden nicht zur Kednntnis

genommen.

4. Es ist davon auszugehen, dass das erst- und zweitinstanzliche Verwaltungsgericht eine

andere, zugunsten des Beschwerdeführer wirkende Entscheidung getroffen hätte, wenn sie die

individuellen Bleibeinteressen in ihrem Gewicht, Ausmaß und verfassungsrechtlichen

Bedeutung zutreffend erkannt und gewürdigt hätten.

Dr. MarxRechtsanwalt

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